3 Die neue Politik
Reif für die Bergpredigt?
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Haben wir die Kraft zur Umkehr und zur Befreiung? Wir müssen lernen, daß in den Industriestaaten nicht noch mehr materielle Verwöhnung, sondern Entwöhnung unser Ziel sein muß, wenn die Nord-Süd-Spannungen nicht zu weiteren Kriegen führen sollen. Wir werden die Schöpfung nur bewahren können, wenn wir die Atombombe als den Gipfel unseres einseitig materialistischen Weges begreifen.
Es geht heute nicht um Befreiung von Ohnmacht, sondern um Befreiung von militärischer und ökonomischer Übermacht. Die Welt wird kaum menschlicher werden mit den heute vorherrschenden zerstörerischen, revolutionär-männlichen Tugenden, wohl aber mit den lebenserhaltenden, evolutionär-weiblichen. Nach der Bergpredigt leben zu wollen, ist kein Spaziergang, von ihren Intentionen kann sich aber keiner freimachen, der Christ sein möchte. Mein Eindruck ist, daß sich Männer mit der Bergpredigt schwerer tun als Frauen. Frauen verstehen mehr von Liebe.
Voraussetzung zur Reife für die Bergpredigt ist die Erkenntnis, daß in unserer heutigen Situation die alles entscheidende Frage heißt: Leben oder Tod? Wir müssen begreifen, daß das militarisierte Denken und die pausbäckig-optimistische Verharmlosung des drohenden atomaren Holocaust so gefährlich sind wie die Atombombe selbst.
Reif für die Bergpredigt werden wir, wenn wir kapieren, daß der Bergprediger heute sagt: So geht es nicht weiter. Immer mehr Waffen, immer mehr Umweltzerstörung, immer mehr Hungertote, immer mehr seelische Krüppel: Das hält die Erde nicht aus. Die Bergpredigt ist freilich kein Patentrezept, sie konzipiert aber eine Haltung: Um das Leben des anderen so sehr besorgt sein wie um das eigene. Bisher haben alle Revolutionen bewiesen, daß man den »neuen Menschen« nicht »schaffen« kann. Doch Jesus will den Neuen Menschen, den Neuen Himmel und die Neue Erde. Dieser neue Mensch kann jedoch nur von innen kommen.
Das Scheitern aller sozialistischen Revolutionen hängt damit zusammen, daß Sozialisten meistens glauben, Menschen dadurch verändern zu können, daß Verhältnisse oder der äußere Mensch geändert werden müssen — natürlich unter Druck und Zwang. Die Ergebnisse sind bekannt. Menschen kann man nicht ändern, Menschen können nur sich selbst ändern. Es geht Jesus um die Umkehr der Herzen, um eine spirituelle Revolution, um jenen Glauben, der dann allerdings auch Berge versetzen kann.
Diese Umkehr hat nicht den homo oeconomicus zum Ziel, sondern den homo humanus, den ganzen Menschen. Es geht um eine anthropologische Revolution, die politische Konsequenzen hätte. Wir können uns ändern, wenn wir uns ändern wollen. Alle wirklichen Veränderungen beginnen innen. Die Botschaft der Bergpredigt heißt: »Selig seid ihr, wenn ihr...«
Der an dieser Stelle immer wieder vorgebrachte Einwand: »Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«, geht grundsätzlich am Problem vorbei, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens: Dieser Einwand unterstellt, man selbst (= der Westen) sei gut, aber der andere (= der Osten) sei schlecht. Es fehlt also jede Selbsterkenntnis.
Zweitens: Man fordert wieder einmal zuerst vom anderen, was man selbst nicht zu leisten gewillt ist: Gewaltlosigkeit. »Solange die Kommunisten die Bergpredigt nicht zur Grundlage ihrer Politik machen, solange können wir das auch nicht tun«, höre ich immer wieder in Vorträgen - vor allem in christlichen Kreisen.
Man braucht Sündenböcke, wenn man selbst nicht so lebt, wie man es gemessen an den christlichen Lippenbekenntnissen eigentlich tun müßte. Man braucht das Feindbild nach dem Motto: Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' um so konsequenter dem anderen zu. Für die alte Lebensregel: »Wie du mir, so ich dir« hätte sich Christus aber nicht ans Kreuz schlagen lassen müssen. Die Bergpredigt ist weder Heimatroman noch ästhetischer Radikalismus. Sie ist kein Gebot, sondern das Angebot für ein menschenwürdiges Leben. Die Intuition der Bergpredigt heißt: Allein die Liebe hilft, Haß verschlechtert.
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Dem anderen mit »Nachrüsten« zu drohen ist nicht hilfreich, weder für ihn noch für mich. Ich dränge ihn durch mein »Nachrüsten« zum Nach-Nachrüsten, und er wieder mich. Das alte Sprichwort und die Goldene Regel der Bergpredigt: »Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.« Wenn ich also nicht will, daß der andere nachrüstet, dann darf ich es auch nicht tun, auch dann nicht, wenn der andere es trotzdem tut.
Wir müssen nicht nur unsere Feinde vor uns schützen, wir müssen uns vor allem vor uns selber schützen.
Die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, Geduld und Demut gelten nicht nur gegenüber anderen, sie gelten auch für uns selbst. Ich selbst bin zunächst mein Nächster. Friede fängt innen an. Anders ist das Bibel-Wort »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst« gar nicht zu verstehen. Ich selbst bin auf meine Liebe angewiesen, weil das Böse in mir ist. Adam, der Ur-Mensch, erkannte nach einer alten Erzählung seine andere Seite, das Böse, als er sich in einem Spiegel betrachtete. Jetzt hatte er zwar seine »himmlische Unschuld« verloren, war aber »wissend« geworden. Wer heute in scheinbarer Unschuld mit Atombomben droht, weiß nicht, was er tut; er weiß nichts von seiner anderen Seite.
Diese andere Seite, das Böse in uns, ist aber nicht ungefährlich, weil wir es nicht wahrhaben wollen, im Gegenteil: Weil es existent ist, ohne daß wir es wahrhaben wollen, ist es besonders gefährlich. Nur weil wir heute das Böse in uns verdrängen, unseren »Schatten« nicht anerkennen, sagen die Psychologen, projizieren wir es in andere. Ein Feindbild braucht, wer seinen eigenen Feind in sich ignoriert. Wer das Böse überall sucht, nur nicht in sich selbst, baut schließlich Atombomben, die er bei anderen natürlich verurteilt, und setzt sie irgendwann auch ein. Er hält seine eigene Atombombenmentalität für legitim, denn das Böse muß bekämpft werden. Je weniger man das Böse in sich erkennt, um so intensiver bekämpft man es bei anderen. Mit Atombomben kann nur drohen, wer gar nicht weiß, daß er sich selbst damit droht.
