2. Das Schicksal des deutschen Konservativismus und die neuen sozialen Bewegungen
(1983)
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Innerhalb der geistigen Szene der Gegenwart, ihrer Gesamtstimmung wie ihrer besonderen Ausprägungen etwa in der Bundesrepublik, scheint dem Verhältnis zwischen dem Konservativismus (ob nun neu oder nicht) und den neuen sozialen Bewegungen und Kräften zunehmende Aufmerksamkeit zuzukommen.
Mir scheint dabei folgende Frage besonders interessant und besonders geschichtsträchtig: warum tut sich gerade der deutsche Konservativismus mit den neuen sozialen Bewegungen und mit der Herausforderung der ökologischen Perspektive so besonders schwer? Warum sind diese Bewegungen und diese Perspektive jahrelang ausschließlich Sache der »Linken« gewesen und sind es, wenn man ehrlich ist, eigentlich noch?
Gibt es eine besondere deutsche Situation, die dem Konservativismus besondere Schwierigkeiten macht bzw. gemacht hat? Fehlt vielleicht eine wichtige Komponente, eine wichtige Tradition, eine Dimension gar usprünglicher konservativer Denk- und Gefühlsart, und bedeutet ihr Fehlen nicht nur ein besonderes Handikap in der Generations-Vermittlung, sondern eine schwere Beeinträchtigung unserer politischen und gesellschaftlichen Kultur?
Ich glaube, daß dies in der Tat der Fall ist. Ich glaube, daß es einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Grundpfeiler konservativen Denkens und Fühlens in der Bundesrepublik nicht mehr gibt: daß sein Fehlen unmittelbar mit der Geschichte der letzten Jahrzehnte, insbesondere mit der faschistisch-hitlerischen »Kluft« unserer Zeitgeschichte zusammenhängt; und daß sein Fehlen die kulturkritische Auseinandersetzung wie das Aufarbeiten der neuen politischen Konflikte gefahrlich belastet.
Die These geht von höchst persönlichen Voraussetzungen aus, von meinem eigenen Erfahrungsbegriffdes »Konservativen«. Ich beziehe mich dabei auf das konservative Milieu meiner Jugend wie auf ihre literarischen Erlebnisse. Aber in der weiteren Folge des Arguments wird sich die Frage nach dem Verfall des hiesigen Konservativismus als Frage an das moralische Gewissen der Nation im weitesten Sinne bestimmen lassen.
Das konservative Milieu, in dem ich aufwuchs, war das des süddeutschen Bildungskatholizismus.
Er war, von Haus aus, ein Konservativismus mit traditionell »alt-großdeutschen« Ober- und Untertönen. Seit den Tagen der Romantik war er dem historischen Erfolg, insbesondere dem deutschen »Erfolg« der Bismarck-Ära gegenüber grundsätzlich mißtraurisch. Dieser Erfolg wurde keineswegs als Kriterium historischer »Richtigkeit« empfunden. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurde er zudem außerordentlich verstärkt durch das sogenannte Renouveau catholique; eine Bewegung, die der »unterlegenen« katholischen Tradition zahlreiche Stimmen höchst artikulationsfähiger Konvertiten hinzufügte.
Kritik am Industriesystem und seinen politischen Organisationsformen war in diesem Milieu gang und gäbe; ich erinnere mich daran, daß etwa Othmar Spann, ein Fürsprecher des Ständestaates, beliebter Autor von Zeitschriften wie <Hochland> und <Schönere Zukunft> war. Sicher, in der Analyse der Fehler der Gesellschaft war er wesentlich radikaler und scharfsichtiger als in der Suche nach tragbaren Alternativen; aber damit stand er ja keineswegs allein.
Hinzu kommt, daß diese kritische christlich-konservative Position (so altmodisch-vormärzlich manche ihrer Argumente auch waren) durch Einflüsse von außen, vor allem aus Frankreich, aber auch aus England sehr an Qualität und Selbstbewußtsein gewann.
Hier sei nur erinnert an die Ideen und die Aussagekraft von Autoren wie Leon Bloy, Charles Peguy, Georges Bernanos — aber auch von Engländern wie G.K. Chesterton.
wikipedia Léon_Bloy wikiquote Leon_Bloy *1846 wikiquote Charles_Péguy *1873
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Die »Heillosigkeit« der Moderne wurde von diesen Autoren in Begriffe gebracht, die einer radikalen linken Kritik sehr nahestanden, ja sie teilweise an Schärfe noch übertrafen.
Was sie jedoch grundsätzlich von der Linken trennte, waren (kurz gefaßt) zwei Punkte — ein methodischer und ein ideologischer, ja religiöser. Der Konservativismus dieser Art hatte aus seinen romantischen Anfängen eine Hypothek übernommen, die wesentlich zu seiner Sterilität und zu seinem späteren Verfall beitragen sollte; die Fixierung auf das Mittelalter, seine normative Verwendung gegen die Moderne. Diese Fixierung sollte allerdings, so meine ich, zwieschlächtig gesehen werden. Sicher erschwerte sie die Erarbeitung brauchbarer politischer Werkzeuge, sicher führte sie oft genug zur Hinnahme antidemokratischer Affekte und zu antidemokratischen Allianzen mit schlicht reaktionären Kräften; andererseits aber bewahrte sie diesen alt-christlichen Konservativismus vor einer Falle, in die der »säkularisierte« Konservativismus rasch genug gehen sollte: vor der Falle der Hinnahme eines unheilvollen Status Quo als einer »heroischen» oder pseudoheroischen Alternative zum sogenannten Fortschritt.
