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Teil 2 - Politik und Ökologie - eins

    Der große grüne Feldzug  

  1 Europa 

61-63-88

Dies waren die kühnen Jahre, die Jahre des Elans:

 

Da trug natürlich der Kornett gerne die grüne Fahne. Und er hat es unter ihr weit gebracht, wie man sehen wird. Die Wegweisung für Europa wurde einer »europäischen Akademie« im Saarland vorgetragen; und für ein Sonderheft der <frankfurter hefte> wurde der Ost-West-Konflikt als Regression definiert und beschrieben. (Die Ereignisse seit 1989 haben, wie ich meine, diese Definition bestätigt; politische Folgerungen sind nicht gezogen worden.)

Damals entstand die Zeitschrift <NATUR> im Ringier-Verlag, und Horst Stern, ihr ebenso kompetenter wie militanter Erst-Redakteur, gewährte mir die ehrenvolle Aufgabe einer allmonatlichen Kolumne. Ihr entstammen die drei folgenden Essays: das »Bekenntnis zur Angst«, die Suche im »ethischen Irrgarten« — und die Betrachtung über den notwendigen »Charakterwechsel nach Feierabend«.

Und dann wurde der Fahnenträger zum Bundeskanzler. 

Horst Stern hatte die großartige Idee, zur Bundestagswahl 1983 brachte er eine Arbeitsgruppe zusammen, der so kompetente Leute wie Erhard Eppler, Frank Haenschke, Björn Engholm, Martin Jänicke, Karl Ganser, Berndt Heydemann angehörten, und wir erstellten eine alternative Regierungserklärung, welche wir »die wahre Wende« nannten.

(Sie erfolgte damals, man erinnere sich, in der trüben Realität der Gewinner als die winzige Wende vom einen Helmut zum andern.) 

Mir fiel die Aufgabe zu, als fiktiver Bundeskanzler eine fiktive Regierungserklärung vor einem schattenhaften Parlament abzugeben. Immerhin — wer bringt es schon so weit in der Verlierergeschichte? 

In die gleiche Wahlkampfzeit fällt die Ansprache, die »Utopisten gegen Realisten« stellt, vor dem Bundestreffen der Grünen zu Sindelfingen.

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1. Wegweisung Europa - Eine kritische Reflexion  

  (1984)

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Wegweisung Europa. Wegweisung für Europa. Wege für Europa.

Wer heute ehrlich über dergleichen sprechen und reflektieren will, der wird das Lachen der Bitterkeit und der Selbst-Ironie kaum unterdrücken können. Wegweisung Europa — in der Tat? 

Nicht nur unsere eigenen Völker, sondern den ganzen Planeten haben wir, hat Europa auf einen Weg gewiesen, der mit hoher Wahrschein­lichkeit in den Weltuntergang führt. 

Das ist das faktische Resultat einer nüchternen, historisch-kritischen Vermessung; einer Vermessung dessen, was uns in den letzten Jahrhunderten zustieß, und wohin wir andere (jene, die wir in subtiler, von uns erdachter Rangordnung Zweite und Dritte Welt nennen) gestoßen haben.

Bei diesem Unternehmen waren wir sehr, sehr gut und sehr, sehr erfolgreich. Der geschichtliche Erfolg Europas; seine Triumphe über alte biologische Grenzen der Menschheit; sein Ringen um und seine teilweise Realisierung von Freiheit und Gleichheit; seine experimentellen Schnitte ins innerste Gewebe der Schöpfung: dergleichen hat es noch nie gegeben in der bisherigen Geschichte der Menschheit. 

Gewiß, es hat weiter ausgreifende Aggressionen gegeben als die unseren; es hat Kontinentalreiche gegeben, vor deren Ansturm Europa wie ein welkes Blatt zitterte. Es hat Kulturen gegeben, die hygienische, höfliche, zivilisierte Gesittung kannten, als bei uns ein Vollbad höchstens als Vorbereitung zur Unzucht bekannt war. Doch alle diese alten Erfolge Anderer halten den Vergleich mit unseren Erfolgen nicht aus — und mit den Folgen dieser Erfolge

Ermöglicht wurde all dies durch ein Sonderschicksal


Es war und ist einmalig, gerade in seinen speziellen Varianten und Widersprüchen. Und wenn wir heute nach neuen Wegen oder Wegweisungen Ausschau halten wollen, müssen wir uns auf dieses Schicksal und seinen Sondercharakter besinnen.

Europas Macht, Übermacht und Übermut erwuchsen aus Voraussetzungen, die zunächst wenig günstige Aussichten zu bieten schienen. Kein Groß-Reich war da instrumental, keine Große Armee, keine Große Kooperative, kein Großes Bewässerungssystem. Vielmehr herrschten zunächst und buchstäblich Rand-Bedingungen: verzipfelte Buchten, waldige Bergtäler, meerumstürmte platte Küstenstriche. Die griechischen poleis, die Stämme Italiens, später seine Signorien; das verrückte Venedig in der Lagune; das bißchen Portugal, das ständig vom Ersaufen bedrohte Holland — Wiegen europäischer Vorherrschaft.