Die Zusammenhänge zwischen Atombombenpolitik und Zerstörung unserer Seelen erkennen wir deshalb nicht, weil wir uns selbst nicht mehr kennen. Selbsterkenntnis ist immer der erste Schritt zur Besserung. Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung für Selbsterziehung.
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Die Meditation der Bergpredigt ist ein Weg zur Selbsterkenntnis.
Augustinus über die »cognitio sui ipsius«, die Selbsterkenntnis: »Denn was nützt es uns, wenn wir das Wesen aller Dinge aufs genaueste untersuchen und richtig erfassen und uns selber doch nicht erkennen?« Ziel jeder Selbsterkenntnis ist »der göttliche Kern in der Menschenbrust« (Jolande Jacobi). Weil die Seele göttlicher Natur ist, bleibt dieses Ziel auf Erden (fast) unerreichbar, aber wir sollen danach streben. Der Gott des Jesus von Nazaret ist ein Gott der Liebe, er hat also Nachsicht mit moralischer Unvollkommenheit und mit dem Bösen. Mit Atombomben drohen, heißt, seiner eigenen Seele drohen. Schon nach den ersten Atombombenabwürfen 1945 schrieb Teilhard de Chardin über den Menschen: »Sein Leib war heil. Was aber war mit seiner Seele geschehen?« Die Atombombe hat aus dem Menschen »ein neues Wesen gemacht, das sich nicht kannte«. Der Mensch genießt jetzt »das Gefühl einer unendlich entwickelten Macht«. Er hat »in die Frucht der großen Entdeckung gebissen« und den »Geschmack der Super-Schöpfung« gekostet.
Je mehr die Atombomben in den Vordergrund rücken, desto mehr wird alles Seelische in der Hintergrund gedrängt. Die logische Folge sind die inneren, die seelischen Krankheiten, unter denen immer mehr Menschen leiden. Gab es je so viele Neurosen, so viele Drogenabhängige, so viele Selbstmordkandidaten, so viele Partnerschaftsunfähige, soviel sozial motivierte Abtreibungen, soviel innere Leere, sowenig Urver-trauen wie zu unserer Zeit? Die Atombombe hat schon heute viel seelische Verwüstung angerichtet. Wir alle sind bereits psychisch atomar verseucht. Noch schlimmer ist: Wir wissen es nicht. Und das Schlimmste: Die meisten Politiker wollen es gar nicht wissen. Wenn unsere Seelen vollends absterben, dann bleibt nur noch der Weltuntergang.
Gibt es einen menschlicheren Humanismus als den Humanismus Gottes, wenn Gott - nach Johannes - »die Liebe ist«? Der Gott des Bergpredigers ist der Gott der Liebe. Ein Gott der Liebe ist ein leidenschaftlich menschlicher Gott.
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Die reale Friedensutopie der Bergpredigt ist nicht das Traumbild einer irrealen Welt, sondern der Entwurf und das Wissen oder zumindest der Vorentwurf und das Vorwissen um eine Welt, die anders sein sollte und anders sein könnte. Die reale Utopie der Bergpredigt zeigt heute nicht nur das Friedensziel, sondern auch den Friedensweg: keine Nachrüstung, keine weiteren Schritte in die alte Richtung, sondern zumindest Rüstungsstop — als ersten Schritt in die neue Richtung.
Das Friedensgesetz der Bergpredigt heißt: Frieden gibt es nicht gegen den anderen, sondern nur mit ihm. Frieden gibt es erst, wenn einer ohne Wenn und Aber den ersten Schritt tut, bedingungslos. »Friedenspolitik ist Politik des ersten Schrittes«, sagte der Magdeburger Bischof Werner Krusche schon 1971. Das heißt heute: Um das Wettrüsten zu beenden, muß einer anfangen aufzuhören, bedingungslos.
Also keine Nachrüstung! Es ist ein psychologisches Grundgesetz: Wer einen anderen für etwas gewinnen will, muß es zuerst selbst tun. Wer die Sowjetunion für Abrüstung gewinnen will, muß zuerst selbst mit dem Aufrüsten und Nachrüsten aufhören. Es gibt keinen anderen Weg. Das sagen nicht nur die Bergpredigt, die Psychologie und der gesunde Menschenverstand, falls er wirklich gesund ist, sondern auch die traurigen Erfahrungen mit den bisherigen Abrüstungsverhandlungen. Diese einfache Wahrheit wird heute nicht nur nicht erkannt, sie wird auch verspottet.
Jahrhundertelang galt: »Wer den Frieden will, muß den Krieg vorbereiten.« Jetzt im Atomzeitalter darf nur noch gelten: Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten. Das heißt: Wer abrüsten will, muß abrüsten. - Der Weg entscheidet über das Ziel. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, allenfalls haben schlechte Mittel noch immer die besten Zwecke entheiligt. Gandhis Friedensphilosophie: »Unsaubere Mittel haben unsaubere Ergebnisse zur Folge.« »Man kann die Wahrheit nicht durch die Unwahrheit erreichen.« Nichts bleibt folgenlos.
Lange bevor ein Krieg ausbricht, wird er vorbereitet, das heißt, er hat vorher in den Gedanken der Menschen und in den Medien schon begonnen. Es gibt schon heute nicht zu wenig, sondern zu viele Waffen. Die Bundesrepublik ist das Land mit der größten Atomwaffendichte. Wer jetzt in Westeuropa noch mehr Raketen, Waffen und Bomben will, wird ernten, was er sät. Er wird mitschuldig.
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Daß die andere Seite auch schuld hat und sündigt, kann niemals die Rechtfertigung für eigene Schuld und Sünde sein. Auf Gewalt folgt nur noch größere Gewalt und keine Rettung. Mit Gandhis Gewaltlosigkeit und mit der Liebe Jesu von Nazaret ist die Welt noch zu retten. Alle Politiker, Nachrüstungsbefürworter und -gegner versichern, daß sie selbstverständlich den Frieden wollen. Daran darf auch kein vernünftiger Mensch zweifeln. Aber der Friedenswille der Politiker bewirkt politisch nicht mehr als die Friedenssehnsucht der Friedensbewegung. Entscheidend sind die Taten, nicht die Worte.
Daß (fast) alle Politiker Frieden wollen, ist klar, aber die Mittel, die sie für dieses Ziel einsetzen, entlarven sie. Die Waffensysteme, über die heute verhandelt wird, sind Vernichtungs- und keine Verteidigungswaffen. Die richtigen Wege entscheiden über die richtigen Ziele. Nur über die richtigen Wege erreichen wir das Leben.