Der zweite grundlegende Unterschied zur »linken« Gesellschaftskritik war das Beharren auf einer gewaltigen metaphysischen Last, die hier vergröbernd und verkürzend als die Last der »Erbsünde« gekennzeichnet sei. Mit einem zweifellos richtigen Instinkt beharrte der christlich-konservative Gesellschaftskritiker von damals, beharrten auch alle die großen christlichen (und speziell die katholischen) Romanciers auf der Erbsünde, also auf einem unvermeidlichen Zustand der Unzulänglichkeit, der Verwirrung und des Bösen. (Einer von ihnen erklärte sogar, wenn die Welt schon die Idee Gottes aufgegeben habe, dann hätte sie wenigstens, wenn sie ehrlich und realistisch bleiben wollte, nicht das Konzept der Erbsünde aufgeben dürfen...)
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So groß die Lähmung auch war und ist, die von einem solchen Bekenntnis ausgehen kann — es bewahrt andererseits vor der irritierenden Sorte fröhlicher Besserwisserei, die so manche »linke« Fortschrittsdoktrin lächerlich und unerträglich macht.
Dies war also der Konservativismus, in dem ich aufwuchs. Natürlich gab es damals, in den zwanziger und dreißiger Jahren, längst auch andere Konservativismen, die dem heutigen Neo-Konservativismus wesentlich näher stehen. Sie schienen mir jedoch reichlich unzulänglich und borniert zu sein, im Vergleich überraschend unrealistisch und kurzatmig (und, ehrlich gesagt, so erscheinen sie mir heute noch). Natürlich ahnte man selbst damals etwas von den speziellen Gefahren dieses alt-christlichen Konservativismus, von dem Beitrag, den er zum Niedergang der ersten deutschen Republik leisten sollte, aber noch klarer war die Unmöglichkeit eines Überganges von diesem Konservativismus in den Faschismus, insbesondere den biologistischen der Nazis.
Besser als Argumente scheinen mir dies Lebensläufe zu illustrieren, etwa der von Georges Bernanos. Der Romancier stand zunächst durchaus der Action Fratifaise des Charles Maurras nahe — eines Denkers, der das Christentum in erster Linie für eine lateinisch-politische Ordnungsmacht hielt — ja sogar den Camelots du Roi, einer rechtsradikalen, antidemokratischen Schlägergruppe. Aber dem folgte ein Konversionserlebnis während des Spanischen Bürgerkrieges, den er auf Mallorca verbrachte — ein Erlebnis, das sich in dem großartigen, antifaschistischen (und antiklerikalistischen!) Buch »Les grands cimetieres sous la lune« niederschlug. (Für den weiteren Gang unseres Arguments wichtig ist es, daß der letzte Titel von Bernanos, den er uns aus Brasilien herüberschickte, »La France contre les robots« lautet. Dieses Frankreich, das Bernanos meint, ist sicher nicht das der nationalen Energiebehörde mit ihrem Super-Phénix...)
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Dieser christ-katholische (und sicherlich auch alt-protestantische) kulturkritische Radikalismus konnte sich als Bildungs-Konservativismus vor dem Hintergrund einer volkstümlichen Restkultur entfalten, — einer Restkultur, für die ich (ohne Anspruch auf methodische Genauigkeit) den Ausdruck »der alte Glaube« verwenden darf. Genauer gesagt wäre wohl »alte Religion«; denn seine Wurzeln reichen in vorgeschichtliche Tiefen zurück. Mit fast allen sogenannten »primitiven« Religionen bzw. Kulturen teilte er ein überraschend einheitliches Weltgefühl, das besonders vom Katholizismus rezipiert und assimiliert wurde, das aber auch in die Tiefenschichten des nord- und osteuropäischen Christentums hineinreicht. Element dieses Weltgefühls ist etwa die Bindung an »heilige Plätze« — Orte mächtiger Verdichtung des Heils, ob es sich dabei um Wallfahrtsorte oder andere geographische bzw. geomantische Punkte der religiösen Mächtigkeit handelte; ist die grundsätzlich anti-eschatologische Ausrichtung der Hoffnung und Heilserwartung, das Vertrauen auf eher magische helfende Gnaden, ist die starke Hinneigung zu Mittlergestalten, die der unbegreiflich großen Gottheit vorgelagert sind, ist insbesondere die starke Präsenz der »Barmherzigen Mutter« und ähnliches.
Hier gibt es keine Entsprechung im »heidnischen« Konservativismus besonders neuerer deutscher Prägung. Sicher, auch die faschistische Barbarei hat vorgeschichtliche Traditionen; aber sie wurden (unter Zuhilfenahme eines beträchtlichen »abendländischen« Perversionspotentials) gewissermaßen im ideologischen Treibhaus zum Wiederausschlagen gebracht. Die Lang- und Zählebigkeit des Alten Glaubens dagegen, die Bildkraft, mit der er sich in das Psychogramm vieler Generationen eingeschrieben hatte, machte ihn zu einer durchaus realen und respektablen Größe, die sehr Vielen noch im Dritten Reich ein Überleben wenn nicht im Widerstand, so doch im Widerstehen gestattete.
