3. Rachel, Lea, & der deutsche Schweinehund
Amery-1981
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Kritik an der Sozialdemokratie; kritische Einschätzung; Forderungen, Hoffnungen und Enttäuschungen: ein dickes Paket. Das will aufgeschnürt sein. Und vor allem: das erfordert Ehrlichkeit. Ich bin 1974 aus der SPD ausgetreten, der Grund oder die Gründe sollen anschließend erörtert werden.
Aber zuerst gilt es zu gestehen — oder einfach festzustellen —, daß es den meisten anderen Genossen, mit gleicher Motivation und gleicher Wut im Bauch, nicht so leicht gefallen wäre. Ich war 1967 eingetreten, um bei der Demontage der Großen Koalition zu helfen, ich hatte also genau sieben Jahre gedient in der SPD, wie der junge Jakob um die schöne Rachel. Ich bekam, wie er, die falsche Frau ins Bett gelegt. Aber hätten andere Genossen nur die Triefaugen der Lea gesehen? Wohl nicht. Sie hätten sich, wie weiland der Patriarch, zunächst einmal mit den Eigenschaften der weniger schönen Schwester zufriedengegeben, sie hätten sich an die nächsten sieben Dienstjahre gemacht, um sich doch noch der Erfüllung ihrer Verheißungen zu nähern — wenigstens zu nähern.
Jakob war, zuguterletzt, dem Herrn wohlgefällig — seinem Herrn. Ich zweifle daran, ob ich darauf noch Wert lege. Übersetzt: ich fühle mich nicht wirklich beraubt, wenn ich eine politische Nachbarschaft verlasse. Ich habe darin Übung: von Gustav Heinemanns und Helene Wessels Notgemeinschaft über die GVP und die Bewegung Kampf dem Atomtod und den Ostermarsch bis, wie gesagt, zur SPD Willy Brandts. All diese Abschiede waren nicht existenziell zerreißend, waren nicht Verluste von großen Lieben. (Das ging längst voraus, das war älter. Was da riß, ist auch bei Heinrich Böll nachzulesen. Wer, wie wir beide, unter den rufenden Glockentürmen aufgewachsen ist, und wem das im Dritten Reich Halt und Stütze war — der ist, milde gesagt, nicht mehr der Allerloyalste für alle künftigen Stallgefährten. Er kann es nicht mehr sein.)
Wie die Loyalität, so waren auch Wut und Schmerz geringer. Spätestens seit der Atomtod-Kampagne, frühestens seit der Paulskirchen-Bewegung hatte sich das vertraute Muster herausgebildet: bürgerliche »Dissidenten«, Gewissenstäter, machten Front und Lärm, eine im Mißerfolg längst heimische SPD robbte sich von links heran, beschnupperte uns, verleibte uns ein, um uns, nach einer fast exakt zu berechnenden Zeitspanne, nach links als linksverdächtiges Gewölle auszuscheiden. (Und was das hieß in der Adenauer-Zeit, ist bekannt: links von der SPD lag das politische Feld nur voller Totengebein.)
Es erschütterte uns nicht oder kaum mehr. Das übte, bis zu einem gewissen Grade, sogar ein. Politische Koalitionen werden immer ad hoc geschlossen, das wußte ich spätestens seit dem Kriegsgefangenenlager, wo ich gelernt hatte, was eine Koalition ist. (Es ging damals darum, den Nazi-Terror in den Baracken zu neutralisieren.) Und dabei wird es wohl auch in Zukunft bleiben, Koalitionen sind Zweckbündnisse.
So war denn auch mein Eintritt in die SPD berechnet. Er fiel in die Zeit der Großen Koalition, wie oben erwähnt, und er hatte den Sinn, einen Zustand beenden zu helfen, den ich beendet haben wollte. Es schien mir, gerade auch aufgrund bisheriger negativer Erfahrungen, sinnvoll, innerhalb der SPD darauf hinzuwirken. Die Ereignisse gaben (selten genug!) diesem Entschluß recht; und vielleicht waren wir, die »bürgerlichen Dissidenten«, deshalb wieder zu euphorisch, als die Ära Brandt ausbrach — wurden, wider alle Erfahrung, wieder Dienende um Rachel. Ganz nach Schema ging das auch wieder nicht. Ich war jetzt Parteigenosse, aber mit eigener Botschaft. Seit etwa 1970 reiste ich für die SPD als Ein-Mann-Initiative in Sachen Ökologie. (Damit war ich ein, zwei Jahre eher dran als die Meisten.)