Bisheriges Leitmotiv westlicher Außenpolitik war: Wie können wir die Sowjetunion daran hindern, uns anzugreifen. Spätestens jetzt, da die Gefahr totaler Vernichtung aller immer größer wird, muß das neue vernünftige Motiv unserer Außenpolitik sein: Wie können wir die Sowjetunion daran interessieren, ihr Zerstörungspotential abzubauen? Solange in Genf nach Lenins These »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« verhandelt wird, kann es keinen Fortschritt geben. Einer muß anfangen aufzuhören; es gilt, Lenins Maxime vom Kopf auf die Füße zu stellen: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Warum aber versucht der Westen in Genf, die Sowjetunion mit Lenin zu übertreffen? Diese Politik ist schon deshalb töricht, weil die wirtschaftliche Misere in Osteuropa noch mehr nach Abrüstungserfolgen verlangt als die Wirtschaftsprobleme in westlichen Ländern. Nach aller Erfahrung wäre Verzicht auf Nachrüstung hilfreicher als Nachrüstung. Wir würden damit reifer für die Bergpredigt.
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Ein Friedenskonzil aller Religionen
Gandhi: »Ich kann ohne das mindeste Zögern sagen, daß, wer behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet.« Der Friede braucht eine Lobby. Die großen Religionen müßten in einer Weltkoalition die Friedenslobby werden. Ein Friedenskonzil, zu dem alle Führer der großen Religionen einladen, könnte ein nicht zu übersehendes Signal setzen für mehr Druck und Widerstand gegen die heutige Atomwaffenpolitik. Das Ziel eines solchen Friedenskonzils der Religionen müßte sein: Alle religiösen Menschen auf der Erde werden aufgefordert, sich weder an Kriegshandlungen noch an der Produktion von Massenvernichtungswaffen zu beteiligen.
Im November 1982 traf ich den Dalai Lama. Er erklärte mir aus buddhistischer Sicht eine Friedensethik, die in anderen Worten die Friedensethik der Bergpredigt ist. Alle Religionen sind Blumen aus demselben Garten, sie wachsen durch denselben Humus. Der Dalai Lama: »Liebe ist stärker als Haß.« Der Papst hat im November 1982 in Madrid vor Wissenschaftlern gesagt: »Es ist ein Skandal unserer Zeit, daß viele Forscher sich der Perfektionierung neuer Kriegswaffen widmen, die sich eines Tages als tödlich erweisen könnten.« Hat solche Rede auch politische Konsequenzen?
Etwa 30 Millionen Menschen arbeiten heute in der Rüstung, darunter 400.000 Wissenschaftler. Ich schätze, daß die Mehrheit von ihnen getaufte Christen sind. Deren Gewissen hat die Kirche bislang nicht erreicht. Das liegt in erster Linie an der Kirche, die an ihrer Spitze selbst noch nicht genügend Widerstandsgeist gegen die atomaren Sünden entwickelt hat. Theologen lassen oft die Wahrheit verdorren. Sie haben die Wahrheit im Kopf, aber sie erreichen die Herzen nicht, weil sie zu wenig die Wirklichkeit suchen. Heutige Menschen fragen nicht so sehr nach fertigen Wahrheiten, aber sie suchen nach Wegen, die zur Wahrheit führen.
Paul Tillich: »Wahrheit ist tot ohne den Weg zur Wahrheit.«
Die Suche nach der Wahrheit ist wichtiger als Dogmen über die Wahrheit. Der schärfste Kritiker des real existierenden Christentums ist Jesus selbst. Jesus hat keine Religion gestiftet, er wollte vielmehr zu einem religiösen Leben anstiften. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken hat die Nachrüstung gebilligt. Wenn es nach Meinung des Papstes Sünde ist, sich an der Produktion von Massenvernichtungswaffen zu beteiligen, dann ist es erst recht Sünde, diese Waffen zu stationieren.
* Paul Tillich bei detopia
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Wenn die deutschen Bischöfe das Papstwort ernst nehmen würden, dann müßten sie eine klare Position gegen weitere Nachrüstung beziehen. Johannes Paul II.: »Atomares Wettrüsten führt zum Krieg.« Daß den guten Papstworten durch die katholische Kirche der Bundesrepublik keine Taten folgen, kann man mit Helmut Gollwitzer nur als »großes Trauerspiel« bezeichnen. Heinrich Böll fragte spitz: »Ist denn der deutsche Katholizismus in seiner Korporiertheit ein NATO-Katholizismus?«
In den USA steht »katholisch« heute gegen Nachrüstung, in der Bundesrepublik eher für Nachrüstung. Viele deutsche Katholiken brauchen ihr Feindbild, damit ihr Weltbild stimmt. Davon wollte Jesus befreien. Reinhold Schneider sah schon in den 50er Jahren die Todsünde der Kirchen darin, daß sie kein NEIN zu den Atomwaffen zustandegebracht haben. Er nannte diese Haltung eine »Verweigerung gegen das Evangelium«. Die katholische Kirche der Bundesrepublik stand an der Spitze des Kampfes für das ungeborene Leben. Pro Vita: Das muß doch auch die Sorge um die Geborenen und um die zukünftigen Generationen bedeuten.
Der Beitrag zum Kampf gegen den Atomtod ist für die katholische Kirche auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und ihrer Identität. Es gibt auch ein Leben nach der Geburt und ein Leben vor dem Tod. Jesus sprach immer von den Konditionen für dieses Leben. Jesus war politisch. Die bisherige Haltung unserer katholischen Kirche in der Friedensfrage ist ein Verrat an dem Friedensmann aus Nazaret. Wir haben heute schließlich den Tod der Welt vor Augen.
