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2  Die alte Politik  

 

 

   Vernichtung oder Frieden?

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Es wird in Europa wahrscheinlich keinen großen Krieg mehr geben. Im Atomzeitalter heißt unsere Alternative nicht mehr Krieg oder Frieden, sondern Vernichtung oder Frieden. In Kriegszeiten vor der Atombombe konnte jeder damit rechnen davonzukommen. Heute muß jeder damit rechnen umzukommen. Aber die meisten Politiker diskutieren die Frage »Krieg oder Frieden« noch immer so, als lebten wir zu Clausewitz' Zeiten, wo Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln galt, als rationales Instrument der Nationalpolitik. Der eigene politische Erfolg war die Schädigung des anderen. 

Auch heute noch haben viele Zeitgenossen Angst vor etwas mehr Frieden. Bertrand Russell hat darauf hingewiesen, daß in England die stolzesten Denkmäler immer noch Männern wie Nelson und Wellington geweiht sind, die besonders geschickt darin waren, Ausländer umzubringen. In der DDR werden auch in den 80er Jahren dieses Jahrhunderts Soldaten dafür ausgezeichnet, daß sie auf Flüchtlinge schießen und Flüchtlinge erschießen.

Die Angst vor dem Frieden spüre ich bei Diskussionen nach Vorträgen, die ich parallel zur Arbeit an diesem Buche halte. Bereits die zaghafte Annäherung zwischen Moskau und Peking führt nicht etwa zu etwas mehr Hoffnung auf Entspannung am Ussuri, sondern zur besorgten Frage nach dem »Erstarken des Weltkommunismus«. Gut ist, was dem anderen schadet, schlecht ist, was ihm nützt.

Solange dieses Denken unser Verhältnis zur Sowjetunion beherrscht, kann es gar keine Abrüstungserfolge geben. Solange die beiden Supermächte Abrüstungs­verhandlungen in der Absicht führen, den Gegner zu benachteiligen und sich selbst Überlegenheit zu verschaffen, gelingt weder Gleichgewicht noch Abrüstung. Solange Konfrontation und nicht Kooperation das Denken der beiden Blöcke beherrscht, sind wir auf dem Weg zur Vernichtung und nicht auf dem Weg zum Frieden.

Friedenspolitik ist erst möglich, wenn beide Supermächte ihre Konflikte nicht mehr zu ihren eigenen Gunsten und auf Kosten des Gegners austragen, sondern wirklich beenden wollen. Friedenspolitik will nicht Sieg, sondern Frieden, Ausgleich, Versöhnung. Mit dem Frieden ist es wie mit der Freiheit: So wie Freiheit immer auch die Freiheit des anderen ist, so ist Frieden immer auch der Frieden des anderen. Um auf diesen Weg zu kommen, muß einer anfangen, Abschied zu nehmen von der klassischen Machtpolitik.

Auf das Wunder, daß beide Seiten gleichzeitig umkehren, warten wir jahrzehntelang vergebens; wir werden immer vergeblich darauf warten, auch wenn die »Realpolitiker« den Aberglauben an dieses Wunder immer wieder hegen und ihm selbst verfallen sind. Ganz anders die »Goldene Regel« der Bergpredigt: »Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!« Das heißt: Wer Abrüstung will, muß erst einmal selber abrüsten. Er muß — da Politik meist nur langsam funktioniert — zumindest anfangen, aufzuhören mit dem Wettrüsten und Nachrüsten. Realistische Friedenspolitik heißt: dem Gegner nicht mehr den eigenen Willen aufzwingen wollen, sich aber auch nicht den Willen des Gegners aufzwingen lassen. Spätestens jetzt im Atomzeitalter müssen wir begreifen, daß unsere eigene Sicherheit immer auch die Sicherheit des Gegners ist. 

Konkret: Die schlimmen SS-20-Raketen der Sowjets werden dadurch nicht weniger schlimm, daß wir ihnen noch schlimmere Waffen entgegensetzen. Denn solche Waffen sind natürlich keine Blitzableiter, im Gegenteil, sie ziehen die Blitze erst an. Weitere Atomwaffen — egal auf welcher Seite — erhöhen nicht die Sicherheit irgendeiner Seite, sondern sie gefährden noch mehr beide Seiten. Die irrationale Angst des Gegners vor mir wird nicht dadurch rationaler, daß ich ihm immer weiter Angst mache. Angst machen ist schon immer eine Bedingung von Krieg gewesen. Intelligente Politik würde versuchen, dem Gegner die Angst zu nehmen. Feindesliebe ist ein anderes Wort für intelligente Politik.

Warum hat eine rationale Friedens- und Abrüstungspolitik bis heute keine Chance? Die Menschen in Ost und West lassen sich in ihrer Mehrheit den Rüstungswahnsinn immer noch gefallen, weil sie nicht informiert sind. Viele sind nicht informiert, weil sie nicht informiert sein wollen.

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»Die heutige Sünde heißt Nichtinformiertsein« (Margaret Mead). Ost und West verfügen heute über ein Vernichtungspotential, das 1,6 millionenmal die Vernichtung von Hiroshima übersteigt. Weltweit gibt es mindestens 15.000 Atomsprengköpfe. Jonathan Schell: »Sie erwachsen aus der Geschichte, aber sie drohen, die Geschichte zu beenden. Sie wurden von Menschen geschaffen, doch sie drohen, den Menschen auszulöschen.« Der amerikanische Journalist hat in seinem Buch »Das Schicksal der Erde« zusammengetragen, was Biologen und Mediziner, Chemiker und Physiker, Genetiker und Militärs heute über einen möglichen atomaren Holocaust zu sagen haben. Ergebnis: Die heutige Politik plant das Ende allen Lebens, das schiere Nichts.

