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Warum die Bergpredigt heute? 

 

 

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Seit Gutenberg wurde die Bibel milliardenfach gedruckt. Aber kein Nichttheologe wird die Bibel von vorn bis hinten mit Gewinn durchlesen. Man kann allenfalls in der Bibel lesen. Auch die Kirche benutzt im Lauf des Kirchenjahres die Bibel selektiv. Bibeltexte eignen sich zum Meditieren, nicht zum mechanischen Lesen. 

Die Bergpredigt ist nicht die Bibel, sie ist nicht einmal das Neue Testament, aber sie enthält das Wesentliche der Botschaft Jesu. Sie atmet den Geist Jesu wie keine zweite Bibelstelle. Hier findet man die zentralen Aussagen des Mannes aus Nazaret.

Die jesuanische Radikalität in ihren persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen wird nirgendwo so deutlich wie in der Bergpredigt bei Matthäus und in der Feldpredigt des Lukas (Kapitel 6). Die Bergpredigt ist keine authentische Jesus-Rede, aber sie enthält authentische Jesus-Forderungen. Sie ist eine literarische Komposition von Jesus-Worten. Ihr Geist ist zweifellos jesuanisch: Gewaltverzicht, Frieden schaffen, Sanftmut, Menschen­freundlichkeit. Dem Bergprediger geht es nicht um asketische Vollkommenheit, sondern um das Ganz-Sein des Menschen.

»Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.« 

Jeder ist angesprochen. Erst wenn wir spüren, daß Frieden und Gewaltverzicht nicht irgendwann irgendeine beliebige Politik ist, sondern daß damit hier und heute jeder einzelne Mensch gemeint ist, können wir anfangen, die Bergpredigt zu begreifen. Frieden ist kein Schicksal, sondern unser Auftrag, so wie Krieg unser Versagen ist. 

Wir alle tragen gelegentlich hehre ethische Forderungen wie die der Bergpredigt vor uns her, in der politischen und sozialen Realität jedoch halten wir sie gleichzeitig für unerfüllbar. Die Geschichte der Bergpredigt hat nicht stattgefunden. Sie ist die Geschichte der Verdrängung ihrer Forderungen. 

Interessant und verständlich ist, daß bis heute versucht wird, die Bergpredigt zu entschärfen: Kirchenführer und Theologen entschuldigen sich noch immer für die Konsequenz des jungen Nazareners. Politiker erklären Jesus für politisch inkompetent

Die Christen Otto von Bismarck, Helmut Schmidt und Karl Carstens sagten übereinstimmend: »Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren.« Hans Apel beklagte als Verteidigungsminister den zunehmenden Pazifismus (den Jesus gefordert hatte) und spottete: »Die Bergpredigt ist in ihrer Totalität nur für Bettelmönche praktizierbar.«  

Die Nazis hatten ihr Schimpfwort »Pazifist« immer mit dem Adjektiv »würdelos« geschmückt. Und der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber schrieb 1935: Die Kirche »hat vielmehr den übertriebenen und kraftlosen Pazifismus abgelehnt, der im Kriege etwas Unerlaubtes und Widerchristliches erblickt und dem Unrecht die Herrschaft überläßt«.

 

Das Ergebnis dieser Politik ohne den Geist der Bergpredigt ist heute für jeden, der nicht blind sein will, erkennbar: Wir leben wirtschaftlich auf Kosten künftiger Generationen sowie auf Kosten der Menschen in der sogenannten Dritten Welt und bereiten militärisch das Ende der Schöpfung vor. 

Ost und West zusammen haben heute die Möglichkeit, 1,6 millionenmal Hiroshima zu fabrizieren, 1,6 millionenmal! »Hiroshima ist überall« (Günther Anders), und noch immer wird weitergerüstet. Auf jeden Einwohner eines Landes der NATO und des Warschauer Paktes kommen umgerechnet 60 Tonnen Sprengstoff. Die Supertodesmächte können sich gegenseitig mindestens 20mal umbringen, aber nach Ansicht der heute führenden Politiker in Ost und West reicht das längst noch nicht, denn sie rüsten weiter. 