Anderswo sind die Kirchen aufgewacht: Die katholische Kirche in den USA, Holland und Italien, die evangelische Kirche in der DDR, die anglikanische Kirche in England. An der Spitze der nordamerikanischen Friedensbewegung stehen katholische Bischöfe - die Friedensbewegung in der DDR ist ohne die evangelische Kirche nicht denkbar. Die evangelische Kirche in der DDR bewegt sich mehrheitlich auf einen politischen Pazifismus zu. Die kirchlichen Friedensinitiativen sind die Voraussetzung dafür, daß auch einige Unionspolitiker umzudenken beginnen. Kurt Biedenkopf in »REPORT«: »Wir haben uns im atomaren Gipfel verstiegen und stehen jetzt am Abgrund. Wir müssen umkehren.« Oder Richard von Weizsäcker: »Die Friedensbewegung ist heilsam für die Politik.«
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Der Wind kann sich drehen mit Hilfe der Kirchen. Ohne Widerstand der Religionen wird es keinen Frieden geben. Der Leitungsausschuß des katholischen nationalen Kirchenrats in den USA beurteilt die Politik Washingtons so: »Bislang wuchs die Bereitschaft, die Welt in ihrer wirklichen Vielfältigkeit und Verschiedenheit zu sehen... Demgegenüber ist diese Regierung entschlossen, Amerika zur Nummer eins in der Welt zu machen. Nicht Nummer eins der Literatur, der Lebenserwartung oder der Hilfe für weniger entwickelte Länder; nicht Nummer eins in Freiheit von Kindersterblichkeit, von Drogenkonsum, von Kriminalität und Selbstmord; sondern vielmehr Nummer eins in militärischer Überlegenheit, der Fähigkeit, anderen unseren Willen aufzuzwingen oder bei diesem Versuch zahllose Menschen zu töten.« Zum Abschluß des Franziskus-Jahres am 1. Oktober 1982 schrieben die Ordensoberen der vier Franziskaner-Orden: »Sowohl die Anwendung der Atomwaffen als auch der atomare Rüstungswettlauf müssen als unmoralisch verurteilt werden.«
Wenigstens ein katholischer Bischof in England hat sich während des Falkland-Krieges auf die Bergpredigt besonnen: Bischof Guazelli, Präsident der britischen Pax-Christi-Bewegung, verurteilte vor 600 Jugendlichen die staatliche Gewaltanwendung. Der pazifistische Bischof wurde daraufhin von einem aufgeregten Fernsehreporter gefragt: »Wollen Sie uns also sagen, wir hätten in solchen internationalen Konflikten, nachdem uns einer auf die rechte Backe geschlagen hat, auch noch die linke hinzuhalten?« Der Bischof: »Ja, vielleicht müssen wir das. Angesichts der nuklearen Waffen und der internationalen Verflechtungen glaube ich tatsächlich, einmal kommt es soweit, daß es common sense wird, die linke Backe hinzuhalten; denn wenn dann nicht jemand die linke Backe hinhält, werden uns über kurz oder lang überhaupt keine Backen bleiben, weder rechts noch links.«
Da traute sich noch einer, sich an Jesus zu orientieren. Wäre es wirklich eine Niederlage für Frau Thatcher gewesen, wenn sie sich auf die UN-Vermittlungsversuche eingelassen hätte und dafür heute einige hundert gefallene junge Briten und Argentinier noch leben würden?
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Wieder einmal mußten sich junge Leute, die sich nicht kannten, umbringen im Namen von Politikern, die sich sehr wohl kennen! Die militärische Lösung für die Falkland-Inseln ist politisch überhaupt keine. Immer wenn es Besiegte gibt, ist der Keim für den nächsten Krieg schon gelegt. Wenn der Papst und der Dalai Lama, der Patriarch von Konstantinopel und der Weltkirchenrat gemeinsam ihre Gläubigen auffordern würden, sich von jetzt an weder finanziell noch physisch an Kriegsvorbereitungen zu beteiligen: Das wäre ein unübersehbares Friedenszeichen, das wäre weltweite Friedenspolitik.
Auftrag der Religionen ist, die Dinge beim Namen zu nennen, die Wahrheit zu sagen. Die Kirchen muten ihren Mitgliedern nicht zuviel, sie muten ihnen fast gar nichts mehr zu. Es gibt nichts Langweiligeres als langweilige Kirchen. Die Kirche Christi ist um des Friedens willen da, nicht umgekehrt. Wenn sich die großen Religionen trotz ihres Friedensschatzes, den sie alle bewahren, nicht konkreter, praktischer und politischer als bisher am Friedenskampf beteiligen, machen sie sich der unterlassenen moralischen Hilfeleistung schuldig. Nicht der Sozialismus ist heute eine Gefahr für die Religion, sondern häufig ihre eigene Phantasie- und Utopielosigkeit. Die Propheten in den Kirchen müssen sich zusammentun mit den Weisen in der Wissenschaft, um den Visionären in der Politik Mut zu machen.
Wenn sich zunächst einmal alle Religionen auf einem Friedenskonzil der Legalisierung atomaren Massenmords konsequent widersetzen und dann auch das Sündenbewußtsein ihrer Anhänger stärken würden: Der Friede hätte endlich eine Lobby.
Liebet eure Feinde!
Jesu Feindesliebe ist der Kern der Bergpredigt. Im Zusammenhang mit dem vorausgehenden Text »Von der Vergeltung« wird deutlich: Kein anderes von Jesus überliefertes Wort ist von solcher Radikalität und Konsequenz. Die Feindesliebe steht auch im Zusammenhang mit dem Vorschlag, bescheiden zu sein: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.«
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Jesu Appell geht an alle, die ihre weiße Weste zur Schau stellen. Spielt euch nicht zu selbsternannten Richtern auf! Baut eure Vorurteile ab! Auschwitz und Dachau, Treblinka und Sobibor waren nur möglich auf dem Fundament festgemauerter Vorurteile. Was damals die Juden waren, das sind heute die Kommunisten oder die Ausländer. Nach 1945 hat Max Picard zu Recht auf den »Hitler in uns« hingewiesen. Täuschen wir uns nicht selbst: »Richtet nicht«, damit sind wir alle gemeint. Wir selbst sind zu allem fähig. Gelegentlich erinnern uns vielleicht noch die Träume an das Böse in uns. Was wir träumen, sind wir. Träume kommen aus unserem Innersten.
»Richtet nicht« heißt nicht: »Akzeptiert alles am anderen!«, sondern: »Versucht, den anderen zu verstehen!«, »Seid keine Heuchler!«, »Bildet euch ein Urteil, aber verurteilt nicht!« Für unser aktuelles politisches Thema heißt das: Verlangt nicht Abrüstung, die ihr selbst nicht leistet. Macht zuerst selbst, was ihr von anderen erwartet. Geht mit gutem Beispiel voran.
Der chinesische Philosoph Laotse nannte diese Tugend »Belehrung ohne Worte«. Es ist das Grundprinzip jeder Erziehung, die von Liebe und nicht von Strafe ausgeht. Wer seinen Kindern ein gutes Beispiel gibt, kann sich jedes Wort ersparen. Unsere moralische Überheblichkeit gegenüber Andersdenkenden ist sicher einer der wesentlichen Gründe für den friedlosen Zustand in dieser Welt. Feindesliebe heißt heute: Auch Kommunisten sind Schwestern und Brüder, weil alle Menschen denselben Vater haben. Häufig aber ist verinnerlichter Antikommunismus eine Art Nebenreligion. Martin Buber hat für den Sinn von Nächstenliebe eine schlichte Begründung: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.« Zu Feindesliebe und Nächstenliebe werden wir ohne Selbstliebe nicht fähig sein. Wer uneins ist mit sich selbst, wer selbst zerrissen ist, wer keine Liebe zu seinem wahren Selbst entwickeln kann, stellt immer eine Belastung für andere dar. Es gibt auch für Feindesliebe keinen vernünftigeren Sinn als diesen: Liebe deinen Feind, er ist wie du.