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Zur bayerischen Landtagswahl 1970 und zur Bundestagswahl 1972. Ich setzte auf die Offenheit, die damals in der Diskussion herrschte; ich betonte, daß meine Dnnglichkeitsliste wohl (noch) nicht die der Partei sei, daß ich jedoch auf die Lernfähigkeit der Koalition aus SPD und FDP vertraue.
Man vergesse das damalige Klima nicht. Der Wirtschaftsmotor brummte, es war die Zeit der Lebensqualität. Obendrauf auf unsere tollen wirtschaftlichen Leistungen würden wir, so schien es, auch noch mehr Demokratie, auch noch mehr Lebensqualität, auch noch mehr blauen Himmel bekommen. War das eine Fehleinschätzung? Es war eine Einschätzung, die jedenfalls beim ersten Eishauch der Rezession verwelkte. War sie vermeidbar, die Fehleinschätzung? Oder, andersherum: war es vermeidbar, daß die SPD dem massierten Druck aus dem Wachstumslager nachgab, daß die kleine ökologische Planke, die wir 1972 in die Wahlkampf-Plattform genagelt hatten, bereits 1974 von den Klauenhämmern der Rezessionspragmatiker wieder herausgefetzt wurde?
Das Signal war 1974 Epplers Sturz. (Er selbst wehrt sich gegen diese Bezeichnung, ich finde sie richtig.) Ich habe seinen Abschied vom Entwicklungsministerium, wie es damals noch unschuldig hieß, aus Gründen alter Verbundenheit bedauert; entscheidend für meinen Entschluß, die SPD deshalb zu verlassen, waren sachliche Begleiterscheinungen. Mit Epplers Sturz starb z.B. auch ein kleines Institut für angepaßte Technologie; starb, mit anderen Worten, die Möglichkeit einer ökologisch orientierten Methode gerade an dem politischen Punkt, wo sie am wichtigsten gewesen wäre.
Mit anderen Worten: es liegt eine systematische Sperre gegen sie vor. Umweltschutz, Lebensqualität oder wie immer die Formeln heißen mögen: sie sind alle Schönwetter-Begriffe.
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Sie sorgen dafür, daß sich die grundsätzlichen Prioritäten nicht ändern. Wird das Wetter schlechter — und zwar genau aus den Gründen, die der ökologistischen Analyse weitgehend bekannt sind! —, schwenkt der Kanalarbeiter aus dem Wetterhäuschen, auf dessen Regenschirm die Parolen »Vollbeschäftigung«, »Konjunkturbelebung«, »Lebensstandard« stehen. Es geht darum, ob und wie in einer solchen Konstellation die Sache der alternativen und bewohnbaren Zukunft überhaupt je mehrheitsfähig werden kann. Dies ist der grundsätzliche Zweifel, der dafür sorgt, daß sich ein besorgniserregend großer und nachdenklicher Teil der Jugend aus der SPD entfernt hat und weiter entfernt.
Aber dahinter steckt wohl (leider und zu unser aller Leid) mehr als nur der ökologische Anlaß — so wichtig und entscheidend er ist für uns und unsere Kinder. Dahinter steckt eine Malaise; eine deutsche Malaise und eine spezielle SPD-Malaise. Die Spießer und gerade die akademischen Spießer würden es das »gebrochene Verhältnis zur Macht« nennen — gut, man kann's so nennen, wenn man schon ganz bestimmte Ansichten darüber hat, was Macht ist, und wem sie zusteht. Gehen wir's noch einfacher an. Ich möchte ganz einfach die Irritation beschreiben, die mir beim durchschnittlichen Benehmen der SPD seit Jahren, seit Jahrzehnten durch den Kopf und über die Haut geht. Ich merke, bei genauer Analyse, daß es eine sehr ungerechte und unfaire Irritation ist, aber eine, die nun einmal da ist und mit der ich rechnen muß.
