Orthodoxe und Ketzer
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Die ersten <dogmatischen> Ketzereien, die unmittelbar nach dem Ende der Christenverfolgung, ja teilweise vor ihr ausbrachen, haben den Blick dafür verstellt, daß der entscheidende Dualismus oder vielmehr die entscheidende Zweigleisigkeit christlichen Selbst- und Lebensverständnisses in einer neuen, wohlwollenden Umwelt nichts mit Glaubensinhalten zu tun hatte — oder doch nur sehr indirekt. Das entscheidende Dilemma, vor dem die arrivierte Christenheit stand, war das Ende der spezifisch christlichen Lebenspraxis.
Gewiß, schon für das dritte Jahrhundert ist bezeugt, daß Christen in vielen Schlüsselpositionen des Reiches tätig waren. Auch christliche Soldaten und Offiziere hat es gegeben. Dennoch blieb immer die Auffassung lebendig, daß die Praxis der Gemeinden nicht von dieser Welt sein dürfe. Martinus, der später als <christlicher Rittersmann> viel verehrte Heilige, verweigerte in dem Augenblick den Gehorsam, als es darum ging, das römische Abendland vor den Barbaren zu schützen — christlich gesprochen: Er weigerte sich, zu töten, obwohl er Soldat war.
Wer der Verantwortung seines Berufes in einer weltlichen Umgebung nicht entrinnen konnte, schob oft genug die Taufe bis zum Lebensende oder doch bis zum Ruhestand vor sich her: Konstantin, dem man dies übel ankreidet, ist hier keineswegs eine Ausnahme gewesen.
Auch die Bußpraxis faßte oft den notwendigen Akt der Reue und Umkehr in einer öffentlichen Handlung zusammen, die ziemlich schmerzhaft war, sehr im Gegensatz zur späteren katholischen Beichtpraxis, die auf permanent eingenommene Sedativa gegen den Reueschmerz hinauslief.
Eine Bürde hatten die Christen vor dem Ende der Verfolgung und vor dem Mailänder Dekret nicht zu tragen: Verantwortung. Verantwortung nämlich für die raumzeitliche Kontinuität des Reiches in der Welt, Verantwortung für die Errungenschaften der römisch-hellenistischen Zivilisation. Vom Standpunkt der Kaiser aus war es deshalb nur vernünftig, dieser großen und gefährlichen Minderheit solche Verantwortung aufzubürden. Das uralte Problem der schmutzigen Hände< ist hier zum ersten Mal — und wohl nie mehr in schärferer Form — aufgetaucht. Das erste Resultat — viel wichtiger für die Zukunft für unsere heutige weltliche Existenz als die Streitigkeiten um die homoousios-Formel oder den Vorrang der Patriarchate — war die Geburt des Mönchtums.
Die lächerliche Präokkupation unserer Gegenwart mit Geschlechtsmerkmalen, die bis tief in die Kreise der progressiven Christen hineinreicht, macht uns die Welt der Wüsteneremiten, der Zönobiten und Büßer unverständlicher, als dies gemeinhin nötig wäre.
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Ihr erstes und wichtigstes Motiv war der sichere Instinkt, daß mit dem Ende der Verfolgungen — positiv gesprochen, mit der Übernahme politischer Verantwortung — die Botschaft Christi vor einer tiefen und gefährlichen Krise stand. Christen hatten nun in und für zwei Aione, zwei Arten von Zeit, zu leben: für die Endzeit der frühchristlichen Erwartung, für den großen Donnerschlag, der dem Blitz der Erscheinung des Herrn folgen mußte — und für den Aion der Welt, der nach wie vor den Gesetzen der antiken Politik und Gesellschaft unterlag und für den das mühsam akklimatisierte Christentum kein wirksames Umsturzmodell anbot.
Man hat sich oft gewundert, warum die Kirche selbst keinen wesentlichen Protest gegen die konstantinische Machtübernahme hervorbrachte; hier, in der Option des Mönchtums, lag er vor. Daß er ein Protest der Lebenspraxis war, liegt durchaus auf der Linie der Botschaft selbst. Die Eremiten und Mönche entschieden sich für den Aion der Erwartung und gegen den Aion der weltlichen Kontinuität.
Armut, Unabhängigkeit, Besitzlosigkeit waren dabei selbstverständliche Aspekte der Praxis. Der Zölibat, also die Ehelosigkeit, trat aus verschiedenen Gründen hinzu, die für unser Thema nicht einmal sehr wesentlich sind. Die Bemerkung Jesu von den >Verschnittenen um des Reiches willen< wurde zum System überhöht (ein Mechanismus, auf den die Christenheit seit Ausbleiben der Wiederkunft mehr und mehr angewiesen war); und sie wurde in Verbindung gebracht mit der nicht unlogischen Befürchtung, daß Glaube keine Sache der Geburt, sondern der Entscheidung sei; daß das Überwiegen von Volkstumschristen, die von klein auf in ein christliches >Milieu< hineinwachsen, nicht der wahren Natur der Botschaft entspreche.
