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7 - Die zunehmende Unwissenheit

 Alfven 1969

 

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  Wissen und Unwissenheit  

Während der vergangenen Jahrhunderte haben wir eine unfaßbare Menge an Wissen angesammelt. Wir kennen die Struktur von Atomen, die Entfernungen zu Sternen und Galaxien. Wir haben die Mechanismen des Lebens selbst zu verstehen begonnen. Die Psychologie hat uns einige Kenntnisse über unser geistiges Leben vermittelt, die Soziologie über die Struktur der Gesellschaft. Zeitungen berichten über Ereignisse aus aller Welt, und demoskopische Umfragen geben uns über die Meinung eines jeden zu diesen Ereignissen Auskunft. 

Gleichzeitig nimmt aber auch unsere Unwissenheit in vieler Hinsicht zu, und dies macht uns mehr und mehr von anderen abhängig.

Der Grund, warum die Unwissenheit parallel zur Zunahme des kollektiven Wissens wächst, besteht darin, daß immer mehr Wissen für uns nicht mehr zugänglich ist. Wir benötigen aber so viel mehr Wissen, um in einer immer komplizierteren Welt überhaupt existieren zu können. Da unser Wissen nicht so rasch zunimmt, wie es notwendig wäre, können wir von zunehmender Unwissenheit sprechen.

Unser kollektives Wissen liegt in Büchereien gespeichert, die meistens so eingerichtet sind, daß jeder das Buch erhält, das er erhalten möchte. Man dürfte also annehmen, daß jeder in der Lage ist, von der ungeheuer großen Wissensmenge, die die Menschheit im Verlauf von Jahrhunderten angesammelt hat, auch Gebrauch zu machen.

Dafür müssen aber drei wichtige Voraussetzungen gegeben sein: 1. Man muß wissen, welche Kenntnisse man benötigt; 2. man muß wissen, in welchem Buch diese Kenntnisse zu finden sind; 3. man muß lesen können. 

Die zweite Voraussetzung ist natürlich leicht mit der Hilfe kompetenter Bibliothekare zu erfüllen. Die erste und die dritte Bedingung lassen sich indes weit schwieriger herstellen.

  Der zunehmende Analphabetismus  

Die dritte Bedingung, das Lesenkönnen, ist natürlich keineswegs universell; noch immer ist eine riesige Zahl von Menschen in der Welt des Lesens und Schreibens unkundig. Man nimmt an, daß sich die Zahl der Analphabeten in der Welt zwischen 1961 und 1966 sogar um 200 Millionen Menschen vergrößert hat. Und obwohl keine genauen Zahlen vorliegen, darf man mit Sicherheit erwarten, daß derzeit die Gruppe der Analphabeten jährlich um 30 bis 50 Millionen Menschen zunimmt.

Es ist zwar richtig, daß die Zahl der des Lesens mächtigen Menschen zunimmt (so daß der Prozentsatz der Bevölkerung in der Welt, der lesen kann, heute größer ist als der vor - sagen wir - zehn Jahren), ebenso richtig ist aber, daß die Bevölkerung noch rascher zunimmt. Folglich nimmt auch die Gesamtzahl der Analphabeten zu. Warum? Einem Kind mit normaler Begabung sind die Grundlagen des Lesens innerhalb eines Jahres beizubringen. Erwachsene benötigen, insbesondere dann, wenn sie beruflicher Arbeit nachgehen oder eine Familie versorgen müssen, vielleicht etwas mehr Zeit, aber auch sie können das Pensum bestimmt ohne große Schwierigkeit bewältigen. Ebensowenig ist es ein großes Problem, Lehrer auszubilden und Schulen einzurichten.

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    Moderne Erfolgsgeschichten  

Ein gutes Beispiel dafür, wie man den Analphabetismus beseitigt, hat die Sowjetunion gegeben. Zu den ersten Maßnahmen Lenins nach seiner Macht­ergreifung gehörte der Erlaß aus dem Jahre 1919, daß die gesamte Bevölkerung zwischen 8 und 50 Jahren lesen und schreiben lernen sollte. Den Ortssowjets wurden zwei Monate Frist gegeben, diese schwere Aufgabe zu planen und in Angriff zu nehmen. Sie erhielten die Befugnis, alle nicht in der Roten Armee dienenden Lehrer heranzuziehen und Kirchen, Privathäuser und Fabrikhallen zu Unterrichtszwecken zu benutzen. Die Arbeit wurde zu einer Zeit begonnen, da das Regime noch um seine eigene Existenz zu kämpfen hatte. Hungersnöte und innere Konflikte vergewaltigten das Land. Der Bürgerkrieg war noch nicht entschieden. Soldaten kämpften mit dem Gewehr in der einen und einer Fibel in der anderen Hand.

