Die Vernichtung des Gegners
Franz Alt 1983
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US-Verteidigungsminister Weinberger am 18.6.1981 vor dem Council on Foreign Relations: »Wenn die Abschreckung versagt, müssen wir fähig sein zu gewinnen, um zu überleben.«
Vor Reagans Amtszeit haben US-Politiker Atomwaffen immer mit »Abschreckung« gerechtfertigt; jetzt aber soll der Atomkrieg möglich gemacht werden. Ziel des Atomkriegs: die Vernichtung des Gegners.
Dasselbe Ziel nannte Breschnew kurz vor seinem Tod am 7. November 1982 in der ganz speziellen Sprache aller Friedenspolitiker: »Die Essenz unserer Politik ist Friedensliebe ... Der potentielle Aggressor soll wissen: Unabänderlich wird ihn ein vernichtender Vergeltungsschlag treffen.«
Und Jurij Andropow betont die Kontinuität der Politik seines Vorgängers.
Nach den offiziellen Notstandsplänen der USA haben bei einem Atomkrieg 80% ihrer Bürger eine Überlebenschance; 45 Millionen werden umkommen. Wenn in den USA 20% der Bürger umkommen würden, wieviele würden es dann in Europa sein, dem Hauptschlachtfeld eines Atomkrieges?
Für die Evakuierung der großen Städte sieht die US-Regierung sieben Tage vor. Müßte sich die Sowjetunion nicht sofort nach Beginn einer solchen Evakuierung in den USA zum Erstschlag provoziert fühlen, weil sie ihrerseits nicht tatenlos auf den US-Erstschlag warten möchte? Alle Versuche, einen Atomkrieg vorzubereiten, können zum Atomkrieg führen. Die wichtigste Frage ist: Was geschieht, wenn die Abschrek-kung versagt? Die Repräsentanten beider Supermächte geben eine unmißverständliche Antwort: Dann gibt es Atomkrieg. Gestritten wird nur noch über das Ausmaß der Vernichtung. »Nur« 45 Millionen US-Bürger unter den vielen hundert Millionen Toten oder mehr?
Der Wiener Kardinal Franz König hat auch für die eventuell Überlebenden keinen Trost parat: »Die Lebenden werden die Toten beneiden.« Wenn die beiden Supermächte heute von Abrüstung sprechen, meinen sie immer die Abrüstung des andern; wenn sie von Sicherheit sprechen, meinen sie die eigene Sicherheit. Und wenn sie von Gleichgewicht sprechen, dann meinen sie die eigene Überlegenheit. Ist der ungebremste Ausbau der SS-20-Basen nicht der Beweis dafür, daß die Sowjets eine Situation der Überlegenheit anstreben, bei der der Westen erpreßbar wird? Und beweist die Absicht der USA, in diesem Jahrzehnt 17.000 Atomsprengköpfe herzustellen, nicht ebenso das Streben nach Überlegenheit?
Mit dem »Gleichgewicht des Schreckens« war spätestens in dem Augenblick keine Politik mehr zu machen, als man sich nicht mehr darauf verständigen konnte, was Gleichgewicht ist. Breschnew sagte drei Tage vor seinem Tod zu sowjetischen Generälen: »Ihr werdet noch weit marschieren müssen.« Was heißt das im Atomzeitalter? Beide Seiten sagen Gleichgewicht und meinen Überlegenheit. Beide Seiten sagen Nachrüstung und meinen Vorausrüstung. Da die USA der Sowjetunion ökonomisch weit überlegen sind, wächst die Gefahr, daß die westliche Supermacht diese Überlegenheit auch militärisch nutzt und die östliche Supermacht sich in einem Verzweiflungsschlag dagegen zu wehren versucht, solange sie glaubt, sich noch wehren zu können. Carl Friedrich von Weizsäcker: Wenn man den russischen Bären in die Ecke treibt, ist die Gefahr groß, daß er springt. Und das hieße: Atomares Schlachtfeld Europa. Im Westen wird oft übersehen, daß die Sowjetunion allein vier anderen Atommächten gegenübersteht: den USA, Frankreich, England und China.
Die »Los Angeles Times« berichtete im Sommer 1982 von einem »strategischen Gesamtplan« der US-Regierung für einen längeren Atomkrieg. Als Verteidigungsminister Weinberger in einem Brief an 40 Zeitungen dazu Stellung nahm, beschrieb er allgemeine militärische und politische Grundsätze der NATO, vermied aber jede konkrete Stellungnahme zu diesem Plan, auch jedes Dementi. Offenbar gibt es US-Pläne für längere atomare Kriegsführung.
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Schließlich hat auch US-Präsident Reagan gesagt, er könne sich einen auf Europa beschränkten Atomkrieg vorstellen. Weinberger spricht von der »Möglichkeit einer überlebensfähigen und anhaltenden Erwiderung«. In seinem Brief hat Weinberger zwar geschrieben, in einem Atomkrieg gäbe es keine Sieger. Aber wenige Wochen zuvor hatte er vor dem Naval War College erklärt: »Erfolgreiche Abschreckung erfordert verantwortliche und wirksame Eventualpläne für den Fall, daß die Abschreckung versagt und wir angegriffen werden. In diesen Plänen planen wir nicht das Verlieren.« Es gibt also Pläne zum Führen und Gewinnen eines Atomkrieges!
Die Londoner »Times« zu den Widersprüchen Weinbergers: »Die Gefährlichkeit liegt darin, daß ein amerikanischer Präsident, der sich daran macht, die Russen zu überzeugen, daß er einen Atomkrieg für denkbar und gewinnbar hält, am Ende auch sich selber davon überzeugt, besonders wenn er ohnehin die Sowjetunion mit tiefer Feindseligkeit betrachtet. Dies könnte ihn in Versuchung führen, Risiken einzugehen, denen er sonst ausweichen würde.« Sollte es Reagan tatsächlich gelingen, die Sowjetunion davon zu überzeugen, daß die USA in absehbarer Zeit atomar wieder überlegen sein werden, entsteht dann nicht erst recht die Gefahr, daß die sowjetischen Führer plötzlich glauben, amerikanische Überlegenheit noch verhindern zu müssen, solange sie es können? Nach der gültigen Kriegsphilosophie wäre dieses Ziel jedoch nur mit einem Atomkrieg zu erreichen.
Caspar Weinberger unterstellt der Sowjetunion, ihrerseits einen Atomkrieg vorzubereiten und an einen möglichen Sieg zu glauben. In seiner Antwort in der »Zeit« fragt Theo Sommer den amerikanischen Verteidigungsminister lakonisch: »Selbst wenn die Sowjets alles tatsächlich vorbereiten und vorhätten, was Sie ihnen unterstellen — welchen Sinn ergäbe es, ihre Torheiten nachzuahmen?«
Gleich am Beginn von Reagans Amtszeit hatte Weinberger vor dem Haushaltsausschuß des Kongresses erklärt: »Diese Regierung wird ihr militärisches Potential so vergrößern, daß sie jederzeit die Sowjetunion vor einem Weltkrieg abschrecken oder ihn führen kann.« Also doch: Oder ihn führen kann!