Natürlich kamen massive manichäische und neuplatonische Einflüsse dazu, welche für die grotesken und grausamen Züge mancher Eremiten- und Zönobiten-Existenz sicher eher verantwortlich zu machen sind als die christliche Tradition selbst.
Die negative wie die positive Bedeutung des Mönchtums für die weitere Entwicklung des Christentums liegt nicht sosehr in der Weltflucht als vielmehr in den sehr weltlichen Folgen seiner Entstehung. Die ersten Konsequenzen wurden schnell sichtbar:
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Da die Christenheit sich nicht nur horizontal in Mönche und Laien, sondern auch vertikal in die verschiedenen dogmatischen Parteien spaltete (welche vor bindenden Konzilsentscheidungen und vor dem Auftauchen der praktischen Vormacht von Rom oder Byzanz noch nicht formal als Ketzereien angesprochen werden konnten), erkannten die Ekklesiarchen, die sich um die Bannung ihrer jeweiligen Gegner auf Konzilen und Synoden bemühten, den Wert einer Schlägertruppe, die sich aus den Wüsteneien Syriens und der Halbinsel Sinai mühelos für die eine oder andere Lehrmeinung rekrutieren ließ. Die Räubersynoden jener Jahrzehnte verdanken ihren düsteren Ruf gerade solchen Horden, die aus dem Nichts jenseits aller Zivilisation gegen die jeweiligen dogmatischen (und politischen) Gegner in den Metropolen herangeführt wurden. Ich weiß nicht, ob sich eine >existentielle< Verbindung dieser Heiligen Krieger zum Islam herstellen ließe: Die geographische Nähe von Arabien gibt jedenfalls zu denken.
Aber auch diese ersten, buchstäblich handfesten praktischen Folgen des Mönchtums waren nicht so entscheidend wie die langfristigen, die sich erst nach dem Sieg der gemäßigten Regeln der Großen, Basilius und Benedikt, einstellten. Sie waren vor allem soziologischer und wirtschaftlicher Natur. Man halte sich vor Augen, daß durch diese Regeln hochorganisierte Zellen der Kooperation geschaffen wurden: überdurchschnittlich talentiert, zur geistigen und wirtschaftlichen Disziplin angehalten, dabei durch ihre rechtliche Selbständigkeit überschaubar und in hohem Maße zu Lernprozessen befähigt, deren Resultate durch Jahrhunderte weitergereicht werden konnten.
Es ist eine Ironie der Geschichte, daß diese Mönchsgemeinschaften, deren ursprünglicher Impuls die Weltflucht war, zu den stabilsten und vernünftigsten Inseln der Zivilisation in den sogenannten dunklen Zeiten, den Dark Ages, wurden. Je mehr Europa in die Gewalt von barbarischen Heerkönigen und Feudalherren geriet, desto klarer wurde diese Überlegenheit der Klöster. Durch die Ordensregeln am privaten Konsum gehindert, aber von eben dieser Regel zur produktiven Arbeit angehalten, häuften sie Mehrwerte an, deren Höhe und Herkunft einem volkswirtschaftlich naiven Zeitalter rätselhaft bleiben mußten.
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Ihre beste Pointe erreicht diese Ironie im Schicksal der sogenannten Reformer: Der schlechthin unerreichte Wirtschaftsorden des Mittelalters, die Zisterzienser, entstand aus dem Bemühen, den schlaff und reich gewordenen Benediktinerklöstern das Ideal des mönchischen Ursprungs entgegenzusetzen. Benedikts Regeln wurden wieder wörtlich interpretiert, das Gebot der Arbeit für alle, auch die frei und adelig geborenen Chorherrn, wieder in Kraft gesetzt, der individuelle Konsum drastisch zurückgeschnitten, die Architektur der Kirchen und Klöster strengen Vorschriften der Bescheidenheit unterworfen. (So erkennt man noch heute Zisterzienser-Abteien am Fehlen des Turms, der ihnen ein Symbol des Hochmuts war.)
Die Folgen müssen jedem Volkswirtschaftler klar sein: Innerhalb von zwei oder drei Generationen waren die Klöster der Zisterzienser die reichsten Europas. In England eroberten sie ohne große Anstrengung das Monopol der Wollproduktion, indem sie einen neuen Qualitätsstandard setzten; im Osten, jenseits von Elbe und Oder, leiteten sie die landwirtschaftlichen Musterbetriebe.
Wenn es je effiziente Produktionskommunen gegeben hat, dann waren es diese Klöster. Sie bescherten uns ein Prinzip, das erst später, nach seiner Ausdehnung auf den wirtschaftlichen Gesamtbereich, das Antlitz der Erde verändern sollte: das Prinzip der rationellen Tageseinteilung nach festgelegten Uhrzeiten, welche säuberlich Produktion, Kontemplation und Rekreation voneinander schieden. Ohne die Mönche gäbe es keine Stechuhr.