Die Kommissare pflegten auf die Rücken der hintereinander marschierenden Soldaten Papierfetzen mit Buchstaben darauf zu heften, und während sie mühsam in Richtung Front marschierten, prüften sie ihr Lesevermögen. Vielerorts hatten die Menschen nicht einmal Papier und Bleistift. Hier gab man den Lehrern den Rat, die Spitzen von angekohlten Stöcken als Schreibwerkzeug zu verwenden.

Besonders akut waren die Schwierigkeiten in den arktischen und zentralasiatischen Gebieten, wo nahezu 100 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnten. In Zentralasien vermischten sich diese Schwierig­keiten mit dem religiösen Widerstand, der sich speziell gegen die Unter­richtung der bis dahin unterdrückten Frauen richtete.

Nach fünf Jahren erlahmte der »Bildungsfeldzug« etwas, zum Teil vielleicht als Folge von Lenins Krankheit und Tod. Aber bei den Jubiläums­feierlich­keiten zum 10. Jahrestag der Revolution wurde eine neue Kampagne ausgerufen. Es wurde nachdrücklich darauf bestanden, daß es die moralische Pflicht eines jeden des Lesens und Schreibens Kundigen sei, zumindest einen Analphabeten zu unterrichten.

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Wettkämpfe zwischen Dörfern und Fabriken wurden veranstaltet, in der Hoffnung, jeden damit zum Lesen- und Schreibenlernen zu ermuntern. Die Erfolg­reichen wurden mit Lob und Medaillen ausgezeichnet, die Erfolglosen hingegen auf schwarze Listen gesetzt. Auf diese Weise wurde die nationale Bewegung zur Beseitigung des Analphabetentums so geschickt in Gang gesetzt, daß nahezu jeder seinen Beitrag dazu zu leisten versuchte. Bauern fertigten Tafeln an und erteilten in ihren Häusern Unterricht, ja, ganze Dörfer nahmen an der Kampagne teil, um das Analphabetentum auszulöschen. 

Als ein Bauer einmal gefragte wurde, wie viele Analphabeten er unterrichte, antwortete er: »Nicht viele, nur vier.« »Warum nur vier?« fuhr der Fragende fort. »Weil jedermann bereits schon am Lernen ist«, war seine Antwort. Bis 1939 konnten nahezu 90% der Bevölkerung lesen und schreiben. Heute sind die Sowjets vielleicht das am stärksten »buchbewußte« Volk der Welt. Das Land hat einen höheren Prozentsatz von Wissen­schaftlern und Technikern als jedes andere Land.

China nimmt für sich in Anspruch, den Analphabetismus innerhalb von zehn Jahren beseitigt zu haben. Einigen westlichen Quellen zufolge lernten aber in Wirklichkeit nur 40 bis 50 % der chinesischen Bevölkerung bis 1968 lesen und schreiben. Selbst wenn diese Zahlen eher der Wahrheit entsprechen — aber das ist nicht einmal gewiß —, zeigen sie immer noch eine beachtliche Zunahme der Lese- und Schreibkundigen in China seit den fünfziger Jahren.

Der Grund dafür, daß der Analphabetismus in vielen neuen Ländern so stark verbreitet ist und die Zahl der Analphabeten tatsächlich zunimmt, muß darin zu suchen sein, daß die Regierenden in diesen Ländern dem Problem ungewöhnlich geringe Bedeutung zumessen. Es ist sogar möglich, daß einige der Herrschenden die Verbreitung der Kenntnis von Lesen und Schreiben und damit die Verbreitung von Wissen als eine Bedrohung ihres Regimes ansehen. Es ist eben leichter, ein unwissendes als ein gebildetes Volk zu unterdrücken. Die Erwartungsexplosion wäre weit heftiger, könnten die Menschen, die heute unwissend und unterdrückt sind, die Kenntnisse erwerben, mit deren Hilfe sie die Fähigkeiten und den guten Willen der über sie Herrschenden zu beurteilen in der Lage wären.

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   Was können lesekundige Menschen lesen?  

Selbst denen, die lesen können, bleibt der größte Teil des angesammelten Wissens verschlossen. Viele Jahre der Übung in der Schule sind notwendig, um wichtige kulturelle Dokumente, ob nun aus Philosophie, Politik, Wirtschaft oder einem anderen Fachbereich, lesen zu können. Spezielle Wissenschaften im wesentlichen verstehen zu können, setzt eine gründliche Universitäts­ausbildung voraus.  