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Eugene Rostow war zur selben im außenpolitischen Ausschuß des Senats gefragt worden, ob ein Land einen Atomangriff überleben könnte. Seine Antwort: Japan habe nach dem nuklearen Angriff nicht nur überlebt, sondern sogar floriert! Rostow war damals der Chef der Rüstungskontroll- und Abrüstungsbehörde in Washington! Wer sich einen begrenzten atomaren Krieg vorstellen kann, für den hat der Atomkrieg seinen Schrecken verloren, aber nur dann, wenn er außerhalb der Begrenzung lebt.
Für viele europäische Ohren in Ost und West hören sich die zitierten Gespräche amerikanischer Politiker viel bedrohlicher an als für nordamerikanische Ohren. Noch bedrohlicher als die amerikanischen Sprüche sind für Westeuropa die schon längst stationierten SS-20-Raketen der Sowjetunion, weil sie einen begrenzten Atomkrieg möglich machen. Es gibt heute keinen Politiker, der einen Atomkrieg wünscht. Das darf man unterstellen! Aber es gibt Politiker in Moskau und Washington, die bereit sind, Atomwaffen einzusetzen, wenn sie sich bedroht fühlen. Selbst wenn die Gefahr eines Krieges objektiv nicht zu wachsen scheint, durch immer weitere Rüstung und Nachrüstung wächst auf beiden Seiten die Angst vor der Gefahr. Und es wächst die Bereitschaft, auf die Gefahr zu reagieren: mit Atomwaffen!
Falls ein Atomkrieg geführt würde, kann man ebenfalls allen Beteiligten den Wunsch unterstellen, diesen Krieg begrenzt halten zu wollen. Doch die Frage ist auch hier, ob sie das können! Davon abgesehen, daß für Deutsche auch der begrenzte Atomkrieg unvorstellbar bleiben muß — denn wir wären als geteiltes Land mit den meisten Atomwaffen hier und in der DDR auch am meisten betroffen — wenn ein atomarer Krieg erst einmal begonnen ist, wird nichts mehr sein wie vorher. Die Kriegsführenden werden ihren Einsatz gegenseitig hochtreiben, denn genau so ist es ja auch geplant. Es wird schon deshalb kein Halten mehr geben können, weil ja jeder mit der Vernichtung dem anderen zuvorkommen möchte. Und in diesem Fall haben beide Seiten Vorkehrungen dafür getroffen, daß die Vernichtung komplett sein wird. Politiker, die den totalen Atomkrieg geplant und »geprobt« haben, werden kaum davon abzuhalten sein, ihn auch zu führen, wenn sie sich und ihre Macht bedroht fühlen.
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In Vietnam haben die USA noch weitergekämpft, als rein militärisch schon längst alles sinnlos war. Und die Sowjets besetzten Afghanistan mit der Begründung, es vor dem »Imperialismus« schützen zu müssen. Der Hinweis auf amerikanische Verbrechen in Vietnam rechtfertigt die sowjetischen Atomwaffen so wenig, wie der Hinweis auf sowjetische Verbrechen in Afghanistan amerikanische Atomwaffen rechtfertigt. Beim Tode Leonid Breschnews wurde unsere heutige Situation blitzlichtartig deutlich. Ronald Reagan versicherte: Die USA wollen Frieden, aber aus einer Position der Stärke. Und Jurij Andropow erwiderte am Tag darauf: Die Sowjetunion will Frieden, aber aus einer Position der Stärke.
Stärke ist für beide Seiten ein anderes Wort für Nachrüsten, Vorausrüsten, Weiterrüsten, Wettrüsten, Kriegsvorbereitung. Stärke ist für die nordamerikanische wie für die sowjetische Führung die Summe ihrer Vernichtungskapazität. Abrüstungsverhandlungen sind bis jetzt lediglich Opium für die nach Abrüstung verlangenden Menschen und dienen als trügerische Beruhigung. Diese Politik der Stärke kann nur zu mehr Konfrontation, niemals zu mehr Kooperation führen. »Wir sind für die Abschaffung des Krieges, wir wollen den Krieg nicht; aber man kann den Krieg nur durch den Krieg abschaffen; wer das Gewehr nicht will, der muß zum Gewehr greifen.« (Mao Tse-tung) Das ist die alte Politik der Stärke; sie hat fast immer zum Krieg geführt. Und fast alle Kriege wurden mit dem Streben nach Frieden gerechtfertigt. Nach dieser Philosophie der Stärke (»Wie du mir, so ich dir«) verhandeln die Supermächte in Genf, seit Jahrzehnten ergebnislos. Der Krieg wurde nicht abgeschafft, sondern die Kriegsgefahr wuchs zur Vernichtungsgefahr. Noch jede Abrüstungskonferenz brachte im Ergebnis mehr Aufrüstung. Das ist schon seit über 100 Jahren so.
Der Diplomat Ernst Freiherr von Weizsäcker, der 1932 an der Abrüstungskonferenz in Genf teilnahm, notierte bereits ein Jahr vorher: »Über die Erfolgsaussichten der Abrüstungskonferenz steht heute schon soviel fest, daß ein wirklicher Rüstungsabbau nicht kommt.« Von Weizsäcker nannte die damalige Abrüstungskonferenz schon lange vor Beginn »die geplante Abrüstungslüge«.
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Nichts widerspricht dem Geist der Bergpredigt und dem wahren Leben mehr als das Denken und Handeln in den Kategorien der Stärke. Bisher schien unsere Lage so, daß Atomwaffen einen Krieg in Europa verhindert haben. Jetzt aber wird immer deutlicher, daß der Atomkrieg lediglich aufgeschoben wurde. Die Vernichtung beginnt mit Worten.
Helmut Kohl gegen Nachrüstung?
Bundeskanzler Helmut Kohl sagte in seiner Regierungserklärung am 13. Oktober 1982: »Frieden schaffen ohne Waffen: Das ist ein verständlicher Wunsch, aber eine lebensgefährliche Illusion. Frieden schaffen nur durch Waffen: Das wäre eine tödliche Verblendung. Frieden schaffen mit immer weniger Waffen: Das ist die Aufgabe unserer Zeit.« Ich stimme diesen Sätzen zu. Das ist ein Weg zur Abrüstung. Nur: Wer ihn für richtig hält, muß ihn auch gehen. Weg und Ziel sind hier identisch. Aber nur wenige Sätze später widerspricht sich der Bundeskanzler in derselben Regierungserklärung: »Die Bundesregierung steht uneingeschränkt zum Doppelbeschluß der NATO von 1979, der Verhandlungen über die Reduzierung und Begrenzung sowjetischer und amerikanischer nuklearer Mittelstreckensysteme bietet. Sie wird die Beschlüsse erfüllen und nach innen vertreten: den Verhandlungsteil und - wenn notwendig - auch den Nachrüstungsteil.« Wer als »Aufgabe unserer Zeit« erkannt hat: »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen«, darf nicht nachrüsten, denn Nachrüsten bedeutet mehr Waffen.