Dazu traten die Vorteile der Bildung. Die Klöster hatten nicht nur das Monopol der internationalen Sprache zu verwalten, sondern den Alphabetismus überhaupt. Es ist klar, daß sie keineswegs schüchtern in der Anwendung dieser Vorteile waren: Wer einmal in alten Klosterfolianten geblättert hat, in denen seit den Carolus Magnus Zeiten genauestens alle Schenkungen, Präbenden, Privilegien bis hinunter zum letzten Wasserecht registriert sind, versteht den tiefen, ohnmächtigen Haß, der im Zeitalter der Feudalanarchie jeden weltlichen Anrainer gegen diese Besserwisser erfüllen mußte.
Gefährlich wurde diese Überlegenheit in dem Augenblick, wo sie ihre Möglichkeiten in der Politik entdeckte: Die Selbstfindung des römischen Papsttums wurde von den Klöstern Cluny und Clairvaux aus betrieben und ermöglicht.
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Diese Selbstfindung beruhte aber nicht nur auf der sozialen Überlegenheit der Klosterkultur, sondern auf einer negativen Folge der konstantinischen Wende: der Einteilung der Gemeinden in Klerus und Laien, die wiederum nur die organisatorische Konsequenz der >zwei Reiche<, des Dilemmas der zwei Aionen war.
In dem Augenblick, wo das Christentum unter Konstantin und seinen Nachfolgern zur Staats- und Volkskirche wurde, brach die Klammer der Lebensdisziplin, die bislang die Gemeinden zusammenhielt, unter einem zweifachen Druck: dem Druck der uralten Gefühls- und Lebensweise einer mediterranen und später keltisch-germanischen Majorität und dem Entschwinden der Enderwartung.
In der Situation konnte die Kirche nur auf ihre Blankovollmacht zurückgreifen: die Vollmacht des Bindens und Lösens. In kürzester Zeit waren pastorale und theologische Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen.
Wie sie fielen, haben wir im vorhergehenden Kapitel besprochen: Sie fielen zugunsten einer Verwaltung des Heilsapparates. Diese Verwaltung wurde in kompetenten Händen zusammengezogen: in denen des Klerus. Die Hierarchie institutionalisierte sich parallel mit der Beamtenhierarchie des diokletianisch-konstantinischen Systems und teilweise mit dessen Insignien und Amtsbezeichnungen. (Noch heute ist jedes Pontifikalamt ein lebendiger Anschauungsunterricht im spätrömischen Amtsprotokoll.) Dieser Weg wurde im Feudalbereich des Mittelalters konsequent eingehalten.
Doch muß hier schärfer differenziert werden, als dies der kritische Progressismus gemeinhin tut. So ist die mönchische Unterwanderung des Klerus (die im ursprünglichen System keineswegs angelegt war) durchaus auch als eine Tendenz zu verstehen, den Klerus von den schlimmsten Übeln des bereits gerichteten Aions freizuhalten. Der resultierende Machtzuwachs entsprach ziemlich genau der raschen Mehrwert-Akkumulation der Klöster: Als einziger intellektueller Stand in einer Welt von Bauern und Kriegern, sehr früh international organisiert und nicht an die Erbfolge gebunden, die in einem Zeitalter frühen Todes und gefahrlicher Kindbetten ein ständiges Lotteriespiel war, wurde der Klerus vor allem des Westens zur entscheidenden gesellschaftlichen Macht.
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Da er zudem als einziger Stand zunächst die Tradition des römisch-justinianischen Rechts weitertrug, errang er bis zur Aufkunft einer gebildeten Laienschicht in den Städten das Verwaltungsmonopol. Diese Städte aber (zumindest in Italien) optierten wenn nicht für den Klerus, so doch für den Papst: Sie wollten mit seiner Hilfe die Herrschaft des germanischen Feudaladels und des Kaisers abschütteln. Der Versuch gelang.
Was immer die ursprünglichen Intentionen gewesen sein mochten: Gegen Ende des Mittelalters standen sich in Westeuropa zwei Gesellschaftsmächte gegenüber. Die eine waren die alten Kronen und die Feudaladeligen, die sich Europa als einen Kontinent von Erbhöfen aufgeteilt hatten und denen es gelungen war, wenigstens die Ränge des höheren Klerus zu besetzen; die andere, modernere Macht war das Papsttum mit seinen Verbündeten, den italienischen Signorien, seinem Kirchenrecht, seiner zentralisierten Finanzverwaltung und seiner Kontrolle des Heilsapparates. Im Grunde konnte kaum ein Zweifel bestehen, welches System das stärkere war. Die straff institutionalisierte Kirche mußte siegen, sie war moderner und hatte die Kräfte der Zukunft auf ihrer Seite.
Sie erlag dennoch. Denn sie hatte zwei wesentliche Faktoren übersehen, die im Schema keinen Platz mehr fanden. Der eine war — der Laie, der nichtklerische Gläubige, für den es heute noch keine befriedigende Definition in der katholischen Kirche gibt; und der andere, dessen sich ein aufkommender Laienstand prompt annahm, war die alte Botschaft selbst.
Im Grunde handelt es sich dabei um ein und dasselbe. Die Tatsache, daß sich die Kirche, das heißt die verwaltende Heilskompetenz, die Interpretation der Heiligen Schrift vorbehielt, beweist, daß sie das Problem klar erkannte.