Der ehemalige Verteidigungsminister Georg Leber zu Schells Buch: »Der Autor hat in seiner Analyse recht, aber ich sehe keine Alternative zur heutigen Verteidigungspolitik.« Nicht gerade beruhigend, denn Schell beschreibt die Folgen eines atomaren Krieges so:

1.  Radioaktiver Staub verseucht die gesamte Oberfläche der Erde.
2.  Bestimmte Isotope senden Millionen (!) Jahre lang todbringende Strahlen.
3.  Die uns vor der Sonne schützende Ozonschicht um den Erdball wird teilweise zerstört.
4.  Das Klima kühlt weltweit ab.

Die Liste möglicher Todesarten ist fast endlos, aber jeder hat nur ein Leben. Es spricht nicht für Politiker, wenn sie zu diesem möglichen atomaren Holocaust keine Alternative sehen. Unser heutiges Wissen über einen atomaren Holocaust ist noch lange nicht vollständig. Was wird aus dieser Erde? Da stehen wir erst am Anfang unseres Wissens; vor 10 Jahren wußten wir fast noch gar nichts zum Thema Erdwissenschaften. Erde und Menschheit gibt es nur einmal. Es ist Menschen nicht erlaubt, mit Erde und Menschheit zu experimentieren. Der Ablauf des atomaren Holocaust läßt sich kaum beschreiben, wohl aber sein Ende: das Nichts. 

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In den letzten drei Jahren wurden die US-Streitkräfte dreimal in Alarmzustand versetzt: zweimal, weil ein Chip im computergesteuerten Warnsystem nicht funktionierte, und einmal, weil das Testband, das einen Raketenangriff simulierte, unbemerkt in das System geraten war. Menschliche oder technische Fehler können deshalb verheerende Folgen haben, weil jede Seite Angst vor dem Erstschlag der anderen Seite hat. Bei technischem Versagen ist die Gefahr groß, daß kurzentschlossen der Erstschlag angeordnet wird. Ein schwacher Trost wäre, daß dies alles ja gar nicht gewollt war. Wenig tröstlich finde ich auch die ständige Beteuerung der Sowjetunion, niemals einen Erstschlag durchzuführen. Entscheidend ist, daß die Sowjetunion Erstschlagwaffen besitzt und auch als erste einen atomaren Schlag führen kann. Noch verheerender ist allerdings, daß die USA nicht einmal bereit sind, einen Verzicht auf den ersten Schlag zu erklären. 

Nach allem, was wir heute wissen, war die Welt während der Kuba-Krise 1962 dem Abgrund am nächsten. Die Sowjetunion war damals dabei, auf Kuba Atomraketen zu installieren. Die USA wollten dies vor ihrer Haustür um jeden Preis verhindern — auch um den Preis eines Atomkriegs! Die Sowjets gaben schließlich im letzten Augenblick nach. Robert Kennedy dazu in seinen Erinnerungen: »Präsident Kennedy hatte die Ereignisse in Gang gesetzt, in der Hand hatte er sie nicht mehr.« Eine Gruppe hochbegabter Staatsmänner traf eine wohlüberlegte Entscheidung, deren mögliche Folge der Untergang der Welt gewesen wäre. Ist es nicht merkwürdig, daß solche Dokumente eines möglichen Weltunterganges von einem glaubwürdigen Augenzeugen publiziert werden, ohne daß die Weltöffentlichkeit vor Entsetzen aufschreit? 

Die Tatsache, daß der Präsident einer Supermacht mit 14 Mitarbeitern über das Schicksal der Erde entscheiden kann, halte ich für so undemokratisch wie verrückt. Der unterlassene Aufschrei gegen solche Möglichkeiten ist so erschütternd wie die Möglichkeit des Atomkrieges selbst. 1962 kann sich jederzeit wiederholen: in Washington und in Moskau! Man braucht heute nicht mehr viel Phantasie, um sich das Ende der Menschheit auszumalen. Aber selbst dieses Minimum an Phantasie haben offenbar viele Zeitgenossen, unter ihnen die meisten Politiker, nicht.

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Robert Kennedys Dokument wurde erst nach seiner Ermordung veröffentlicht. Sein Freund Theodor C. Soerensen schrieb dazu eine Anmerkung: »Es war Senator Robert Kennedys Absicht, noch eine Erörterung der folgenden grundlegenden ethischen Fragen anzufügen: Welcher Umstand oder Anlaß — falls überhaupt einer denkbar ist — gibt unserer Regierung oder überhaupt einer Regierung das moralische Recht, ihr Volk und möglicherweise alle Völker an den Rand der nuklearen Vernichtung zu bringen?« 

Kennedys Frage ist heute noch drängender als vor 15 Jahren; die Welt ist dem Abgrund noch ein Stück nähergerückt, die Absturzgefahr ist noch größer, wenn die NATO jetzt nachrüstet und die Sowjetunion wieder nachrüstet, als Reaktion auf die Nachrüstung der NATO. Wenn alles so weitergeht wie bisher, dann findet eine Seite immer einen Grund, auf irgendeinem Sektor nachzurösten. Wohin wird das führen? Wie soll mit der bisherigen Politik je Abrüstung und Friedenssicherung erreicht werden? 

