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Teil 1    Standortvermessung  

1 Glanz 

15-16

Wie der Geometer weiß, benötigt man drei Punkte zur Landvermessung. Die ersten drei Aufsätze sind dazu ausgewählt und könnten hilfreich sein; hilfreich zur Bestimmung des Woher, auch ein wenig des Wohin: landschaftliches Woher, kulturelles Woher — und der politische Standort bzw. die politischen Erfahrungen der zentralen Jahre.

Zum Ersten: Glanz und Elend des bayerischen Schriftstellers. Das war eine Rede, die ich anläßlich der Überführung der sterblichen Überreste Oskar Maria Grafs nach München im Jahre 1968 hielt. Es ging mir nicht zuletzt darum, herauszufinden, ob es landschaftliche Besonderheiten gibt, die zwei so verschiedene Temperamente wie ihn und mich sozusagen bayerisch verbinden. Es hat sich dabei doch Einiges ergeben, das mich selbst überrascht hat: Indignation, Angst vor Fremdbestimmung, und, vielleicht, Calibans untröstliche Gefangenschaft im Gestein... 

Zum Zweiten: der Konservativismus. Und zwar der, den ich kannte, liebte — und großenteils noch als den meinen verstehe. Die Gelegenheit, ihn mir und anderen zu erklären, ergab sich bei einem informellen Seminar über die neuen sozialen Bewegungen, das unter der Leitung von Jürgen Habermas stattfand — im Ausklang der Arbeit der sogenannten »Frankfurter Schule«. Die Diskussion um das Papier ging über die Überraschung zum Verständnis; das lag wohl an der damaligen deutschen (und Welt-)Stunde — einer Stunde, deren Gunst so nicht wiederkehren wird.

Zum Dritten: Johano Strasser, allzeit und wacker um den undogmatischen Fortschritt der SPD bemüht, leitete damals die beachtliche Zeitschrift <L'80>. Es war seine Idee, Leute, welche der SPD den Rücken gekehrt hatten, um die Erläuterung ihrer Gravamina zu bitten.

Bei der Antwort ergab sich nicht nur eine schöne biblische Parallele, sondern auch ein knapper Rückblick auf oppositionelle Erfahrungen seit den frühen Fünfzigerjahren, unter den Fahnennamen Gustav Heinemann, Helene Wessel und Peter Nellen. (Erhard Eppler und Johannes Rau kamen, wie man weiß, aus dieser Schwadron.)

Nebenbei: der im dritten Aufsatz erwähnte Kanzlerkandidat der damaligen (1980) Opposition hieß Franz Josef Strauß. Es war dies im Jahre Sechs des Helmutianischen Zeitalters, also sechs Jahre nach der Ablösung der Regierung Brandt durch Helmut Schmidt. Dieses Helmutianische Zeitalter hält, wie wir wissen, noch an — die Wende von 1974 hat die von 1982/83 an Bedeutung weit übertroffen.

16/17

1. Glanz und Elend der bayrischen Schriftsteller  

(1968)

17-29

»Der Herrgott meint es gut mit uns Bayern. ER hat unsere Vorfahren, kein Mensch weiß wirklich woher, in das schöne Land zwischen dem Hochgebirg und dem Wald geführt. Seine eigene Mutter hat ER als Wächterin über das Land aufgestellt, die von tausend Altären ihren göttlichen Sohn entgegenhält. Bis auf den heutigen Tag hat ER uns keine großen Beweger, aber treue Bewahrer als Fürsten und Regenten gegeben. Zweimal in unserer Geschichte, in der späten Gotik und im späten Barock, hat ER unser Volk, mit dem Weltgeist einig, einen reinen Ausdruck seiner selbst finden lassen. ER hat unsere Bäume nie in den Himmel wachsen lassen, ER hat aber seine Hand nie so weit von uns gezogen, daß wir uns selbst hätten aufgeben müssen. In der Not hat ER immer wieder aus unserer Mitte die richtigen Männer aufstehen lassen.«

Das Zitat, mit dem ich diese kleine Untersuchung einleiten möchte, stammt vom bayerischen Schriftsteller und Familienforscher Adolph Roth und wurde zum 75. Geburtstag vom Kiem Pauli verfaßt; also praktisch in unseren Tagen. Da wir — bei der Kürze der Zeit und der Fülle unseres Themas — ohnehin nur aphoristisch vorgehen können, bringt uns eine solche Reflexion bayrischen Selbstverständnisses schneller ins Thema als breit angelegte Definitionsversuche. Das Zitat ist aus verschiedenen Gründen erstaunlich. Zunächst ließe sich an Einzelheiten Faktenkritik üben. Sehen wir einmal davon ab, wie gut oder wie schlecht es der Herrgott mit uns gemeint haben dürfte, konzentrieren wir uns aufs Historische. Wie stand es wirklich mit unseren treuen Bewahrern? 