Keiner ist fähig aufzuhören. 

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Die Atombomben sind noch keine 40 Jahre alt und werden politisch sehr ernst genommen. Die Bergpredigt ist 2000 Jahre alt, wird immer zitiert, spielt aber in der politischen Praxis überhaupt keine Rolle. Auch von denen, die sich privat auf ihn berufen, wird Jesus von Nazaret politisch als Spinner abgetan, der sich leider geirrt habe. Sein Vorschlag einer Politik der Feindesliebe gilt allenfalls als liebenswerte politische Dummheit. Exakt dies hat er vorausgesagt, er war ein Realist.

 

Jesus war weder Priester noch Schriftgelehrter; er war auch kein Theologe, sondern ein Laie. Was Jesus wirklich wollte, ist nicht immer leicht zu erfahren. Er hat selbst nichts geschrieben. Die vier biblischen Jesusbiographen, die Evangelisten, haben — nach den Erkenntnissen der heutigen Bibelwissenschaft — Jesus nicht persönlich gekannt. Sie hätten nicht einmal seine Sprache verstanden. Er sprach aramäisch. Die Sprache des Neuen Testamentes ist griechisch, die damalige Weltsprache. Und die Evangelisten schrieben erst ab den 60er Jahren nach Christi Geburt. Die Quellen, die sie benutzten, sind nur schwer zu rekonstruieren. Die Evangelisten übermitteln also nicht direkt Jesus, sondern lediglich ein bestimmtes Bild von ihm. Manches Jesus-Wort in den Evangelien stammt nicht nur nicht von Jesus, sondern widerspricht sogar seinem Geiste. Die kontroverse Literatur hierüber füllt Bibliotheken. 

Ich möchte als Nichttheologe nur einige Autoren nennen, die mir bei meiner Suche nach dem wirklichen Jesus geholfen haben: Karl Herbst, Hans Küng, Johann Baptist Metz, Eduard Schillebeeckx, Arnulf Zitelmann und — vor allem — Hanna Wolff mit ihren drei Jesus-Büchern (s. auch das Literatur­verzeichnis). Nachdem ich einige Jahre an der Ausgrabung des verschütteten und an der Freilegung des übertünchten Jesus gearbeitet habe, kam der Jesus der Bergpredigt zum Vorschein. Er ist kein Philosoph, sondern ein Prophet. Wer anfängt, über die Jesus-Worte bei Matthäus 5-7 nachzudenken, und versucht, danach zu leben, kann erfahren, daß der Gott Jesu ein Gott der Liebe und des Friedens ist.

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Jesus stellt vieles auf die Füße, was vor ihm verkehrt und auf dem Kopf stand. Ihm geht es nicht um religiöse Formeln, sondern um Inhalte; nicht um förmliche Gerechtigkeit, sondern um Liebe; nicht um Theorie, sondern um Praxis, nicht um Friedensgerede, sondern um Friedenstaten, nicht um die Lehre, sondern um das Leben.

Gilt die Bergpredigt nur für eine paradiesische Endzeit oder schon für diese Welt? Die Welt der Bergpredigt ist im Gegensatz zu dem, was in frommen Büchern dazu steht und in wortgewaltigen Predigten dazu gesagt wird, unsere Welt. Im Jenseits wird vermutlich nicht geschossen und nicht geschlagen, es wird wohl auch keine Gerichtshöfe und keine Gefängnisse geben. Die Bergpredigt handelt vom Anfang bis zum Schluß von unserer Welt. Jesu Schlüssel­worte sind »jetzt« und »neu«. 