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Der Alte Glaube und die radikale kulturkritische Erneuerung; vorgeschichtliche und vor-kritische Volkskultur und metaphysisch orientierte hohe Bildung — sie gingen sonderbare Allianzen ein, befanden sich oft genug im Widerstreit, aber waren vital aufeinander angewiesen. Gerade aus dem Werk der Dichter und Romanciers ist diese vitale Verbindung auf Schritt und Tritt nachzuweisen.
Meine beiden Thesen lauten nun:
Diese ambivalente, aber vitale Welt des radikalen christlichen Konservativismus ging in Deutschland unter wie nirgends sonst — undErstens:
Zweitens: Sie allein, von allen heute noch denkbaren Konservativismen, wäre imstande gewesen, eine Traditions-Brücke für die neu heraufkommende Welt und ihre notwendigerweise radikal anderen Werte zu bilden. (All dies ist, nebenbei, ohne Nostalgie gesagt. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen.)
Der erste, eigentlich schon der tödliche Schlag wurde natürlich vom Nationalsozialismus geführt. Es war ein Doppelschlag — wie es der Ambivalenz, der Zwieschlächtigkeit dieses christlichen Konservativismus in einer formaldemokratischen Zwischenzeit entsprach. Zweifellos war das System mit Hilfe konservativer Instinkte zur Macht gelangt. Es hatte nicht nur vom Liebesentzug konservativer Kreise gegenüber der Weimarer Republik profitiert, es hatte sich direkt und indirekt an der inflationären Erzeugung sogenannter konservativer Schlagworte kräftig beteiligt. Volk, Blut und Boden, Führerprinzip, gegen Schmutz und Schund — man kennt das. Der Biologismus oder Vulgär-Darwinismus Hitlers, die deutsche Sonderausprägung des europäischen Faschismus, hatte sogar Elemente ökologischer Zivilisationskritik in stattlicher Menge vorweggenommen. Der christliche Konservativismus kulturkritischen Geistes befand sich diesem Ansturm gegenüber in ziemlich hilfloser Lage.
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Neben dieser Inflation konservativer Schlagwörter aber lief die eigentliche NS-Praxis — sozusagen der real existierende Faschismus. Es war dies eine sattsam bekannte, sattsam erörterte technokratische, zentralisierende, nivellierende Praxis. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß diese Praxis des real existierenden Nazismus niemand härter traf als eben den Konservativismus alter Art. Marxisten, ja selbst Liberale jeder Couleur mögen sich noch damit trösten oder mochten sich damit trösten, daß Hitler und die Seinen in dieser Praxis Vollstrecker des Weltgeistes, des Fortschritts, der historischen Dialektik waren — für den wirklich christlichen Konservativen alter Art war solcher Trost nicht verfügbar, ja schlechthin hohnvoll. In der Realität des NS-Regimes offenbarte sich ihm nicht nur die Fratze des gottfernen Säkulums, sondern auch noch die der längst überwunden geglaubten Barbarei — und zwar der gebetsunfähigen Barbarei. (Ein Blick in zeitgeschichtliche Dokumente wie etwa die »Nachtbücher« von Theodor Haecker, dem kulturkritischen Philosophen und Essayisten, genügt, um die Tiefe dieses Entsetzens auch heute noch zu erleben.)
Vollendet wurde dieses Todesschicksal des radikalen christlichkonservativen Geistes aber erst in der Nachkriegszeit, in der Bundesrepublik.
Hier stoßen wir auf eines der gleichzeitig logischsten und sonderbarsten Entwicklungen deutschen konservativen Geistes. Denn zunächst, in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, war ja dieser alte, gebildete christlich-katholische Konservativismus etwas höchst Willkommenes. Er war willkommen als ein vorzeigbares Hauptbuch der Leidenden und der Märtyrer, und er war willkommen als Beweis dafür, daß das »Andere Deutschland«, das Deutschland der
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Guten und Anständigen, eben nicht nur aus Linken bestand. Wer die Erinnerungen von etwa Vierzig- bis Fünfzigjährigen an die unmittelbaren Nachkriegsjahre kennt, der weiß, mit welch lächerlichem (und kontraproduktivem) Fleiß damals in den Schulen Autoren wie Bergengruen, Gertrud von le Fort, Rudolf Alexander Schröder usw. gelesen wurden. Diese Alibi-Funktion sorgte noch gründlicher als die Wandlung des literarischen Geschmacks für baldige Vergessenheiten.