C. Wright Mills schrieb schon 1958: »Die Ursache des Dritten Weltkrieges wird vermutlich die Vorbereitung auf ihn sein.« Seit über 100 Jahren wird »Abrüstungspolitik« betrieben. Dutzende von »Abrüstungskonferenzen« gab es bisher. Das Ergebnis dieser »Abrüstung«, die uns dem atomaren Holocaust immer näher gebracht hat: immer mehr Aufrüstung. Der eigentliche Grund dieser Wahnsinnspolitik ist die Angst vor dem Frieden. Der atomare Holocaust wäre nichts anderes als kollektiver Selbstmord aus Angst vor dem Frieden. Wir hätten es den Waffen überlassen, die menschlichen Rechnungen zu begleichen. Wenn die Hemmschwelle zur Zündung der ersten Atombombe erst einmal gefallen sein wird, woher sollen dann Politiker, die an das Gleichgewicht des Schreckens glauben, die seelische Kraft nehmen, auf die Zerstörung allen Lebens zu verzichten, die sie doch intensiv und so kostspielig vorbereitet haben? Präsident Kennedy hat 1962 auch den möglichen Atomkrieg in Kauf genommen. Wenn es erst einmal losgeht, ist psychologisch nichts mehr, wie es vorher war.

Die Frage aller Fragen heißt heute: 

Wie lange können Kernwaffen uns vor Kernwaffen schützen? Die meisten Zeitgenossen schützen sich vor den Konsequenzen dieser Frage mit einer Gegenfrage: Haben nicht gerade die Atombomben in den letzten drei Jahrzehnten einen Krieg in Europa verhindert? Wann in den letzten 200 Jahren gab es in Europa eine so lange Friedenszeit wie nach 1945?

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   Die Gnadenfrist   

 

Es kann sein, daß die Existenz der Atombombe eine Zeitlang kriegsverhindernd war. Wahrscheinlicher scheint mir jedoch, daß die Atombomben allenfalls einen Aufschub des Dritten Weltkriegs bewirkt haben. Die letzten zwei Jahre beweisen, daß sich hinter dem »Atomschild« viel aufgestaut hat. Die atomare Maschine hat uns, falls wir Glück haben, bestenfalls eine Gnadenfrist auf Erden geboten, bevor es zum nahezu unvermeidlichen menschlichen oder technischen Versagen kommt, das uns die Vernichtung bringt.

Die Gnadenfrist könnte dadurch noch verkürzt werden, daß bis zum Ende dieses Jahrzehnts wohl ein Dutzend Regierungen Atomwaffen haben. Und weitere werden folgen. Es kann auf Dauer nicht gutgehen, wenn jährlich 1200 Milliarden Mark für Rüstung ausgegeben werden, zugleich aber Millionen Menschen an Hunger sterben. Alles hat Folgen. Irgendwann wird jedes verhungerte Kind seinen Preis fordern. Man bedenke unsere Situation, wenn die Idi Amins dieser Erde über Atomwaffen verfügen, wenn — wie 1962 — auch ein als verantwortungsbewußt und umsichtig geltender Staatsmann wie Kennedy das Risiko einging. Fraglich bleibt, ob wir die Weiterverbreitung noch verhindern können. Aber wir werden sie mit Sicherheit nicht verhindern, solange Supermächte selbst Atomwaffen haben. Solange irgendeiner Atomwaffen besitzt, wird alles nur schlimmer.

McNamara 1963: »Gewährleistete Vernichtung ist der Kern des gesamten Abschreckungskonzepts«. Die Vernichtungsabsicht muß also glaubhaft und die mögliche Vernichtung »gewährleistet« sein. Die heute gültigen Militärdoktrinen der beiden Blöcke erinnern mich an die Aussage eines amerikanischen Generals im Vietnam-Krieg, nachdem er ein Dorf hatte zerstören lassen: »Ich mußte dieses Dorf zerstören, um es vor den Kommunisten zu schützen.« Die angedrohte Vernichtung soll glaubhaft sein.

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Beide Seiten sind bestens vorbereitet. Im Ernstfall haben wir zwar Mittel zur nationalen Verteidigung, aber keine Nation mehr, die verteidigt werden müßte. Bisher schien es uns sinnvoll, durch Drohung mit Atomwaffen einen Gegner abzuschrecken. Was aber, wenn sich der Gegner nicht abschrecken läßt? Die Doktrin soll glaubhaft sein, aber die Tat wäre nicht zu rechtfertigen. Der Widerspruch bleibt unauflöslich. Da der Holocaust alle träfe, ist die Unterscheidung zwischen befreundeten und gegnerischen Atommächten bedeutungslos. Nicht nur die Vernichtung der Menschheit, auch die Theorie zur Vernichtung der Menschheit ist nicht akzeptabel. 

Papst Johannes Paul II. zum Weltfriedenstag 1983: »Nicht nur jeder Krieg, sondern auch alles, was zum Krieg führen kann«, muß beseitigt, werden. Der Papst ist gegen jede Form von Nachrüstung. Unsere zügellos gewordene Vernunft verhindert solche Einsichten. Descartes' »Ich denke, also bin ich« hat uns in die Irre geführt. Unser Verstand muß wieder bei unseren Emotionen und Intuitionen in die Schule gehen, um Überlebensphantasie, um Frieden zu lernen.

Am Abgrund kann weder ein Leben noch dauerhafte Liebe gedeihen. Vielleicht wird die Frage nach dem Sinn des Lebens heute so intensiv gestellt, weil der Sinn des Lebens, nämlich das Leben selbst, so bedroht ist. Und wo Menschen keinen Sinn mehr im Leben sehen, haben sie zuvor keinen Sinn mehr in der Liebe gesehen. Die Dauer der Liebesbindungen nimmt ab, wie die Fristen zum Überleben kürzer werden. Die junge Generation von heute, die keinen Tag ohne Atomwaffen erlebt hat, ist von vornherein seelisch belastet wie nie eine Generation vor ihr. Vielleicht liegt hier die Ursache der »No-Future«-Philosophie. Wer nicht aufs Überleben hoffen kann, muß verzweifeln. Früheren Generationen wurde die Zeit einfach geschenkt, die Atom-Generationen müssen sich ihre Zeit erkämpfen. Sie müssen »Gärtner der Zeit« (Jonathan Schell) werden und ihre künftigen Jahre hegen und pflegen. Vielleicht lernen wir so erst, als die eine Menschheit zu leben und zu überleben. 