Nicht viel besser stands im Geistig-Religiösen: kaum schien eine Weltsicht, eine Philosophie, eine Konfession so etwas wie Hegemonie erlangt zu haben, wurde sie durch Polemiker, Spalter, Häretiker aufs tödlichste herausgefordert. Bündnisse mit Europas Todfeinden (Persern, Hunnen, Ungarn, Türken) standen auf der politischen Tagesordnung dieser frechen europäischen Bezirksämter. Gerade die weitblickenden Europäer beklagten immer wieder diesen Hang zum Selbstmord aus Kirchturm-Egoismus; die kühne dialektische Einsicht vom polemos pater pantön, vom Konflikt als zeugendem Prinzip und dem daraus resultierenden Vorteil, blieb einem einzigen griechischen Philosophen vorenthalten ...

Bestimmend für unser Sonderschicksal und unsere Geschichtsauffassung ist wohl auch geworden, daß diese winzigen frühen Machtzentren schon in ihrem Aufstieg parasitär funktionierten. Attika war schon zur Zeit Platos abgeholzt und ausgepowert. Venedig kassierte in der ganzen östlichen Mittelmeergegend. Portugal kassierte in Asien und Afrika.

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Rom, ursprünglich eine Bauernrepublik, lernte rasch die Ausbeutung ferner Provinzen. Und selbst das fruchtbar-realistische Holland gründete große Teile seines Reichtums auf Fernhandel und Kolonialismus. Entscheidend für die Dauerhaftigkeit europäischer Hegemonie wurde der glückliche, wenn auch konfliktreiche Übergang zu größeren Machtgebilden, die weiterreichende Imperien gründen konnten. Die staatsrechtliche Union von England und Schottland folgte unmittelbar auf das Scheitern einer eigenen schottischen Kolonialunternehmung (in Darien), die der dortigen Bourgeoisie die Knappheit ihrer Eigenmittel drastisch vor Augen führte. Auch Hollands und Portugals Basis erwies sich auf die Dauer als zu schmal, ebenso wie vorher die der italienischen Signorien und der griechischen Stadtstaaten. Die territoriale Erweiterung der Machtbasen führte zur inneren Kolonisation — sie wird uns noch eingehend beschäftigen müssen. Aber ehe wir uns ihr zuwenden, noch ein Wort zum allerwichtigsten Sonderschicksal Euroaps; zu seiner Christianisierung.

Schon der Begriff ist äußerst vieldeutig. Bis zum Ende der offiziellen Reichsreligion Roms (die nicht viel mehr war als das Toleranzband des Kaiserkults um eine Vielzahl von ethnischen Urreligionen) vollzog sich Christianisierung als die Konversion Einzelner in eine religiöse Minderheit hinein; im Grunde wohl die einzige Art von »Christianisierung«, die der Botschaft des Christentums selbst angemessen ist. Schon die »Christianisierung« unter und nach Konstantin trug gänzlich anderen Charakter — den Charakter eines mitreißenden gesellschaftlichen Stroms, der unwiderstehlich zur Mehrheits anwuchs. 

Fast sofort ist Synkretismus zu bemerken; ist die fortlebende Vitalität der alten Religionen und Religiositäten zu beobachten, die in komplizierten Verschränkungen von Traditionen, Gewohnheiten, Riten, mehr oder weniger rationalen Deutungen des Undeutbaren das offizielle Christentum durchwuchsen und durchwucherten.

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Der Prozeß wurde noch verwickelter durch die mittelalterliche Gewohnheit kollektiver, meist vom Herrscher verordneter Völkertaufen — von den Franken über die anderen Germanen, die Skandinavier, die Polen bis zu den Moskowitern und Bulgaren. Stellenweise nahm solches Christentum den Charakter einer imperialen Zwangs-Ideologie an: die Völker, die sich nicht unterwarfen, wie etwa die Pruzzen, gingen unter, erlagen dem Genozid bzw. dem Ethnozid. Noch bis in die Geschichte der Reformation hinein spielt alter Groll gegen solche Reichskirchen-Praxis eine wichtige Rolle.

Aufstände, auch völlig berechtigte Aufstände wider diese Verschränkungen, so die Reformation, so aber auch der Aufstand der Stadt Rom und ihrer Päpste gegen die deutschen Kaiser, gehörten damit gleichfalls zum europäischen Sonderschicksal. Gerade diese Aufstände haben etwas bewirkt, was sonst bei keiner der bekannten Religionen so wirksam wurde: eine ganz scharfe definitorische Trennung von HEILIG und PROFAN, von Religion und Politik, von Theologie und Philosophie. 

Ohne solche Trennungen (seit Gregor VII.) ist die letzte Voraussetzung für Europas weltweite Hegemonie, nämlich die Säkularisierung, nicht vorstellbar und nicht verständlich. (An diesem entscheidenden Punkt trennte sich übrigens auch das Geschick Rußlands von dem des katholisch-protestantischen Westens.) 