Aktiv in die Gestaltung der Nachkriegsverhältnisse konnte dieser Konservativismus nicht mehr eingreifen (mit wenigen Ausnahmen, wie wir sehen werden). Er konnte es schon deshalb nicht, weil sein ernstestes Credo, das Credo von der Sünde angesichts der Ereignisse von 1933 bis 1945 zu einer ständigen unerträglichen Belastung des christlichen juste milieu werden mußte. An die Stelle solcher unerträglicher Belastung trat eine sehr praktische und glückliche Projektion: der Antikommunismus. Mit ihm war der Schwarze Peter, der Gottseibeiuns, den man am Kriegsende in der Hand gehabt hatte, aufs Schnellste in eine andere Welt- und Geistesregion weitergeschoben, und man konnte sich völlig dem widmen, was nun auf der historischen Tagesordnung stand: dem Aufstieg der neuen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Koalition.
Diese Koalition hatte es in deutschen Landen bisher noch nie gegeben. Es war eine Koalition des Geldes, der Technik und der Profitwirtschaft mit den mächtigen Parteimaschinen Bayerns und des Rheinlands. Solche Tatsachen in einer Konservativismus-Diskussion zu erwähnen, mag grobschlächtig wirken; es ist jedoch notwendig, weil diese neue Koalition ohne merkbare Theorie auskam und ohne eine solche die Geschicke des größeren Teiles der Nation übernahm und entwickelte. Historiker, mit denen man über das Problem spricht, sind über die methodische Einzigartigkeit des Problems noch kaum gstolpert: so gut wie
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keine flankierende Theorie-Literatur für diese Koalition läßt sich auffinden. Alle Nachholversuche (etwa die famose Theorie der Formierten Gesellschaft unter Ludwig Erhard oder die Bemühungen des dominikanischen Zentrums Walberberg) tragen unverkennbar den Stempel verzweifelten Nachholbedarfs.
Hier läuft ein Graben durch die deutsche Sozial- und Geistesgeschichte, über den sich nach wie vor Schweigen wölbt. Das Gleiche gilt für die Reste des Alten Glaubens, den der Nationalsozialismus noch übrig ließ. Sie können notdürftig rekonstruiert werden aus Versuchen der Restauration, wie sie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren etwa in den Redaktionen des neuen Abendlands in Augsburg oder den ersten Schritten des rheinischen MERKUR stattfanden. (Heute sind sie, als Gespensterrelikte, in subkulturellen Erscheinungen wie der Fatima-Religiosität und den Briefspalten der Kirchenzeitungen vorzufinden.) Dennoch: dieser Konservativismus hatte seine Abendröte — und es war eine Abendröte von bewegender Intensität. Ihre Leuchtkraft war noch zu spüren in der Debatte um die (west)deutsche Wiederbewaffnung. Lassen wir hier wieder eine Biographie für sich selbst sprechen, eine Persönlichkeit (wie es ja legitime konservative Methode sein muß): die Persönlichkeit Reinhold Schneiders.
Dieser Mann, sozusagen eine Samisdat-Figur der Nazi-Zeit, von unbekannten Zehntausend heimlich gelesen und heimlich verehrt, zog mit besonderer Konsequenz die Konsequenzen — nämlich die Konsequenzen, die sich für den christlichen Konservativismus alter Art aus den Tatsachen von 1945 und dem Aufstieg der Adenauer-Koalition ergeben mußten. Er trat ohne Zögern gegen die Wiederbewaffnung auf, er sah darin einen Verrat an den Aufgaben, die sich aus der Niederlage ergeben hatten. Mir ist noch lebhaft im Gedächtnis, wie mit ihm verfahren wurde: seine Botschaft an den Bundestag, in der er die ethische Not-
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wendigkeit der Waffenlosigkeit beschwor, wurde noch stehend angehört — aber dann schritt man, bei aller äußeren Verehrung, zur effektiven Ehrabschneidung. Nicht nur in der stets zu allem fähigen kirchlichen Schmutzpresse, sondern auch in sogenannten seriösen Zeitschriften (»Medien« sagte man damals noch nicht) wurde er mehr oder weniger als ein durch schwere Krankheit geistig Behinderter dargestellt.
Entscheidend ist, daß sich für seine Sache weder eine Kraft der alten Glaubensstruktur noch eine neue Koalition (etwa unabhängiger Linker mit echten Konservativen) als Verbündeter anbot. Dies war sozusagen die Nagelprobe. Eine Nagelprobe, die dann auch politisch mit dem Scheitern der Heinemann-Partei entsprechend konkrete Folgen hatte. Alle diese Oppositionellen (zu denen, als Mitbegründer der GVP, auch der Verfasser gehörte) hatten den typisch intellektuellen Schluß gezogen, daß die offensichtliche Theoriewüste der Adenauer-Koalition auch eine entsprechende politische Schwäche nach sich ziehen müßte. Wir sind belehrt.
Der letzte organisierte Versuch, alten, metaphysisch orientierten christlichen Konservativismus auf unsere deutschen Verhältnisse anzuwenden, war meines Wissens eine Gruppe, welche Anfang der sechziger Jahre die Zeitschrift <Das Labyrinth> ins Leben rief. An diesem Unternehmen (man muß schon sagen diesem Abenteuer) waren Werner von Trott zu Solz, Walter Warnach, HAP Grieshaber und (keineswegs überraschend) Heinrich Böll beteiligt. Die sechs Nummern des LABYRINTH (auf mehr kam das Unternehmen nicht) besitzen heute beträchtlichen Sammlerwert. Ihr Gedankengut läßt sich jedoch rekonstruieren — und zwar aus den bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Aufsatzsammlungen Heinrich Bölls und aus einem Sammelband der Essays von Walter Warnach, die unter dem Titel <Wege im Labyrinth> im Neske-Verlag vorliegen.