Seine Lehre ist keine Vertröstungsideologie, sondern eine Seligpreisung der Friedensstifter, ein Angebot für eine bessere Welt. Wen die Bergpredigt gepackt hat, den durchdringt Jesu Provokation: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Jesus stellt auch keine unerfüllbaren Forderungen, wie so oft behauptet wird. Er ist Bruder und nicht ein grausamer Despot, der ein böses Spiel mit uns treiben will. Jesus brachte radikal Neues für diese Welt. Seine Moral ist nicht weltfremd, sondern weltverändernd. Die Harmonie mit dem Bestehenden und Alten lehnte er ab. »Neuer Wein gehört in neue Schläuche.« (Matthäus 9,14) 

Die entscheidende Frage an Christen heißt seither: Sind sie, was sie sein können, sind sie, was sie sein sollen? Jesus fordert nicht weniger als eine Revolution unseres allgemeinen Bewußseins, privat und politisch. Kein Zweifel, daß Christen und christliche Kirchen auch an der Schwelle zum 3. nachchristlichen Jahrtausend noch immer vorchristlich leben. Die Harmonie mit Staat und Gesellschaft und privatem Lebensstil ist uns allemal wichtiger als die christliche Identität. Wir haben heute allenfalls den christlichen Bewußtseinsstand von Kleinkindern, wir haben Angst, christlich erwachsen zu werden. Nach der Aufklärung ist das Abendland wissenschaftlich zwar ein Riese geworden, aber seelisch und religiös ein Baby geblieben. Und schuld an alledem ist — nach Hanna Wolff — das noch heute gültige patriarchalische Menschenbild und ein damit zusammenhängendes krankmachendes Gottesbild. 

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Patriarchalisches Bewußtsein heißt: Es herrschen bis heute »männliche« Wertordnungen wie Gewalt, Gehorsam, Leistung, Befehl und Denken. »Weibliche« Wertordnungen wie Gewaltlosigkeit, Vertrauen, Liebe, Verzeihen und Gefühl werden unterdrückt wie vor 2000 Jahren. Anders als Mohammed ist Jesus ein Mann des Gefühls. Jesu ganzheitliches, männliche und weibliche Wertordnungen umfassendes Menschenbild hat im Christentum 2000 Jahre lang fast nichts bewirkt. Nicht einmal Jesu Gottesbild, das Bild des liebenden Vaters, ist akzeptiert. Liebe bei Jesus heißt: Nicht siebenmal verzeihen, sondern »siebzigmal siebenmal«. Haben wir das bis heute je begriffen?

Jesu Liebesgott ist inzwischen überlagert vom alttestamentlichen Rache- und Gnadengott. Der alttestamentliche Gott ist gnädig, weil er ein Richtergott ist. Der Gott des Neuen Testaments, der Gott der Bergpredigt, liebt, weil er ein Vater ist. Der Gott des Alten Testaments liebt nicht nur, er rächt und richtet auch. Jesus aber: »Richtet nicht... Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge.« 

Doch bis heute gilt eher eine vorchristliche Primitivethik. Privat suchen wir ständig Sündenböcke, die Politik wird von Feindbildern beherrscht. Politiker, die von Frieden reden, bereiten die Vernichtung der Menschheit vor. Das atomare »Gleichgewicht des Schreckens« hat keine ethische Basis in der Bergpredigt. Der Bergprediger war eine Provokation für seine Zeit. Er ist es heute noch. Begriffen haben wir nicht viel von ihm. Seine Dialektik heißt: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist ..., ich aber sage euch.« Mich wundert nicht mehr, daß dieser Provokateur am Kreuz landete, mich wundert, daß die damals Herrschenden ihn drei Jahre lang gewähren ließen.

»Ihr seid das Salz der Erde ... Ihr seid das Licht der Welt.« Jesus will die Phantasie anregen, eine bessere Welt denken zu können. Er will keine Revolution um der Revolution und keine Reform um der Reform willen. Er negiert auch nicht grundsätzlich die religiösen und juristischen Traditionen seines Volkes, aber er fragt nach deren Sinn. Jesus stellt immer die Sinnfrage. Religion, Tradition und Politik müssen für die Menschen dasein und nicht umgekehrt. Der Mensch ist wichtiger als der Tempel. 