Wir können es uns ersparen, Einzelheiten nachzugehen. Es genüge die allgemeine Feststellung: es hat, trotz oder gerade wegen des Sieges des Christentums, jahrtausendelang kaum einen weniger problematischen »religiösen« Raum gegeben als den Europas. Nicht nur die Zwieschlächtigkeit von offizieller Kirchlichkeit und Theologie einerseits und magisch-profaner Lebenspraxis andererseits, sondern auch die definitorische Trennung von HEILIG und PROFAN ist eine sehr alte und sehr speziell europäische Errungenschaft.

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Und natürlich geht die letzte große europäische Errungenschaft, das naturwissenschaftlich-technisch bestimmte Weltbild, aus diesen Voraussetzungen hervor. Nur auf den ersten Blick paradox ist es, daß gerade dieses Europa mit seinen winzigen und konfliktträchtigen Formationen ziemlich dauerhafte Riesenreiche hervorgebracht hat. Sie profitierten davon, daß sie nicht monokausal — etwa durch eine gewaltige Führerpersönlichkeit —, sondern aus der Verflechtung zahlreicher, oft konfligierender Ursachen entstanden, und daß sie sich auf Erfahrungskapital aus der Geschichte der vorangegangenen Macht-Zellen stützen konnten: Alexander und seine Nachfolger auf die griechischen Kampferfahrungen gegen die Perser (zuletzt noch auf den »Marsch der Zehntausend«, den Xenophon beschrieben hat); Rom auf die Jahrhunderte zäher, gerissener Stammeskriege in Italien mit ihren speziellen »Befriedungs-«Methoden; Spanien auf die Erfahrungen der Reconquista mit ihren Kreuz- und Querbündnissen; England von den internen dynastischen Kriegen und den Border Wars gegen Frankreich und Schottland. 

Diese komplexen, nicht an charismatische Einzelne gebundenen Erfahrungen bewirkten, daß diese Reiche nicht plötzlich endeten oder enden, sondern in sehr langen Dünungen ausliefen und auslaufen. 

Fassen wir zusammen: 

Europas Erfolg ist ein Faktum. Europa saß (und sitzt heute noch) auf dem Gipfel des planetarischen Berges. Von diesem Gipfel aus hat es Ströme des Wohlwollens und des Verderbens in die Welt gesandt. Es hat in großartiger Egozentrik Lohn und Strafe für die Völker festgelegt. Es hat gerade seine erfolgreichsten Imperialisten stets dazu erzogen, sich als Wohltäter zu verstehen, als Vollstrecker fortschrittlichen Geschicks, ja als Lastträger.

Sowohl die Römer wie die Briten konnten das unnachahmlich formulieren — vom parcere subiectis et debellare superbos, also der Gnade gegenüber den Unterworfenen und dem Niederkämpfen der Hochmütigen laut Vergil, bis zu Rudyard Kiplings »White Man's Burden«, der Last, die der weiße Mann trägt, und die ihn dazu verurteilt, Ordnung in einer Welt zu schaffen, die von Völkern »half child, half beast«, halb Kind und halb Tier, bewohnt ist. 

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Gehet hin und lehret alle Völker: der Missionsauftrag, schon in seiner alten christlich-abendländischen Version Anlaß und Werkzeug des Ethnozids, wird in seiner säkularisierten Form, als Zwang zum Fortschritt, noch allumfassender und unbarmherziger. Selbst die Steppenbrände der Unabhängigkeitsbewegungen, denen wir gegenüberstehen, nähren sich trotz aller wütenden Authentizitäts-Deklamationen von den Feuern der Französischen und der Oktober-Revolution, also von europäischen Herden. (Die vielleicht entscheidende Ausnahme ist der islamische Fundamentalismus.) 

Aber damit nähern wir uns schon einer Gegenwart, in der subjektiver Kollektivzweifel tief im europäischen Herzen nagt. Zweifel am Segen unserer missionarischen Vergangenheit; Zweifel an der Zweckmäßigkeit unseres Vorgehens gegen Welt und Mitmensch; Zweifel an der Allgültigkeit unseres modernen, technisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes — all diese Zweifel vereinigen sich zu einem Katzenjammer, wie er in dieser Form seit den zutiefst pessimistischen Überlegungen spätrömischer Autoren nicht mehr aufgetreten ist.

Dieser Katzenjammer nimmt zuweilen recht kuriose Formen an, zum Beispiel das Ressentiment gegen die Supermächte, bei uns insbesondere gegen die USA. Durch solches Ressentiment entlastet sich Europa elegant von seiner historischen Schuld am Planeten. Schmerzlich lächelnd kann es daraufhinweisen, daß alles, was zur Zeit so an planetarischer Schurkerei laufe, ja gar nicht mehr von Europa, sondern von diesen randständigen Supermächten betrieben werde. Die hätten jetzt die Last des Weißen Mannes zu tragen, mit all ihren Sünden und Privilegien. 