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Der Schlüsselbegriff dieses Versuchs ist, so scheint mir, in einem Titel von Walter Warnach formuliert: <Die verlorene Niederlage>. Sie wäre, so Warnach, kein Verlust, sondern ein Gewinn gewesen, wäre sie freiwillig als Last, als metaphysische Last nach 1945 übernommen worden.
Eine solche Übernahme hätte (das zeigt schon das Beispiel Reinhold Schneiders) die radikalsten Folgen für unseren Lebenszuschnitt, für unsere Innen- und Außenpolitik, für unser Staats- und Geschichtsverständnis gehabt. Bei der weiter fortgeschrittenen Zersetzung sowohl der Strukturen des Alten Glaubens wie auch der alten konservativen christlichen Bewußtseins-Formationen war für ein solches »Programm« in den frühen sechziger Jahren natürlich noch weniger Aussicht als in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Dennoch (oder gerade deshalb) lohnt es sich, ein wenig bei den genannten Aufsätzen von Walter Warnach zu verweilen. Denn mit ihnen nähern wir uns dem Übergang zu unserer zweiten Behauptung. Wie ungemein aktuell seine Gedankengänge auch heute (gerade heute) fruchtbar gemacht werden könnten, dafür diene als Beweis ein Abschnitt, der dem Aufsatz <Die babylonische Gefangenschaft der Natur> entnommen wurde. (Betont sei, daß er 1961 im <Labyrinth> erschien.)
»Die Deutschen werden noch einmal gute Argumente haben, ihre Flucht, ihre vielleicht endgültige Flucht aus der Geschichte zu rechtfertigen: Wer sich im äußersten Notstand befindet, ... ist damit der Pflicht enthoben, auf höhere Weisungen zu achten, solange nicht den Erfordernissen der nackten Selbsterhaltung Genüge getan ist ... Fragt sich nur, was uns Deutschen unterdes alles lebensnotwendig geworden ist, und ob wir nicht durch ein immer größeres Aufgebot von Lebensnotwendigkeiten das Leben selbst, das Abenteuer des Lebens mit seinen reichen, gefahrenreichen Möglichkeiten, auch der opfervollen Möglichkeit, wieder Deutsche zu sein, ausschließen.
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Die Sachlichkeit, mit der man zu Werke geht, sollte Verdacht erregen, eben die Sachlichkeit, auf die man sich etwas zugute hält und die man sich gerne von allzu vertrauensseligen Theologen als Demut — DIEN-MUT — bescheinigen läßt. Sie mag eine Not sein, weil im unerbittlichen Funktionsgefüge unserer arbeitsteiligen Welt jeder Nebengedanke, jedes an der Sache, d.h. hier an der eigenen Funktion Vorbeidenken, Darüberhinausdenken unmittelbar die Vernichtung zur Folge haben kann. Daraus aber eine Tugend zu machen — und gar noch eine christliche Tugend — ist eine Verkehrung, die uns anzeigt, wie fremd uns diese Tugend geworden ist... Nur der Kleinmut hat die Deutschen hüben wie drüben in die Ordnungsformen getrieben, die sie ebenso zuverlässig gegen den Andrang der Natur wie gegen den Anspruch der Geschichte schirmen...«
Und einen Abschnitt später schließt Warnach dieses Kapitel des Aufsatzes von 1961 mit der visionären Behauptung:
»Der Kleinmut hat die Erde stumm gemacht, allenthalben, wo man aus dem Wagnis der Bestimmung in die Sicherheit einer menschengesetzten Ordnung geflohen ist. Die Naturfülle ... geriet in Knechtschaft jener auf Verrat aufgebauten Menschenordnungen ... Und immer mehr Quellen versiegten. Wird der Kleinmut eines Tages mit der Natur selbst zu Ende kommen? Die planetarische Zurüstung der gegenwärtigen Systeme schließt diese Möglichkeit nicht mehr aus.«
Man vergleiche diesen Text etwa mit dem einzigen, subjektiv ehrlichen konservativen Versuch, der ökologischen Krise hierzulande beizukommen — dem Buch <Ein Planet wird geplündert> von Herbert Gruhl. Es wäre unfair, hier über literarische Niveau-Unterschiede zu sprechen — um sie kann es auch gar nicht gehen. Was zählt, ist der grimmige Kleinmut, der Gruhls konservativen Ansatz beherrscht — ein Kleinmut, mit dem er ausgerechnet dem Kleinmut der Adenauer-Partei beizukommen hoffte, der er angehörte.
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Die Vernichtung der Natur nicht auf Hybris, sondern auf Kleinmut (im Sinne einer christlichen Un-Tugend) zurückzuführen, das ist ein Geniestreich, der zeigt, wie fruchtbar dieser, aus dem alten christlichen Konservativismus abgeleitete Ansatz heute werden könnte — oder hätte werden können.