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Jesus will den menschlichen, den freiwilligen, den evolutionären Fortschritt, der die Tradition nicht außer acht läßt, aber sie in Frage stellt. Jesus betete und ging in den Tempel. Er hatte Geduld mit Menschen. Seine Geduld wurzelte im Wissen, daß Gott seine Sonne scheinen läßt über Gute und Böse.

Gilt die Bergpredigt nur für Auserwählte? Jesus spricht alle an, die sich ansprechen lassen wollen. Die Bergpredigt ist nicht nur an seine »Jünger«, sondern auch an »die vielen Menschen« gerichtet. »Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel denen geben, die ihn bitten.« Es ist tröstlich zu wissen, daß die Bergpredigt denen gilt, die »böse« sind.

Die Bergpredigt enthält private und politische Vorschläge für ein Leben aus dem Geist der Liebe. Und am Ende der Bergpredigt »war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre«. Das Beten im stillen Kämmerlein und die Ehemoral sind ebenso gemeint wie Feindesliebe und Friedensethik. 

Als politischer Journalist untersuche ich in diesem Buch die Konsequenzen aus der Bergpredigt für die heutige friedenspolitische Diskussion. Eine wesentliche Erkenntnis aus der Bergpredigt ist: Nur Menschen, die selbst friedlich sind, können auch politischen Frieden bewirken. Die »falschen Propheten« erkennt man an dem, was sie tun. »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.« Das heißt: Politiker, die nur von Frieden reden, aber ständig Kriegsvorbereitungen treffen, werden niemals Frieden schaffen können. »Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte.« Frieden fängt innen an, die Wurzeln sind entscheidend. Der Frieden des ganzen hängt von der Anstrengung des einzelnen ab. Das gilt für alle Lebensbereiche.

 

   Ist die Bergpredigt auch politisch? 

 

Martin Luther unterscheidet zwischen persönlicher und politischer Moral, zwischen »Christperson« und »Weltperson«: »Ein Fürst kann wohl ein Christ sein, aber als ein Christ muß er nicht regieren, und nach dem er regiert, heißt er nicht ein Christ, sondern ein Fürst. 

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Die Person ist wohl ein Christ; aber das Amt oder Fürstentum geht sein Christentum nichts an.« Das ist die doppelte Moral, auf die sich die meisten Christen in der Politik auch heute berufen: Theoretisch muß man natürlich die Bergpredigt als Text des Neuen Testaments akzeptieren. Auf der Suche nach Ausreden und zur Beruhigung des schlechten Gewissens gilt aber in der Praxis: »Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren.« Und wenn diese doppelte Moral auch noch intelligent und modern klingen soll, wird auf Max Weber verwiesen. Mit seiner Trennung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik läßt sich alles rechtfertigen: Man ist mit seiner Gesinnung natürlich für Frieden, aber baut, weil man ein verantwortlicher Politiker ist, Atombomben.

Als Christ sei er selbstverständlich auch für die Bergpredigt, hielt mir Heiner Geißler in einem Streitgespräch vor, aber als Politiker sei man verantwortlich für Christen und Nichtchristen, da könne der Politiker dann mit der Bergpredigt nicht viel anfangen. Und da Kommunisten die Bergpredigt überhaupt nicht ernst nähmen, könne man mit ihr leider keine Abrüstungspolitik betreiben. Kommunisten verstünden nur die Sprache der Härte.

Wieso eigentlich nur Kommunisten? Ist die Atombombenpolitik der USA denn weniger »hart«? Franz Josef Strauß setzt sich einerseits für atomare Nachrüstung ein, andererseits nennt er sich selbst aber einen »Gesinnungspazifisten«. Als Christ spürt Strauß natürlich einerseits, daß man Pazifisten nicht einfach verdammen kann, wenn Jesus sie selig preist. Andererseits will er aber aus dem »Gleichgewicht des Schreckens« nicht aussteigen. 