Feindesliebe ist nicht der Versuch, Streit und Aggression aus der Welt zu schaffen. Aber Feindesliebe ist der Versuch zu streiten, ohne daß Blut fließt und ohne daß gedroht wird.
* Laotse bei detopia
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Feindesliebe heißt nicht, Gegensätze zu übertünchen, sondern Gegensätze zu überbrücken, damit man zueinander kommen kann. Streit zivilisiert auszutragen — das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Aufgabe. Feindesliebe heißt, sich in die Situation und in die Sicherheitsinteressen des anderen hineinzudenken: Wozu provoziere ich den anderen, wenn ich nachrüste? Wie bringe ich ihn dazu, nicht nachzurüsten? Politiker dürfen nicht länger unter dem Druck von Militärs und Rüstungsindustrie meinen, mit immer mehr Rüstung könne man die eigene Sicherheit stärken, indem man das Risiko für den Gegner erhöht. Feindesliebe ist heute zur Logik des Überlebens geworden.
Unter Theologen ist unstrittig, daß Feindesliebe und Gewaltlosigkeit authentische Jesus-Intentionen sind. Matthäus 5,43: »Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde!«
Die neue Botschaft Jesu ist ein Angriff auf die alte Gesellschaft, sie fordert ein neues Sozialverhalten. Ein neues Verhalten des einzelnen bewirkt neue Verhältnisse in der Gesellschaft. Mit dieser neuen Forderung soll das, was bisher »Schriftgelehrte und Pharisäer« für gerecht hielten, korrigiert werden. Matthäus schließt das Wort von der Feindesliebe mit der überraschenden Begründung: »Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.« So etwas ist in der Religionsgeschichte eine Revolution: Hier ist nicht asketische Vollkommenheit gemeint, sondern ein Heil-Sein und Ganz-Sein im hebräischen Sinne.
»Shalom« heißt als Verb: ganz, heil, vollständig machen. Man könnte auch Intaktsein oder Wohlergehen sagen. Das Ganz-Sein des Menschen soll dem Ganz-Sein Gottes entsprechen. Hier ist das neue Gottesbild und das neue Menschenbild Jesu. Diesem Gott und diesem Menschen ist im Religionsunterricht kaum einer von uns begegnet. Feindesliebe scheint uns deshalb so unbegreiflich fremd, weil uns in unserer religiösen Erziehung das Bild eines Richtergottes und nicht das Bild eines Liebesgottes beigebracht wurde. Feindesliebe begreifen heißt, Jesu Gottesbild und Jesu Menschenbild verstehen.
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Gegen Feindesliebe gibt es in der aktuellen politischen Diskussion immer den erbittertsten Widerstand. Ich kann diesen Widerstand schon deshalb verstehen, weil auch ich vor einigen Jahren noch geschrieben und gesagt habe: Das geht nicht in der Politik, das ist Träumerei, das ist blauäuig, das ist schiere Utopie . Inzwischen weiß ich, daß ich Jesus nicht begriffen hatte. Wer Feindesliebe als Spinnerei abtut, sollte wenigstens ehrlich zu sich selbst sein und einsehen, daß er Jesus als Spinner abtut.
Die zentrale Stelle bei Lukas: »Werdet also barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.« Josef Blank: »Die Feindesliebe wird hier zur Teilhabe an der rettenden, heilschaffenden Liebe Gottes selbst, Zeugnis seines Heilwirkens in der Welt.« Jesus schlägt sogar vor, für seine Feinde zu beten. Jedes ehrliche Gebet ist zumindest eine Unterbrechung der Gewalt. Feindesliebe und Gewaltverzicht hängen zusammen. Bei Jesus ist der Gewalttäter der innerlich Unterlegene und der Unfreie. Wenn der innerlich Freie und innerlich Überlegene bei einem Konflikt nicht einen großzügigen Anfang macht, gibt es aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt kein Entrinnen. Feindesliebe ist nicht Trottelhaftigkeit, sondern Klugheit. Feindesliebe heißt, den Mut zum ersten Schritt zu haben. Feindesliebe ist innere Souveränität und nicht ängstliche Berechnung und egoistische Rechthaberei. Feindesliebe ist nicht kleine theologische Münze, die man verschachern könnte, sondern der Wille des Schöpfers.
Jesu Feindesliebe ist kein Gebot und kein Gesetz. Nicht Zwang, sondern Freiheit ist das Wesensmerkmal Jesu. Man kann Jesus zwar nicht sklavisch nachahmen, aber man kann in seinem Geiste zu leben versuchen. Diese Nachfolge ist nur möglich, wenn man Jesu Forderungen zuerst an sich selbst richtet, privat und politisch.
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Was tun
Wer weiß, was atomar vorbereit ist und atomar vorbereitet wird, kann und darf nicht mehr länger ruhig bleiben. Mit Achselzucken, blindem Vertrauen in die Politik oder Fatalismus verhindern wir den atomaren Selbstmord nicht. Wir dürfen nicht länger sagen: Was geht das mich an!
Bisher hat die Menschheit die atomare Bedrohung als etwas Schicksalhaft-Unausweichliches hingenommen. Die offizielle Politik bezeichnet den Kampf gegen den Atomtod als »extrem« und »utopisch«, ihren Rüstungswahn aber als »realistisch« und »angemessen«. Als »realistisch« gilt, daß die Regierungen der Welt an zwei Tagen soviel für Rüstung ausgeben, wie den Vereinten Nationen in 365 Tagen für ihren Kampf gegen Hunger und Krankheit zur Verfügung stehen. Als »extrem« gilt, diese Realität für Wahnsinn zu halten und ändern zu wollen. Weder die menschliche Seele noch die Erde können diesen Zustand lange verkraften.
Wenn die Menschen nicht aufwachen und ihre feigen Entschuldigungen bekämpfen, hat der Atomtod schon gewonnen. Wir müssen zuerst begreifen, daß die Träumer sich »Realpolitiker« nennen und Realisten »Träumer« schimpfen. Die eigentliche Rationalität liegt heute in einem überzeugten und überzeugenden Nein zu weiterer Rüstung und Nachrüstung. Wir Deutsche müssen Helmut Kohl an diesen Teil seiner Regierungserklärung erinnern, falls er nachrüsten läßt: »Frieden schaffen mit immer weniger Waffen — das ist die Aufgabe unserer Zeit.« Erinnert die Nachrüster an ihre Friedenspflicht in Versammlungen und Briefen! Nehmt Einfluß auf die öffentliche Meinung durch Leserbriefe und Gespräche mit Journalisten! Geht in die politischen Parteien! Engagiert euch in der Friedensbewegung und gründet Friedensgruppen überall! Wir sind nicht machtlos.