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Die Firma ist gewissermaßen von zwei skrupellosen Söhnen übernommen worden, und die alte reiche Dame Europa, der Verantwortung beraubt (vielmehr ledig) und nach wie vor in komfortabler materieller Lage, schneidet die Coupons von EG-Aktien und interessiert sich für Philantropie und geistreiche Akademietagungen. Natürlich schnurrt das Schwungrad der alten Ausbeutung noch ein bißchen weiter etwa in Form der Entwicklungshilfe, die ja bekanntlich im Verhältnis drei zu eins wieder in unsere Wirtschaft zurückfließt und auf jeden Fall die Reichen noch ein bißchen reicher, die Armen wenn nicht ärmer, so doch abhängiger macht. 

Ja, die alte Dame ist schlau geworden; gerne überläßt sie den Supermacht-Söhnen die miese Rolle des peitschenschwingenden Sahib, sie weiß, daß dies nicht nur eine unbeliebte, sondern auch letzten Endes unrentable Form der Herrschaft ist, sie weiß, daß man sich besser an die alten Einsichten von Kauffahrer-Republiken wie Karthago und Venedig hält, während man sich beim five-o'clock-tea über Grenada oder Afghanistan entrüstet... 

Die Enkel der Alten Dame wiederum, die jungen Europäer von heute, stürzen sich in den großen Ideen-Schlußverkauf, grasen die Wühltische ab, auf denen alle Angebote Japans, Chinas, Indiens, Amerikas ausgebreitet liegen, bedienen sich zu lächerlichen Preisen an Hopi-Trommeln, transzendenter Meditation, Zen-Technik, schwarzafrikanischer Musik. 

Auch darin aber, auch in dieser letzten Relativierung, in diesem scheinbaren Offenbarungseid der europäischen Enkel, steckt noch der unbewußt geübte Reflex der Herrschaft. Die Atomisierung, die solcher Aneignung logisch vorausgeht; die Gewohnheit der Montage und Collage solch weit in Zeit und Raum auseinanderliegenden Kulturmuster — solche merkantilen Erwerbungen menschlicher Ur-Erfahrung aus allen Gegenden des Planeten setzten neuzeitliche Geschichte, neuzeitliche Haltungen voraus, mit all ihren Triumphen und Fragwürdigkeiten. 

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Jetzt, wo wir sie so gut wie sicher umgebracht haben, können wir den Indianern und Australnegern rechtgeben; genau so wie wir den Artenschutz für Tier und Pflanze zu dem Zeitpunkt erfunden haben, wo mindestens fünfzig Prozent von ihnen zum Tode verurteilt sind. Doch die Gerechtigkeit gebietet es, auch über ein ganz anderes Europa zu sprechen: das Europa der Verlierer. Es ist ein weites Feld — so weit wie Europa selber. Im Übergang zum europäischen Imperialismus und Kolonialismus mußte ja zuerst Europa selbst kolonisiert werden — und zwar durchaus auch im negativen Sinne. Die Verlierer und die Unterdrückten dieser Kolonisation waren Europäer, wer sonst. 

Auf dem Weg zu den Nationalstaaten und Kolonialreichen mußten alte regionale, minderheitliche Selbstverständnisse und Kulturen zerrieben werden. Die Franzosen mußten den Languedoc unterdrücken, mußten den bretonischen Kindern in ihren Schulen den Gebrauch der Muttersprache verbieten, ehe sie nach Algier und Marokko ausgreifen konnten. Die Regimenter des Hauses Hannover mußten die gälische Kultur Schottlands so brutal vernichten, wie Engländer und Amerikaner die Indianerkulturen vernichteten. Und die Spanier mußten erst Basken und Katalanen, Galicier und Andalusier auf Vordermann bringen, ehe sie das höllische Vorfinanzierungs-Institut des modernen Kapitalismus, den Silberberg von Potosi, eröffnen konnten.

Die Vernichtung war nicht nur Sprachen und kulturellen Idiomen von Minderheiten zugedacht. Verlierer wurden und sollten werden alle Non-Konformismen; alles, was aus irgendeinem Grund und zu irgendeiner Zeit als unzweckmäßig empfunden und deshalb als überholt erklärt wurde: Geheimnisse, Religionen und Konfessionen, Produktionsund Reproduktionsweisen, Ästhetiken und Werkzeuge materieller wie immaterieller Art. Das war nie leicht, ging nie reibungslos, das Europa der Verlierer ist reich bestückt und reich gegliedert — und in einigen Bereichen immer noch vital. Was dabei ins Spiel kam in vielerlei Zusammenhängen, ist lehrreich an einem alten Exempel darzustellen: der Hexenkultur.