Es gibt Leute, die von Hunden gebissen werden, und solche, die nicht gebissen werden. Die Parteilichkeit der Hunde ist dabei sehr geheimnisvoll; nicht geheimnisvoll ist der rein physische Unterschied, der zwischen den beiden Kategorien, den Bißopfern und den Immunen, besteht — es ist ein Unterschied im Geruch. Die Beißbaren riechen anders als die Un-Beißbaren — riechen nach Angst, nach Ergebung, nach dem Von-vorn-herein-Einkalkulieren der Katastrophe. Die Anderen, die Nicht-Beißbaren, riechen nach Selbstsicherheit.
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Der Hund, um den es sich dabei handelt, ist natürlich der deutsche Schweinehund, der Hunne, der Boche — wie immer man das nennen will. Er ist mit keinem individuellen »deutschen Menschen« identifizierbar, aber man kennt ihn und seine treuen Freunde spätestens seit den Zeiten Wilhelms II. Und wer gebissen wird, weiß man auch — seit spätestens damals.
Die SPD, um es kurz und grausam zu machen, hat es seit 1945/46 auch nicht fertiggebracht, dem deutschen Schweinehund zu imponieren.
Nach wie vor strömt sie den Schweiß der Angst und der Ergebenheit aus, der sie beißbar macht — und wenn nicht sie, dann doch wenigstens ihre Freunde am Rande des öffentlichen Spektrums. Es gibt keine entscheidende Frage (Bewaffnung, Wirtschaftsgestaltung, Stellung im internationalen Kontext, Vermögensverteilung, ökologische Frage usw.), in der sie nicht über kurz oder lang, mehr oder weniger leise weinend, die Argumentation des Schweinehunds und seiner Freunde übernommen hat. Gewiß, gewiß, da gibts Schwierigkeiten der Vermittlung, der Kommunikation oder wie man das nennt; man argumentiert auch — gegen den Schweinehund, vor allem aber mit ihm. Man redet ihm zu, daß dies oder jenes ja auch in seinem, des Schweinehunds, Interesse liegen müßte. Und dabei zittert man dauernd davor, gebissen zu werden; zittert und ist im Grunde heilfroh, wenn der SH nicht einen selber, sondern irgendeine »extreme« Randgruppe beißt. Da läßt man vielleicht sogar im Auftrag des Schweinehundes den alten Verbündeten und treuen KZ-Wächter von einst, den Deutschen Schäferhund, auf Beißbare im Sinne des Rechtsstaates los.
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Da dies keine Anklageschrift ist, muß natürlich sofort gesagt werden, daß dies das gemeinsame Problem aller sogenannten »Intellektuellen« ist (mit ein paar seltenen Ausnahmen, die ich hier nicht auflisten will). Und da es in der SPD viel davon gibt, entsteht eine Solidarität des Angstschweißes, der Beißbarkeit von selber. Der SPD anzugehören oder nahezustehen, ist zumindest eine ethische Rückversicherung: indem man um Rachel, ja notfalls sogar um die triefäugige Lea dient, nimmt man Stallgeruch an und Immunkörper auf, von denen man hofft, daß sie die Beißbarkeit neutralisieren oder doch zumindest herabsetzen. Wenn man der historischen »Arbeiterbewegung« angehört, so die stumme Hoffnung, muß man doch wenigstens ein bißchen so muskulös riechen, wie es dem SH wirklich oder angeblich imponiert. Was man ihm dabei an Randgruppen-Solidarität ausliefert, wird unter »Verhältnis zur Macht« oder »Mehrheitsfähigkeit« abgebucht.
Nochmal sei es betont: dies ist keine Abrechnung, keine Anklage. Es geht mir ausschließlich um die Beschreibung einer Atmosphäre, die ich immerhin seit 1953, seit den ersten Kooperationen und Koalitionen mit der SPD (unter dem Zeichen G. Heinemanns, siehe oben) in verschiedenen Mischungsverhältnissen erleben durfte. Ob es der SPD viel hilft, dieser Versuch einer Übermittlung persönlicher Eindrücke? Ich kann das nicht bestimmen. Ich weiß nur eines: der alte Angst-Komplex, die alte Beißbarkeit sind immer noch vorhanden.