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Gottes Gebot »Du sollst nicht töten« muß heute in einer neuen Dimension begriffen werden: Du sollst künftigen Generationen Leben ermöglichen, du sollst ihre Geburt zulassen. Die heutige Menschheit hat Elternpflichten gegenüber künftigen Generationen. Eltern stellen ihren Kindern keine Bedingungen; Eltern lieben ihre Kinder.

Sofern Diskussionen über Abschreckung redlich geführt werden, gelangen sie immer an diesen Punkt: Die Befürworter der Abschreckung müssen zugeben, daß sie notfalls bereit sein müssen, der nationalen Souveränität wegen die Menschheit zu vernichten, was aber die Vernichtung der eigenen Nation einschließt, und die Befürworter einer vollständigen Abrüstung müssen zugeben, daß ihre Vorschläge sich mit nationaler Souveränität nicht vereinbaren lassen. Viele sagen heute statt Souveränität Freiheit, meinen aber Öl. Andere sagen statt Souveränität Sozialismus, meinen aber ihre Macht. Das sind dann die »lebenswichtigen Interessen«, deretwegen mit Krieg gedroht wird.

Unsere Ideologien von Sozialismus und Kapitalismus haben sich überlebt. Heute geht es primär um das gemeinsame Überleben. Was ist wichtiger: Öl und Sozialismus oder das Leben? Wer die alte Politik mit Krieg als letztem Mittel auch im atomaren Zeitalter beibehalten will, muß in Kauf nehmen, alles menschliche Leben zu vernichten. Vor der Möglichkeit des atomaren Holocaust wird unser bisheriger politischer Realismus biologischer Nihilismus. Technisch ist Atomkrieg lediglich möglich, aber wir sind gezwungen, diese Möglichkeit eines atomaren Holocaust als Gewißheit anzunehmen, um ihn verhindern zu können. Der Grundwiderspruch ist, daß wir mit Vernichtung drohen, um der Vernichtung zu entgehen. Das mag eine Zeitlang »gut« gehen — aber auf Dauer führt es in die Vernichtung. Es ist ein historisches Gesetz: Wenn zuviel Gewehre zusammenkommen, hat es noch immer geknallt. Das ist die Lehre der Geschichte. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, Geschichte zu vergessen oder zu verdrängen, sondern sich der Geschichte zu erinnern!

Wenn es sich herausstellen sollte, daß wir auch im atomaren Zeitalter unfähig bleiben zu zwischenstaatlicher militärischer Gewaltlosigkeit, dann hat die Menschheit keine Zukunft mehr.

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Die Fragen, die sich aus dieser Erkenntnis ergeben, sind nicht angenehm. Doch das ist kein Grund, sie nicht zu stellen. Jonathan Schell: »Wir müssen in die Vorstellungshölle hinabsteigen, um hoffen zu können, daß uns später der wirkliche Abstieg erspart bleibt.« Das Wissen, das wir heute über einen möglichen atomaren Holocaust erwerben müssen, ist allein noch kein Schutz dagegen, aber ohne dieses Wissen gibt es überhaupt keine Hoffnung mehr. Wir müssen wissen: Im Atomkrieg gibt es keine Sieger und keine Verlierer, sondern nur noch Tote. Die Waffen allein wären die Sieger. Heute sind bereits alle Menschen Geiseln der Atomwaffen. Die Völker des Ostens sind die Geiseln der westlichen Atomwaffen, und die Völker des Westens sind die Geiseln der östlichen Atomwaffen. Die Völker des Südens sind die Geiseln von Ost und West. 

Abrüstungsverhandlungen werden solange ergebnislos bleiben, wie die Verhandlungspartner nicht begreifen, daß sie zunächst einmal die Geiseln ihrer eigenen Atombomben sind. Die meisten Abrüstungsvorschläge, die 1982 in Genf gemacht wurden, erwecken den Eindruck, daß sie hauptsächlich unter einem Gesichtspunkt zustande kamen: daß sie für den Gegner nicht akzeptabel sind oder zumindest nicht akzeptabel scheinen. Lange Zeit rebellierten wir allenfalls unbewußt gegen den Geiselzustand. Unsere Seelen wurden krank. Wir haben weniger Vertrauen als frühere Generationen zu uns selbst, zu anderen und in die Zukunft. Wer auf Bomben vertraut, dessen Vertrauen zu Menschen wird schwinden.

 

      Raketen sind Magneten     

 

Wenn die USA 1983 oder 1984 in Westeuropa nachrüsten und wenn die Sowjets ihre SS-20 nicht abbauen, dann geben beide jenen recht, die voller Sarkasmus meinen: »Amerikaner und Russen sind mutig entschlossen, sich bis zum letzten Europäer zu verteidigen.«

Im Dezember 1982 wurde bekannt, daß die USA das NATO-Hauptquartier in Stuttgart im Ernstfall nach London zu verlegen gedenken. Das mag militärstrategisch richtig sein, zur Beruhigung der betroffenen Menschen, von deren »Verlegung« im Kriegsfall nichts bekannt wurde, trägt solche Absicht allerdings nicht bei.