Ende 1982 wurde in der Bundesrepublik bereits mit den Vorbereitungen zur Nachrüstung begonnen. Im Wahlkampf 1983 vertreten Helmut Kohl und sein Vorgänger Helmut Schmidt die Position des Doppelbeschlusses. Es wird wahrscheinlich nachgerüstet werden. Die Sowjetunion wird dann nachrüsten zur Nachrüstung, und die USA werden wiederum antworten. Wir nähern uns so dem atomaren Holocaust mit beängstigender Zwangsläufigkeit.
»Ich sah, daß Hiroshima verschwunden war«, sagte der Geschichtsprofessor Takenaka aus Hiroshima am Tag des Atombombenabwurfs.
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Im atomaren Zeitalter kann jeder Augenblick unser letzter sein. Was für den Historiker Takenaka am 6. August 1945 galt, kann morgen für die Menschheit gelten. Nach dem globalen atomaren Holocaust wäre allerdings kein Leben mehr auf der Erde, sondern Totenstille überall, das Nichts. Wenn ich diese Zeilen schreibe, kann ich nicht ganz sicher sein, ob sie auch noch gedruckt werden können. Und zum Zeitpunkt ihres Druckes ist nicht sicher, ob sie von Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, auch noch gelesen werden können. Professor Takenaka hätte vermutlich vor dem August 1945 solche Gedanken ebenso weit von sich gewiesen, wie wir dies heute tun. Wir leben, als wüßten wir nichts. Aber kann eine Gesellschaft als psychisch gesund gelten, die vor ihrer möglichen Vernichtung die Augen verschließt?
Politiker wollen uns die Angst ausreden. Angst sei kein guter Ratgeber für die Zukunft. Es kommt darauf an, ob wir Gründe haben, uns zu ängstigen. Unbegründete Angst macht krank. Begründete Angst ist heilsam. Die Angst vor dem atomaren Holocaust ist begründet. Sie ist deshalb der beste Ratgeber für die Zukunft. Wer nachdenkt und Phantasie hat, den läßt die Angst vor der ungeheuren Zerstörungskraft der Bombe nicht mehr los. Nur das Wahrnehmen dieser begründeten Angst kann uns die Augen öffnen, damit wir nicht weiter blind auf den Abgrund zugehen. Mit dem Zünden der Hiroshima- und Nagasaki-Bomben hat die Menschheit bereits ihre atomare Unschuld verloren. Wir haben heute mehr als 20.000 Megatonnen nukleare Explosionskraft, und täglich kommt neue hinzu. Eigentlich müßten wir Bescheid wissen. Peter Kern und Hans Georg Wittig haben in ihrer »Pädagogik des Atomzeitalters« die atomare Entwicklung seit 1945 an einem Vergleich deutlich gemacht. Wenn Ost und West heute atomare Zerstörungskapazitäten haben, die 1,6 millionenmal stärker sind als die Bombe von Hiroshima, dann entspricht das »dem Verhältnis zwischen der Dicke eines Bleistifts und der Höhe des Mount Everest«. Carl Friedrich von Weizsäcker schon 1976: »Der Dritte Weltkrieg ist wahrscheinlich.«
detopia-2006: Hiroshima-Bombe = 13-18 kt
wikipedia Atombombenabwürfe_auf_Hiroshima_und_Nagasaki
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Über einige Dutzend Terroristen in den 70er Jahren geriet die Bundesrepublik in Aufregung, ja in Panik. Aber die Prognose des renommierten deutschen Friedensforschers, ein atomar geführter Weltkrieg sei wahrscheinlich, regte kaum jemanden auf.
Ein Dritter Weltkrieg ohne den Einsatz von Atomwaffen ist nahezu ausgeschlossen. Im voratomaren Zeitalter hatte jemand, der schrieb oder Politik machte, eine Perspektive, Gewißheit auf Zukunft und Dauer seiner Arbeit. Damit hatte auch sein Tun einen tieferen Sinn. Ähnliches empfinden wohl — meist unbewußt — Mütter und Väter und all die, die es werden möchten. Viele fragen sich: »Sind Kinder im Atomzeitalter noch verantwortbar?« Ja! Kinder sind eine starke Gegenkraft der Hoffnung, ein Ja zum Leben und eine Absage an die zunehmende Militarisierung unseres Daseins. Während ich dieses Buch schreibe, ist unsere Caren Maria geboren worden, der ich es zusammen mit ihrer Schwester Christiane widme. Wir haben unsere Kinder nicht geboren, damit sie im Atomblitz verglühen, und auch nicht, damit sie ein Leben lang in Angst vor der Atomwaffe leben müssen. Heute ist der Sinn unserer Tätigkeiten fragwürdiger; die Fristen werden knapper; die Menschen ungeduldiger: psychische Folgen des Atomzeitalters, die uns kaum bewußt sind.
Wer bisher ans Sterben dachte, wußte, daß er weiterlebt in der Erinnerung derer, die ihn kannten. Dieser Trost schwindet heute. Wir wissen nicht mehr, ob und wie lange überhaupt jemand weiterlebt. Wenn die Art zu sterben absurd wird, wird dann nicht auch die Art zu leben absurd? Haben die Jungen deshalb so viel Angst vor dem Leben, weil die Alten so viel Angst vor dem Tod haben? Der Kanzler hat viele gute Gründe gegen die Nachrüstung. Er sollte entsprechend handeln.
Mit Norbert Blüm in der DDR
Wie schwer sich Politiker mit Friedenspolitik tun, habe ich im September 1982 aus der Nähe erfahren. Wenige Tage, bevor Norbert Blüm Bundesminister wurde, waren wir privat einige Tage in der DDR. Wir wollten uns über die Friedensbewegung informieren, aber wir stritten ständig über Frieden.
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In Ostberlin diskutierten wir mit Professor Herbert Häber vom SED-Politbüro. »Sie haben mich immer auf Ihrer Seite, wenn es gegen die Nachrüstung der NATO geht«, sagte ich zum Kommunisten Häber, »aber es wäre hilfreich, wenn Sie Ihren Genossen in Moskau wegen der SS-20-Raketen die Leviten lesen würden.« Häber und Blüm verteidigten mit gleichlautenden Argumenten das atomare System des jeweils eigenen Lagers: Jeder warf dem anderen Vorrüstung vor. Der eine sprach von westlicher Überlegenheit bei Langstreckenraketen und der andere von östlicher Überlegenheit bei Mittelstreckenraketen. Des einen SS-20 waren des anderen MX. Waffentechnik und Waffenkürzel beherrschten die Diskussion, von bedrohten Menschen und Völkern war nicht die Rede. Ich bin sicher, daß man Völkerverständigung nicht technisch-militärisch erreichen kann. Wirkliche Verständigung zwischen den heutigen Blöcken kann es erst geben, wenn einer aufhört, der anderen Seite Angst zu machen. Wer aufrüstet, macht Angst, wer abrüstet, nimmt Angst.
Meine beiden Gesprächspartner waren natürlich für Frieden und Abrüstung. Aber jeder sagte, der andere habe vorausgerüstet und müsse mit Abrüstung beginnen. Als ich auf meinem Standpunkt beharrte, daß weder Ost noch West jetzt weiterrüsten oder nachrüsten dürften, und zwar völlig unabhängig von dem, was der andere tut, hatte ich beide Politiker gegen mich. Das war eine wichtige Erfahrung. In diesem Augenblick wurde mir nämlich klar, daß Politiker vor allem deshalb nicht abrüsten können, weil sie Angst haben vor Abrüstung und letztlich Angst vor dem Frieden. Das Feindbild sitzt so tief, daß es gar nicht mehr bewußt ist. Das will natürlich keiner wahrhaben, aber es ist so. Jeder braucht den anderen als Feind. Das gilt für meinen Freund Norbert Blüm ebenso wie für den geschätzten Gesprächspartner der SED.