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Es gab sie sehr real, insbesondere in Südfrankreich und im Pyrenäenraum. Feste und Zusammenkünfte mit mehr als 15000 Menschen, darunter baskischer und südfranzösischer Adel, sind belegt. Es war eine Parallelwelt, stark matriarchalisch und orgiastisch gestimmt, mit den Waffen jahrtausendelanger Erfahrung auf Gebieten wie der Heilkunst an Leib und Seele, und mit wesentlich mehr Erfolgen als die Herrenkultur. Da es bis zum Auftreten der Dominikaner und Franziskaner so gut wie keine religiöse Unterweisung für die sogenannten Massen gab, war die Hexenkultur zunächt nicht nur unbesieglich, sondern einfach nicht zu erreichen. Erst als die Kirche und die anderen Autoritäten in der Lage waren, mit Lehren und Vorschriften bis an die Basis der sozialen Pyramide vorzudringen, kam es zu den bekannten Verfolgungen, die erst im Spätmittelalter einsetzten und weit in die Neuzeit hineinreichten — bekanntlich ohne Ansehen der Konfession. 

Gerade die Träger des Fortschritts bejahten oft die Hexenjagd; etwa Jean Bodin, als ein Vater modernen weltlichen Rechts anerkannt, nahm sich Zeit und Mühe, einen mehrbändigen Hexenhammer zu verfassen. 

Dabei gibt er offen ein höchst konkretes Interesse an — das Interesse des Staates, gerade des neuzeitlichen Staates an einem starken Bevölkerungswachstum. Hexenkünste, so erklärt er, halten die Geburtenzahlen niedrig und vermindern so die Menge der verfügbaren Untertanen. Ausdrücklich zu bemerken ist dabei, daß im Mittelalter weithin die Lehre galt, der Fötus werde erst 80 bzw. 60 Tage nach der Geburt mit einer Seele begabt. Der Abortus war damit ein moralisch wie juristisch neutraler Akt. Hinzugefügt sei, daß mit den Hexen auch eine Baumart verschwunden ist, deren Blätter zu einen in derlei Angelegenheiten hilfreichen Absud verarbeitet wurden. 

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Wieder einmal war eine private bzw. Kleingruppen-Kompetenz der Macht höherer Staatsräson geopfert worden. (Vorsichtshalber erwähne ich, daß hier nicht moralisch gewertet werden soll. Es geht um die Klarstellung und Illustration historischer Zusammenhänge.)

Eines der jüngsten und letzten Opfer der inneren Kolonisation (die nach dem Aufstieg der Supermächte nie ganz durch die äußere ersetzt wurde) mag der europäische Arbeiter und seine Kultur werden. Vielleicht schon bald dürften neben den Bauernmuseen in Bayern und Niedersachsen die bröckelnden Reihenhäuser von Manchester, die stillen Werften am Clyde und an der Weser, die melancholischen Geisterviertel des Ruhrgebiets von vergangenen Zeiten raunen, in denen der Mensch, wenn auch ärmlich und ausgebeutet, noch eine Chance hatte, auf seine Weise zu leben — ob er nun den Dudelsack übers gälische Heidekraut winseln oder heißgeliebte Brieftauben aus den Dachstühlen von Wanne-Eickel starten ließ. Denn erst in unseren Tagen vollendet sich das Geschick der europäischen Teilkulturen, seiner vernakulären Hervorbringungen. In vielen Jahrhunderten wurden sie von den Mächtigen, vom Staat, von der Kirche verfolgt; wurden zum Auswandern gezwungen, mit Dragonaden gequält, mit extremen Steuern belegt, oft auch physisch dezimiert. Und dennoch war bis vor kurzem kein Staat mächtig genug, die Flamme des Trotzes und des vernakulären Widerstands völlig auszutreten. Mit Recht weist Nietzsche in »Also sprach Zarathustra« darauf hin, daß überall da, wo sich wirkliches Volk gehalten hat, dieses Volk den Staat, das »kälteste aller kalten Ungeheuer«, von Herzen haßt. 

Irgendjemand gab immer die Fackel des Trotzes weiter: von den Albigensern an die Camisards und weiter an die linksradikalen okzitanischen Gruppen von heute; vom Bauernkrieg über den Schinderhannes an Max Hoelz; von den Hajduken zu den Partisanen. 

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In hundert und tausend Masken und Entartungen blieb das Europa der Verlierer am Leben. Doch heute scheint sein Ende nah — oder ist schon da. Die letzte entscheidende Waffe gegen den Verlierertrotz ist entdeckt und wird eingesetzt: der Konsumismus. Der Verlierer verliert sich völlig, indem er sich beliefern, indem er seine Bedürfnis- und Befriedigungsstrukturen von außen korrigieren und modifizieren läßt.

Im Grunde ist natürlich auch dieses Rezept längst bekannt. Was die Winchester und die US-Kavallerie gegen die tapferen Sioux und Cheyenne nicht schafften, das schafften noch allemal das Feuerwasser und die schönen warmen Wolldecken, die man mit den Ausscheidungen von Cholerakranken impfte. Seit Troja weiß man das: timeo Danaos et dona ferentes — die Griechen sind auch dann zu fürchten, wenn sie Geschenke bringen. Das einzige unrichtige Wort an diesem vergilischen Vers ist das et, das »auch dann« — sie, die Herren Beglücker und Kolonisatoren, sind gerade dann am meisten zu fürchten, wenn sie Geschenke bringen. 