Deshalb ist sogar hochgebildeten Leuten in der Welt ein Großteil unseres kollektiven Wissens unzugänglich. Der Weg zur Nutzung der Kenntnisse der Menschheit führt über die Spezialisten. Von ihnen sind wir völlig abhängig.  

In einer Agrargesellschaft verfügte ein Bauer noch über die meisten für ihn notwendigen Kenntnisse, so daß er, so gesehen, fast autark war. Er baute sein Haus selbst und konnte das Dach ausbessern, wenn es einmal undicht wurde. Er mahlte sein Korn in der eigenen Mühle; seine Frau spann die Wolle, die sie eigenhändig geschoren hatte. Nur selten brauchte der Bauer Hilfe; etwa dann, wenn er krank war oder wenn er den Priester oder den Grobschmied aufsuchen mußte.

Heute jedoch sind die meisten von uns ohne Spezialisten und Techniker der verschiedensten Art völlig verloren. Einige von uns können zwar kleinere häusliche Reparaturen durchführen, z.B. die Abdichtung eines Wasserhahns oder die Erneuerung einer zerbrochenen Scheibe, aber wenige trauen sich, z.B. einen defekten Kühlschrank oder einen Fernsehapparat auch nur zu öffnen.  

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Wir wissen nicht einmal, wie diese Geräte innen aussehen oder wie sie arbeiten, und das, obwohl diese Kenntnisse kein Geheimnis sind: In der Bibliothek sind leicht Bücher zu finden, die Aufbau, Funktions­weise und Bestandteile eines Fernsehapparates in aller Ausführlichkeit beschreiben. Aber wie viele von uns sind fähig, diese Bücher zu verstehen? Unsere Unkenntnis von der Arbeitsweise von Geräten der eigenen Umgebung hat enorm zugenommen, eine Unkenntnis, die uns — ohne die geschickten Hände von Spezialisten — hilflos dastehen läßt.

Weil wir zu unwissend sind, um unsere Abhängigkeit von den Spezialisten zu überwinden, müssen wir ihnen blindlings vertrauen. Aber wenn sie uns nun täuschen — was können wir dann tun? Es ist sicherlich noch nicht einmal so gefährlich, wenn wir ein bißchen zuviel für die Reparatur unseres Wagens bezahlen oder daß wir zum Kauf eines neuen Fernsehgerätes überredet werden, wenn am alten Gerät nur eine geringfügige Reparatur notwendig wäre. 

Unsere Unsicherheit auf anderen Gebieten ist weit schwerwiegender. So ist es beinahe unmöglich zu wissen, ob unsere Nahrung, ob unsere Arzneimittel für unsere Gesundheit zuträglich oder abträglich sind. Wir wissen, daß durch verschmutztes Wasser und verschmutzte Luft große Mengen Gift in unserer Umwelt verbreitet werden. Die Herrschenden versichern uns, daß die Vorsichtsmaßnahmen ausreichen und daß wir uns sicher fühlen dürfen. — 

Wir wissen, daß die Vorräte an Atombomben ausreichen, um uns alle zu töten. Trotzdem hält die Massenproduktion von Bomben an. Wir wissen, daß alle Atomreaktoren in ständig zunehmender Menge hochgiftige radioaktive Substanzen produzieren. Die Herrschenden versichern, daß die Bomben zu unserem Schutze vor Angriffen notwendig sind und daß die Verschmutzung unserer natürlichen Ressourcen unter bestmöglicher Kontrolle steht. Aber können wir ihnen wirklich trauen? Sprechen sie nicht für dasselbe Establishment, das das Gift herstellt, Profit daraus zieht und uns weismachen möchte, daß alles unter guter Kontrolle ist?

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Je mehr Kenntnisse die Menschheit ansammelt, desto größer scheint die Unwissenheit des einzelnen über entscheidende Tatsachen zu sein. Die entscheidendste Frage betrifft die internationale Politik. Werden die internationalen Beziehungen wirklich so geschickt wie möglich wahrgenommen? Sind die Fragen dieser Welt tatsächlich unmöglich zu lösen, oder sind in erster Linie veraltete politische Methoden für die gegenwärtige Situation verantwortlich? Unsere Unkenntnis erlaubt uns keine endgültige Antwort.