Nichts fällt uns Menschen so schwer, wie uns Dinge bewußt zu machen, die uns daran hindern, menschlicher zu werden. Die Angst der Politiker vor dem Frieden hat Bertrand Russell mit einem schönen Beispiel beschrieben:
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»Ich habe einmal einen Esel besessen, der in einem Schuppen hauste. Der Schuppen geriet in Brand. Mehrere kräftige Männer mußten sich anstrengen, um den Esel in Sicherheit zu bringen. Hätte man ihn sich selbst überlassen, er wäre vor Schreck erstarrt und verbrannt. Die Situation der Großmächte heutzutage ist eine ganz ähnliche. Dies gilt besonders für die Frage der Abrüstung.«
Der verblendete Esel hat sein wahres Sicherheitsinteresse nicht beachtet. Er war blind gegenüber der tödlichen Gefahr. Auch viele Politiker sind so sehr durch Haß verblendet, daß sie den gemeinsamen Feind, die Atombombe, nicht sehen. Ihre Herzen sind blind.
Vor der Begegnung mit dem SED-Politiker waren wir bei Pfarrer Rainer Eppelmann in Ostberlin. Er hatte zusammen mit Robert Havemann kurz vor dessen Tod den »Berliner Appell: Frieden schaffen ohne Waffen« verfaßt. Der junge Eppelmann und der alte Havemann sind die Geburtshelfer der Friedensbewegung in der DDR. Die Friedensfrage hatte den idealistischen Christen Eppelmann und den humanistischen Kommunisten Havemann zusammengeführt. Die westdeutsche Friedensbewegung propagiert den Spruch: »Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.« Eppelmann hatte auf sein Garagentor gepinselt: »Stell dir vor, es ist Frieden, und die da oben merken es nicht.«
Weder Reagan noch Andropow, weder Schmidt noch Kohl, weder Blüm noch Häber wollen Krieg. Aber das sagt nicht viel. Albert Einstein: »Bloßes Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Krieg führt.« Fast alle Politiker, die bisher Krieg geführt haben, waren für Frieden. Die meisten Kriege waren nicht gewollt, aber sie wurden trotzdem geführt. Hitler war eine Ausnahme — er wollte Krieg. Unsere Sprache verrät, daß wir für Kriege niemanden verantwortlich machen: Kriege brechen einfach aus. Wir reden über Kriege wie über Naturgewalten oder über ein Schicksal, das eine höhere Macht über die Menschen verhängt hat. Wichtig ist also nicht, wie Politiker über Frieden reden, wichtig ist allein, was Politiker für den Frieden tun.
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Alle reden von Abrüstung
Verräterisch in Gesprächen mit Politikern in Ost und West ist immer wieder das Wort »Eigentlich«. Eigentlich sind alle für Abrüstung, aber »die Kommunisten«, »die Kapitalisten«, »unsere Schutzmacht« und die immer wieder bemühten »Sachzwänge« hindern sie dann doch, ihre edle Gesinnung in Taten umzusetzen. Wenn wir uns aber von der atomaren Sache zwingen lassen, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht wollen, dann werden wir irgendwann einmal auch zum Krieg gezwungen, den wir natürlich und eigentlich erst recht nicht wollen. Die Sowjets wollen eigentlich Abrüstung, und die USA wollen eigentlich Abrüstung. Aber sie rüsten immer weiter auf. Mit Verweis auf den anderen macht jeder das, was er am anderen verurteilt. Ich weiß ja auch nicht, wer nun ein paar Raketen mehr hat. Aber ich weiß, daß es darauf auch seit langem nicht mehr ankommt.
Wenn jeder den anderen dutzendmal umbringen kann, dann ist jede Form von Nachrüstung absurd. Was den Fachleuten in Ost und West dazu an Rechtfertigung einfällt, ist nicht mehr überzeugend. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, den Untergang der Menschheit und ihres Planeten vorzubereiten. Die Drohung mit Vernichtung ist zweifelsfrei gegen den Geist der Bergpredigt. Die Atombomben der Sowjetunion werden nicht dadurch ungefährlich, daß sie durch neue Atombomben der USA kompensiert werden. Die Atombombenpolitik des einen spiegelt die Atombombenpolitik des anderen wider. Die Bomben der Sowjetunion bedrohen die Menschheit heute nicht weniger als die Bomben der USA. Beide Supermächte zündeln an der Lunte eines atomaren Pulverfasses, das heute die eine Welt bedroht. Beide können die Menschheit vernichten.
Wenn trotz allem nachgerüstet werden soll, dann werden immer mehr Westdeutsche innerlich aus der NATO aussteigen, so wie immer mehr Ostdeutsche innerlich aus dem Warschauer Pakt, wenn die Sowjets ihre SS-20 nicht verschwinden lassen. Der Ausstieg aus der Blockideologie ist dann die einzige Chance, daß Deutschland nicht Schießplatz der Supermächte wird.
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Das atomare Pulverfaß, auf dem wir sitzen, hat zwei Löcher: eines im Osten und eines im Westen. Wenn der Osten neuen Sprengstoff nachschiebt, glaubt auch der Westen nachschieben zu müssen und umgekehrt. Das kann gar nicht mehr lange gutgehen. Ich habe kein Vertrauen mehr in die Unfehlbarkeit derer, die uns sagen: »Wir haben alles fest im Griff.« Ich vertraue auf deren Fehlbarkeit. Wer in unserer atomar verseuchten Welt noch immer weiter aufrüsten und nachrüsten will, dessen Politik verdient unser Vertrauen nicht mehr. Helmut Gollwitzer: »Wer auf dem Pulverfaß schläft, ist mitschuldig, wenn es schließlich explodiert und alles Leben zerstört. Wer aufsteht und Hand anlegt, daß es weggeräumt wird, der praktiziert Ostern.«
Kurz bevor ich mit Norbert Blüm in die Bundesrepublik zurückkehrte, besuchten wir Bischof Krusche in Magdeburg. Er schilderte uns den Kampf der evangelischen Kirche in der DDR gegen atomare Rüstung. Mir wurde bei dieser Begegnung endgültig klar, gegen wen wir unsere Nachrüstung eigentlich richten: nicht nur gegen die Kreml-Führer und gegen Erich Honecker persönlich, sondern gegen die vielen Millionen Bürger in Osteuropa, deren Friedenssehnsucht so groß ist wie die Friedenssehnsucht hierzulande. Unsere Nachrüstung richtet sich zum Beispiel gegen Millionen evangelischer Christen in der DDR, gegen Millionen Katholiken in Polen und gegen Millionen orthodoxer Christen in der Sowjetunion, ebenso wie gegen Millionen Atheisten.