Mit dem Konsumismus, der unser Leben scheinbar so bunt und vielfaltig macht, wird jede vernakuläre, jede sonderheitliche und selbstbestimmte Lebensäußerung von Regionen und Gemeinschaften über kurz oder lang erledigt sein. Erfahrungsgemäß hört kein Umweltgift auf abzusinken, ehe es das Grundwasser erreicht, und so wird sich keine Zersetzung, Nivellierung, Pseudo-Kosmopolitisierung unserer europäischen Existenzen stoppen lassen, ehe die Basis der sozialen Pyramide von ihr erreicht und zersetzt ist. 

Von oben mögen dann die Freizeit-Vernakulären, die Herrschaften in den residences secondaires, den englischen Fachwerkhäuschen in Surrey, den oberbayerischen Lüftlmaler-Weilern einsteigen, mögen die folkloristischen Strandgüter aufsammeln, sich ihrer Sachkunde freuen und für <Vogue, Ambiente, Better Homes & Gardens> vor Spinnrädern, Ochsenjochen, Butterfässern, handgehauenen und handgeizten Scheunenbalken posieren. 

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Sie sind, wie es in der Bibel heißt, schon gerichtet. Äußeres Merkmal: es fehlt der einzige Sinn der Heimat, auf den es wirklich ankommt, der Geruch. Der Geruch nach Blut und Mist. Blut- und Mistgeruch wird heute von den Freizeitdörflern Europas gerichtlich verfolgt. Aber diese Freizeitdörfler sind ohnehin die Minderheit. Die Mehrheit der Söhne und Töchter des Volkes lauscht aufmerksam den Hinweisen der Versandkataloge und der Schaufenster, steigt zu Yamahas, zu Cuba Libres, zur jeweils üblichen Tanz- und Musikmode und Inneneinrichtung auf. Ihre Rückständigkeit bleibt zwar unüberwindlich — aber es ist nicht mehr Dörflichkeit oder Bäurischkeit oder Verfangenheit ins Lokale. Es ist vielmehr platte Provinzialität — das heißt die unvermeidliche Signalverspätung, die sich auf dem Weg von den Konsummetropolen hinaus und hinter die Hügel einstellt. Es ist diese Signalverspätung, welche die Dörfer, die Hügel hierzulande und in der Dritten Welt so rentabel macht. Dort lassen sich die Lastex-Morgenmäntel von gestern, die rückständigen Schallplatten, das in den Metropolen schon verbotene DDT absetzen. Dort schwätzt man auf dem Umweg über Gartenbauvereine den Blumenstockliebhabern noch jede Menge Giftzeug auf. Dort sind Schlafzimmereinrichtungen, Wolken-Stores, Glas-Pergolas von gestern noch immer mit Hilfe wunderschöner Abzahlungsverträge absetzbar. 

Wie jeder Passagierdampfer, so lebt auch der Dampfer »Titanic« unserer Konsunizivilisation nicht von der Luxus- oder der Kabinenklasse, sondern von den biederen zahlenden Touristen.

Aber neben dem kommerziellen hat diese Entwicklung natürlich auch noch einen tiefen politischen Sinn. Pier Paolo Pasolini hat uns in seinen »Scritti Corsari«, seinen Freibeuterschriften, den Sinn dafür geschärft. Letzten Endes gab es, bei aller Hilflosigkeit des Vernakulären und der Vernakulären, bei aller ihrer Schutzlosigkeit und Armut, immer noch eine Waffe, die auch dieser Hilflosigkeit und Armut noch zur Verfügung stand: ihre Würde.

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Es ist diese Würde, die rechts wie links der Elbe gleichermaßen dem wütenden Ansturm des Konformismus ausgesetzt ist. Ob in Ruhpolding oder am Goldstrand bei Warna: die regionalen Welten von einst werden nur mehr als Folklore in Klarsichthülle gegen Devisen abgegeben. Ihre Entwürdigung ist damit perfekt. Konfektionsanzug, Fernseher, eine auf künftige wirtschaftliche Verwendbarkeit getrimmte Pädagogik: in solchen höchst konkreten Symbolen offenbart sich die trotz grimmiger historischer Gefechte letzten Endes einheitliche Zielvorstellung der ersten und der zweiten Welt.

Ja, dies gehört vielleicht zu den glänzendsten und gleichzeitig düstersten Triumphen Europas — dieses Drehbuch im Hinterkopf, diese gemeinsame Tiefenideologie der feindlichen Brüder, jene Tiefenideologie, die Europa nach Westen über den Atlantik und nach Osten über den Ural exportiert hat. Diese gemeinsame Tiefenideologie ist Gegenstand des Konflikts der feindseligen Brüder. Es macht dies den Konflikt keineswegs harmloser, im Gegenteil, es macht ihn erst möglich. Wie schon zu Zeiten der Reformation, ist die Dramaturgie des Konflikts, die Ideologie der Ost-West-Konfrontation, in Mitteleuropa entstanden und wurde von dort exportiert, ehe sie nach vielen regionalen Konflikten und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, von 1848 über die Pariser Kommune und die Oktoberrevolution zum spanischen Bürgerkrieg und dem Zusammenbruch des Hitler-Faschismus, zu relativ festen territorialen Gebilden gerann, mit jeweils einem gigantischen Vorkämpfer. Das deutsche Reich — jetzt nicht mehr das Heilige Römische wie zu Zeiten der Reformation, sondern Hitlers Drittes Reich, wurde entlang der Elbe geteilt und den Vormächten als Glacis zugeordnet. 