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Wieder einmal hat sich gezeigt, daß die USA wichtige militärische Entscheidungen treffen, ohne die Verbündeten auch nur zu konsultieren. Die Art und Weise, wie die westliche Supermacht beim Bau der Neutronenwaffe, bei der Theorie des begrenzten Atomkriegs und bei der Verlegung des NATO-Headquarters die Bundesrepublik brüskierte, nährt den Verdacht, daß wir für einige führende Politiker in den USA im Ernstfall so etwas wie ein »Wegwerf-Kuba« sind.

Die ewige Nachrüsterei macht Deutschland (Ost und West) zum Ausgangspunkt eines auf Europa begrenzten Atomkrieges. Die amerikanischen Cruise Missiles und Pershings II werden Ziele für die sowjetischen SS-20 sein und umgekehrt. So wird atomare Verteidigung zur Totverteidigung. Es kann nicht das Interesse der Bundesrepublik sein, als atomare Abschußrampe der USA und atomare Zielscheibe der UdSSR zu dienen. Die sowjetischen Mittelstreckenraketen sind heute schon gefährlich genug, sie werden durch Nachrüstung westlicher Mittelstreckenraketen noch gefährlicher. Pershings II und Cruise Missiles sind keine Blitzableiter, sie ziehen die Blitze erst an. Das gleiche gilt für die östlichen SS-20, wie die westliche Nachrüstung beweist. 

Schon in Friedenszeiten ziehen sich die östlichen und die westlichen Raketen an wie Magneten. Darin liegt zusätzliche Gefahr. Die atomare Entwicklung gibt der Losung der Friedensbewegung der 50er Jahre recht: »Raketen sind Magneten«. So war es bisher, und so wird es bleiben, bevor nicht einer anfängt aufzuhören und umzukehren. Dann erst kommt die Chance, daß es einen Abrüstungsdruck gibt, so wie es bisher einen Aufrüstungsdruck gegeben hat. Im bisherigen Abschreckungssystem brauchte jeder seine Nachrüstung — immer und immer wieder. Ungestraft kann man diese Entwicklung allerdings nicht fortsetzen. Irgendwann kommt der große Knall zwangsläufig. Er kam immer, soweit wir Geschichte übersehen können. In dieser Situation nachzurösten heißt, die Katastrophe wahrscheinlicher zu machen. 

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Cruise Missiles und Pershings II können in wenigen Minuten die Sowjetunion erreichen und in weiteren wenigen Minuten dort mehr Leben zerstören als Hitlers Armeen in vier Jahren. Man kann sich vorstellen, daß die Sowjetunion darauf ebenso irrational antworten will, wie der Westen irrational auf die SS-20 reagiert. Nachrüstung ist der Versuch, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

Da die Vorwarnzeiten für Pershings II und Cruise Missiles lediglich vier bis sechs Minuten dauern werden, will die Sowjetunion die Antwort auf westliche Nachrüstung dem Computer übergeben. Die knappe Vorwarnzeit, sagen einem russische Gesprächspartner, reiche für menschliche Gehirne und Hände nach bisheriger Erfahrung nicht aus. Nach allem, was wir heute über technische Fehler der Militärcomputer wissen, reichten bisher in den USA vier bis sechs Minuten zum Erkennen eines Fehlers keineswegs immer aus. Wir sind also dabei, die Entscheidung über unser Leben zu automatisieren. Wir hängen unser Leben an den seidenen Faden eines Automaten, falls wir nachrüsten!

 

       Kindergartenreflex in der Politik     

 

Die beiden Supermächte sind in ihrer atomaren Politik Fleisch vom selben Fleisch und Geist vom selben Geist: Jeder tut selbst, was er dem anderen vorwirft. Jeder der beiden Großen rechtfertigt seine Sünden mit den Sünden des anderen. Auch in der Dritten Welt wird die US-Politik nach Jimmy Carter immer »sowjetischer«. Nicaragua wird mit Intervention gedroht. Jede Supermacht weigert sich, selbst zu tun, was sie vom anderen verlangt. Hierzulande verteidigen viele Rechte die US-Atomraketen und viele Linke dieselben Waffen der Sowjetunion. Die DKP, die sich in der Friedensbewegung engagiert, ist gegen die NATO-Nachrüstung, verteidigt aber die SS-20 der Sowjetunion. Ihr Motto: »Frieden schaffen ohne NATO-Waffen.« Die Sowjetunion hatte nach 1945 in Europa eine riesige Überlegenheit bei konventionellen Waffen; zur selben Zeit haben die USA atomar vor ausgerüstet. In den 70er Jahren hat sich die Sowjetunion atomar an die USA her angerüstet. 

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Heute sprechen die meisten Politiker und Militärs von einem ungefähren Gleichgewicht, wenn man alles Militärische addiert. Die USA sind qualitativ überlegen, die Sowjetunion quantitativ. Aber jeder findet ständig irgendein »Fenster«, an dem er sich noch für verwundbar hält. Wer im Atomzeitalter totale Sicherheit plant, muß die totale Vernichtung einkalkulieren. Politiker nennen diese Politik rational und sprechen von »atomaren Sachzwängen«. Daß wir uns von den atomaren Sachen tatsächlich lange Zeit haben zwingen lassen, ist wohl die irrationalste Politik, die Menschen auf diesem Globus je betrieben haben. Es kann sein, daß die Existenz der Atombomben eine Zeitlang in Europa kriegsverhindernd gewirkt hat. Aber irgendwann gehen solche Verhinderungsfristen zu Ende. 