In der Verknüpfung der deutschen Frage mit dem Problem der Natur-Vernichtung spricht Warnach außerdem ein Thema an, das in der überbeachteten (und, jedenfalls vom Ausland, überbefürchteten) möglichen Renaissance eines deutschen »Nationalismus« in der grün-alternativen Bewegung verspätete Aktualität zu finden scheint.
(Der marxistische Renegat Rudolf Bahro scheint dafür mehr Sensibilität zu entwickeln als so mancher wackere Halb-Linke oder K-Linke in der heutigen GRÜNEN-Szene...)
Aber wir greifen vor.
Stellen wir noch einmal fest: dieser Konservativismus ist in Westdeutschland untergegangen wie nirgends sonst, untergegangen durch eine nüchterne Liquidation, die niemand sonst, keine Linke, kein Liberalismus, kein Diktat der Sieger hätte erledigen können — der nüchterne Alte von Rhöndorf und seine Koalition allein konnten es.
Der letzte Test dafür war das Ende der Vorstellung vom Engel der Nation. Dieses Bild des Engels kehrt bei Warnach wieder — übrigens im Gefolge der Dichterin Gertrud von le Fort. Der Engel der Nation ist, wenn man will, die theologisch gewendete Überzeugung von mehreren hundert Jahren europäischer Geschichte — der Überzeugung nämlich, daß das Entstehen der Nationen einer »Enthüllung«, einer Entfaltung ihrer ursprünglich angelegten Einheit und Bestimmung ist.
Dieser Bestimmung zu folgen, wäre nach Warnach und seinen Freunden die nationale Bestimmung kat' exochen gewesen; wobei dies natürlich das genaue Gegenteil des platten wilhelminischen Imperialismus, nämlich
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die Übernahme der ganzen historischen Last der Niederlage gewesen wäre — der Versuch, sich der Verpflichtung zur Einheit als einer Verpflichtung zur Sühne zu stellen.
Hätte dieser Weg überhaupt beschritten weden dürfen?
Es ist müßig darüber zu spekulieren. Er ist nicht beschritten worden, das ist alles. 1961, das Jahr, in dem Warnach seinen Aufsatz schrieb, war das Jahr des Mauerbaus. Und dieses Jahr besiegelte sowohl Ulbrichts wie Adenauers Vermutung, daß der deutsche »Engel« tot ist — jedenfalls in der Tiefkühltruhe der Geschichte liegt.
Statt dessen trat in dieser Republik und anderswo ein anderer Konservativismus in den Vordergrund — auch er nicht ohne Tradition, keineswegs. Es war der »heidnische«, der »säkularisierte« Zweig der konservativen Traditon deutscher Herkunft. (Selbstverständlich geht es hier nicht darum, saubere Grenzen zwischen sauberen theologisch-philosophischen Kategorien zu ziehen — das Folgende wird deutlich genug zeigen, was gemeint ist.) Ausgerechnet dieser Konservativismus, der geistesgeschichtlich viel enger mit dem Aufstieg des Faschismus verknüpft war (man denke an Namen wie Moeller van den Brück, an den »TAT«-Kreis, an die epigonale Nietzsche-Rezeption usw.), verstand sich eine wenn auch kleine Plattform in der deutschen Nachkriegs-Szenerie zu sichern, von der aus er in unserem Dezennium wieder zu (möglicherweise trügerischem) Geländegewinn auszieht.
Möglich wurde dies durch sein teilweises, ja oft vorbehaltloses Eingehen auf die politisch-gesellschaftliche Realität, die von der neuen Koalition geschaffen oder doch gefestigt wurde. Gekennzeichnet ist dieses Eingehen durch einen etwas kahlen Empirizismus, der zu einer seltsam freudlosen, aber positiven Bewertung der Schönen Neuen Welt des Pragmatismus der Adenauer-Ära führte. In der Form des Arbeits-Ethos, der »Sachzwänge« einer nur noch funktionierenden Welt glaubte man die letzten möglichen Bastionen einer wie immer konservativen Weltordnung zu erkennen. (Auf diese Sorte von »Dien-Mut« spielt auch Walter Warnach an — siehe oben.)
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Diese freudlose Akzeptanz vollzog sich natürlich nicht von heute auf morgen — es ist in solchem Zusammenhang vielleicht interessant, auf einen ehernen Satz Arnold Gehlens einzugehen: »Europa schnallt ab«. Dieser Satz hätte auch von einem der großen katholischen Franzosen stammen können — aber in welch anderen Zusammenhängen! Für jemand wie Bernanos etwa bestand dieses »Abschnallen« ja in nichts anderem als in der nüchternen, mehr oder weniger zynischen Hingabe an die Schöne Neue Welt, im Verlust des Bewußtseins von der metaphysischen Last — der Last also, die für den »heidnischen« Konservativismus längst zum lästigen Gepäck, ja zum eigentlichen Gegner geworden war.
Mehr oder weniger mürrisch, mehr oder weniger positivistisch nahm so der gängige »säkularisierte« Konservativismus eine Menge Gedankengut und vor allem eine Menge Stimmungen in sich auf, die bislang als Ausrüstung, Signa und sogar Ärgernisse des liberalen, progressiven, modernitätsbewußten Gegners gegolten hatten. Es entstand jener Neo-Konservativismus, wie ihn bereits Jürgen Habermas in seinem MERKUR-Aufsatz vom November 1982 beschrieben hat, und wie ihn ein Workshop seines Instituts im Winter 1982/83 erarbeitete.