Ludwig der Bayer hat hoch gespielt und (im Grunde) auf unsere Kosten verloren; Maximilian, der größte Staatsmann unter unseren Regenten, hat hoch gespielt und (im Grunde) gewonnen — aber unter welch entsetzlichem Einsatz an Gut und Blut der Untertanen! Max Emanuel und Karl Albrecht waren (zu unserem Glück) so miserable Spieler, daß sie die Partie schon in den Eröffnungszügen verloren. Unser weisester Regent, der neunzigprozentig richtig spielte und hoch gewann, war gar nicht unser Regent, sondern ein savoyardisclier Premierminister namens Montgelas.

Und wie stand es mit den richtigen Männern in der Not?

Waren es die bayerischen Berufsoffiziere, die ahnungslose Defensiv-Corps in die Katastrophe von 1705 trieben? Waren es die grauen Exzellenzen Ludwigs des Zweiten, die von 1866 bis 1870 die Weichen stellten? Waren es Kurt Eisner? Ritter von Epp? Herr von Kahr? Ludendorff, Hitler und Röhm Anno 23? Waren es Fritz Schäffer und Wilhelm Hoegner Anno 1945? 

Fragen über Fragen, die wir an den Autor unseres Zitats zu stellen haben. Aber sie verblassen vor der einen, zentralen Frage, vor dem einen erstaunlichen Faktum: wie konnte, in unserer Hälfte eines der düstersten Jahr­hunderte deutscher Geschichte, ein aufrichtiger und sympathischer Bayer diese Bewußt­seins­lage, die aus dem Zitat spricht, überhaupt noch festhalten? Wie konnte oder kann er von den Kataklysmen ringsum soweit absehen, daß er das bayrische Selbstverständnis - wohlgemerkt nicht unberechtigt - so formuliert, wie es hier geschehen ist? Haben wir die beiden Weltkriege nicht mitverloren? Hat sich hierzulande nicht genug Schauerliches, Wertumstürzendes ereignet? 

Ist Nietzsches entsetzlicher Ruf vom toten Gott, ist das schneidende Manifest des Proletariats, ist Becketts Kunde vom kosmischen Endspiel nicht ans bayerische Ohr gedrungen? Und wenn dem so ist; wenn Bayern, auf wundersame oder natürliche Weise, von den Umstürzen ganzer Kontinente getrennt lebt und empfindet — welchen möglichen Beitrag kann es zum gemeinsamen Kampf der Welt um die Zukunft leisten?

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Ein einziger geschichtlicher Clou von Wert ist (meinem Gefühl nach) in Roths Zitat verborgen; nämlich der Satz: »Er hat unsere Bäume nie in den Himmel wachsen lassen.« 

Bayerns Geschichte seit dem 12. Jahrhundert weist eine Kontinuität auf, die für europäische Verhältnisse einmalig ist. Das läßt sich zunächst schon an jedem Geschichtsatlas erörtern; nur im großen napoleonischen Wirbel werden Bayerns Grenzen instabil, sonst zeigen sie höchstens winziges Wachstum oder winzige Absplitterungen. Wesentlicher ist die Kontinuität der Einrichtungen. Wenn dieses bayrische Volk, dem man Freiheitsliebe nachsagt, eigentlich nie rebellierte (außer 1918, wovon noch zu handeln sein wird), wenn es auch im großen Bauernkrieg nicht rebellierte, dann weniger wegen der größeren Freiheit hierzulande als vielmehr wegen des Mangels an spektakulären gesellschaftlichen Umstürzen. 

Der bayerische Bauer war (so beweisen neuere Forschungen) Anno 1520 eher schlechter dran als sein fränkischer oder schwäbischer Nachbar; was ihn ruhig hielt, war die Tatsache, daß ihm sein Landesherr keine Verschlechterungen zumutete, wie sie sich (vor allem in stiftischen oder fürst-bischöflichen Landen) aus den plötzlichen Bedürfnissen nach renaissancehaftem Lebenszuschnitt der Oberen ergaben. 