Sie hatte mit der einen Waffe der Blankovollmacht die Kontinuität der Heilsverwaltung sicherstellen müssen, sie war — in Ost und West auf verschiedene Weise — zum wichtigsten Stabilisierungsfaktor der Gesellschaft geworden, sie hatte alle inneren Kontrollen und alle geistlichen Sanktionen fest in der Hand, aber sie war sich durchaus bewußt, daß sie auf einem Pulverfaß saß, und dieses
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Pulverfaß konnte sie deshalb nicht loswerden, weil es ihre eigene, innerste Existenzberechtigung war: die Botschaft des Herrn im Alten und Neuen Testament.
Mehr aus Versehen denn aus Planung zur Erbin und Nachlaßverwalterin des alten, realistischen, auf Kontinuität bedachten Rom geworden, schloß die Kirche eine Botschaft ein, die zu dieser römischen Kontinuität in schärfstem Gegensatz stand. Die alte Formel: »Rom hat Christus verraten« läßt sich in diesem Zusammenhang auch positiv formulieren: Trotz ihrer unabweislichen Tendenz zur Kontinuität brachte es die Kirche nicht fertig, sich der Botschaft der Verheißung zu entledigen.
In dieser Formel läßt sich die ganze Paradoxie römischkatholischer Christlichkeit zusammenfassen; eine Paradoxie, die mit den Schwierigkeiten der Gegenwart in enger Beziehung steht. Der Mann, der um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert dieses Dilemma der katholischen Kirche am klarsten und schärfsten erkannt hat, war Charles Maurras, der Vater der Action Francaiseund als solcher einer der Stifter des Faschismus. Mit einer Aggressivität, die Rom (längst nicht mehr dem kaiserlichen, sondern dem päpstlichen) äußerst unangenehm war, hat er postuliert, daß die Aufgabe der Kirche nicht die Übermittlung der Botschaft eines Wüstenjuden sei, sondern die Tradierung der altrömischen und mittelmeerischen Werte: des Sinns für Ordnung und Klarheit, der mesure, der clarte, des politischen Realismus: politique d'abord. Rom hat lange gezögert, ihn zu verdammen — es wußte wohl, warum. Denn Maurras sagte im Grunde genau das gleiche, was die Progressiven sagen — er rechnete sich lediglich zur anderen Partei.
Was Maurras übersah, in seiner Lage wohl übersehen mußte: Ihm schien die christliche Botschaft, die Botschaft des <Wüstenjuden>, wie er sagte, abstrus und unerheblich; das war und ist sie jedoch keineswegs. Gäbe die Kirche die Botschaft auf, wäre sie selbst nichts anderes mehr als eine Maschine, die das eigene Schmieröl erzeugt. Es mag solche Epochen in der Geschichte gegeben haben — lange konnten sie nicht dauern, weil sie zerfallen mußten, sobald ein Prophet auf das Material der alten Verheißungen stieß, ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Praxis erkannte und das Banner erhob.
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Der erste Prophet, der dies tat, hieß Muhammed. Ich bekenne mich hier offen eines Versäumnisses schuldig, das ich, nicht ohne die Schuld der Kirchen, mit den meisten meiner europäischen und amerikanischen Zeitgenossen teile: Der Islam ist uns im Grunde unbekannt. Dies ist um so bedauerlicher, als sein Erfolg wie sein enormer Einfluß auf die Geschichte der Christenheit außer Frage stehen.
In unserem Zusammenhang — der Dialektik von Orthodoxie und Ketzerei — wäre jedenfalls die Frage zu stellen, ob die Methode des Propheten nicht die Methode jeder erfolgreichen Ketzerei war — die in seinem Fall sicherlich auf beide Traditionen, das Alte wie das Neue Testament, bezogen werden müßte. Indem der Prophet die Divinisierung Jesu aufhob, ihn in die Reihe der großen Künder von Abraham bis zu sich selbst stellte, regredierte er auf einen ebenso einfachen wie einleuchtenden Monotheismus, der an den Subtilitäten hellenistischer Theologie vorbeigehen konnte. Diese Theologie war auf ihre Weise bereits Heilsverwaltung; ihr setzte er unbekümmert und selbstbewußt die Fahne eines charismatischen Genies entgegen.
Wir handeln hier von Wirkungen; und die Wirkung des Islams war jedenfalls überwältigend. Das ganze Mittelalter hindurch befand sich die Christenheit ihm gegenüber in der Defensive; und zwar nicht nur militärisch, sondern auch kulturell. Doch das sind allgemein bekannte Tatsachen, auf die wir hier verzichten können. Wichtig ist uns Muhammed als Vorläufer der Ketzereien des Abendlandes: als der Prophet nämlich, der die Sprengkraft der alten Verheißungen des Bundes entdeckte, wenn man sie nur einmal der Hinterwelt der Heilsverwalter entriß und als konkretes Kampfziel einem kühnen und begeisterungsfähigen Volk vor Augen stellte.