Dieser Neo-Konservativismus übernimmt die Aufgabe, die Technokratie, den Parlamentarismus, die gemäßigte Meinungsfreiheit, das Funktionieren der Zivilisationsmaschine gegen alles zu verteidigen, was nach grundsätzlicher Veränderung aussieht oder aussehen könnte — und so gerät dieser Konservativismus, wohl ziemlich unversehens, in Frontstellung gegen die emporsteigende ökologische und alternativ-kulturkritische Perspektive. (Schon vor einigen Jahren hat dies Hermann Lübbe, offensichtlich einigermaßen verblüfft darüber, als Versäumnis des Konservativismus beklagt, und Gert Klaus Kaltenbrunner hat versucht, dieses Paradox zu heilen — mit wenig Erfolg.)
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Aber damit sind wir endgültig bei der zweiten These angelangt: der These, daß ein kulturkritisch orientierter christlicher Konservativismus wesentlich legitimer an die neuen Strömungen angeschlossen, ja daß er sie wesentlich mitbestimmt und verstärkt hätte.
Der Konjunktiv bzw. der Irrealis dieser These ist eigentlich falsch. Der alte radikal-christliche Konservativismus hat nicht nur den Aufstieg, sondern schon die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen und Strömungen mitbewirkt — aber auf dem Umweg über die internationale Szene, nicht in Deutschland selbst.
Es bedarf keines großen Aufwands, um diese These zu erhärten. Ich möchte mich mit dem kurzen Hinweis auf drei Biographien begnügen, die einen Begriff von der Weite und der Wirksamkeit dieser Tradition innerhalb des neu Aufsteigenden vermitteln.
Der Priester Ivan Illich, österreichisch-kroatischer Herkunft, tritt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit als praktischer Missionar in Lateinamerika. Er stößt dabei auf die Probleme der Entwicklung, die er rasch als Probleme der kulturellen Enteignung im weitesten Sinne zu identifizieren lernt. Er revolutioniert den missionarischen Ansatz, über den er zur radikalsten Kulturkritik des Jahrhunderts kommt.
An eminent konkreten Beispielen (Verkehr, Gesundheit, Verschulung) demonstriert er die Homogenisierung der Welt, eine Homogenisierung, die er als Auslieferung an eine materielle, industrielle, kulturelle Technokratie mit bioziden, ethnoziden, omniziden Folgen entlarvt. Die Rezeption seiner Ideen in der Bundesrepublik war verspätet und von hohnvollen Kommentaren der »linksliberalen« wie der »konservativen« Kritik begleitet. Dies konnte nicht verhindern, daß sein Ansatz heute aus der Geschichte der neuen Bewegungen nicht mehr wegzudenken ist. (Ein logisches Nebenprodukt war dabei sein Konflikt mit dem kurialen Rom.)
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Ernst Friedrich Schumacher, zunächst ein zünftiger Ökonomist, deutsch-britischer Manager des britischen »National Coal Board«, engagierte sich in den Fragen der Entwicklungshilfe und gelangte über seine Erkenntnisse in der Dritten Welt, vor allem in Burma, zu seinen berühmten Thesen, die die Welt unter dem Slogan »small is beautiful« wenn nicht begriffen, so doch diskutieren gelernt hat. Auch er stand zunächst dem christlichen Erbe höchst kritisch gegenüber, konvertierte aber später zum Katholizismus, und sein letztes Buch »Rat für die Ratlosen« (Rowohlt 1979) liest sich fast wie ein neo-scholastisches Kompendium. Seine Totenfeier war in England so etwas wie ein nationales Ereignis; unter den Gralshütern der wissenschaftlichen deutschen Linken gilt er jedoch als Reaktionär.
Ein letztes, vielleicht das überraschendste Beispiel.
Ein Gentleman irischer Abstammung aus dem amerikanischen Mittelwesten wurde von deutschen Benediktinern in einem College erzogen, das sehr stark vom Geist der Laacher Liturgischen Bewegung geprägt war. Als jungverheirateter Mann zog er mit seiner Frau aufs Land, entschlossen, im Geist des Gebets das Land zu bebauen. Später ging er in die Politik und gründete zusammen mit einem anderen Bürger Minnesotas, H. H. Humphrey, die Independent Farmer Labor Party. In ihr wirkten Elemente des alten mittelwestlichen Populismus nach, theoretisch verstärkt durch Ideen jenes christlich bestimmten Distributismus, für den G. K. Chesterton im England des frühen 20. Jahrhunderts gekämpft hatte.
Der Name des Politikers ist Eugene McCarthy. Dieser Eugene McCarthy wurde, als Bannerträger des Widerstandes gegen den Vietnam-Krieg, zum politischen Helden der radikalen amerikanischen Jugend. In der epischen demokratischen Wahl-Konvention von 1968 in Chicago
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ließen sich diese jungen Menschen von den Schläger-Kolonnen des reaktionären Bürgermeisters Daley zusammenknüppeln — es war dies die erste große Konfrontation neueren Stils, wie wir sie heute bei uns von Wyhl, Brokdorf und Frankfurt-West kennen.