Konservative müßten an der Spitze dieses Kampfes stehen, denn es gilt, das Kostbarste zu bewahren, was wir haben: das Leben. Wenn der Teufelskreis der ewigen Nachrüsterei nicht durchbrochen wird, gibt es bald nichts mehr zu konservieren. Konservativ kann nicht nur die Bekundung des Wunsches sein, die Welt möge wieder so werden, wie sie war. Konservative, die diesen Namen verdienen, müssen heute um den Erhalt der Schöpfung kämpfen. Konservative müßten sich ihre Skepsis gegen den sogenannten Fortschritt gerade bei Vernichtungswaffen bewußt machen.
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Konservative und Christen müßten immun sein gegen atomare Sachzwänge. Wieso verfallen aber ausgerechnet Christen der Irrlehre von Karl Marx, wonach »das Sein unser Bewußtsein prägt«, anstatt sich von Jesu Lehre anstecken zu lassen: Verändert mit eurem Bewußtsein das Sein? Friedrich Nietzsche hat Jesu Feindesliebe für dekadent gehalten. Heute stehen viele Konservative und viele Christen eher auf Seiten Nietzsches als auf seiten Jesu.
Wir dürfen die Welt nicht technokratischen Glücksspielern überlassen, die keine Aussicht auf Sinn in ihrem Leben und Tun sehen und deshalb Nihilisten geworden sind. Wir müssen die Nihilisten von ihrem Nihilismus dadurch befreien, daß wir uns nicht anstecken lassen.
Umkehr ist kein Kinderspiel. Den Gruppen, die den Waffen am nächsten stehen, fällt die Umkehr am schwersten: Generälen, Politikern, Wissenschaftlern. Generäle haben oft wenig Glauben an eine friedliche Welt. Wissenschaftler sind häufig Gefangene im Elfenbeinturm und Politiker zu abhängig von ihrer Partei. Es fiel ihnen offensichtlich leichter, unser Grab zu schaufeln, als es jetzt wieder zuzuschütten.
Nachdem uns die Profis der Politik an den Abgrund geführt haben, bleibt uns Laien gar nichts anderes übrig, als vielstimmig zum gemeinsamen Rückzug zu blasen. Alle auf der Welt, die reden, schreiben und organisieren können, müssen jetzt reden, schreiben und politisch arbeiten. Wir können die Gnadenfrist, die uns noch gegeben ist, nutzen.
Das Ziel des Kampfes gegen Atomrüstung ist nicht die Verurteilung der Politiker, sondern die Rettung der Welt. Es geht um einen Kampf für etwas. Politiker sind nicht Feinde in unserem Friedenskampf, sondern Konfliktpartner. Ziel muß sein, sie als Friedenspartner zu gewinnen. Wer innerhalb der Friedensbewegung Bonner Politikern Kriegswillen unterstellt, weiß nicht, was er sagt, und schadet dem Frieden.
Werden wir durch Verschlafen und Verdrängen Komplizen des Todes oder durch Handeln Komplizen des Lebens? Voraussetzung eines erfolgreichen Kampfes für Frieden ist die Erkenntnis, daß äußere Aktivitäten nur hilfreich sind, wenn innere Einsichten vorausgehen. Für diesen inneren Kampf weiß ich keine bessere Schule als die Bergpredigt.
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Lew Kopelew, der als russischer Soldat gegenüber deutschen Soldaten Feindesliebe praktizierte, ist davon überzeugt, daß »die Bergpredigt der höchste, reinste Gipfel ist, den der menschliche Geist zu erreichen vermag. Die Friedensbotschaft der Bergpredigt, die Liebe selbst zu den hassenden Feinden verkündet, erklang zuerst nur für wenige Zuhörer, wurde nur von einigen hundert Hirten, Fischern, Bauern und frommen Schülern gehört; von den armen, leidenden, erniedrigten, wehrlosen Menschen in einem winzig kleinen Lande.« Seitdem ist die Bergpredigt oft vom Kriegslärm der letzten zwei Jahrtausende übertönt worden, und doch hat sie überlebt. Dieses Grundgesetz der Gewaltlosigkeit und der Liebe verleiht auch heute denen Sprache, Kraft und Phantasie, die den Frieden suchen. Und die Gewaltlosigkeit des Bergpredigers erfordert Ausdauer. Jesus: »Haltet durch, dann werdet ihr das wahre Leben gewinnen.« (Lukas 21,19)
Zum Glück war Jesus kein Theoretiker, sondern ein Praktiker. Seine Lehre: Fang mal an, ohne dich geht gar nichts. Du mußt so tun, als hänge der Frieden allein von dir ab. So wie Menschen beschlossen haben, Atombomben zu bauen, können sie auch vereinbaren, sie wieder abzuschaffen. Im Kampf um Frieden wird unsere Emotionalität, welche die »Realisten« für etwas Schwaches halten, unsere Stärke sein. Die Schwäche der organisierten Politik ist ihr Mangel an Emotionalität. Man kann sich emotional auch gar nicht für, sondern nur gegen Atomwaffen engagieren. Erst im gemeinsamen Kampf gegen atomare Tod-Rüstung erfahren wir, daß wir nicht hilflos sind. Jeder muß lernen, daß er Experte sein muß, weil der Frieden seine Sache ist. Das Gefühl der Ohnmacht und Resignation wäre erst die eigentliche Voraussetzung für atomare Vernichtung. Resignation macht uns passiv, bewußte Friedensarbeit aktiv.
Die Frage, was tun? beantwortet Günther Anders so: »Habe keine Angst vor der Angst, habe Mut zur Angst. Auch den Mut, Angst zu machen. Ängstige deinen Nachbarn wie dich selbst. Freilich muß diese Art von Angst von ganz besonderer Art sein. 1. Eine furchtlose Angst, da sie jede Angst vor denen, die uns als Angsthasen verhöhnen könnten, ausschließt.
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2. Eine belebende Angst, da sie uns statt in die Stubenecken hinein in die Straßen hinaus treiben soll. 3. Eine liebende Angst, die sich um die Welt ängstigen soll, nicht nur vor dem, was uns zustoßen könnte.« Und die wichtigste Friedensarbeit: Wenn wir unseren Kindern den Frieden erklären, dann werden sie anderen nie den Krieg erklären. Kindern den Frieden erklären, kann aber nur, wer selbst den Frieden lebt.