Im Abendland ließ die Ketzerei nicht lange auf sich warten. Sie brauchte zwei Dinge: eine gesellschaftliche Basis und einen geistesmächtigen Künder.
Die gesellschaftliche Basis blieb bis in die Tage der Reformation hinein das Bürgertum in seinen verschiedenen Ausprägungen; der wunde Punkt mittelalterlicher Seelsorge waren die Städte. Alte urbane Landschaften des Südens wurden die ersten Herde der Ketzerei. Das Schicksal der Albigenser ist bekannt.
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Weniger bekannt ist, daß auch der Bürgersohn Francesco aus der Stadt Assisi den Behörden — wir können bereits sagen: dem Heiligen Büro — verdächtig war und eigentlich immer blieb. Denn jedes religiöse Genie muß verdächtig sein, weil ihm die Kontinuität und die Stabilität eines Heiligen Büros keinen Raum bietet.
Solche Genies kümmern sich in der Regel nicht um Kontinuität, um Realpolitik, um Vorsorge für morgen. Die Botschaft überfällt sie, und sie überfallen mit ihrer Botschaft die Menschheit. In ihrer eigenen Gerechtigkeit (die nicht die Gerechtigkeit dieser Welt ist) fühlen sie zutiefst, daß die Kategorien der Vorsorge, die gefällige Anordnung juristischen und ethischen Materials letzten Endes Alibis sind; Wandschirme, die man vor die letzten Fragen stellt.
Dies erklärt auch, warum es meist geraume Zeit dauert, bis sich das Heilige Büro über das Ketzerische oder Nichtketzerische einer neuen Bewegung klarwerden kann. Der Ketzer findet die Wahrheiten, die ihn entzünden, in dergleichen Tradition, die das Heilige Büro nach seinen Vorstellungen pflegt und verwaltet.
Er macht also das Heilige Büro zunächst sprachlos, denn dieses weiß zunächst nicht, ob hier schlichte Kompetenz im Sinne der bisherigen Verwaltung am Werke ist oder eine neue gefährliche Abweichung sich anbahnt.
Was findet der Charismatiker in der Schrift? Er findet die Botschaft Jesu. Er findet seine strikte Ablehnung jeder Verfestigung. Luther etwa stellte eine klassische Frage, die in der Theologie auch der Heilsverwalter gang und gäbe war: »Wie schaffe ich mir einen gnädigen Gott?« Und er, gemartert vom Ungenügen der gebotenen Sicherheiten, nahm Zuflucht zur radikalen Barmherzigkeit, die er in den alten und neuen Schriften des Testaments entdeckte. Die Werke, so spürte er, verstellten geradezu den Glauben, machten ihn existentiell unmöglich. Und mit dieser Feststellung geriet er erst in die Kategorien des Heiligen Büros und machte seine Verurteilung notwendig. Denn die Werke waren schließlich die Zahnräder und Transmissionsriemen der komplizierten Heilsmaschinerie.
Die Calvinisten gingen einen Schritt weiter als Luther. Sie stießen unter der Frage der Werke auf die Fragwürdigkeit der Kirchenverfassung, die sie in der Botschaft nicht entdeckten.
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Sie institutionalisierten die Kategorie der Brüderlichkeit, die durch die Entwicklung eines Jahrtausends verschüttet worden war und die Luther noch nicht auszugraben wagte. Für das Schicksal der ganzen Welt ist die calvinistische Komponente des Protestantismus wichtiger geworden als die lutherische.
Die Folgen des Protestantismus sind bekannt. Aber sind sie wirklich so bekannt, wie man annimmt? Hat man Kirchengeschichte wirklich mit der dialektischen Präzision betrieben, die man etwa (seit der Geburt des Marxismus) den weltlichen Phänomenen der Wirtschaft und der Gesellschaft zuwendet? Hier, so will mir scheinen, sind noch Funde zu machen, wenn man nicht von Parteilichkeiten (auch solchen des Marxismus) ausgeht, sondern die Quellen so berücksichtigt, wie sie dastehen. Welche Ungenauigkeiten noch das progressistische Geschichtsbild trüben, sei hier an einem Beispiel erläutert, das Max Weber bekanntgemacht hat: dem Zusammenhang zwischen dem Calvinismus-Protestantismus und dem Kapitalismus.
Stellen wir diese These nicht in Weberscher Ausführlichkeit, sondern in der Verdichtung dar, die sie inzwischen in den meisten Köpfen erfahren hat. Der Calvinismus, so will diese These, hat durch die Abschaffung des römischen Heilsapparats und durch seine radikale Vorbestimmungslehre zunächst die einfachen Gläubigen sehr verunsichert. Er hat das geschaffen, was David Riesman den >innengelenkten Menschern nennt, also den Menschen, der die Gebote und Verbote wie einen Kreiselkompaß in der eigenen Brust trägt. Wie aber versichert sich nun dieser Mensch des Heils, das Gott ja beliebig und ohne Rücksicht auf verwaltende Instanzen verteilt? — Er wird, wenn es auch die Theologie nicht hergibt, nach einem Kriterium der Heilsgewißheit suchen; und als Kriterium bietet sich die alttestamentarische Kategorie des >Gerechten< an. Der Gerechte, so steht geschrieben, blüht wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, seine Herden gedeihen, seine Familie prosperiert — kurz, der Gerechte ist wirtschaftlich erfolgreich. Und damit ist der entscheidende Stimulus für das Ethos des homo oeconomicus, des wirtschaftlich orientierten Menschen gegeben.