Wir richten Atomraketen gegen Millionen Menschen, die so sehr den Frieden wollen wie wir auch. Sind wir noch glaubwürdig, wenn wir uns für Menschenrechte in Osteuropa stark machen, aber zugleich Osteuropa mit Vernichtung durch Atomwaffen drohen? Wir übersehen, daß wir durch unsere Pläne zur Verteidigung der Freiheit die Vernichtung von Millionen Menschen in Kauf nehmen. Wir hoffen, durch ihre Vernichtung ein System zu vernichten, das uns feindlich gesinnt ist und sie unterdrückt. Zuerst haben ihnen ihre Unterdrücker ihre Rechte genommen, und nun drohen wir auch noch, ihnen das Leben zu nehmen - im Namen der Freiheit!
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Die Abschreckungspolitik kann heute keine Verteidigung im Falle eines Angriffs versprechen. Sie kann nur versprechen, daß Millionen vernichtet werden, falls wir vernichtet werden. Also nicht Verteidigung oder Rettung ist gewährleistet, sondern die Vernichtung. Wir wollen der Vernichtung entgehen, indem wir die Vernichtung vorbereiten und mit Vernichtung drohen. Unser Drohen provoziert aber ständig neue Drohungen des Gegners. Das Paradoxon ist unauflösbar. Mit dieser Doktrin werden wir die Bomben nicht los, sondern wir verinnerlichen sie. Wir fangen an, an die Bombe zu glauben. Sind wir im Westen wirklich frei, wenn wir uns nicht gegen jede weitere Eskalation atomarer Rüstung zur Wehr setzen - in unserem Interesse, aber auch im Interesse derer in Osteuropa, die viel mehr Mut brauchen als wir, um gegen den Rüstungswahn ihrer Obrigkeit zu protestieren?
Angst vor dem Frieden
Ich schreibe dieses Buch auch, um mich bei den Menschen zu entschuldigen, die wir bedrohen. Ich war zu lange bereit, nicht nur meinen, sondern auch ihren Tod in Kauf zu nehmen - aus vermeintlichen Sicherheitsgründen. Ich bitte um Verzeihung. Unser Sicherheitskomplex redet uns ein, daß immer mehr Waffen den Frieden sicherer machen. Der Sicherheitskomplex läßt uns sagen: Eigentlich sind wir ja gegen immer mehr Waffen, aber leider zwingen uns die Kommunisten zur Aufrüstung und Nachrüstung. Der Sicherheitskomplex bietet uns die scheinbare Rechtfertigung für die Planung von Massenmord, Selbstmord und Vernichtung jeden Lebens. Von diesem Sicherheitskomplex sind nicht nur Politiker befallen, sondern alle, die Politiker einfach weiterrüsten lassen. Wir planen den Selbstmord aus Angst vor dem Frieden. Wir sind so irrational auf den äußeren Feind, den Feind um uns, fixiert, daß wir den inneren Feind, den Feind in uns, gar nicht wahrhaben können. Voraussetzung für Frieden um uns ist aber Friede in uns. »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet«, sagt Jesus. Unsere moralische Überheblichkeit gegen Kommunisten verstellt uns den realistischen Blick für die eigenen atomaren Sünden.
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Christen, die Liebhaber des Friedens sein wollen, stehen im Atomzeitalter vor dieser Frage: Glaube an Gott oder Glaube an die Bombe?
Wer an den Gott Jesu, an den Gott der Liebe glaubt, kann nicht an die Bombe glauben. Unser Vertrauen in die Sicherheit bietende Bombe wuchs, wie unser Glaube an Gott geschwunden ist.
Der barmherzige Samariter wird von Jesus nicht deshalb selig gepriesen, weil er einem Verletzten geholfen hat, sondern weil er zu seinem Feinde barmherzig war. Atomare Rüstung aber ist kollektive Unbarmherzigkeit, kollektiver Feindeshaß. Atomares Wettrüsten ist ein Ausdruck unserer kranken Seelen. Warum soll das nur für den Osten gelten? Ende Dezember 1982 sagte Helmut Kohl, die Sowjets müßten begreifen, daß man mit immer mehr Waffen keinen Frieden schaffen könne. Natürlich wäre es schön, wenn die Sowjetunion das begreifen würde.
Aber warum denn um alles in der Welt soll das nur die Sowjetunion begreifen? Wer ist denn z.Z. dabei nachzurüsten? Merken die Politiker wirklich nicht, was sie da sagen? Das ideologische Etikett, das sich die Wettrüster geben, ob christlich oder kommunistisch, sagt gar nichts. Entscheidend ist ihr Tun. Einer muß anfangen aufzuhören: wenn nicht der Osten, dann der Westen; wenn nicht der Westen, dann der Osten. Daß einer anfängt aufzuhören, das ist die »letzte Intelligenzprüfung der Menschheit« (Heinz Haber).
Wenn wir diese Prüfung nicht bestehen, dann gibt es keine weiteren Prüfungen mehr. Bischof Krusche erzählte uns, wie er von der SED-Kreisleitung gerügt wurde, weil vier Jugendliche bei einem Friedens-Schweigemarsch brennende Kerzen getragen haben. »Das darf sich nicht wiederholen«, wurde ihm beschieden. »Bei uns darf man so etwas, unser System ist doch das bessere«, meinte Norbert Blüm später im Auto. Natürlich darf man das bei uns. Diese Rüge für Bischof Krusche ist ja auch nicht gerade ein Hinweis auf die Überlegenheit des real existierenden Sozialismus, sondern ein Hinweis auf seine Schwäche und seine Ängste.
Dieses Beispiel macht deutlich, wie schwierig es ist, mit einer Regierung in Frieden zu leben, die Angst hat vor vier brennenden Kerzen oder Angst hat vor einem Stückchen Stoff, auf dem steht: »Schwerter zu Pflugscharen«. Es ist sicherlich schwer, wirkliche Abrüstung zu erreichen mit Machthabern, deren Sicherheitskomplex sie innerlich zerfrißt, aber nichtsdestoweniger ist es notwendig.
* (d-2014:) H.Haber bei detopia
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Aggression gegen Friedenswillige gibt es auch bei uns. Man denke an die vielen unqualifizierten und dümmlichen Bemerkungen führender Bonner Politiker. Die Aggressionen hierzulande sind subtiler und kommen oft unter einem Mäntelchen scheinbarer Toleranz daher.
Bei der CDU-Friedensdemonstration am 5. Juni 1982 im Bonner Hofgarten hatte ich für REPORT eine Gruppe der Jungen Union gefilmt, die fünf Tage später auch an der Friedensdemonstration der Friedensbewegung teilnahm. Die Junge-Union-Mitglieder trugen an beiden Veranstaltungen dieselben Transparente: »Keine Waffen für die Dritte Welt«, »Friede beginnt innen«, »Schwerter zu Pflugscharen« und »Waffen machen nicht satt«. Bei beiden Demonstrationen hörten die jungen Leute als erstes: »Ihr seid wohl auf der falschen Demonstration.« Kein Regisseur hätte die Szene für einen Film besser erfinden können. »Ihr seid fünf Tage zu früh«, hörten die jugendlichen CDU-Mitglieder bei der CDU-Kundgebung, und »Ihr seid wohl fünf Tage zu spät« hörten sie bei der Friedensbewegung.