Erste Schritte: 1. Keine Nachrüstung
Politik läuft nicht so, daß die Bundesrepublik Deutschland von heute auf morgen die NATO verlassen und die Bundeswehr auflösen könnte. Der Kampf gegen die Atomwaffen hat nur dann eine Chance, wenn die Friedensbewegung begreift, daß Politik eine Schritt-für-Schritt-Angelegenheit ist. Entscheidend ist, daß die Friedensbewegung Unterstützung sucht und findet bei den Nachdenklichen in allen politischen Lagern. Zwei konkrete Schritte kann ich mir heute vorstellen, welche die legitimen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik nicht gefährden würden. Beide Schritte könnten auch von konservativen Politikern mitgegangen werden.
Ich weiß, daß auch bei einigen führenden Unionspolitikern meine These: »Einer muß anfangen aufzuhören, sonst hört der Rüstungswahn nie auf« Nachdenklichkeit bewirkt hat. Ich schlage also noch nicht einseitige Abrüstung, sondern zuerst einseitigen Rüstungsstop vor. »Freeze« ist in den USA schon mehrheitsfähig. Das muß auch in der Bundesrepublik mehrheitsfähig werden. Rüstungsstop ist die Voraussetzung für Abrüstung. Die Umkehr beginnt mit dem Innehalten auf dem falschen Weg. Erst danach kann ich Schritt für Schritt in Richtung Abrüstung gehen. Wer Politik ändern will, muß auch konkret überlegen, wie sich Politik ändern läßt. Das tun nicht alle in der Friedensbewegung.
Die Sowjetunion geht davon aus, daß derzeit ein »ungefähres militärisches Gleichgewicht« zwischen Ost und West herrsche. Der Westen bestreitet das und weist auf die SS 20 hin, mit denen die Sowjetunion sich Überlegenheit schaffe. Ich kann nicht beurteilen, wer recht hat.
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Aber ich kann mir vorstellen, daß jetzt ein Verzicht des Westens auf Nachrüstung die Genfer Verhandlungen dem Ziel einer wirklichen Abrüstung näher brächte als ein Festhalten am zweiten Teil des NATO-Doppelbeschlusses. Reagans erster Schritt, aus SALT (Rüstungsobergrenzen) START (Waffenverminderung) zu machen, wäre dann wahrscheinlich erfolgversprechender. Sicher bin ich nicht. Aber ich denke an die Atmosphäre der Verhandlungen, an die politische Psychologie; ich denke daran, daß auch Kohl und Strauß immer wieder versichern, auch die Sowjetunion wolle keinen Krieg. Wenn das alles richtig ist, dann würde das Wagnis des ersten Schrittes eher mehr als weniger Sicherheit bringen. Ich spreche vom Wagnis. Ohne ein solches Wagnis sehe ich allerdings überhaupt keine Chance, den Rüstungswettlauf zu beenden. Zumindest die Minimalforderung von »Pax Christi« könnte der Westen ohne Not akzeptieren: Den Nachrüstungstermin vom Herbst 1983 verschieben, damit ohne Zeitdruck weiterverhandelt werden kann. Ziel eines solchen Schrittes: Solange verhandelt wird, rüstet keiner auf oder nach.
Es kommt also alles darauf an, daß einer anfängt aufzuhören. Wer ist der Klügere? Der These, die Sowjetunion zwinge uns durch permanente atomare Aufrüstung zur Nachrüstung, ist die Frage entgegenzusetzen: Für wie lange will der Westen seine Handlungsfreiheit an die Sowjetunion abtreten? Übernimmt nicht vielmehr der das Gesetz des Handelns, der anfängt aufzuhören?
Die Überlegung des DDR-Schriftstellers Hermann Kant halte ich für bedenkenswert: »Es will nicht einleuchten, daß man neue Kernwaffen baut und aufstellt, während man die alten mühsam zählt. Wenn gezählt wird, damit man verringern kann, muß doch nicht vermehrt werden, während gezählt wird.«
Der Westen sollte den sowjetischen Moratoriums-Vorschlag ernst nehmen. Das würde unsere Sicherheit nicht gefährden. Die Möglichkeit, aufzurüsten mit dem Ziel abzurüsten, hat sich endgültig als Wunschtraum erwiesen. Nach über einem Jahr Verhandlungen in Genf über eine Null-Lösung kündigt die sowjetische Nachrichtenagentur Novosti als Antwort auf die geplante NATO-Nachrüstung an: »Bei einer Drohung bleibt dann nur der atomare Antwortschlag. Eine andere Alternative gibt es nicht.«
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Als Präsident Reagan im Dezember 1982 die Stationierung von 100 Interkontinentalraketen des Typs MX in den USA angekündigt hatte, antwortete Moskaus Verteidigungsminister Ustinow sofort, die Sowjetunion werde Raketen »derselben Klasse« aufstellen. Er korrigierte damit einen erstaunlichen Kommentar der Prawda, wo es zuerst geheißen hatte: »Die Sowjetunion denkt nicht daran, den USA bei der Schaffung jedes neuen Waffensystems nachzueifern und nachzujagen.« Nein, soviel Vernunft ist zur Zeit bei keiner der beiden Supermächte zu erwarten. Der Druck von unten gegen die Nachrüstung muß stärker werden. Die bisherigen Verhandlungen in Genf waren wieder einmal überwiegend Propaganda. Im Dezember 1982 sagte Dimitrij Ustinow: »Wir zweifeln zusehends an der Wahrhaftigkeit und Seriosität der USA, in Genf für beide Seiten annehmbare Ergebnisse erzielen zu wollen.« Das gleiche hatte US-Verteidigungsminister Weinberger einige Tage zuvor über die Sowjetunion gesagt.
Erste Schritte: 2. Keine Waffenexporte
»Wir werden nicht die Waffenschmiede der Welt«, sagte Helmut Schmidt und sagt Helmut Kohl. Tatsache ist aber: Wir stehen schon heute an fünfter Stelle in der Tabelle der Länder, die Waffen exportieren. Wir sollten uns strikt selbst verpflichten, keine Waffen außerhalb des Bündnisses zu liefern. Wir hätten dreifachen Gewinn durch eine solche Politik: politisch, wirtschaftlich und ethisch.
Politischer Gewinn: Durch Waffenexporte in Länder der Dritten Welt schaffen wir uns ständig neue Feinde. Die Feinde aller Länder, denen wir Waffen liefern, werden automatisch auch unsere Feinde. Für diese Feindesautomatik sind wir selbst verantwortlich. Diese Politik ist kurzsichtig und töricht; jede Waffenlieferung außerhalb des Bündnisses schadet langfristig deutschen Interessen.
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Was hat die Sowjetunion heute davon, daß sie in den sechziger Jahren Ägypten oder Somalia mit Waffen vollpumpte? Heute stehen beide Länder im gegnerischen Lager. Was haben die USA heute davon, daß sie früher Vietnam oder den Iran bis an die Zähne bewaffneten? Heute gelten beide Länder als Gegner der USA.