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Das Wesentliche an derartigen Konflikten (damals dem konfessionellen, heute dem ökonomistischen) ist die Tatsache, daß beide Seiten den Konflikt gleich definieren und damit die Dramaturgie anerkennen. Heil beziehungsweise Heillosigkeit des eigenen und des gegnerischen Ansatzes werden mit der gleichen Meßlatte gemessen und mit dem gleichen Wortschatz argumentativ ausgeschmückt. 

Meßlatte wie Wortschatz sind bekannt und anerkannt. Unsere Dramaturgie, östlich wie westlich der Elbe, ist ökonomistisch-industrialistisch. Heil und Unheil werden mit dem Zollstock des Bruttosozialprodukts gemessen. Heil beziehungsweise Unheil wird dadurch bestimmt, ob folgende Aufgaben befriedigend beziehungsweise unbefriedigend gelöst werden: ständige Ausweitung der materiellen Produktion; sinnvolle Disposition der aus der Produktion resultierenden Überschüsse; »Rationalisierung« im weitesten Sinne, d.h. Unterwerferung immer weiterer Lebensbereiche unter das Gesetz der Rentabilität; dementsprechend immer weiter ausgreifende Zentralisierung. 

Bei solcher Gemeinsamkeit des Zielbündels verwundert es nicht, daß sich so viele Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Praxis ergeben. Auf beiden Seiten des Konflikts ist die »planende Verwaltung« im stürmischen Vormarsch, und mit ihr eine Klasse, die Bürokratie und Intelligenz umfaßt. (Im Westen kommt dazu das Kapital — eine ideale Variante, um den Konflikt in Gang zu halten. ..) Auf beiden Seiten bläht sich ein Forschungsapparat auf, dem ungeheure Mittel zufließen — Mittel, die in arroganter, fast schon wieder unschuldiger Selbstverständlichkeit als Preis des Fortschritts bezahlt und entgegengenommen werden. Auf beiden Seiten kommen dieser Schicht zusammen mit den professionellen Politikern große Privilegien zugute — wobei natürlich Unterschiede im Zuteilungssystem zwischen Ost und West wieder als Konfliktgrund genannt und ausgespielt werden.

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Und auf beiden Seiten schreitet nicht nur die Zerstörung der Würde, sondern die Überwachung des Bürgers bis in seine Privatsphäre hinein rüstig voran, und zwar immer im Namen des Gemeinwohls. Gewisse freiheitliche Beschränkungen, die sich der Westen hier auferlegt, dürften in Kürze durch die Brillanz der Kommunikationstechnik gegenstandslos werden: die »gesellschaftssanitäre Vorsorge« (Herold) wäre so oder so das perfekte Endziel dieser Bemühung. 

Sprechen wir, der Vollständigkeit halber, noch von den Dingen, die ebenfalls im Rahmen der gemeinsamen Tiefenideologie auf beiden Seiten für unnötig, nebensächlich oder sogar gefährlich gehalten werden. Faßt man diese angeblichen Nebensächlichkeiten in eine Formel zusammen (was natürlich immer vergröbernd wirkt), so läßt sich sagen, daß beide Seiten alle die immateriellen Techniken, welche die Menschheit im Laufe von Jahrzehntausenden erprobt hat, um die kulturelle Aufgabe zu erfüllen — nämlich die Aufgabe der Vermittlung von Lebenssinn —, theoretisch wie praktisch ablehnen. Der Osten ist in diesem Punkt eine Spur ehrlicher, wenn er etwa ungelegene oder gefährlich erscheinende religiöse oder künstlerische Äußerungen offen verfolgt. Der Westen kann es sich, gestützt auf den Konsumismus, leisten, solche Erscheinungen in einen räumlichen und zeitlichen Freizeitpark abzuschieben; revolutionierende oder systemgefährdende Wirkungen sind von daher nicht mehr zu erwarten.

Fest steht, daß dieser in Europa entstandene und von europäischen Denkern, darunter Karl Marx, weiterentwickelte ökonomistisch-industrialistische Organisationsentwurf das nächste Jahrhundert, ja die nächste Jahrhunderthälfte nicht wird überleben können. Diese Tatsache ist die alles überwölbende Gefahr für den Weltfrieden. Käme es in Europa, auf dem klassischen Schauplatz aller Konflikt-Dramaturgien mit gemeinsamer Tiefenideologie, zum Krieg, d.h. zum Atomkrieg, so wäre die unmittelbare Ursache vermutlich die Verzweiflung, und zwar die Verzweiflung eines oder beider Konfliktpartner am Sinn der gemeinsamen Heils- bzw. Unheilsdefinition. Diese Definition ist nämlich heute schon Un-Sinn im wörtlichsten Sinne. 