Das Unangenehme an dieser scheinbar so einleuchtenden Genese des calvinistischen Gewerbefleißes ist nur, daß sie eine Reihe von Fakten außer acht läßt, die berücksichtigt sein wollen. Hier seien nur zwei davon genannt:
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Erstens — die Reformatoren, das heißt Luther und Calvin zumindest, dachten in wirtschaftlichen Fragen bewußt rückschrittlich. Zinsnehmen, die Basis fürjede Finanzwirtschaft, war ihnen ein Greuel. Für Deutschland wurde es zum Schicksal, daß sie damit den Unwillen des größten damaligen Finanzmannes erregten: Jakob Fuggers. Er wäre, alles in allem, ein guter Protestant oder zumindest ein guter Kandidat für den Protestantismus gewesen — aber die Haltung Luthers zu dem, was er in Venedig als modernes Finanzgebaren gelernt hatte, stieß ihn ausgesprochen ab. Er ließ sich von Rom bestätigen, daß zumindest seit dem 14. Jahrhundert, seit Bernhardin von Siena, moraltheologische Interpretationen vorlägen, die Zinsnehmen durchaus gestatteten, und zwar in wirtschaftlich angenehmem Umfang. Der größte Kapitalist Deutschlands blieb also aus kapitalistischen Gründen katholisch.
Wichtiger noch scheint mir eine zweite Tatsache. Im 17. Jahrhundert, nachdem sich der Staub der Reformation und der Religionskriege gesenkt hatte, war die wenn nicht zukunftsträchtigste, so doch die modernste Macht der weißen Menschheit kein protestantisches, sondern ein katholisches Land: Frankreich. Es hatte die Macht des Feudaladels am entschiedensten gebrochen, es verfügte über Rechtseinheit (ein ungeheurer Fortschritt) und über die rationellste Ausnutzung der politischen wie der Produktionsmittel. Das England der Stuarts wirkte dagegen ärmlich, rebellisch und buntscheckig und konnte sich — bis in die Tage Wilhelms von Oranien — nur mit Hilfe weitgespannter Koalitionen, die auch katholische Länder einbezogen, gegen die französische Hegemonie wehren.
Diese Evidenz legt nahe, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, welche die Entwicklung Frankreichs wie die der gleichzeitigen protestantischen Welt betreffen — und in der Tat sind diese Gemeinsamkeiten nicht schwer zu finden: sie sind in dem Prinzip unefoi, wie loi, un roi niedergelegt — ein Glaube, ein Gesetz, ein König.
Mazarin und vor allem Richelieu hatten begriffen, daß jeder moderne Staat ernst machen mußte mit einer negativen Folge
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der Reformation: nämlich der effektiven Zerschlagung des internationalen kirchlichen Einflusses auf dem Gebiet von Recht und Verwaltung. Nur so, durch die Abschaffung der zahllosen Privilegien und übertäten, welche die Kirche sich herausnahm — mit anderen Worten, durch die Abschaffung des kirchenrechtlichen Staates im Staate —, waren die neuen Aufgaben des Absolutismus zu bewältigen.
Die wichtigste politische Folge der Reformation war also eine Negation: die Zerschlagung des internationalistischen kirchlichen Verwaltungsapparats. Die Folge betraf nicht nur die Territorien und Länder, die sich nun zur lutherischen oder reformierten Kirche bekannten, sondern auch jene, die katholisch blieben. Das Gesetz, daß sich attackierte Systeme den Methoden des Gegners anzupassen haben, trat in Kraft, und zwar auf beiden Seiten.
Ähnliches gilt für den neuen Typ des >innengelenkten Menschen<. Er ist nicht nur protestantisch-calvinistisch, sondern hat seine höchste Ausprägung im Jesuitenorden gefunden. Ja, man kann sagen, daß auch in diesem Fall die Mönche ketzerischer waren als die Ketzer. Calvin und Ignatius bezogen extrem entgegengesetzte theologische Positionen — aber sie waren sich sehr ähnlich, studierten beide am Kollegium Montaigu in Paris und waren so Zöglinge jener bürgerlich-holländischen Frömmigkeitsrichtung, welche sich Devolio Aloderna nannte. Aber während Calvin mit Rom brach, zog Ignatius die Folgerung, daß das Management komplett überholt werden müsse, und er tat gerade dies in sehr moderner Weise. Der Verfasser eines Buches »How to Run a Worldwide Enterprise« könnte von Calvin nicht besonders viel, von Ignatius aber eine ganze Menge lernen.