Bei der CDU wurden ihnen sogar die Transparente heruntergerissen von Teilnehmern, die nur Transparente für den NATO-Doppelbeschluß als Friedenstransparente gelten lassen wollten. Als ich die Szene filmte, wurde mir zugerufen: »Verkappter Kommunist!«, »Gehen Sie doch zum Ost-Fernsehen!«. Die Junge-Union-Mitglieder verwiesen schließlich auf ihre CDU-Mitgliedschaft. »Werdet nicht frech!« hörten sie daraufhin. Die Angst vor dem Frieden sitzt tief.
Der Hinweis auf die Bergpredigt kann heftige Aggressionen auslösen. Wie wäre es wohl Jesus ergangen, hätte er auf der Veranstaltung einer C-Partei, die sich auf ihn beruft, im Geiste der Bergpredigt geredet? Wer Angst hat vor Friedensdemonstranten hier und wer Angst hat vor »Schwerter zu Pflugscharen« drüben — um wieviel mehr Angst hat der vor einem wirklichen Frieden? Haupthindernis für Frieden ist, daß sich die meisten Frieden zwischen Ost und West noch gar nicht vorstellen können. Viele Politiker überlegen, wie sie dem anderen durch Nachrüstung Angst machen können, weil sie selbst Angst vor dem Frieden haben. Oder fehlt es ihnen nur an Phantasie?
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Friedensfördernd wäre jedoch die Frage: Wie kann ich dem anderen, der vor mir Angst hat, so wie ich vor ihm Angst habe, seine Angst nehmen? Unser Hauptproblem darf nicht länger sein, wie ich mich vor meinem Feind schütze. Unser Hauptproblem muß werden, wie ich meinen Feind vor mir schütze. Das wäre intelligente Feindesliebe. Wir kommen dem Frieden nur näher, wenn wir moralische Überheblichkeit ablegen. Wir müssen begreifen, daß unsere bisherige politische Ethik weitgehend eine Zeigefinger-Ethik war, mit der wir immer nur auf das Böse im anderen gezeigt und dabei das Böse in uns übersehen haben.
CDU-Ost und CDU-West
Sechs Wochen nach unserem Gespräch in der DDR hatte die CDU-Ost in Dresden einen Parteitag. Dresden ist das deutsche Hiroshima. Die Stadt wurde 1944 fast völlig zerstört. Und in dieser Stadt verteidigte der Vorsitzende der anderen CDU, Gerald Götting, im Herbst 1982 »seine« Atombomben: Die Freundschaft mit der Sowjetunion ist Grundlage unseres Staates; die CDU-Ost kämpft gegen die NATO-Nachrüstung; bei den Abrüstungsgesprächen darf man Ost und West nicht auf eine Stufe stellen; Gefahr droht nur vom westlichen Imperialismus; aus dem Osten kommt der Frieden. Wenn ich mir in dieser Rede »Ost« und »West« ausgetauscht denke, dann habe ich die Rede, die meine Parteifreunde hierzulande halten: Die Gefahr kommt aus dem Osten; Grundlage unserer Politik ist die Freundschaft mit den USA; die CDU-West kämpft gegen die sowjetische Vorrüstung ... Erich Honecker sagte: Die nationale Volksarmee ist eine Friedensbewegung. Und Norbert Blüm meinte während unserer Rückfahrt: Die Ost-CDU sei total von Moskau abhängig. Das glaube ich auch. Wahrscheinlich ist die Ost-CDU von Moskau noch abhängiger als die West-CDU von Washington.
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Viele Argumente der offiziellen Politiker, die heute in Deutschland-Ost und in Deutschland West zur Rüstung benutzt werden, sind austauschbar. Bonn und Ostberlin sind sicher an einem Erfolg der Genfer Abrüstungsverhandlungen interessiert. Aber weder Bonn noch Ostberlin ist bereit, bei einem Scheitern in Genf die Konsequenzen aus der tödlichen Zwangsläufigkeit des Wettrüstens zu ziehen. Für beide deutschen Regierungen hat Bündnistreue absoluten Vorrang.
Auch angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten und zunehmender Staatsschulden wird in beiden Deutschländern die Frage möglicher Minderung der Rüstungsausgaben nicht ernsthaft diskutiert. Die organisierte Friedlosigkeit wird weiter gepflegt auf Kosten wirklicher Sicherheit durch Abrüstung. Ist es wirklich unser nationales Interesse, daß wir uns weiterhin den Vorstellungen der atomaren Supermächte unterordnen? Die Gefahren für beide deutsche Staaten heißen in den 80er Jahren nicht mehr »Kommunismus« oder »Kapitalismus«.
Es bedrohen uns gemeinsam Atombomben, die Ost und West aus Unwissenheit übereinander und aus Haß gegeneinander gebaut haben und solange bauen wollen, bis wir es nicht mehr zulassen. Atombomben sind keine Angelegenheit »kapitalistischer« oder »sozialistischer« Politik. Atombomben kann man auch nicht mit Klassenkampftheorie von links oder rechts bekämpfen. Der Kampf gegen den Atomtod ist kein Kampf zur Rettung einer Klasse, sondern zur Rettung der Menschheit.
Kanzler Kohl und Verteidigungsminister Wörner stellten im November 1982 nach einem Gespräch mit dem NATO-Ober-befehlshaber, dem amerikanischen General Rogers, die »volle Übereinstimmung mit den USA über die NATO-Strategie« fest. Kurz zuvor hatte Rogers vor Journalisten in Hamburg erklärt: »Weil wir Versäumnisse im konventionellen Bereich haben, müssen wir im Konfliktfall sehr schnell Atomwaffen einsetzen.« Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, in welchem Land wohl diese Atomwaffen zuerst eingesetzt werden sollen. Kann es jemals deutsches Interesse sein, das atomare Schlachtfeld der Großmächte zu werden?
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Wer es mit deutscher Wiedervereinigung ernst meint — in welcher Form auch immer —, muß alles unterstützen, was die Emanzipation beider deutscher Staaten von ihrer jeweiligen Supermacht fördert. Dieser emanzipatorische Prozeß — gegen niemanden gerichtet — könnte vernünftigerweise bei der Rüstung beginnen. Erst eine Befreiung aus der atomaren Geiselnahme der Supermächte bringt die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung der Geschichte.
Daß Wettrüsten Deutschlandpolitik und Friedenspolitik in Europa erschwert, hat Konrad Adenauer schon am 14. August 1961 in einer Rede in Regensburg festgestellt:
»Bitte denken Sie einmal zurück, welche Beweggründe Stalin dazu gebracht haben, sich diese ganzen Satellitenstaaten vor Sowjetrußland hinzulegen, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechoslowakei bis zur DDR. Weil er fürchtete, daß eines Tages Rußland von Westen her angegriffen werden würde, wollte er dafür sorgen, daß in diesen Ländern und nicht in Sowjetrußland die entscheidenden Schlachten eines solchen Krieges sich abspielen. Denken Sie daran, daß damals Sowjetrußland noch keine nukleare Bewaffnung hatte, die ja das ganze Bild verändert hat, das ganze Bild eines etwaigen zukünftigen Krieges total verändert,hat. Wenn durch eine kontrollierte Abrüstung diese Gebiete den Zweck, den Stalin ihnen beigelegt hat, nicht mehr zu erfüllen brauchen, dann, das ist meine feste Überzeugung, ist auch der Zeitpunkt gekommen, da unser Land Deutschland von seiner Zweiteilung erlöst und wieder ein einiges, ein großes Deutschland wird.«
Adenauer vertrat schon Anfang der 60er Jahre die realistische These, daß die heutigen Militärdoktrinen dem Frieden in Zentraleuropa und einer Wiedervereinigung Deutschlands entgegenstehen. Ohne ein atomwaffenfreies Europa wird es kein wiedervereinigtes Deutschland geben.
