Einleitung von Carl Amery (1991)
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Der vorliegende Band umfaßt Aufsätze, die im Laufe der letzten fünfzehn Jahre entstanden sind — der eine oder andere mag älter sein, erhält aber seinen Stellenwert durch den inneren Zusammenhang mit dieser Zeit, die für den Autor spannend und spannungsreich gewesen ist.
Der Band gehört in eine Edition <Gesammelte Werke in Einzelausgaben>. Eine solche Edition braucht nicht vollständig zu sein, stellt sich schon gar nicht den Kriterien einer Werkausgabe. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, diese Aufsätze innerhalb der Edition vorzulegen.
Der erste ist methodischer Natur.
Der Autor gehört zu den Langsamen, trägt größere Arbeiten (essayistische Monographien und Romane) in Mehrjahresabständen aus. Dazwischen liegt viel: Vor- und Nacharbeit, Überprüfung alter und Prüfung neuer Perspektiven, Umwege und Exkurse in die Gefilde des sogenannten Zeitgeistes. Der Leser, der sich auf die Bewältigung einer Gesamt-Edition einläßt, hat, so scheint mir, ein prinzipielles Recht darauf, nicht nur die Profile von ein paar Berg- und Hügelspitzen, sondern auch die dazwischenliegende Geographie zu erblicken — eine Geographie, in der doch wohl die entscheidende Pilgerfahrt des Autors stattfindet.
Solche Geographie ist heute schwieriger zu vermitteln als in den hohen Zeiten des Bildungsbürgertums.
Die Medien antworten einander nicht mehr oder kaum mehr, und es ist reine Glückssache (selbst für den hypothetischen Amery-Gesamtleser), ob er mitbekommt oder mitbekommen hat, was im Abstand von vier oder fünf Jahren, zwischen (sagen wir) einem Essay und einem Roman, aus dem Autor und seiner Arbeit geworden ist.
Nun, er kann sich damit trösten, daß es der sogenannte Kulturbetrieb auch nicht — oder nur sehr unvollkommen weiß. Man begnügt sich damit, aus Klappentexten und Standard-Rezensionen das eine oder andere Stichwort zu entnehmen und es dem Autor aufzukleben, was seinen Wert an der literarischen Supermarktkasse ablesbar macht.
Der Autor muß sich das (was bleibt ihm übrig) mehr oder weniger zähneknirschend gefallen lassen; es blieb und bleibt ihm vom Linkskatholiken bis zum Ökologen (was Öko-logisten heißen müßte), vom Querdenker (wenns schlimmer kommt, verschmitzten Querdenker) bis zum bayerischen Patrioten so gut wie nichts erspart.
Vielleicht ist die Hoffnung erlaubt, daß in der Aufsatz-Girlande des vorliegenden Bandes Kontinuität sichtbar wird, Stetigkeit: Stetigkeit der Entwicklung und Bemühung. Dem Autor selber erscheint diese Kontinuität klar und einsichtig genug; und der geistige Ertrag dieses Bandes hängt wohl davon ab, wie hoch der Prozentsatz der Leser sein wird, dem er solche Einsicht vermittelt.
Dabei geht es natürlich nie und nimmer um persönliche Rechtfertigung, sondern um die Sache. Und die Sache ist im Untertitel angesprochen — es ist die Sache des Konservativen.
An dem Adjektiv hängt keine Verschmitztheit — es ist völlig ernst gemeint. Kaum etwas ist erstaunlicher als das Schicksal, das die Vokabel konservativ in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Ein klassischer Fall vielleicht von Relativität: in Momenten des Rückblicks scheint es mir, als ob nicht ich mich durch die Zeitgeschichte bewegt hätte (von rechts nach links, vom Konformismus in den Radikalismus, von der Orthodoxie in die Häresie, gleichviel), — als ob vielmehr die Welt ringsum, die seufzenden und hysterischen, die selbstsicheren und gerade auch die elitär-geistreichen Bataillone des Zeitgeistes in ständiger, in rat- und rastloser, in hektischer und vertrackter Bewegung begriffen sind.