Ähnliches gilt für die bayerische Verfassungsgeschichte; die erste Konstitution des Landes war reichlich paternalistisch, aber sie wurde ohne den Druck der Freiheitsmänner, ohne Bastillesturm und Tuileriengemetzel zu einem Zeitpunkt gewährt, als die meisten anderen deutschen Staaten noch nicht daran dachten, ihre Restaurations-Ideologie abzubauen. So schien und scheint die bayerische Geschichte den Erfolg des Revisionismus, und zwar des langsamen Revisionismus zu begünstigen. 

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Der Untertan (und auch der Bayer war Untertan, wie hätte es anders sein können?) war deshalb kein gehorsamerer Untertan als anderswo, aber er versprach sich nichts von jähen Umstürzen. Eines war ihm allerdings stets bewußt (und hier kommen wir zu einem ersten wesentlichen Beitrag Bayerns zur deutschen Geistesgeschichte): daß Wachsamkeit gegenüber den Oberen am Platze war.

 

Viele Jahre vor Marx und Engels schrieb Franz von Baader, der Schwabinger Philosoph, sein Buch über die bedauernswerte Lage der Proletaires; Schmeller, der große Mann der bayerischen Sprachforschung, entwarf mehrere Generationen vor Trevelyan sein Programm einer Sozialgeschichte, als Kontrast zu der, wie er wörtlich sagte, »Spitzbubengeschichte« der Dynasten. Die wahre Geschichte, nämlich die Geschichte des Volkes, verlief für ihn, den Korbmachersohn, weitab von jenen Haupt- und Staatsaktionen, die das Volk nur insoweit betreffen, als es durch die Hergabe von Steuern und Landessöhnen passiv damit befaßt wird. (Das sind Schmellers eigene Ausdrücke.) 

  https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Baader  1765-1841     https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Andreas_Schmeller  1785-1852

Mangels einer wissenschaftlichen Kategorie, die erst viel später auftauchen sollte, wich Schmeller in die Mundartforschung aus, die er als Sozialforschung betrieb; selektive Lektüre seines Wörterbuches sei jedem Soziologen von heute dringend empfohlen. 

Wachsamkeit, bayerische Wachsamkeit bewies auch Ignaz von Döllinger. Sie konzentrierte sich auf einen wesentlichen Punkt: die Reinheit der Lehre von der Regierung der Kirche. Wahrhaft ungewollt wurde er so zum Vater des Modernismus und zum ersten Opfer der integralistischen Inquisition, die später, unter Pius X., so sinistre Blüten treiben sollte. Wie Schmellers sozialgeschichtlicher, so wurde sein theologischer Ansatz erst Generationen später vindiziert, durch das Zweite Vatikanische Konzil. Es fand mehr als neunzig Jahre nach jenem Ersten statt, das Ignaz von Döllinger die bittere Trennung von seiner Kirche einbrachte. 

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Diese drei Namen (denen man noch Johann Michael Sailer hinzufügen könnte) sind meines Erachtens genügend Evidenz für einen weiteren Charakterzug bayerischer Geistesgeschichte: ihre mangelnde Synchronität, ihre Ungleichzeitigkeit zur übrigen deutschen Entwicklung — und damit auch zur bayerischen Eigenentwicklung, soweit sie fremdbestimmt war: Bayern war (und ist teilweise noch heute) das Land der Einzelgänger und Einzeldenker. Man ist versucht, dies als Evidenz bayerischer Provinzialität aufzufassen; Kleinstädte sind notorische Heimaten für Leute, welche die Gedanken des 18. Jahrhunderts wiederkäuen oder die des 22. voraus­projizieren, ohne es zu wissen. 

Aber machen wir es uns (und den Kritikern Bayerns) nicht so leicht! Fragen wir vielmehr, ob in diesem scheinbaren Handikap des Provinzialismus und der Eigenbrötelei nicht ein Sinn verborgen ist, der zumindest als heuristisches Prinzip für Bayerns Selbstverständnis genutzt werden kann! Geben wir uns einmal Rechenschaft — in aller Nüchternheit — über Bayerns eigene Plattform im deutschen Sprach- und Geistesraum. Bayern im Sinne dieser Definition ist ja noch nicht einmal das gesamte Staatsgebiet; Fränkisches und Schwäbisches wird man, wenn man sich nicht des Kultur-Imperialismus schuldig machen will, abrechnen müssen. 