Mißbrauch der Bergpredigt
1975 erschien in der Schweiz ein »katholischer Katechismus«. Darin heißt es: »Sind die Anweisungen in der Bergpredigt wörtlich zu nehmen? Die Anweisungen in der Bergpredigt sind nicht wörtlich zu nehmen, weil das sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben zu unterhaltbaren Zuständen führen würde.«
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Hier — in einem »katholischen Katechismus« — wird Jesus zum Deppen erklärt, im Namen des Christentums. In der Politik wie im Privatleben sind wir häufig noch auf der Stufe des Alten Testaments: »Aug um Auge, Zahn um Zahn«, »Wie du mir, so ich dir«, »Heimzahlen mit gleicher Münze«. Das ist noch weitgehend das Niveau unserer heutigen christlich genannten Ethik.
Der Gedanke der Verhältnismäßigkeit ist bis in unsere heutige Rechtsprechung gültig geblieben. Jesus aber hat dieses Gesetz geregelter Vergeltung durchbrochen. Er will etwas radikal Neues. Er hat vor 2000 Jahren entschieden fortschrittlicher gedacht, als wir heute denken: keine Rache, sondern Liebe, sogar Feindesliebe. Vom Limburger Bischof Franz Kamphaus hörte ich davon etwas auf dem Katholikentag 1982 in Düsseldorf: »Was kann ich tun, damit der Gegner (Feind) nicht Gegner bleibt, sondern Friedenspartner wird? Er kann mir ja nicht gestohlen bleiben, er ist wie ich von Gott geliebt.« Wer dieser Interpretation der Bergpredigt zustimmt, darf der noch länger Atomraketen auf seine Feinde richten? Präsident Reagan hat im Sommer 1982 im Pentagon an einem militärischen Planspiel teilgenommen. Geübt wurde der atomar geführte Dritte Weltkrieg.
Reagans anschließende Bemerkung vor Journalisten war aufschlußreich: »Ich bete dafür, daß ich diese schrecklichen Atomwaffen nie einsetzen muß.« Des Präsidenten Betroffenheit ist sicher echt. Hatte er doch soeben bei einem »atomaren Szenarium« geübt, viele Millionen Menschen zu töten. Aber solche Betroffenheit bleibt folgenlos, wenn dann doch nachgerüstet werden soll. Demonstration von Betroffenheit ist kein Ersatz für Abrüstung und kein wirklicher Beweis für Friedensfähigkeit.
Für Buchstabenglaube und religiöse Formeln steht bei Jesus die Religion der Pharisäer. Bei Jesu Versuchung ist gar der Teufel der Vertreter des Buchstabenglaubens. Jesus: »Wer aber meine Worte hört und nicht danach handelt, ist wie ein unvernünftiger Mann, der sein Haus auf Sand baute.« Man kann die Bergpredigt in einem Wahlkampf mißbrauchen, man kann sie aber auch durch Nichtbeachten und durch Nichternstnehmen mißbrauchen.
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Die Bergpredigt läßt an ihrer Verbindlichkeit für alle, die Jesus nachfolgen wollen, keinen Zweifel.
Gefordert sind von Christen nicht Worte, sondern Taten — nicht »invitatio« Christi, sondern Nachfolge. Die schiere Verehrung Christi führt häufig dazu, daß das Vorbild auf den Sockel gestellt oder über die Wolken projiziert wird. So wird Jesus vielleicht zwar zum Kultobjekt am Sonntag, hat aber für den Alltag, den Beruf und die Politik von Christen keine Bedeutung. Wer dafür betet, daß er »schreckliche Atomwaffen nie einsetzen muß«, schiebt schließlich die Verantwortung für einen eventuellen Einsatz von Vernichtungswaffen Gott in die Schuhe. Gott als Sündenbock für die schrecklichste Tat der Menschheitsgeschichte — und das Ganze religiös verbrämt! Religion als Opium! Religion als Verschleierung des Verbrechens! Das ist genau die Art von »Religion«, die dazu führt, ein Atom-U-Boot »Corpus Christi« zu taufen: Gotteslästerung im Namen Gottes.
Die Bergpredigt ist auch eine Anleitung zur Skepsis gegenüber dem, was Politiker sagen. Im Februar 1981 berichtete die »Frankfurter Rundschau« über eine Tagung in Ludwigshafen. Dort hatte ein General a. D. gesagt, als aktiver Christ könne er es ethisch rechtfertigen, nach einem vorausgegangenen Angriff einen vernichtenden atomaren Schlag gegen Länder des Warschauer Paktes zu führen, selbst wenn dieser Vernichtungsschlag nur noch reine Vergeltung wäre und dabei Millionen Unschuldiger den Tod fänden. Denn die Freiheit sei das höchste Gut.
Auch Priester würden ihn in dieser Auffassung bestärken. Viele berufen sich auf Jesus, aber sie merken gar nicht, daß sie ihn kreuzigen, während sie ihm angeblich nachfolgen. Dies ist ein unchristliches Christentum. Wer sich an Jesus orientiert und nicht an irgendwelchen Projektionen auf Jesus, muß ohne jede theologische Schnörkelei, ohne Wenn und Aber feststellen: Ein Atomkrieg ist niemals, unter gar keinen Umständen, ethisch zu rechtfertigen. Ein Atomkrieg ist unchristlich. Das gilt für den Erstschlag, und das gilt für den Vergeltungsschlag.
Der traditionellen Rechtfertigung der Produktion von Atomwaffen — zum Beispiel in den Heidelberger Thesen evangelischer Christen 1959 — lag die Idee zugrunde, damit könne man Kriege verhindern.
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Eine ethische Rechtfertigung für den Einsatz von Atombomben kann es nicht geben. Aber seit in Ost und West Politiker und Militärs über einen »begrenzten Atomkrieg«, über einen »gewinnbaren Atomkrieg« und über »atomaren Erstschlag« spekulieren, kann auch die alte Rechtfertigung für die Produktion von Atomwaffen nicht mehr gelten.
Seit das Undenkbare denkbar geworden ist, ist auch die Produktion von offensiven Massenvernichtungswaffen eine Versuchung Gottes. Ich kann nicht beten: Herr schenke uns den Frieden des atomaren Gleichgewichtes. Durch Gebet die Gefahr des Atomkriegs wegzaubern zu wollen und gleichzeitig die Verantwortung für immer mehr und immer bedrohlichere Massenvernichtungswaffen zu übernehmen, hat viel mit Geisterbeschwörung, aber nichts mit Jesus von Nazaret zu tun.