Es ist schlimm genug, daß die Supermächte ihre Konflikte heute in den Ländern der Dritten Welt auf deren Kosten austragen. Wird die Situation für die Dritte Welt vielleicht besser, wenn auch noch Mittelmächte wie die Bundesrepublik Waffen liefern?
Wirtschaftlicher Gewinn: Waffenproduktion ist heute ein großtechnologisches, automatisiertes Unterfangen. Das Arbeitsplatzargument ist schon rein ökonomisch Unsinn. Zur Herstellung von Waffen braucht man nur wenig Arbeitsplätze. Aber wir verspielen Arbeitsplätze, weil wir uns durch Waffenexporte in die Dritte Welt dort Märkte verbauen. Die Gegner derer, denen wir Waffen liefern, kaufen uns häufig nichts mehr ab. Das kostet uns langfristig viel mehr Arbeitsplätze, als kurzfristig durch Waffenproduktion Arbeitsplätze geschaffen werden können. Japan zum Beispiel exportiert grundsätzlich keine Waffen, macht aber Geschäfte mit der ganzen Welt. Frankreich liefert — auch unter Mitterrand — immer mehr Waffen in Länder der Dritten Welt, aber immer weniger Wirtschaftsgüter. Hat unser Wirtschaftsexport vielleicht darunter gelitten, als wir in den fünfziger und sechziger Jahren (fast) keine Waffen exportierten? Warum fällt es den Ökonomen Schmidt und Strauß so schwer, die wirtschaftlichen Nachteile von Waffenexport-Geschäften zu begreifen? Ursache dieser ökonomischen Kurzsichtigkeit ist der Mangel an moralischen Fragestellungen und Empfindungen in der Politik.
Für Christen in der Politik müßte auch hier die ethische Dimension die entscheidende sein. Politische Ethik heißt hier, nach Sinn, Ziel und Werten in der Politik fragen und dann entsprechend handeln. Was nützt es aber, wenn wir keine Waffen exportieren, aber andere es tun? — so wird oft kritisch eingewendet. Der Verweis auf die Sündhaftigkeit der anderen ist auch hier keine ethische Rechtfertigung für die eigenen Sünden. Für unsere Waffenexporte sind wir verantwortlich, niemand sonst.
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Wer selbst mit gutem Beispiel vorangeht, wird eher gehört, wenn er andere zu einer ähnlichen Politik ermuntert und sie in Verhandlungen durchzusetzen versucht. Politiker reden über Waffenexport anders, als sie handeln. Es gibt heute in Lateinamerika noch drei Länder, denen wir keine Waffen liefern. Nur wenige Monate nach dem Falkland-Krieg erhielt Argentinien wieder deutsche Kriegsschiffe mit englischen (!) Motoren. 30 Prozent der Waffen, die Argentinien im Falkland-Krieg gegen unseren NATO-Verbündeten England einsetzte, stammten aus der Bundesrepublik. Vor der Rüstungsindustrie gehen die Bonner Politiker mehrheitlich in die Knie. Das unsittliche Geschäft der Waffenexporte funktioniert nur, weil es in Bonn durch eine große Koalition von Feiglingen abgesegnet wird. Sie applaudieren dem Papst, wenn er zum Frieden mahnt und Waffenexporte verurteilt, geben aber anschließend ihren Segen für Geschäfte, die niemand verantworten kann.
Die Waffen der Reichen haben in den Ländern der Armen wohl selten einen Krieg verhindert, aber häufig zum Krieg geführt. Anderswo müssen Menschen sterben, weil wir noch immer Waffenproduktion mit dem Arbeitsplatz-Argument rechtfertigen. Dies ist ein Mord- und Totschlagargument im eigentlichen Sinne des Wortes. Das ist eine Tod-Sünde unserer Zeit. Waffenexporte sind ein Bomben-Geschäft! Waffenexporte, damit wir Arbeitsplätze haben — ich empfehle dann noch einen Schritt weiterzugehen: möglichst rasch einen Krieg vom Zaun brechen, der bringt noch mehr Arbeitsplätze, an der Front und in den Waffenschmieden. Und am Schluß bleiben auch nicht allzu viele Arbeitslose übrig... Waffen in die Dritte Welt: das ist politisch kurzsichtig, wirtschaftlich unsinnig und ethisch unvertretbar.
Diese beiden ersten Schritte halte ich über unsere heutige Politik hinaus für nötig und möglich, ja, für unabdingbar. Ich weiß, daß es dagegen ernstzunehmende Einwände gibt, risikofrei ist das nicht. Es gibt keine Garantie dafür, daß die Sowjets nicht weiterrüsten, wenn wir aufhören. Der Mut zu diesem Risiko ist jedoch realistischer und erfolgversprechender als die Tollkühnheit der atomaren Abschreckung! Es gibt keine Liebe und keine Hoffnung ohne Risiko, es gibt aber auch keinen Frieden ohne Risiko.
Ohne den ersten Schritt von uns werden die kommunistischen Regierungen wahrscheinlich gar nicht abrüsten. Sie werden ihrer Bevölkerung eher noch größere Opfer zugunsten der Rüstung abverlangen. Nach uns werden sie es eher tun.
Die Sowjetunion steht nicht vor der Frage, wie sie Westeuropa nehmen könnte, sondern wie sie Osteuropa halten oder sogar ohne Gesichtsverlust loslassen kann. Wer nicht einmal die beiden vorgeschlagenen Schritte wagt, schafft noch mehr Risiken. Ohne Phantasie und Mut gibt es überhaupt keine Rettung. Wenn - nach Franz Kafka - Krieg ein Produkt furchtbarer Phantasielosigkeit ist, dann ist Friede das Produkt fruchtbarer Phantasie.
Im Atomzeitalter gilt: Entweder wir überwinden den Krieg, oder der Krieg überwindet uns. Wir könnnen uns vom Tod, aber auch vom Leben faszinieren lassen. Wir müssen wählen. Wer sich vom Tod faszinieren läßt, glaubt an die Sicherheit durch die Bombe. Wer sich vom Leben faszinieren läßt, glaubt an die Freiheit durch Gott.
In den Ländern des christlichen Abendlandes herrscht am Ende des 20. Jahrhunderts eine depressive, nihilistische Grundstimmung. Wir wissen zwar fast alles, aber wir glauben und hoffen fast gar nichts mehr. Die Faszination vom Tod geht um. Die Frage ist, ob uns jetzt noch einmal Umkehr zum Leben gelingt. Jeder Weg, und sei er noch so lang, beginnt mit dem ersten Schritt in die richtige Richtung. Der erste Schritt in Richtung Abrüstung ist ein Schritt in Richtung Leben, weg vom Tod. Der Weg der Bergpredigt ist der Weg zum Leben.
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