Wenn das atomare Wettrüsten nicht gestoppt werden kann, wenn am Ende des Jahrzehnts vielleicht ein Dutzend und bis zum Jahre 2000 vielleicht 50 Regierungen über Atombomben verfügen, dann ist der Weltfrieden mehr bedroht als je zuvor nach 1945; nicht weil die Menschheit schlechter wäre als 1945 oder schlechter als die mittelalterliche oder die antike Menschheit, sondern deshalb, weil die Menschen in unserem Jahrzehnt erstmals die Möglichkeit der Selbstvernichtung haben. Der Mensch hat »unvergleichlich wirksamere Mittel zur Hand, um seine Schlechtigkeit bestätigen zu können« (C. G. Jung).

Unser Wissen hat sich ausgeweitet, doch unsere moralische Beschaffenheit bleibt rückständig. Geistesgeschichtlich ist das ein Ergebnis der Aufklärung, auf die alle Liberalen unserer Zeit so stolz sind. In Wahrheit hat sich jedoch unsere Vernunft nicht emanzipiert, sondern sich nur abgespalten von Verantwortung, Emotion, Religion und Intuition. Seit dem Mittelalter haben Wissenschaft und Technik eine einmalige Vermehrung erfahren, aber über die Seele wissen wir weniger als unsere Vorfahren, die noch ein Sündenbewußtsein hatten. Die Aufklärung hat die Vernunft vergötzt. Die atomare Sackgasse ist eine Sackgasse unserer abgespaltenen Vernunft. Wir leben nicht ganzheitlich menschlich, sondern einseitig »vernünftig«. Das Ergebnis ist bekannt: Wir stehen am Abgrund. Aber nicht einmal jetzt ist uns die ganze Tragweite der Situation bewußt. 

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Ist es wirklich vernünftig, alle Menschen mehrfach töten zu können und auch dann noch weiterzurüsten und nachzurösten? Auch die geplante NATO-Nachrüstung wird ja kaum noch mit Sicherheitsinteressen gerechtfertigt — das nehmen viele Menschen den Politikern nicht mehr ab —, sondern nur noch mit den Waffen der anderen Seite —, und das Argument nehmen immer noch viele Menschen ernst.

Wenn Waffen nur noch produziert werden sollen, weil der andere sie auch hat, dann ist diese Politik eine Politik des Kindergartenreflexes. Falls dieser Vergleich eine Beleidigung ist, dann eher eine Beleidigung für Kinder als eine Beleidigung für Politiker. Das Ergebnis dieser Politik ist auf jeden Fall nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit. Das Ende einer Vergötzung von Vernunft und Wissenschaft wäre der Anfang eines neuen Wissens: daß nur die Umkehr der Herzen und eine neue Verantwortung uns weiterhelfen können. Nichts erweist sich als so unvernünftig wie die reine Vernunft. Sie ist weder rein noch vernünftig.

Im Atomzeitalter ist Wissen ohne Gewissen nicht nur der Ruin der Seele, sondern auch der Ruin des Lebens. Die katholische Bischofskonferenz der USA erklärte im Sommer 1982: »Wir halten für unmoralisch allein schon die Drohung, solche Waffen einzusetzen«. Verteidigungsminister Caspar Weinberger hält diese Position für »gefährlich«. Doch immer mehr US-Bischöfe werden Mitglied der internationalen katholischen Friedensbewegung »Pax Christi«. Sie dokumentieren damit ihre Differenz zur Pax americana ihrer Regierung. 

Man kann westlichen Kapitalismus so wenig mit Freiheit gleichsetzen wie östlichen Kommunismus mit Brüderlichkeit. Diese Versuche erinnern mich immer an die Idee von den gerösteten Schneebällen. Wir haben zwar in westlichen Ländern mehr Freiheiten als die Bürger Osteuropas. Doch die Frage ist: Sind wir auch freier, leben wir freier, wenn auch wir den Regierenden gestatten, denselben atomaren Wahnsinn zu betreiben, den wir bei der Sowjetunion so verurteilen? Pax Christi, die Politik der Bergpredigt: Das ist der Abschied von Pax americana und Pax sowjetica. Die Haltung der amerikanischen Bischöfe hat mich 1982 veranlaßt, Mitglied bei »Pax Christi« zu werden.

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    Politiker ohne Selbsterkenntnis   

 

Viele Politiker klären über ihre Atombombenpolitik nicht auf, sie betäuben vielmehr sich und andere. Der amerikanische Marineminister John Lehmart hat 1981 ein Atom-U-Boot auf den Namen »Corpus Christi« getauft und beim Stapellauf des Schiffes gesagt: »Unterrichtet in den Lehren der Kirche, bin ich mir besonders bewußt, daß militärische Macht von der Kirche als Instrument des Friedens betrachtet wird.« 

Der Minister hatte übersehen, daß sich die katholische Kirche der USA heute wieder an die Bergpredigt erinnert. Als die amerikanische Bischofskonferenz gegen diese unfaßbare Gotteslästerung protestierte, wurde das Boot umgetauft — in »City of Corpus Christi«. 

Die geplanten amerikanischen MX-Atomraketen hat Ronald Reagan im November 1982 »Peacekeeper« genannt, also pazifistische Raketen! Die beschönigende Namensgebung für die neuen Waffen verschleiert, daß jede der 100 MX-Raketen eine Zerstörungskraft von 175 Hiroshima-Bomben haben wird. 