Freiheit und Verantwortung lassen sich jedoch in der Bergpredigt nicht trennen. Radikale Freiheit und radikale Verantwortung sind kein Gegensatz. Radikale Freiheit ist radikale Verantwortung. Die Ethik der Bergpredigt heißt nicht Einerseits-Andererseits, sondern Entweder-Oder. Die Bergpredigt kann man nicht wollen, die Bergpredigt kann man nur tun. Die Einerseits-Andererseits-Ethik steht in der Tradition des römischen Spruchs »Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor!« Nach dieser Vorbereitung wurden dann in der Geschichte auch immer wieder Kriege geführt.

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Die neue Ethik der Bergpredigt, die Ethik des Entweder-Oder heißt hingegen: Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor; wer Krieg vorbereitet, wird Krieg bekommen. Nicht die gute Absicht zählt, sondern allein die Tat. Für eine Trennung zwischen privater und politischer Ethik gibt es keinen einzigen Hinweis in der Bergpredigt. Die Gerechtigkeit Jesu ist universal. Die geforderte Vollkommenheit steht in Zusammenhang mit seiner Kritik an jener Liebe, die zwar die Freunde, nicht aber die Feinde einschließt. Nächstenliebe ist nach Jesus noch nicht vollkommen, wahre Liebe umfaßt auch die Feinde. Das ist politischer Sprengstoff, der freilich fast noch nie benutzt wurde in der Weltgeschichte. Gandhi ist die große Ausnahme. Der bisher benutzte Sprengstoff war meist anderer Art. Vielleicht fällt es uns deshalb so schwer, an den Sprengstoff der Bergpredigt zu glauben. Wer die Heilkraft der Bergpredigt nicht in seinem Privatleben erfährt, wird sich ihr auch politisch nicht aussetzen können.

Jesus wußte viel von Gott, mehr als alle anderen Menschen, er war für mich ein Lehrer Gottes. Erasmus nannte ihn den »himmlischen Lehrer«. Die Bergpredigt weist Jesus als Lehrer mit großer Autorität aus: Er hatte göttliche Vollmacht. Wer die Bergpredigt nur privat oder nur politisch interpretieren möchte, hat das ganzheitliche Denken Jesu nicht begriffen. Seine Botschaft ist so ganzheitlich wie sein Leben. Es gibt keine Gottesliebe ohne Menschenliebe. 

Um ein Mißverständnis auszuschließen: Der Bergprediger meint nicht Jesus-Herrschaft, sondern Gottes-Herrschaft. Wer nachfolgen will, soll »den Willen Gottes tun«! Und Gott ist die Liebe und nicht die Gewalt. Jeder Mensch, der — wie jener Samariter — seiner inneren Stimme folgt, tut Gottes Willen. Jesu Urteil über denjenigen, der in seinem Geiste handelt, ist eindeutig: Er wird leben. Sein Urteil über denjenigen, der sich zwar auf ihn beruft, aber nicht in seinem Sinne handelt, ist ebenso eindeutig: Er ist »wie ein unvernünftiger Mann, der sein Haus auf Sand baute«. Warum die Bergpredigt? Sie ist eine Chance zur Veränderung der Welt. Aber die Welt wird nur verändert durch eine Umkehr der Herzen.

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»Kehrt um und glaubt verändert die Welt« hieß das Motto des Deutschen Katholikentages 1982. Der offizielle Katholizismus, der oft so beflissen die politische Dimension der Bergpredigt verschweigt, spricht hier endlich einmal eine deutliche Sprache.

Die Bergpredigt ist radikaler als das kommunistische Manifest. Karl Marx wollte einige Verhältnisse ändern, Jesus will die Umkehr der Herzen.

Warum die Bergpredigt? 