 

  Die Ignoranz der Herrschenden  

Während eines Weltkriegs hielten es zwei verbündete Großmächte für unerläßlich, eine Kommunikations- und Transport­verbindung durch ein neutrales Land hindurchzulegen. Also sandten sie ein Ultimatum an den König des neutralen Staates, der daraufhin seinen Verteidigungs­minister und seine Generäle zu sich rief. Der König fragte, ob sie ihre Aufgaben erfüllt und dem Land eine tapfere und unschlagbare Armee aufgebaut hätten, und sie antworteten, daß sie selbst und die Armee gern für den König sterben und jeden Versuch des Auslands, in das Land einzufallen, zurückschlagen würden. 

Der König war hocherfreut und befahl dem Außenminister, das Ultimatum zurückzuweisen. Daraufhin drangen die Großmächte in das Land ein und näherten sich, ohne ernsthaftem Widerstand zu begegnen, rasch der Hauptstadt. Der König wußte nichts von alledem. Jedermann im Lande war in Angst und Schrecken, aber niemand wagte dem König die Wahrheit zu sagen. Aus einfachem Grunde! In jenem Land war es seit langem üblich, jeden Boten, der dem König unerfreuliche Nachrichten brachte, eine hohe Treppe des Palastes hinabzuwerfen.

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Also war niemand bereit, dem König über die verzweifelte Situation zu berichten. Die Minister konnten keinerlei Entscheidung treffen, denn dazu besaß allein der König die Macht; immerhin sahen sie ein, daß etwas unternommen werden müsse, und schließlich gelang es ihnen, einen ausländischen Diplomaten zu überreden, den König um Audienz zu bitten und ihm die Situation zu schildern. Seine diplomatische Immunität schützte ihn davor, die Treppe hinabgestoßen zu werden. Zu spät jedoch: die Feinde waren bereits bis in die Randbezirke der Hauptstadt vorgedrungen.

Diese Anekdote soll sogar wahr sein, und da sie ein exotisches Land betrifft, deckt sie sich mit der Vorstellung vieler Menschen von orientalischer Diktatur. Solche Leute würden natürlich behaupten, daß in einer westlichen Demokratie eine derartige Situation niemals eintreten könne. Wirklich? Sind die Bedingungen in einer Demokratie tatsächlich so grundverschieden? Ist ein Großteil der Informationen, die unsere Herrscher erhalten, nicht schon in bestimmter Richtung »vorbehandelt«, sind sie nicht Information in fein säuberlich verpackten Paketen? 

Es besteht allerdings eine fundamentale Schwierigkeit: daß Information zwei Funktionen erfüllen muß. Erstens muß dieses Material den politischen Führern die Kenntnisse vermitteln, die sie für ein Handeln benötigen; zweitens muß es ihnen die Rechtfertigung für dieses Handeln geben, so daß sie von dieser Information Gebrauch machen können, wenn sie jedermann zu beweisen versuchen, daß sie bei allen Anlässen in kluger und fähiger Weise gehandelt haben. 

Mit anderen Worten: Die Information, die sie zu empfangen wünschen, muß sie gleichzeitig mit Wissen und mit Prestige versehen — zwei Funktionen, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. So beschreibt während eines Krieges das militärische Kommando eine Niederlage zuweilen als unentschiedene Schlacht oder gar als Sieg, um die Kampfmoral und ihr eigenes Prestige zu stärken. Glauben die Generäle aber selbst an ihre eigenen Siegesberichte, anstatt die Situation so zu sehen, wie sie tatsächlich ist, dann sind sie wirklich verloren.

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Möglicherweise gehen viele politische Führer, sogar in einer Demokratie, auf diese Weise in eine Falle. Sie wählen Experten aus, die sie mit den notwendigen Informationen versorgen sollen; aber vielfach haben diese Experten denselben Background, dieselben Anschauungen und folglich dieselben Vorurteile wie die politischen Führer. Ein Experte, der darauf aus ist, befördert zu werden, kennt ganz genau die schwachen Stellen seines Vorgesetzten. Berichte, die beweisen, daß der Vorgesetzte einen groben Fehler begangen hat, bleiben also diskret verborgen; das Material hingegen, das ihm schmeichelt, indem es seine Anschauungen und Vorurteile bestärkt, wird — in der Hoffnung auf die erwartete Belohnung — vom »Experten« präsentiert. Es gilt allgemein die Regel, daß Macht Unterwürfigkeit erzeugt, und zwar nicht nur im Palast eines orientalischen Despoten, sondern genauso auf den Fluren der Macht in einer westlichen Demokratie.