Da sich alle unsere Überlegungen auf Folgen des Christentums für unsere heutige Welt beziehen, sind auch die eben genannten Beispiele nur deshalb methodisch wichtig, weil sie die Dialektik erhellen, die unsere europäische Geschichte zumindest seit den Tagen christlicher Gemeindebildung bestimmt. Die religiösen Genies, welche Reformation auslösen, befassen sich nicht mit den weltlichen Folgen ihres Aufbruchs; das liegt ihrem Ingenium und ihrem Temperament völlig fern.
Wenn es ihnen überhaupt um Gesellschaftliches geht, dann um
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die Zerschlagung eines Heilsapparates, den sie als widerchristlich und als verderblich für die Seelen denunzieren.
Aber die Resultate entziehen sich ihrer Kontrolle: Sie entstehen aus den Zerstörungen von juridischen, ekklesiologischen Strukturen-Zerstörungen, die sozusagen als Abfallprodukt des Prozesses zum Vorschein kommen. Durch den Regreß auf die uralte Botschaft vom Reich Gottes, stillgelegt durch eine kontinuitätsbewußte Hierarchie, werden zunächst eben diese hierarchischen Überbauten negiert, die ihrerseits durch die Hilflosigkeit der Hierarchen gegenüber den ethischen, juristischen, politischen Leerräumen der Botschaft entstanden sind. Voraussetzung für das Gelingen dieser Zerstörung ist allerdings, daß die Überbauten — mögen sie Aristotelismus oder Ablaßhandel heißen — nicht nur den Zorn der religiösen Genies erregen, sondern von plötzlich aufmerksam werdenden irdischen Interessenten als überholt und lästig empfunden werden — und zwar von solchen Interessenten, die sich im historischen Aufstieg befinden.
Bis zum Aufbruch der Neuzeit war dies in der Regel nicht der Fall; die Ketzerei der Waldenser und Albigenser kam zu früh und widersprach den Interessen der herrschenden Mächte. Auch Wyclif und Jan Hus kamen noch zu früh. Luther kam nicht zu früh für die abergläubischen, reliquiensammelnden deutschen Fürsten, die seine Protektoren wurden, weil die Abrechnung mit dem allenthalben dreinredenden Rom überfällig war.
Thomas Münzer kam sowohl zu spät wie zu früh. Es ist schick geworden, ihn in den Pantheon der großen Rebellen einzureihen, und er war zweifellos eine integre Figur, die unsere Sympathie herausfordert. Zudem ist Luthers Verhalten in seiner Sache höchst abstoßend, das braucht nicht geleugnet zu werden. Aber eine Chance hatte er nicht und konnte er nicht haben: Als Theologe war er der Entwicklung voraus, als Politiker — nämlich als Verbündeter der Bauern war er an eine Sache geraten, die im wesentlichen frühmittelalterlich war. Weder die Organisationsstufe der einzelnen Haufen noch die Plattform ihrer sogenannten Artikel waren den Erfordernissen der Zeit gewachsen; gerade marxistische Interpreten werden dies unumwunden zugeben.
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Der Ausgang der Bauernkriege zeigt eine zusätzliche Gesetzmäßigkeit der Dialektik von Ketzerei und Orthodoxie: In dem Augenblick, wo Ketzerei erfolgreich ist und sich politischgesellschaftlich konstituiert, ist sie politisch-gesellschaftlich keine mehr. Sie wird sofort zur neuen Orthodoxie. Ihre zerstörerische Wirkung auf alte Strukturen ist getan, nun trifft sie ihrerseits Vorsorge für das eigene Weiterleben, gründet Landeskirchen, entwirft ethische und politische Theorien, sinnt auf Gerichtsbarkeit, um ihrerseits die Ketzerverdächtigen auf Herz und Nieren prüfen zu können. Der prophetische Typus wird wieder ausgeschieden, Typen der Inquisition, bürokratische Typen spähen mit der gleichen Brille, schnuppern mit der gleichen Nase nach jenem Rüch lein der Ketzerei, welches doch bis vor kurzem ihre eigene Sache ausgeströmt hat — worauf sie paradoxerweise nicht wenig stolz sind.
Und natürlich finden sich neue Ketzer. Denn das Ärgernis der Botschaft bleibt. Die Verhältnisse sind nach wie vor unerträglich, man stellt fest, daß das neue Programm die Sache der Freiheit, der geistlichen wie der weltlichen, auch nur um Zentimeter vorwärtsbringt, und über kurz oder lang späht wieder ein zorniges Auge nach den Wolken des Himmels, auf denen der Menschensohn des Gerichts kommen soll, um den Anbruch des wahren Reiches zu verkünden. Noch in der säkularisiertesten Gestalt wird an diesem Spähen in die Nacht der Typus des Ketzers zu erkennen sein. Und immer wieder wird ein päpstlicher Legat, ein heiliger Synod, ein Hohes Konsistorium, ein Ideologisches Büro entscheiden, daß hier ein Verbrechen erster Klasse vorliegt, eine ungeheure Gefahr; wird entscheiden, daß dieser und jener auszurotten sei, daß die Rückkehr zum rechten Gesetz und zum rechten Glauben jedes Mittel rechtfertigt, daß die trotzige Fahne der Brudergemeinde mit Massenmord, Verrat, Pech, Schwefel und Napalm heruntergeholt werden muß.