Dahinter steckt sicherlich kein böser Wille, sondern etwas weit Gefährlicheres, weil es nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen verursacht: Viele Politiker wissen nicht mehr, was sie tun und was sie vorbereiten helfen. Weil sie immer nur reden und sich kaum noch Zeit nehmen zum Lesen, Nachdenken und Meditieren, fehlt es ihnen an Selbsterkenntnis. Sie verurteilen zunächst an der anderen Seite, was sie anschließend selbst tun. Zum Beispiel: Atombomben bauen. Sie stellen die Goldene Regel der Bergpredigt auf den Kopf. Ihr Gewissen als ethische Instanz erfaßt nur ihr Bewußtsein. Die Tiefenpsychologie hat uns aber längst auf die Existenz des Unbewußten aufmerksam gemacht. 

Die Art und Weise, wie Politiker heute Kriege vorbereiten, ist ihnen meist unbewußt: Während sie immer perfekter die Vernichtung planen, reden sie immer häufiger vom Frieden. In Lukas 6 (an einer leider ausgemerzten Stelle) sagt Jesus zum Sabbatbrecher: »Wenn du weißt, was du tust, so bist du auch selig.« In der Politik jedoch wird das Unbewußte, vor allem das unbewußt Böse in uns, vorsätzlich ausgeklammert. Man will nichts davon wissen. Fast alle Wahlkampfreden bezeugen es. 

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In Wahlkämpfen ebenso wie beim Ost-West-Konflikt wird alles Böse auf einen äußeren Feind projiziert, um den eigenen inneren Feind (scheinbar) zu entlasten. Diesem äußeren Feind wird dann all das unterstellt, was man selbst ständig tut. Politiker können die Folgen ihrer Entscheidungen oft nicht mehr übersehen und lehnen jede persönliche Verantwortung dafür ab. Oft scheinen sie auch ganz froh darüber zu sein, keine Selbsterkenntnis zu haben. So stört auch kein unliebsamer Gedanke den Schimmer ihrer Illusionen. Auch hier gilt: Wer ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein. 

Ich will nicht richten, aber darauf aufmerksam machen, was einem bewußt wird, wenn man anfängt, die Politik der Bergpredigt zu begreifen. Kenntnis von der Existenz des Unbewußten ist unerläßlich für jede wirkliche Selbsterkenntnis und Selbstbesinnung. Erst die Einbeziehung des Unbewußten ergibt die Chance, »vom begrenzten Ich in das umfassendere Selbst« (C. G. Jung) zu gelangen, zur Selbst-Erkenntnis. Selbsterkenntnis ist die Lebensaufgabe jeder Persönlichkeit. Zum Finden von mehr Selbsterkenntnis nehmen sich die meisten Politiker heute aber keine Zeit — keine Zeit zum Denken, Lesen, Meditieren, Beten. 

Und was uns Nacht für Nacht unsere Träume an Selbsterkenntnis schenken könnten, das wissen wir nicht mehr und an das glauben wir auch nicht mehr. Für diese nächtlichen Geschenke aus unserem Innern haben wir — im Gegensatz zu manchen Naturvölkern — heute keinen Sinn mehr. Befreit von der Beliebigkeit und Manipulierbarkeit unseres Bewußtseins führen uns unsere Träume in die Schichten unseres Unbewußten. In einer Traumanalyse kann man diese beglückende Erfahrung machen. Man versteht sich und andere danach etwas besser. Neue Erkenntnisse erfordern allerdings neue ethische Entscheidungen. Illusionen sind oft ein bequemes und — zumal in der Politik — oft leichtsinniges Alibi, mit dem man sich um ethische Konsequenzen drücken kann. Wer sich selbst nicht kennt, kann bei Konflikten seine eigene Schuld auch nicht erkennen. Er sucht nur die Splitter im Auge seines Bruders. Jesus zeigt den umgekehrten Weg: »Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge«, »Richtet nicht«, »Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen«.

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Jesus fordert keinen blinden Gehorsam. Ihm nachfolgen heißt aber, über den Weg der Selbsterkenntnis zur Freiheit ethischer Entscheidungen zu gelangen. Die Ethik der Bergpredigt hat wenig mit Gesetzestreue und Moralvorschriften zu tun, aber viel mit Selbsterkenntnis, Wahrhaftigkeit und Freiheit. Man muß in unserer vom atomaren Holocaust bedrohten Situation festhalten: Politikfähig ist heute, wer abrüstungsfähig ist. Nach diesem Kriterium gibt es freilich nur wenige wirkliche Politiker.

Oder kann man berechtigte Hoffnungen haben auf die Abrüstungsgespräche in Genf? Bisher gab es allen Abrüstungskonferenzen zum Trotz immer mehr Aufrüstung. Man sagte Abrüstung und meinte immer den eigenen militärischen Vorteil. »Diesmal bin ich optimistisch«, sagt Helmut Kohl immer wieder. Mir wird dieser Optimismus immer rätselhafter. Optimismus als Prinzip kann eine Krankheit sein wie Pessimismus. Die einzig erlaubte und hilfreiche Einstellung ist angesichts der fürchterlichen Fakten die prüfende Skepsis. Nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, haben sich viele deutsche Demokraten und Kirchenleute in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts schon einmal täuschen lassen. Die Folgen waren katastrophal. Aber diesmal gäbe es kein Erwachen mehr. Der Spuk würde auch keine 12 Jahre, sondern nur wenige Stunden oder Tage dauern.

In Genf verhandeln auf beiden Seiten militärische Falken. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ausgerechnet diese Verhandlungspartner einen Durchbruch zur Abrüstung schaffen sollen, die diesen Namen auch verdient. Die Versuche in Genf gleichen dem Bemühen zweier Schiedsrichter, sich über das Ende des Fußballspielens zu einigen, weil die Fouls sich häufen. Sie werden allenfalls kompliziertere Regeln austüfteln, aber nicht das Fußballspielen abschaffen.