Wir haben bereits über die Art und Weise gesprochen, wie ein Gesuch bei einer Regierungsbehörde zunehmend »entmenschlicht« wird, wie es auf seinem Wege von einer Verwaltungsebene zur nächsten ein immer »statistischeres« Aussehen annimmt, wobei gleichzeitig etwaige unerfreuliche Faktoren verschwinden. Auf diese Weise werden leider allzu viele Entscheidungen vorbereitet.

Wahrscheinlich ist dies die einzige Möglichkeit, sich viele der von heutigen Regierungen in kritischen Situationen getroffenen Entscheidungen zu erklären. Obwohl es die im inneren Kreis einer Regierung Vorrang habenden Kriterien sind, die letztlich für eine bestimmte Entscheidung den Ausschlag geben, gehören diese Motive wahrscheinlich zu den am sorgfältigsten gehüteten Staatsgeheimnissen.

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Dem demokratischen Prinzip zufolge ist eine Regierung für ihre Entscheidungen aber dem Volke gegenüber verantwortlich. Doch besitzt eine Regierung mit gut arbeitender Verwaltung einschließlich eines leistungsfähigen Propaganda­apparates sehr wohl die Möglichkeit, nicht für verantwortlich gehalten zu werden. Nur in dramatischen Situationen, z.B. während eines Krieges, werden Fehler der Regierung für jedermann offenbar.

Betrachten wir z.B. eines der dramatischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Als Hitler seine Streitkräfte verstärkte, glaubten sich die Franzosen, wie sie meinten, mit gutem Grund, immer noch in Sicherheit. Vor einem deutschen Angriff schützte sie ja die Maginotlinie, ein modernes Wunderwerk der Festungs­baukunst, das unmöglich zu durchbrechen war. Bei Ausbruch des Krieges jedoch zeigte sich, daß die Maginotlinie nur den südlichen Teil der Grenze zu schützen vermochte. Es gab also nichts, was die Deutschen daran hinderte, ihre Panzer von Norden her, durch Holland und Belgien, eindringen und dann direkt auf Paris fahren zu lassen. Das französische Volk hatte ruhig hinter einer Festungsmauer geschlafen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab.

Wie war das möglich? Es muß doch Leute gegeben haben, die von der Achillesferse der Maginotlinie wußten. In Frankreich herrschte, wie in allen westlichen Demokratien, völlige Meinungsfreiheit. Warum hatte niemand dem Volke die wahre Situation geschildert? Konnte das den Generälen und der Regierung tatsächlich verborgen geblieben sein?

Es ist nicht unsere Absicht, die Gegebenheiten im einzelnen zu analysieren; Tatsache jedoch ist, daß die französische Regierung so handelte, als ob sie nicht die Wahrheit über die Maginotlinie wüßte, und das muß uns zu dem erschreckenden Verdacht führen, daß die französische Regierung und das französische Volk in bezug auf die tatsächliche Bedrohung ihres Landes nicht weniger unwissend waren wie der orientalische Despot in unserer eingangs erzählten Geschichte.

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Es wäre leicht, weitere gleichermaßen beunruhigende Beispiele anzuführen. Wußte beispielsweise die Regierung der Vereinigten Staaten im Jahre 1941, daß ihre Pazifik-Flotte gegenüber japanischen Angriffen verwundbar war — in Anbetracht der zunehmenden politischen Spannungen gegen Ende der dreißiger Jahre eine sehr bedeutungsvolle Tatsache. Gab es niemanden auf höchster Entscheidungs­ebene, der die Geschichte genügend kannte, um zu wissen, daß die Japaner den Russisch-Japanischen Krieg mit einem Überraschungsangriff begonnen hatten?

 wikipedia  Russisch-Japanischer_Krieg

Es besteht kein Grund anzunehmen, daß politische Führer, die jeden Tag Entscheidungen fällen, in Friedenszeiten weniger unwissend sind als in Kriegszeiten. Aber in den sogenannten »normalen Zeiten« können ihre Fehler leicht vertuscht werden.

  Regierung und Urteilsvermögen  

Nach der Frage, ob die Regierenden Zugang zu unverfälschten Tatsachen haben, wollen wir uns nun dem ebenso wichtigen Problem zuwenden, ob die Regierenden überhaupt kompetent sind, vorliegende Tatsachen zueinander in Verbindung zu setzen und sie richtig einzuschätzen.