Da wurden und werden Kennmarken vertauscht und Wegweiser versetzt, die Kommandorufe kreuzen und widersprechen sich, und die Lanzenwimpel der wirbelnden Reiterschlacht sind vom Staub der platten Ebenen und den Sturzbächen der Meinungsgewitter verschmiert und ausgebleicht.
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(Sicher, der Konservative weiß, daß er sich selbst bewegt: das Konservativste, das er kennt und verehrt, nämlich das Ensemble der Lebenswelt, verharrt ja nicht in Starre, sondern in einem Flußgleichgewicht, das allein die Beständigkeit der GAIA zu sichern vermag. Vielleicht wird sich noch herausstellen, wer der Kopernikaner und wer der Ptolemäer ist...)
Kontinuität und Konservativismus: diese beiden Prinzipien (eines der Anordnung, eines der Auswahl) haben die Gliederung des Bandes schwierig gemacht. Denn in solcher Ordnung und Anordnung sind die Kategorien und Wirkungsfelder, die man etwa Politik, Ökologie, Kulturkritik, Literatur nennt, unwiderruflich ineinander verschränkt, was oft überraschende Gegner- und Bundesgenossenschaften ergibt. Einige der letzteren (etwa mit Heinrich Böll) sind richtige Freundschaften; das kommt hoffentlich zu deutlichem Ausdruck. Aber es ist durchaus auch möglich, daß Einige, die sich der Bundesgenossenschaft des Autors sicher zu sein glaubten, nach der Lektüre erhebliche Zweifel haben. Nun, diese Probe muß gewagt werden.
Zwei weitere Risiken müssen eingegangen werden: die Evidenz falscher Voraussage — und die faktische Wiederholung. Was die erstere betrifft, so ist sie die notwendige Folge des Editionsprinzips: die Aufsätze sind unverändert in ihrem geschichtlichen Kontext belassen, so altmodische Dinge wie etwa der kalte Krieg haben ihre Themen wie ihre Argumentation beeinflußt. Es scheint, daß der Fehlerdurchschnitt der Voraussagen tröstlicher ist als bei den meisten polit-kulturellen Meteorologen der dokumentierten Klimaspanne. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß dieser kalte Krieg für die von mir seit etwa 1970 bevorzugte Perspektive wesentlich unwichtiger war als für die Perspektive der Mehrheiten.
Und was die Wiederholung eines Gedankengangs, eines Beweisstücks, einer Illustration betrifft: sie kann nicht schaden in einer Welt fataler, ja letaler Vergeßlichkeit; sie war, bei der erwähnten Verschränkung der Kategorien, auch gar nicht zu vermeiden.
Es verbleibt eine letzte Frage: die nach Bileams Esel. Wie hat er sich in den Haupttitel verirrt? Der Bezug ist mehrdeutig — auch für mich selbst.
Der Propheten-Esel war klarsichtiger als sein Prophet, man erinnere sich an das Buch Numeri. (Bileam war ein Verfluchungs-Spezialist, zur wirksamen Verdammung des Volkes Israel angeheuert.) Er war ein demütiger, treuer Diener, der den Engel des Herrn zuerst gewahrte — den Engel, der das Vordringen in die magische Frontlinie verhinderte.
Ich könnte, so scheint mir, der Reiter sein, der überzeugt ist von der Verdammungswürdigkeit des lebenden Geschlechts, und der (hoffentlich) von der kreatürlichen Barmherzigkeit in und um uns eines Besseren belehrt wird.
Andererseits aber könnte ich auch der Esel selbst sein, der von seinem Reiter, einer unbarmherzig galoppierenden Zivilisation, vorwärts gehetzt wird und die Aussichtslosigkeit solchen Galopps erkennt: weil er den Engel der Geschichte sieht (den von Walter Benjamin beschriebenen), in dessen weiten Augen das Entsetzen über diese Geschichte geschrieben steht.
Ich werde mir beide Möglichkeiten noch überlegen und warte auf hilfreiche Leserbriefe.
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München, Juni 1991, Carl Amery
Vorwort und Einleitung (1991) Amery, Carl, Bileams Esel