Ihr letztes Beispiel ist die Behandlung der Nach-, Auf- und Abrüstungs-Debatte. Die Behandlung, wohlgemerkt, nicht die Inhalte. (Was ich von denen halte, ist bekannt.) Es geht nicht darum, ob der SPD-Bundeskanzler das Recht hat, anderer Meinung als Erhard Eppler oder Oskar Lafontaine zu sein. Das Recht hat er selbstverständlich. Es geht auch nicht darum, ob die »Friedens-Foren«, die da zu Bonn am Rhein und anderswo veranstaltet werden, aufrichtig gemeint sind oder nicht. Worum es geht, ist die Macht — oder Ohnmacht — der SPD, immerhin der stärkeren Regierungspartei, die simpelsten Regeln der politischen Kultur in dieser Diskussion durchzusetzen.
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Daß ihr das nicht gelingt, dafür ein Gegenbeispiel. Im April des Jahres war ich in Groningen, Niederlande, Teilnehmer an einem von Amerikanern und Holländern veranstalteten Seminar über »Atomkrieg in Europa«. Das Seminar war in den Ergebnissen schonungslos; besetzt war es von einer Menge Experten, einschließlich NATO-Generälen und Admirälen plus einem echten Ex-CIA-Direktor. Eine solche Kombination ist natürlich nicht beißbar; also verschweigt oder verdrängt sie der SH, bzw. seine Diener im deutschen Medienwalde. Aber das ist noch nicht der wichtige Punkt. Der wichtige Punkt ist, daß auf diesem Treffen wirklich »westliche« politische Kultur sichtbar wurde; eine Kultur des furchtlosen Arguments, der völligen Abwesenheit von Angstschweiß — so oder so.
Eine solche Angstfreiheit scheint hier, auch nach zwölf Jahren einer »sozialliberalen« Herrschaft, nicht herstellbar. Leute wie ich, die mit einer Amerikanerin verheiratet und deren Kinder infolgedessen amerikanische Paßinhaber sind, müssen sich (als Unterzeichner des Krefelder Appells) von Simpeln wie Helmut Kohl als »moskaugesteuert« und »antiamerikanisch« diffamieren lassen, ohne daß das zornige Gelächter der Republik solchen giftigen Unsinn einfach hinwegfegen würde.
Aber man braucht nicht so persönlich zu werden; man kennt die ständige angstvolle Defensive in fast allen heiklen Fragen, vom Deutschen Herbst 77 über den Paragraphen 88a bis zur atmosphärisch völlig unterschiedlichen Behandlung der RAF und der Wehrsportgruppe Hofmann. (Und schon fühlte sich der Verfasser wieder gedrängt, feierlich zu erklären, daß er natürlich für die RAF nichts übrig hat — typisches Kennzeichen des SH-Angstsyndroms.)
Aber nehmen wir noch ein relativ harmloses Beispiel, weil es sehr schön den Unterschied zwischen Beißbarkeit und Nicht-Beißbarkeit illustriert. Vor einer der letzten Wahlen wurde gerade von der katholischen Amtskirche wieder das zuverlässige Kriterium der Böcke-Schafe-Scheidung ausgewählt und zurechtgelegt: der revidierte § 218. Wer für die SPD in mittleren und kleineren katholischen Orten Diskussionen zu veranstalten versucht, weiß, was das an »Argumentation« im SH-Typus ermöglicht. Der Kanzlerkandidat der Union jedoch, FJS, erklärte knallhart und ohne Kommentar, daß eine künftige Unionsregierung unter seiner Führung diesen Paragraphen nicht ändern werde. Erhob sich Kampfgeschrei? Wurde er von den Kanzeln, von den Leitartikeln der Kirchenpresse exkommuniziert? I wo. Eine Geschäftsstelle eines katholischen Männerbundes reagierte etwas mürrisch, das war alles. Klarer ist nicht zu zeigen, wer beißbar ist und wer nicht...
Ist da was zu verändern? Ich glaube, daß das Potential an Nicht-Beißbarkeit in der Jugend vorläufig noch groß ist. Vorläufig: niemand kann absehen, wie viele Nürnbergs es brauchen wird, um es kaputtzumachen und zum geliebten deutschen Vormärz zurückzukehren. Aber vielleicht, vielleicht könnten Überlegungen wie diese, etwas gehäuft und in feste Vorsätze übersetzt, der alten SPD doch nützlich sein. In diesem Sinne darf ich sie der Redaktion übermitteln.
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