Jahrhundertelang war der kleine bayerische Raum der politischen und geistigen Fremdbestimmung ausgesetzt und hat sich wie kaum ein anderer deutscher Raum (mit Ausnahme Österreichs, über das noch zu sprechen sein wird) dieser Fremdbestimmung zu erwehren versucht. Es war ein katholisches Land im Sinne der alten religiösen Territorialitäten, das sich jedoch erbittert gegen die katholische Vormacht Habsburg stemmte. Es war andererseits — zumindest seit dem 18. Jahrhundert — auf den Widerstand gegen die protestantische Geisteskultur verwiesen, die sich in Zentren wie Königsberg, Weimar, Tübingen entwickelte. Dabei ging es weniger um die Abkapselung von den großen Geistern als vielmehr um die Verweigerung des vulgärphilosophischen deutschen way of life.

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Um mit ihm zu beginnen, weil er uns unmittelbar an die Literatur heranbringt: ich halte Bayerns Abwehr der kantisch-hegelianisch gestimmten deutschen Geistigkeit des 19. Jahrhunderts für eine große Leistung; um so mehr, als sie fast unbewußt vollzogen wurde. Nicht aggressiv oder theoretisch wurde sie bewältigt, sondern in der Position schlichten existenziellen Unverständnisses. Vom Weltgeist zu Pferd hält der Bayer nichts; kaum mehr vom kategorischen Imperativ oder vom Leistungsprinzip, der letzten säkularisierten Form des Calvinismus. Er hält nichts von der weihevollen Dialektik historischer Größe, die, wie wir wissen, recht häufig in Katastrophen endet. 

Hier ist auch der Grund für die Leichtigkeit zu suchen, mit der sich Bayern Anno 45 von der Mitschuld am großen Debakel freisprach. Historisch ist das natürlich unsinnig: immerhin gab es den November 1923, und das Braune Haus stand bis zuletzt in München. Geistesgeschichtlich jedoch erklärt sich diese Selbst-Absolvierung des Bayern aus der Sicherheit, mit der er jede Form von »Krampf« — das heißt jede Form von ideellem Chauvinismus zu durchschauen meint. Dies hat sicher auch zur Rolle Münchens als »heimlicher Hauptstadt« Restdeutschlands beigetragen.

Andererseits — und das entspricht unserer Eingrenzung — war Bayern nicht in der Lage, etwa wie Wien den Positivismus, eine eigene Gegenkraft zu entwickeln. Denn mit der Romantik (die wir hier als Ausgangsbegriff setzen wollen) begann bereits eine neue Form der Fremdbestimmung, die wesentlich gefährlicher war und nicht restlos bewältigt werden konnte. Sie betrifft unmittelbar die bayerische Literatur selbst.

Vergegenwärtigen wir uns, daß Herder litauische, wendische, russische Volkslieder übersetzte, daß er von dem unerschöpflichen Jungbrunnen der anonymen Volkspoesie schwärmte, ohne die bayerischen Volkstheater oder die spontane Poesie der Neck-, Prahl- und Liebeslyrik überhaupt zu kennen.

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Vergegenwärtigen wir uns die Situation auf einem Münchner Schützenfest, das Ruederer in seinen »Weißblauen Achtundvierzigern« so köstlich beschreibt; nach unsäglich geschwollenen Vorträgen über die Verbundenheit Bayerns mit dem klassischen und modernen, das heißt um seine Freiheit ringenden Griechenland; nach blumigen Erwähnungen des Basileus Lodovicos und seiner Basilissa geht die Versammlung immer mehr zum gemütlichen Teil über. Die Gedichtrezitationen werden unbeholfener, Bierseligkeit setzt ein — und plötzlich erklingen in der Ecke des Saales, angestimmt von den Werdenfelser Preisschützen, die Schnadahüpfel des Volkes, keck im Ton und eindeutig im Inhalt, welche das Liebesleben des Bergvolkes beschreiben. 