Wer moralisiert, kann nicht moralisch handeln. Wenn Anbetung mit Nachfolge verwechselt wird, dann wird Religion zur »Super-Projektion« (Hanna Wolff), zum Schutzschild, hinter dem man alles treiben kann. Diese »Religion« schläfert das Gewissen ein, anstatt es zu schärfen. So wird sich niemals etwas ändern. »Glaube« ist kein Ersatz für richtiges, verantwortliches Handeln. Ein sentimentalisierter Glaube, der unverantwortliches Handeln fördert und verantwortliches Handeln verhindert, ist eine moderne, natürlich unbewußte Kreuzigung. In Königsberg, auf dem Grabstein Julius Rupps, eines 1848er Demokraten, hat Carola Stern diese Inschrift entdeckt: »Wer nach der Wahrheit, die er bekennt, nicht lebt, ist der gefährlichste Feind der Wahrheit selbst.«
Die Wahrheit der Bergpredigt ist nicht nur die Wahrheit, sondern auch das Leben. Jesus: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Bei Jesus sind die schlimmsten diejenigen, die so tun, als ob: Heuchler, Nattern und Schlangenbrut nennt er sie. Christen, die nicht nach der zentralen Forderung Jesu, der Feindesliebe, zu leben versuchen, sind selbst die größten Feinde der Bergpredigt.
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Wer aber praktiziert Feindesliebe konsequent? Wer kann hier den ersten Stein werfen? Fast alle Menschen sind innerlich zerrissen, bestehen aus Gutem und Bösem, wollen eigentlich Frieden und schaffen häufig Unfrieden. Unsere einzige Chance ist: die Zerrissenheit erkennen, das Böse in uns nicht auf andere projizieren, sondern bescheiden an seiner Überwindung arbeiten. Menschsein heißt Menschwerden. Sündenbewußtsein ist die Voraussetzung jeder Umkehr. Jesus ist eindeutig: »Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.«
Die Geschichte, auch und gerade die Geschichte des Christentums, ist voller Beispiele dafür, daß noch die größten Verbrechen religiös verbrämt werden. Religion als Tünche benutzen und benutzten auch Hitler und Chomeini, Ghaddafi und Pinochet, Begin und Arafat.
C. G. Jung: »Christus kann bis zur Stigmatisation nachgeahmt werden, ohne daß der Nachahmende auch nur annähernd dem Vorbild und dessen Sinn nachgefolgt wäre.« Vielleicht ist dies die Tragik der christlichen Religionen — zumindest in den Industriestaaten: Sie erreichen die Seelen der meisten Menschen nicht mehr. Sie erzeugen allenfalls noch die Illusionen eines geglaubten Glaubens, einer sentimentalisierten Liebe, eines scheinbaren Friedens. Daraus resultiert dann die Politik eines krankhaft guten Gewissens ohne jedes soziale Sündenbewußtsein.
In den Industriestaaten hat Religion einen neuen Namen: Ökonomie. Wo als erfolgreich nur gilt, wer viel Geld verdient; wo wirtschaftliches Wachstum wie eine Religion angebetet wird; wo die Ware das Wahre verdrängt hat — da hat wahre Religion, da hat der wahre Gott keinen Platz mehr. Selbst in der Papst-Enzyklika »Laborem Exercens« kommt auf 109 Seiten das Wort »Seele« nicht vor. Und eine Enzyklika ist immerhin ein richtungsweisendes Schreiben des ersten Seel-Sorgers der größten christlichen Kirche. Wo die Seele vergessen wird, hat Religion keine Chance, sie verkommt zum Formelkram, wovor Jesus gewarnt hat.
Im »aufgeklärten« Christentum spielt die Seele eine derart un-belichtete Rolle, daß man ihr kaum noch etwas Böses und schon gar nichts Gutes mehr zutraut — aber wie wir die Schönheit der Sonne nur über unsere Augen wahrnehmen können, so können wir Gott nur über unsere Seele erfahren.
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Ich hatte einmal davon geträumt, daß sich Papst Johannes Paul II. mit der Psychologie C.G. Jungs beschäftigt. Und etwa 14 Tage danach las ich seine Erklärung zum Weltfriedenstag am 1. Januar 1982. Dort sagt der Papst tatsächlich, daß die psychologischen Erkenntnisse unserer Zeit wichtig seien für die Friedensforschung. Ein Hoffnungsschimmer! Wer die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ernst nimmt, weiß um die Verwandtschaft seiner Seele mit Gott und versucht entsprechend zu leben, das heißt zu handeln.
Der Bau atomarer Angriffswaffen ist Ausdruck modernen Heidentums, auch wenn sich dafür verantwortliche Politiker, Wissenschaftler und Militärs noch so eifrig zum Christentum bekennen.
Die Produktion atomarer Waffen und die Drohung damit ist bei Christen allenfalls Ausdruck eines »geglaubten Glaubens«, aber nicht Ausdruck eines »gelebten Glaubens« (Johann Baptist Metz).
Wer heute noch für Atomwaffen eintritt, dessen Seele ist vom Geist Christi unberührt, es herrscht finsteres Heidentum in ihm. Geglaubten Glauben gab es in Deutschland auch während der Nazi-Zeit. Die Kirchen waren voll, aber die Herzen der Glaubenden kaum widerstandsfähig. Die deutschen Christen haben zum großen Teil »mit dem Rücken zu Auschwitz« (Metz) geglaubt. Der US-Bischof Hunthausen sieht in der heutigen Atombombenpolitik das »Auschwitz unserer Zeit«. »Wir haben davon nichts gewußt«, sagten nach 1945 viele, als ihre Kinder nach Auschwitz fragten. Ob das stimmte, ist hier nicht die Frage. Fraglos ist allerdings, daß wir künftigen Generationen — falls noch jemand fragen könnte — diese Antwort nicht mehr geben können. Wer heute wissen will, der weiß.
Atomwaffen sind der bisher schrecklichste Beweis für eine seelenlose Politik und eine heidnische Kultur. »Die christliche Mission predigt zwar das Evangelium den armen, nackten Heiden, aber die inneren Heiden, die Europa bevölkern, haben vom Christentum noch nichts vernommen.« (C. G. Jung) Wer die Wirklichkeit der Seele nicht an sich selbst erfährt, der mag vielleicht ein gelehrter Theologe oder angesehener Kirchenfürst oder populärer Politiker sein, von Religion hat er trotzdem keine Ahnung.
Er ist wie blind gegenüber der Sonne, er ist innerlich unerfahren und sieht nicht das Böse in sich selbst. Und er braucht deshalb — privat, im Beruf und in der Politik — immer Sündenböcke. Die Bergpredigt meint aber nicht den Glauben, sondern das Leben. Die Bergpredigt hat 2000 Jahre, nachdem die Menschen das erste Mal ihre Botschaft hörten, weder unsere Politik noch unsere Gesellschaft und noch kaum unser Privatleben erreicht. Die Bergpredigt war kein Programm in der Vergangenheit. Sind wir heute geistig und seelisch reif für die Gewaltlosigkeit der Bergpredigt?
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