Während der Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg war es die wichtigste Aufgabe der englischen Regierung, ein ausgewogenes Bild von Hitler und vom Nationalsozialismus im allgemeinen zu gewinnen. Waren die Nazis wirklich eine Bedrohung für die Westmächte, oder war Hitler, wie viele Leute behaupteten, lediglich eine Witzfigur? Zuerst Stanley Baldwin und später Neville Chamberlain hielten es für vordringlich, in diesem Punkte zu einem klaren Urteil zu gelangen. Über Baldwin schrieb Churchill später, daß er wenig über Europa gewußt habe und daß er das, was ihm bekannt gewesen sei, nicht gemocht habe.

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Chamberlain, Geschäftsmann aus Birmingham, sagte man nach, er hätte erkannt, daß Hitler sich eben nicht wie ein Geschäfts­mann aus Birmingham verhielt; also habe er ihn auch so behandelt, als sei er aus Manchester gewesen. Selbst wenn dies auch nur Karikatur ist, so trägt sie doch dazu bei, die geistige Grundlage für Chamberlains Handlungen sowohl vor wie auch während der Münchener Konferenz zu veranschaulichen, von der Chamberlain wahrscheinlich glaubte, daß sie den Frieden gerettet hätte. Erst einige Zeit später wurde ihm klar, daß es Menschen auf der Welt gab, die noch komischer waren als Leute aus Manchester.

Mit einer bei Politikern keineswegs üblichen Freimütigkeit hatte Hitler in seinem Buch Mein Kampf seine Anschauungen und Pläne klar dargelegt. Aus ihren Biographien geht nicht ganz eindeutig hervor, ob Baldwin oder Chamberlain Hitlers Manifest jemals gelesen hatten. Hatten sie wirklich versucht, die Welt mit den Augen zu sehen, mit denen die Deutschen sie nach dem Versailler Vertrag und der Weimarer Republik sahen? Wahrscheinlich besaßen die beiden Staatsmänner nicht das geistige Werkzeug, das eine solche Aufgabe voraussetzt. Keiner von ihnen war mit der deutschen Sprache vertraut, und keiner hatte sich jemals ernsthaft mit deutscher Philosophie oder Kulturgeschichte beschäftigt. Der Nationalsozialismus stand in zu großem Gegensatz zu ihnen. Es war ihnen, um offen zu sein, einfach unmöglich, die nationalsozialistische Weltanschauung geistig zu erfassen und einzuschätzen. Trotzdem war es für sie beide als britische Premierminister die wichtigste Aufgabe, die auf England und andere westliche Staaten gerichtete Bedrohung durch den Nationalsozialismus im rechten Licht zu sehen — eine Ironie, die vielleicht recht belustigend wäre, wüßten wir nicht, was nach München folgte.

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Ihr mangelndes Urteilsvermögen ist völlig zu entschuldigen. Man kann niemanden dafür tadeln, daß er etwas zu leisten nicht imstande ist, was außerhalb seiner Fähigkeiten liegt.

Der Preis aber, den England für seinen Fehler bezahlen mußte, waren mehrere Jahre unerbittlichen Krieges und der unwieder­bringliche Verlust seiner Weltherrschaft.

Aber warum in Vergangenem graben? Welchen Sinn hat es, über die vor langer Zeit von Politikern begangenen Fehler zu diskutieren? Zumal die Geschichte voll von Fehlern ist: Wir alle haben sie begangen, und wir werden sie immer wieder begehen. Warum sollten wir die Schuld für das Elend auf dieser Welt irgendeinem glücklosen Politiker zuschreiben, von dem man keine übermenschlichen Qualitäten erwarten darf und der in Wirklichkeit sein Bestes tut, um außerordentlich schwierige Situationen zu meistern? 

Das ist auch nicht das Entscheidende. Es wäre eine gefährliche Vereinfachung, wollte man behaupten, daß alles auf der Welt in schöner Ordnung verliefe, wenn alle Politiker nur kluge und fähige Leute wären. Vielmehr sollte, wenn wir feststellen, daß die politischen Führer der Gegenwart oftmals irren, diese Feststellung nicht in erster Linie als Kritik an ihrer persönlichen Befähigung getroffen werden, sondern als Kommentar zum gegenwärtigen politischen System, das zu viele Unfähige auf Posten stellt, auf denen sie unser aller Sicherheit gefährden.