Auf der Oberfläche der reinen Politik war diese biographische Verknüpfung eines thomistisch-katholisch erzogenen Gentleman mit den Bataillonen der radikalen Jugend möglicherweise das folgenschwerste Ereignis für die Innenpolitik der westlich-industrialisierten Länder. Diese Jugend, organisiert etwa im amerikanischen Studentenbund, dem SDS, brachte zusammen mit dem Anti-Kriegs-Protest die ökologische Perspektive kämpferisch in die Politik ein. Von dort erst ist sie dann, mit dem ganzen bunten Schweif der neuen sozialen Bewegungen, nach Europa und insbesondere nach Deutschland zurückgeschwappt. Das ÖKO-PAX-Muster der neuen, parlamentarischen wie außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik entspricht ziemlich genau dieser amerikanischen Modellsituation von 1968.
Damit sind wir bei der Frage angelangt, ob und wie, nach dem Scheitern der Adenauer-Koalition der Nachkriegszeit (auf der letzten Endes die bundesdeutsche Politik noch heute basiert), ein Konservativismus alter, kulturkritischer Art wieder in die deutsche Diskussion oder den deutschen Kontext eingebracht werden könnte. Ansätze dazu sind vorhanden.
Innerhalb der GRÜNEN ist der Mann, der hier am weitesten denkt, Rudolf Bahro. (Ob die Schlußfolgerungen, die er für die politische Praxis zieht, immer richtig sind, ist eine andere Frage.) Für ihn ist die Einengung der neuen Opposition auf links-sozialistische Perspektiven — eine Einengung, die nicht zuletzt von den K-Gruppen-Resten bei den GRÜNEN verursacht wird — unzulässig; sie wäre, angesichts des Aufstiegs gänzlich neuer, teilweise aber konservativ übermittelter Fragestellungen, ein Verlust an Zeit und Energie.
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Dabei ist Bahros Einstellung zu globalen Fragen wie der Weltarmut, der europäischen und deutschen Teilung usw. nicht zu übersehen: hier tauchen bei ihm Gedanken und Gefühle auf, die nicht nur von ferne an Walter Warnach erinnern. (Statt der metaphysischen Erblast, die zum »Gewinnen der Niederlage« führen könnte, steht bei ihm die vorbehaltlose Solidarität mit der Weltarmut und die dadurch entstehende Gegnerschaft zu den Supermächten.)
Der Kreis um den <Freibeuter> in Berlin (Verlag Wagenbach) ist schon seit Jahren auf dem langen Marsch in neues politisches Gelände. Hier hat sich längst der Verdacht zusammengebraut, daß hinter der winzigkleinen »Wende« von 1982/83, ihren Ingenieuren oder besser Klempnern kaum bewußt, eine größere Wende steckt — eine Wende, die Mißtrauen gegen den Fortschritt, gegen die bisherige Form des Sozialstaats, gegen Zentralen und Zentrismen im weitesten Sinne umfaßt.
Worum es, im Lichte der Traditionen des christlich-kulturkritischen Konservativismus (die als solche nicht wiederherzustellen sind), gehen muß, das ist der Kampf gegen eine erneute »Kurzschließung« konservativer Theorie und Praxis. Wieder ist es nicht nur vorstellbar, sondern wahrscheinlich, daß sich neokonservative Schlauheit ohne grundsätzliche Umwälzungen, ohne die nötige Metanoia mit Hilfe einer geschickt komponierten Palette von Aushilfen ans Werk macht, um diese Stimmung hinter der »Wende« auszunützen.
Die alte populistische Geschmeidigkeit des politischen Katholizismus könnte sich dabei mit den Sorgen des konservativen Naturgefühls, mit nie ganz behobenen Ressentiments aus dem »Industrieschock« des 19. Jahrhunderts, mit »umweltfreundlichen« Elementen der neuen industriellen Revolution und ihrer Nutznießer verbünden. Dies wäre, so hoffe ich klargemacht zu haben, die Fortsetzung, ja die Wiedererweckung der alten Adenauer-Koalition im gesellschaftlichen Bereich. Es wäre der (wieder mehr oder weniger geglückte) Versuch, eine noch Schönere Neue Welt ohne große Einstandskosten, unter Verdrängung der eigenen kausalen wie moralischen Schuld an den Zuständen, unter Beibehaltung der alten Macht- und Einflußverhältnisse hinzukriegen.
Es liegt also nach wie vor an der Linken, ob es ihr gelingen wird, diese Wunde offenzuhalten. Es liegt an ihr, ob sie es fertigbringen wird, mit den Erben der alten großen Kulturkritik ein sinnvolles, die Zukunft wahrhaftig vorbereitendes Bündnis zu schließen. Ein solches Bündnis wird nicht einfach sein — aber es wäre geeignet, einer suchenden Generation etwas zurückzugeben, was ihr von zwei schuldbeladenen deutschen Elterngenerationen mehr oder weniger systematisch verweigert wurde: einen Weg in die Zukunft, der zugleich ein Weg der Erhellung der Vergangenheit ist.
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