Die versammelte Bourgeoisie, selbstverständlich die bayerische, ist aufs höchste degoutiert; und Ruederer selbst (das geht aus dem Text eindeutig hervor) begriff nicht, daß diese Vierzeiler die einzige vernünftige Lyrik waren, die auf diesem Schützenfest verzapft wurde. Wieder sticht die Asynchronität ins Auge, die Ungleichzeitigkeit der kulturhistorischen Bestände. Und in dem Augenblick, da sich das romantische Bewußtsein der zeitlosen, archaischen Stoffe und des spontanen Charakters dieser Lyrik bewußt wurde, erfolgte auch schon die letzte, scheinbar unwiderrufliche Fremdbestimmung des Bayern: seine Bestimmung als ländlichderbes Urvieh, als Lieferant vorzivilisierter Stimmungslage. Mit einem Wort: was erwartet und damit gefordert wird, ist der Jodler. Solange sich — in den echt romantischen Jahrzehnten — diese Fremdbestimmung sozusagen im Zustand der Unschuld befand, gelangen orginelle Schöpfungen wie die Kobells und Stelzhamers. Fast alle späteren Autoren verdanken dieser Fremdbestimmung entweder ihr Problem oder ihre kritische Angriffsrichtung. 

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Der große bayerische Realismus (wenn man einmal von so singulären Naturerscheinungen wie Lena Christ absieht) richtete sich entweder gegen die Selbstgefälligkeit der eigenen Landsleute, gegen ihr dumpfes Philistertum — oder gegen die romantisch-verblasenen Ideen über Bayern, die er mit teilweise gutmütigem, teilweise grimmig-grausigem Spott entlarvte. Man beachte zum Beispiel, daß das beste literarisch relevante Stück Ruederers, die »Fahnenweihe«, bereits Kritik und Parodie eines Genres darstellt; nämlich des bäuerlichen Volksstücks, das Stoffe aus dem sogenannten ländlichen Leben für Fremdkonsumtion aufbereitet. Das echte bayerische Volksstück handelte niemals, wie Kiefersfelden und unzählige andere Beispiele beweisen, vom Volke selbst, sondern von Hamlet, dem Prinzen von Dänemark, von Sagenkönigen und Elfen, von scheußlichen Raubrittern und Kreuzfahrern. Es spricht für das Genie des Ludwig Thoma, daß er diese kritische Richtung zwar beibehielt, daß sie aber unter seinen Händen zur impliziten Kritik wurde; daß er (indem er oft recht schäbige Wahrheit gegen das fromme Bildnis vom Landmann stellt) zu einer echten, ja großen Reflexion nicht nur über die bayerische Kondition, sondern die condition humainc durchdringt.

Noch komplexer war das Problem des Oskar Maria Graf. 

Zeitlebens ein strammer Sozialist, mußte er die Nazis geradezu zwingen, sein Werk den Flammen zu übergeben: allzugern hätten sie den Autor des Bayrischen Dekameron für ihre Blut-und-Boden-Zwecke vereinnahmt. Im München der Kriegs- und Nachkriegszeit aber geriet er als Ein-Mann-Inselchen in die Insel der Salon-Revolutionäre, für die er Garant und Geheimtip rotbayerischer Urwüchsigkeit war und denen er vergebens klarzumachen versuchte, daß sie keinen Kontakt zu den Massen hatten und von den Massen nichts verstanden. 

Er stellt nicht nur in der Übernahme eines Denksystems, nämlich des kämpferischen Sozialismus, sondern auch in der Art der Übernahme ein bayerisches Phänomen eigener Art dar. 

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Zuletzt ist er — nicht anders übrigens als der große Thoma — der Fremdbestimmung als klobiges bayerisches Ausstellungsstück doch nicht ganz entronnen; aber was ihn vor Thoma auszeichnet, ist die Tatsache, daß er dem Bismarck-Deutschland und seinen faulenden Ausfallserscheinungen nie aufgesessen ist. Thoma passierte das; und nicht zuletzt wohl deshalb, weil er auf der Flucht vor einer anderen Fremdbestimmung, nämlich dem bayerischen Klerikalismus war. Jeder dieser Einzelgänger und Einzeldenker wäre eine eigene Geistesgeschichte wert — und jede dieser Geistesgeschichten würde, wie ich annehme, beweisen, daß Ungleichzeitigkeit die Stärke und das Problem der namhaften oder doch nennenswerten bayerischen Schriftsteller ist. (Von den Fließband-Thomas, die heute laufend von dankbaren Produzenten erfunden werden, wollen wir hier nicht sprechen. Sie verdienen ihr Geld auch ohne uns.)