Solange wir die Bergpredigt nicht entdeckt und nicht verstanden haben, solange haben wir unsere Möglichkeiten nicht entdeckt und nicht verstanden. Die Bergpredigt ist der Weg zur Menschwerdung jedes Einzelnen und dadurch auch zur Menschwerdung der Menschheit. Dostojewski: »Sehnsüchtig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein könnte.« Die Bergpredigt ist kein Gesetz und keine Sammlung von Geboten, sondern eine Verheißung des Lebens, ein Experiment der Liebe, eine Chance zur Reife der Menschheit. Martin Buber: »Der Ursprung allen Konfliktes zwischen mir und meinen Mitmenschen ist, daß ich nicht sage, was ich meine, und daß ich nicht tue, was ich sage.« 

Warum die Bergpredigt? Ohne sie gleitet uns nicht nur die Technik aus den Händen: Die Atombomben verfügen über uns.

 

    Am Ende der Schöpfung?  

 

Erstmals in der Geschichte haben Menschen die Möglichkeit, ihre Geschichte zu beenden. 

Der atomare Holocaust würde jedoch nicht nur die heute lebenden 4,5 Milliarden Menschen vernichten, er würde auch Milliarden künftiger Leben unmöglich machen und zugleich die Erinnerung an alles frühere Leben auslöschen. Atomarer Holocaust wäre also nicht nur der Tod der Gegenwart, sondern auch der Tod der Zukunft und der Tod der Vergangenheit. 

Atomarer Holocaust wäre der Tod jeder Geburt und der Tod jeden Todes. Günther Anders und Jonathan Schell nennen den atomaren Holocaust den »zweiten Tod«. Es gäbe erstmals in der Geschichte keine Erinnerung an frühere Generationen und keine Hoffnung auf zukünftige mehr. 

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Wir würden die Toten nochmals töten und unseren eigenen Kindern die Waffe an den Kopf halten. Es gäbe erstmals keine »Partnerschaft der Generationen« (Edmund Burke) mehr.

Das Verbrechen der Vernichtung der heute Lebenden würde noch übertroffen vom Verbrechen der Annullierung zukünftiger Generationen. Die sprachlosen Ungeborenen stehen nicht auf der Rechnung der Atomstrategen, sie würden aber auf unserem Schuldkonto der entscheidende Faktor sein, milliardenfach. Wir können heute in Stunden vernichten, was in vier Milliarden Jahren gewachsen ist. Es gibt heute — man muß es sich immer wieder klar machen — pro Kopf mehr Sprengstoff als Nahrungsmittel. 

Bisher kannten die Menschen nur den individuellen Tod. Heute haben wir eine Ahnung vom kollektiven Tod. Endzeitstimmung gab es schon öfter in der Geschichte, aber Apokalypse stand meist im Zusammenhang mit Gott, der zwar die Welt zerstören, aber die Toten aufwecken würde. Die heutige Endzeitstimmung ist gottlos. Die Menschen haben sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt, sie sind selbst in der Lage, die Schöpfung zu beenden. 

»Das derzeitige amerikanische und sowjetische Arsenal, welches die Zerstörungsgewalt der Hiroshima-Bombe millionenfach übertrifft, erfüllt nicht seinen Zweck — ein Zwanzigstel reichte sicherlich zur Sicherung der kühnsten Abschreckungstheorien aus.« (George F. Kennan). Der atomare Holocaust läßt sich nicht exakt beschreiben, wir können ihn nur ahnen. Wäre er exakt zu beschreiben, dann gäbe es wahrscheinlich niemand mehr, der ihn beschreiben könnte. Es gibt keine Ersatzerde, von der aus sich das Experiment eines atomaren Holocaust in Gelassenheit beobachten ließe. Mit der einen Erde darf man so wenig experimentieren wie mit Menschen. Jonathan Schell: Die Erde "ist unersetzlich wie der einzelne Mensch, heilig wie dieser".

In der bisherigen Geschichte blieb Risiko immer im Rahmen weiteren Lebens. Die mögliche Vernichtung des Planeten Erde aber bedroht alles Leben.