Die Entwicklung einer weltweiten Kommunikation hat uns in engen Kontakt zu anderen Menschen gebracht. Wir müssen lernen, mit ihnen zusammenzuleben. Aber noch heute sind die Menschen, denen die Lösung der Koexistenzprobleme anvertraut worden ist, vielfach mindestens ebensowenig über andere Regierungen informiert, wie Baldwin und Chamberlain es über die Nationalsozialisten waren. Wie viele Kriege sind begonnen worden oder werden noch beginnen, weil irgend jemand die Bedürfnisse oder die Absichten eines in einer anderen Kultur lebenden Volkes mißdeutet? Die schwerwiegende Bedeutung eines solchen Vorfalls tritt hier offen zutage.  

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  Unsere gegenseitige Unkenntnis  

Besonders während der Zeit des kalten Krieges lag eines der wichtigsten Probleme des Westens darin, welche Art von Beziehung man mit der Sowjetunion unterhalten sollte. Bestand ein echtes Atomkriegs­risiko? Was waren die wirklichen Absichten der Sowjets? Eine der wichtigsten Aufgaben für westliche Diplomaten war offensichtlich, zu verstehen, warum die Sowjets so handelten, wie sie handelten, und dieses Verständnis beim Verhandeln mit dem kommunistischen Lager anzuwenden. Waren die führenden Staatsmänner des Westens fähig, eine solche Aufgabe wahrzunehmen?  

Das Wissen der Sowjets über die westlichen Länder übersteigt das der westlichen Länder über die Sowjetunion bei weitem. Viele der in Wissenschaft, Kunst und Politik führenden Sowjetbürger sprechen gut Englisch und oft auch Deutsch und Französisch. Zu diesen Kenntnissen gehört meist auch das Vertrautsein mit westlicher Literatur, Geschichte und Geographie. Im Westen hingegen sind Kenntnisse der russischen Sprache selbst bei führenden Personen in Politik und Gesellschaft eine Seltenheit.

Es wäre einmal interessant zu wissen, wie viele führende westliche Politiker die russische Sprache beherrschen. Wahrscheinlich nur wenige. Wie viele kennen wohl die russische Geschichte so genau und haben die Entwicklung des Marxismus so gut studiert, daß sie die dem Denken und Handeln der russischen Führer zugrunde liegenden Faktoren auch wirklich verstehen? Gewiß nicht viele.

Man mag einwenden, daß der Führer einer Regierung gar keine fremden Sprachen zu sprechen brauche, da doch genügend viele Übersetzer und Übersetzungen vorhanden seien. Oder warum sollten westliche Politiker sich mit Marxismus beschäftigen, wenn es doch so viele Experten gibt, die ihnen von den Lehren Marx' erzählen können?

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Doch jedermann wird zustimmen, daß zwischen einem Original und einer Übersetzung ein enormer Unterschied besteht. Ein noch größerer Unterschied besteht zwischen dem Bericht eines Experten über die Bedingungen in einem Land und der eigenen Anschauung, wenn man in einem Land gelebt und seine Luft geatmet hat. Überdies betrachten die Politiker die Experten mit großer Skepsis. Informationen und Empfehlungen müssen erst den Weg von den Experten (die oft einen Platz ganz unten am Totempfahl haben) bis hinauf zum Leiter der Exekutive zurücklegen. In diesem Prozeß werden die, die am wenigsten fähig sind, sagen wir, die Absichten der Sowjets in einer internationalen Krise zu beurteilen, mehr Autorität haben als die mit der russischen Sprache und Kultur direkt vertrauten Experten. Nur selten erlaubt man Experten, dabeizusein, wenn eine endgültige politische Entscheidung getroffen wird.

Natürlich ergeben sich im Laufe dieses Prozesses Mißverständnisse, mit dem unvermeidbaren Resultat, daß westliche Staatsmänner die Sowjets für nicht verläßlich und kapriziös halten, obwohl diese Kritik besser auf ihre eigene Entscheidungskette anzuwenden wäre. In solchen Fällen einer fehlenden Kommunikation kann westliche Unwissenheit viel gefährlicher sein als ein sogenannter Feindstaat. Noch diffiziler sind die Beziehungen zwischen dem Westen und China bzw. Japan — Beziehungen, die noch immer sehr stark von einer Anzahl traditioneller Vorurteile und der Einbildung, überlegen zu sein, bestimmt werden. Selbstverständlich spricht das Personal einer chinesischen oder japanischen Botschaft in London und Washington Englisch und in Paris Französisch. Aber es wird nicht für nötig erachtet, daß alle Botschafter in Moskau Russisch sprechen, und nur in Ausnahmefällen wird die Kenntnis der chinesischen oder japanischen Sprache als notwendige Voraussetzung für Leute angesehen, die westliche Staaten in Peking oder Tokio vertreten.