Zu sprechen aber ist von einer hintergründigen Eigenschaft des bayerischen Ingeniums, für die Karl Valentin die herrliche Vokabel »Linksdenken« geprägt hat. 

Diese Linksdenkerei gibt dem bayrischen Dialog, wenn er richtig geführt wird, erst seine Authentizität. Thoma hat diesen Ton gefunden — oft wider Willen gefunden; es scheint mir aber doch bezeichnend, daß ihn auf dem Theater ein Nichtbayer seismographisch genau erfaßt hat — der Ungar Ödön von Horvath. Die bayerische Linksdenkerei ist keineswegs nur komisch; sie hat ungeheure düstere Einsamkeiten in sich und zeigt Bayerns Verwandtschaft mit östlichen Seelenländern. Freilich, nie hat sich hierzulande jener vornehme Grundton der Verzweiflung durchsetzen können, der Österreichs Literatur spätestens seit Grillparzer so großartig macht, selbst in der parodistischen Weise eines Herzmanowsky-Orlando oder der modernen schwarzen Wiener Schule. Auch über vielen bayerischen Herzen steht der Satz »Eitel ist alles«; aber kein Gott hat ihnen bisher gegeben zu sagen, was sie leiden, wenn sich die letzte Dunkelheit enthüllt. Dann verstummen Zorn und Gelächter — aber auch das Ingenium selbst verstummt.

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Eine gescheite bayerische Frau, mit der ich einmal diese Frage diskutierte, meinte, daß in diesem Augenblick der letzten, schwarzen Wahrheit dem Bayern das Wort einfach nicht mehr dafür stehe, wie man sagt; daß er sich weigere, ihren Ernst durch Literatur zu verdünnen. Wenn dem so ist (und ich halte das für möglich), dann sitzt noch ein Caliban in der tiefsten Höhle des Untersbergs, unversöhnt und unerlöst, der herausgerufen sein will ins Licht des Tages. Vielleicht aber — und das sei unsere letzte Überlegung — hat Bayern seine größten Stoffe nicht beschrieben, sondern erlebt, und bietet sie einer literarisch gewandteren Umwelt zur ständigen Reflexion und zum ständigen Ärgernis an.

Drei dieser Stoffe möchte ich hier zur Erwägung stellen. 

Der erste ist die Mordweihnacht von Sendung — und zwar nicht die, die man früher in bayerischen Schulbüchern lernte, sondern die, die sich wirklich ereignet hat. Das Jammervolle eines kampflosen Zusammenbruchs im Schnee; das Entsetzen eines gebrochenen Pardon-Versprechens; die Reihen der Unbewaffneten, die kläglich den katholischen Kroaten ihre Rosenkränze entgegenstreckten; alle diese Schrecken werden noch überwölbt von der letzten, trostlosesten Entsetzlichkeit: daß diese Loyalität einem Unwürdigen galt, dem Bayern letzten Endes nicht mehr war als eine Spielmarke im dynastischen Ecarte. Er, Max Emanuel, war der eigentliche Adressat der Tragödie, die er nie verstand. Er war der beschämte Bühnenschurke, nicht der grimmige Kriechbaum oder der Kaiser in Wien. Es war und ist deshalb eine typisch bayerische Tragödie, weil sie eine Tragödie der Ungleichzeitigkeit ist: archaische Loyalität und Gefolgstreue, gebunden an einen Popanz des absolutistischen Zeitalters. 

Filmproduzenten, die das Bedürfnis haben, einen großen weißblauen Spektakelstoff zu bearbeiten, sei diese Sicht der Ereignisse von 1705 dringend empfohlen.

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Der zweite Stoff ist noch bekannter, ist vielfach behandelt, aber nie adäquat, weil er seit dem Ende des letzten keltischen Barden nicht mehr behandelt werden kann: der Tod Ludwigs II. 