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Viele wenden ein: Das ist doch alles nur eine Möglichkeit, keine Gewißheit. Nur eine Möglichkeit? Wieviele Versicherungen schließen wir im Privatleben ab, um gegen mögliche Unfälle gewappnet zu sein! Wer begriffen hat, daß die Möglichkeit eines atomaren Holocaust Wirklichkeit werden kann, muß sich wehren. Politik, die diesen Namen verdient, darf mit der Schöpfung nicht spielen. Wenn wir dieses Spiel verlieren, erhalten wir keine neue Chance. Auch wenn die atomare Vernichtung intellektuell nur eine Möglichkeit ist: Politisch und moralisch muß diese Möglichkeit als Realität begriffen werden, sonst kann man nicht erfolgreich gegen die Gefahr ankämpfen. Der atomare Holocaust bleibt nur dann lediglich eine Möglichkeit, wenn wir diese Möglichkeit als reale Gefahr begreifen. 

Die Rettung kann nur Befreiung von dieser Gefahr heißen. Das Wissen über die Herstellung von Atomwaffen können wir nicht wieder abschaffen. Damit müssen wir leben. Aber die Gefahr ist zu groß, um auch noch mit den Atomwaffen selbst auf Dauer leben zu können. Auf Dauer kann man mit immer komplizierter werdender atomarer Technik nur sterben. Die einzige Chance zu überleben ist die bewußte Auseinandersetzung mit der Gefahr.

Die atomare Bedrohung ist eine ökologische Bedrohung, eine Bedrohung der gesamten Schöpfung. Die Atombombe ist die Spitze unseres zivilisatorischen Eisberges. Der zivilisatorische Fortschritt »ist das Ergebnis einer gegen die Natur gerichteten kompensatorischen Aktivität« (David Caver). Alles, was wir nicht mehr natürlich leben (Sexualität, Liebe, Urvertrauen, Religion), kompensieren wir unbewußt durch Streben nach Geld und Macht. Der Gipfel des kompensatorischen Lebens ist die Atombombe, deren Existenz nicht neu ist, deren Gefahr wir aber verdrängt hatten. Doch was wir verdrängen, meldet sich irgendwann wieder.

Menschsein heißt Teilhaben an der Schöpfung. Diese Teilhabe machen uns die Atomwaffen heute streitig. Die Hoffnung, den nuklearen Holocaust mit Hilfe von diplomatischen Vereinbarungen und mit Vernunft zu verhindern, ist trügerisch und widerspricht jeder Erfahrung. Im Dritten Reich konnte man erleben, wie wenig Vernunft taugt, wenn die »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) regiert. Den atomaren Holocaust verhindern wir durch Aussöhnung und Feindesliebe oder gar nicht. Die Summe der Nuklearwaffen ist Ausdruck eines gigantischen, menschheitsgeschichtlich einmaligen lange eingeübten und lange angestauten Hasses.

Unsere Macht ist zerstörerisch. Wir können zwar die Schöpfung beenden und alle Menschen töten, aber wir können keinen einzigen Menschen erschaffen. Daß wir nicht einmal einen grünen Grashalm erschaffen können und trotzdem keinen Schöpfer mehr anerkennen wollen, zeigt, was uns heute am meisten fehlt: Selbsterkenntnis, Einsicht in unsere Grenzen. Selbst die Zerstörungskraft, die wir besitzen, ist geborgt. Wer die Gesetze der Natur kennt, ist noch lange kein Gesetzgeber. Menschen sollen nur eines: in Bescheidenheit sich selbst erhalten. 

Wenn wir diese Aufgabe nicht erfüllen, wird ewige Finsternis sein: Es wird dann keinen Krieg und keinen Frieden mehr geben, keinen Haß und keine Liebe, keine Trauer und keine Freude, keinen Tod mehr und nie mehr die Geburt eines Kindes.

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