Die Abrüstungsverhandlungen werden so geführt werden, daß der jeweilige Propaganda-Apparat es leicht hat, dem anderen die Schuld am Scheitern zuzuschieben. Schon Ende 1982 bestritten beide Supermächte »den ernsthaften Verhandlungswillen« des anderen. 

Obwohl immer mehr Menschen die Schwarze-Peter-Diplomatie durchschauen, argumentieren die meisten Politiker wie gehabt: Die Katastrophe wird am besten dadurch verhindert, daß man sie immer perfekter vorbereitet. In Genf wird es allenfalls ein kosmetisches Ergebnis geben: Jede Seite stationiert einige Raketen weniger als ursprünglich vorgesehen.

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Jede Sekunde ein Weltkrieg  

Erst bei seinem Abschied von der Politik im Januar 1981 hat Präsident Carter zugegeben, daß die Atomkriegs­gefahr größer werde: »Und da andere Regierungen diese Waffen erwerben, ist es vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bevor Verrücktheit, Verzweiflung, Habgier oder Fehlkalkulation diese schreckliche Kraft freisetzen.« Ein scheidender US-Präsident weiß wohl am besten, wovon er spricht, wenn er sagt: 

»In einem weltweiten Nuklearkrieg würde mehr Zerstörungskraft als im gesamten Zweiten Weltkrieg freigesetzt werden, und zwar in jeder Sekunde des langen Nachmittags, den man für den Abschuß und Abwurf aller Raketen und Bomben benötigen würde; jede Sekunde würde ein Zweiter Weltkrieg stattfinden, und in den ersten Stunden würden mehr Menschen getötet als in allen Kriegen der Geschichte zusammen. Die Überlebenden - falls es welche geben würde - würden in Verzweiflung leben inmitten der vergifteten Ruinen einer Zivilisation, die Selbstmord begangen hätte.« 

Ähnlich deutlich klingt, was die sowjetische Regierung 1981 in einer Broschüre feststellt: »Die Sowjetunion geht davon aus, daß ein Atomkrieg eine globale Katastrophe wäre und mit größter Wahrscheinlichkeit das Ende der Zivilisation bedeuten würde. Möglicherweise würde er zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen.« 

Wer trotzdem für noch mehr Rüstung und Nachrüstung plädiert, wer sich in dieser Situation von Atomwaffen sichern lassen will, kann der noch glauben, hoffen und lieben im Geist der Bergpredigt? Das Neue an den heutigen Waffensystemen beider Seiten ist: Der Gegner fürchtet sie, weil sie Erstschlagwaffen sind, und verhält sich entsprechend: Er baut seine Erstschlagwaffen immer perfekter, schneller und zielgenauer. Das erhöht die Kriegsgefahr.

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Erstschlagwaffen, so hat Alfred Mechtersheimer nachgewiesen, sind eine ungeheure Verführung zum »rechtzeitigen« Einsatz: »Ein solches System kann in einer Krise nicht stabil bleiben.« Erstschlagwaffen sind kein Mittel der Kriegsverhütung, sondern der Kriegsführung. Bislang, so wurde uns immer gesagt, hatten Atomwaffen die Funktion relativer Kriegsverhinderung, jetzt aber sollen sie der Kriegsführung und natürlich dem Gewinn eines Krieges dienen. Bisher konnten Atomwaffen politisch gerechtfertigt werden, jetzt werden sie »militarisiert«.

Solange atomare Bewaffnung der Abschreckung diente, war das »Gleichgewicht des Schreckens« die logische Konsequenz dieser Politik. Wenn aber atomare Bewaffnung der möglichen Kriegsführung dient, muß man zwangsläufig Überlegenheit anstreben. Ohne Abkehr vom bisherigen Weg wird es weder Rüstungsstop noch gar Abrüstung geben. Bisher war militärische Überlegenheit unerheblich, jetzt wird sie notwendig. Das ist die neue, die eigentliche Gefahr.

Der Falkland-Krieg hat erneut bewiesen, daß die erste außenpolitische Maxime auch heute nicht Kriegsverhütung ist, sondern sogenannte nationale Souveränität und Machterhalt, notfalls auch mit den Mitteln eines Krieges. Wenn schon eine Art Operetten-Krieg geführt wird wegen der Falkland-Inseln, um wieviel höher ist dann die Kriegsgefahr, wenn es um Berlin, die indisch-pakistanische Grenze oder um wirtschaftliche Interessen in Nahost geht? Die künftigen Krisen werden wegen atomarer Erstschlagwaffen noch weit gefährlicher als die bisherigen. Jede künftige internationale Krise kann Auslöser des atomaren Holocaust sein; wer die erste Atomrakete abschießt, wird es tun, weil er glaubt, dem anderen zuvorkommen zu müssen. So führt die Politik der Erstschlagwaffen dazu, daß Angriff die einzige Form von »Verteidigung« scheint. 

Das Verrückte an unserer heutigen Situation ist, daß nicht mehr Angriffslust, sondern nur noch der Wille, überleben zu wollen, den Atomkrieg auslösen kann. Wer aber wollte nicht überleben, wenn er sich angegriffen fühlt? Gibt es auch nur eine außenpolitische Rede eines führenden Politikers der USA oder der UdSSR, aus der hervorgeht, daß man sich nicht bedroht fühlt?

Wenn atomarer Holocaust droht, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das Wettrüsten stoppen, wie es die amerikanische »Freeze«-Bewegung fordert, oder man kann sich auf den Atomkrieg vorbereiten, wie es die Regierungen in Washington und Moskau jetzt tun.

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