Mit der dem keltischen Ingenium eigenen Liebe zur mystischen Katastrophe hat sich Bayerns Phantasie dieses Todes bemächtigt — und zwar vollauf zu Recht. Er hat mit Geschichte gar nichts zu tun; alle rührenden oder scharfsinnigen Versuche, den Tod von Berg in ein System innerdeutscher oder innerbayerischer oder gar ultramontaner Ränke einzuordnen, sind bedeutungslos, selbst wenn sie zufällig auf die Wahrheit stießen. Der Tod des Königs ist mythisch; und zwar stellt er echtes keltisches Sagenmaterial dar. Grotten und geheime Wunden der Seele; das schwarze Wasser des Sees, aus dem die Töchter der Tiefe steigen, um den Todwunden zu bergen; vorher die wirre Flucht mit Schlitten und Wagen von Schloß zu Schloß und in die Trollwelt der Hundinghütte — das ist der Mabinogion-Zyklus, das ist die Tradition der Artus-Sage, wie sie bei Malory und Tennyson nachzulesen ist. Was dichterisch dazu im 19. Jahrhundert zu sagen war, hat Verlaines großartiges Sonett gesagt; aber das entscheidende Kennzeichen auch dieses Todes ist die Ungleichzeitigkeit — das prähistorische Sagen-Ereignis in der Epoche der Dampflokomotive und der Realpolitik.

Auch der dritte Stoff, den ich hier streifen möchte, ist ein Leichenzug; und zwar der Leichenzug Kurt Eisners zum Ostfriedhof. Er war zweieinhalb Kilometer lang. Der Berliner Journalist, 1917 erst auf Bayerns politischer Bühne aufgetaucht, Außenseiter in jeder Hinsicht, nichtmarxistischer Sozialist, Literat, alles andere als ein Demagoge, war im Grunde eine denkbar unbayerische Figur. Er hatte eine einzige stichfeste historische Leistung vollbracht, die genau 48 Stunden dauerte: er hatte das Volk von einem Alptraum befreit, der vier Jahre währte. 

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Sobald der 8. Dezember 1918 vorüber war, lief er in die Messer der Realitäten hinein, niemand honorierte seinen Idealismus, die leitenden Genossen von der Mehrheits-Sozialdemokratie am allerwenigsten, und sein Entschluß, Wahlen auszuschreiben, war bereits eine noble Form des Selbstmords. Doch erst das sinnlich Erfahrbare, erst die Kugel des Attentäters macht, wenigstens für eine kurze »zeitlose Zeit«, den Landfremden zum Zentrum wilder archaischer Trauer. Daß seinen Manen fast augenblicklich auch Erhard Auer geopfert wird, sein Intimfeind und nach ihm einzig nennenswerter Führer der Massen, gehört ins Bild. Auch hier liegt Ungleichzeitigkeit vor: eine homerische Totenfeier für einen fast Unbekannten, nach Jahren dumpfen Gehorsams und Monaten pragmatischer Münchener Revolutionspolitik, die der nüchterne altkommunistische Historiker Rosenberg als wohltuend realistisch gegenüber der illusionären Berliner Linie preist. Was später kam (und was etwa Tankred Dorsts Sujet in seinem Stück »Toller« bildet) war nur mehr Abgesang auf diese Münchener Nänie.

Nach diesem (wie ich weiß höchst kontroversen) Exkurs in eigentlich bayerische Stoffe können wir uns zum Abschluß noch einmal die Frage vorlegen: wie kann und konnte sich bayerisches Selbstverständnis durch alle Weltumstürze erhalten? Wie konnte sich die bayerische Bewußtseinslage inmitten der Katastrophen bewahren? 

Ich glaube, die Antwort ist nicht einfach, aber einige Spuren des Verständnisses deuten sich an. Katastrophen sind dem bayerischen Selbstgefühl endemisch. Der Bayer mißtraut ihnen nicht; eher mißtraut er sogenannten wissenschaftlichen Weltbildern, die ihm versichern, daß es keine Katastrophen zu geben brauche. 

In den Händeln der Welt aber — das heißt überall dort, wo die Flammenschrift der Götter nicht von der Wand ablesbar ist, sondern wo es um hiesige und heutige Dinge geht — ist der Bayer nüchtern, skeptisch, manchmal linksdenkerisch, querköpfig und querliegend, doch oft schneller zur Hand mit pragmatischen Lösungen, die den Kursteilnehmern im hegelschen Oberseminar nie so fix einfallen würden. Seine literarischen Waffen sind Zorn und Gelächter. Tief unten aber, tiefer als das literarische Ereignis, schlummert Caliban, der nur dann und wann, wenn die Sterne unheilvoll stehen, seinen furchtbaren Schrei ertönen läßt, den Schrei des Unerlösten. Hat ihn, den Mann im Keller, der Segen der Gottesmutter erreicht? — Ich warne die bischöflichen Ordinariate vor dieser Annahme.

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Amery 1991 Bileams Esel