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So sind die meisten Repräsentanten, die die diplomatische Verantwortung für die immer wichtiger werdenden Beziehungen zu China und Japan tragen, in dem Lande, in dem sie arbeiten, Analphabeten. 

In führenden chinesischen Kreisen sprechen viele eine westliche Sprache und sind mit westlichem Denken vertraut. Tschu En-lai z.B. spricht ausgezeichnet Englisch, Französisch, Deutsch und natürlich Russisch. Doch keines seiner westlichen Gegenüber verfügt, soviel wir wissen, auch nur über Grundkenntnisse der chinesischen Sprache und Kultur. Für diese führenden Köpfe des Westens sind die chinesischen Ideogramme — graphische Symbole der längsten kontinuierlichen kulturellen Überlieferung auf unserem Planeten — nicht mehr als merkwürdiges Gekritzel.

Aus dem Englischen ins Französische oder Deutsche zu übersetzen, ist recht einfach. Übersetzungen aus einer dieser Sprachen ins Russische sind schon schwieriger. Eine adäquate Übersetzung vom Chinesischen oder Japanischen in eine der europäischen Sprachen anzufertigen, ist extrem schwierig, da diese nichtindo­germanischen Sprachen andere Strukturen haben und ihre Schriftsteller, wie die des Westens auch, ihre Schriften und Aussagen mit Anspielungen auf die eigene klassische Literatur versehen. 

Wer die kulturellen Überlieferungen der Chinesen und Japaner nicht völlig in sich aufgenommen hat, bringt es oft nicht fertig, die eigentliche Bedeutung einer Aussage zu verstehen. Diese Sprachen wörtlich zu übersetzen, kann nicht befriedigen und ist oft auch völlig unangemessen.

Für Chinesen und Japaner ist es genauso schwierig, eine westliche Sprache zu lernen, wie für uns, Chinesisch oder Japanisch. Es bereitet ihnen ausgesprochen große Mühe, eine westliche Sprache fließend zu sprechen — was im Westen nicht immer begriffen wird. Einer der vielen Vorwürfe, die man Orientalen macht, ist, daß es ihnen wohl an der Fähigkeit mangele, logisch zu denken.

Derart lächerliche Behauptungen finden sich noch immer in führenden westlichen Zeitungen. Sie beruhen auf einer fundamentalen Unkenntnis der Linguistik. Der Grund, warum eine wörtliche Übersetzung zu dem Eindruck, unlogisch zu sein, führen kann, liegt einfach darin, daß die Syntax der japanischen und chinesischen Sätze sich von der unsrigen wesentlich unterscheidet. Und da viele japanische und speziell chinesische öffentliche Stellungnahmen in Wirklichkeit nicht richtig übersetzt sind, rätseln Millionen von Lesern eine »orientalische Mentalität« hinein, die sie niemals verstanden haben. Man braucht wohl nicht zu sagen, daß dieses Mißverständnis die politische Atmosphäre vergiftet und eine echte Bewertung der östlichen Kulturen obstruiert.

Bekanntlich wird vom Eisernen Vorhang behauptet, daß er uns am Verstehen der Sowjetunion hindere, und vom Bambusvorhang, daß er China von uns abschirme. Es besteht kein Zweifel, daß beide »Vorhänge« Wirklichkeit sind. Doch vergessen wir nicht, daß es noch einen weiteren solchen Vorhang gibt, der eine dem kulturellen Austausch weit höhere Barriere entgegenstellt. Dieser Vorhang ist aus den Fäden westlicher Arroganz, westlichen Dünkels und westlicher Ignoranz gewoben.

In vergangenen Zeitaltern, da die Regierungspolitik Monarchen oblag, die ihre Position erbten, ließ man zukünftigen Königen eine sorgfältige Ausbildung zuteil werden, in der Absicht, sie für ihre hohen Aufgaben zu qualifizieren. Die herausragendsten Gelehrten waren gerade recht, sie in Ethik, Philosophie, Geschichte, Verwaltung und anderen Disziplinen zu unterrichten.

Den Staatsmännern von heute fordert man ein solches Wissen nicht ab. Definitionsgemäß haben sie zwei Dinge zu beherrschen: erstens, wie man die Macht ergreift; zweitens, wie man sie behält. Dabei fordert das kybernetische Zeitalter von denen, die unseren Planeten regieren, eine viel weitgehendere und größere Qualifikation.

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 1969 - Hannes und Kerstin Alfvén  M-70  Die Menschheit  der siebziger Jahre