Die Brudergemeinde aber holt die Fahne nicht ein, denn sie weiß die Botschaft hinter sich: das alte feste Bewußtsein der gesamten jüdisch-christlich beeinflußten Menschheit, da unerträgliche Verhältnisse, Entfremdung, Knechtschaft, Mangel an Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung kein natürlicher Zustand sind, sondern die Folgen eines Fehlers, einer Erbsünde,
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einer falschen Struktur, notwendigerweise zu beseitigen durch den ehernen Gang der Heilsgeschichte, an deren Ende das Reich steht. Weil sie das weiß, kämpft auch sie bis zum letzten.
Damit wird die letzte, die schlimmste Gesetzmäßigkeit sichtbar, die das Widerspiel von Orthodoxie und Ketzerei in unserem Denken eingeprägt hat: die Gesetzmäßigkeit der totalen Auseinandersetzung. In dieser Auseinandersetzung schrumpft buchstäblich die ganze Welt zusammen und wird zum Schlachtfeld oder zum Rüsthaus für den großen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis. Zunächst schwindet in solcher Perspektive alles Menschliche am Gegner — er wird Teufel, Schwein, Knecht der Hure Babylon, Auswurf der höllischen Unzucht. Kommt es zum Waffengang, zerfallen alle bisherigen Konventionen der Kriegführung, gibt es kein Asyl und kein Pardon mehr. Caedite, caedite — schlagt tot, schlagt tot, Gott wird die Seinen schon herausfinden. Ganze Völkerschaften und Kontinente werden in den Kampf geworfen und verwüstet — denn er rollt vor dem Prospekt göttlicher Allmacht und satanischer Auflehnung ab, und kein Unbeteiligter kann etwas dagegen haben, in so kosmischer Bataille sein Scherflein an irdischem Leid zur Sicherstellung des geistlichen, ideologischen Sieges beizutragen. So lange diese Flamme brennt, gibt es auch keinen Frieden: Kriege dieser Art können zwanzig, dreißig Jahre dauern und enden nur dann, wenn eine neue Konstellation der geistlichen oder weltlichen Interessen die Perspektive verändert. (So war es im Dreißigjährigen Krieg nach der Intervention Frankreichs, so wird es in Vietnam sein, wenn sich das Engagement für das >Gute< endgültig als Chimäre herausstellt, welche die Interessen der Zukunft blockiert.)
Die letzte Konsequenz dieser Gegnerschaft ist eine Art der Kriegführung, die die totale Entfremdung von der nichtmenschlichen Schöpfung enthüllt: Die Trennung von Absicht und Resultat ist vollständig, wenn große Ländereien biologisch zerstört, wenn die Lebensgrundlagen von Generationen liquidiert werden. Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg war fast so weit — nur die technologische Primitivität der kriegführenden Parteien verhinderte eine komplette Wüstenei. Vietnam ist da fortschrittlicher: Dort werden sich die Dschungel des Mekong-Deltas wahrscheinlich nie wieder erholen, die ökologische Balance ist umgekippt.
Spätestens hier müßte es klar sein, daß es sich beim Thema dieses Kapitels nicht um Theologie handelt, sondern um gegenwärtige Grundfragen der Menschheit — um Vietnam, aber auch um den August 1968.
Aber ebenso erhellt das Beispiel Vietnam, daß es falsch wäre, in dieser Wiederkehr eines Grundmotivs nichts als eine Neuauflage der antik-östlichen Lehre vom ewigen Rollen des kosmischen Rades zu sehen. Gerade in der Zerstörung überholter Strukturen steckt ein wie immer gearteter Fortschritt: Jedes neue Establishment wird bestrebt sein, die Argumente und Kategorien seiner eigenen ketzerischen Vergangenheit dem eigenen Arsenal einzugliedern; und so muß die nächste Ketzerei zu neueren, präziseren Waffen greifen — ideologisch wie buchstäblich. Aristoteles, der Heide, war im scholastischen Gewand eine Waffe des kirchlichen Internationalismus gegen die alte patriarchalische Feudalverfassung; im Reformationszeitalter wurde er zum Kronzeugen wider die Ketzerei und die aufstrebende Naturwissenschaft.
Naturwissenschaft. In diesem Stichwort begegnen wir der erfolgreichsten und folgenschwersten List der Kämpfer um das kommende Reich. Mit den Naturwissenschaften kam die Möglichkeit, den Kampf endgültig zu säkularisieren; er wurde nun dynamisch wie nie zuvor und entdeckte seine furchtbarsten Waffen. Die neuen Ketzereien regredierten vor das Christentum zurück zu den ältesten Kategorien der Verheißung: zum Bündnis zwischen dem Gott der Erwählten und dem Gott der Schöpfung, zur Verheißung der totalen Herrschaft über diese Schöpfung und zur Garantie der ökologischen Fülle, die einst Noah empfangen hatte — zur unbegrenzten Ausbeutung.
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