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Der Punkt ist sehr, sehr nahe gerückt.

Sinn jeder Friedensbemühung und Methode jeder solchen Bemühung muß es daher sein, wenn irgend möglich die Anzeichen für eine zukünftige historische Dramaturgie aufzuspüren und unsere Gesellschaften auf sie vorzubereiten. 

Eine perfekte Prognose ist natürlich nicht möglich — aber es ist möglich, aus den wachsenden Aporien und Versäumnissen des herrschenden Heilsverständnisses auf das eine oder andere Notwendige zu schließen.

Die tödlichste Aporie liegt auf der Hand: die ökologische. Seit einem Dutzend Jahren ist sie Gesprächsstoff und Gegenstand unzähliger Analysen — dennoch sind wir seit 1972 um keinen wirklich effektiven praktischen Schritt vorangekommen. 

Im Gegensatz zu dem, was die sogenannten Macher glauben, sind nämlich die angeblich realistischen Maßnahmen — Ringkanäle, angezogene Vorschriften für Emissionen und Gifte, Abbremsen der Energiezuwächse u. dgl. — bestenfalls gütige Illusionen. Die Zentralfestung, nämlich die gemeinsame Tiefenideologie, mit ihrer Überzeugung vom Primat der Ökonomie, ist noch lange nicht unter Beschuß. Es wäre noch verhältnismäßig einfach, hier schlechten Willen und Profitgier anzuklagen, die natürlich eine Rolle spielen. Aber mit moralischen Kategorien ist Krisen dieser Größenordnung nicht beizukommen. (Ich gebe zu, daß ich nicht weiß, ob das Problem überhaupt lösbar ist. Wachsende Zweifel an der Zulänglichkeit unserer Denkstrukturen lassen sich kaum mehr beschwichtigen. Wer versteht schon die volle Bedeutung einer exponentiell steigenden Kurve? Wer weiß schon genau, wie wackelig die Verbindungen zwischen den evolutionär aufeinanderfolgenden Gehirnteilen sind?)

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Doch ist Kulturpessimismus schon deshalb nicht sinnvoll, weil er uns von den Bemühungen um die Zukunft und damit von einem klar erkennbaren Lebenssinn, der in diesen Bemühungen steckt, abschneidet. Kulturpessimismus, gerade der spießbürgerliche, ist in seinen letzten Auswirkungen von der spießbürgerlichen Fortschrittsverblendung nicht zu trennen. Unsere Aufgabe kann es nur sein, zu versuchen, gerade mit Hilfe der Widersprüche, die im System selbst stecken, Europa einen wie immer gefährlichen Pfad in die Zukunft zu öffnen.

Eines steht wohl auch für den harmlosen Zeitungsleser von heute fest: Der bisherige EG-Pfad endet am Absturz. Die gesamte Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft ist zukunftswidrig — von der feierlichen Inthronisation des Wirtschaftswachstums als Vertragszweck durch die Römischen Verträge über die Beschränkung auf die westlich-kapitalistische Geographie bis zu der wahrhaft glänzenden Idee, die Böcke, nämlich die Nationalstaaten, zu Gärtnern zu machen. 

Die Nationalstaaten wurden seinerzeit genau zu den Zwecken gegründet, welche heute die EG wahrnehmen soll: das Territorium zu verteidigen und die Märkte auszuweiten. Genau zu diesem Zweck wurden die Souveränitäten der Nationalstaaten zurechtgeschneidert, wurden die alten Regionalismen unterdrückt, alle Nonkonformismen ausgeschaltet. Man kann das Problem noch stocknüchterner betrachten, wie dies etwa der alte Northcote Parkinson tut, man kann von der Betriebsgröße ausgehen, welche Staaten eine Föderation bestenfalls haben können und dürfen. Parkinson geht dabei vom unbestreitbaren historischen Erfolg der USA aus und stellt fest, daß dort die Einwohnerzahlen der Einzelstaaten zwischen 25 Millionen und einer Million schwanken. Diese Betriebsgröße garantiert eine gewisse Humanität der Verwaltung und eine gewisse Transparenz der gesellschaftlichen Vorgänge.

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Im Gegensatz dazu ist der typische europäische Nationalstaat einerseits zu groß für eine transparente politische Vitalität, andererseits zu klein als Markt wie als Verteidigungsterritorium. Ein Gesamteuropa, selbst noch ein westliches Teileuropa, wären mehr als fähig, sich zu verteidigen bzw. die wirtschaftlichen Bedürfnisse seines Raumes abzudecken — was uns stattdessen das Europamanagement der Nationalstaaten beschert, sind Berge des Widersinns, ob sie nun aus Butter oder aus Formularen bestehen

Es ist verhältnismäßig leicht, Beziehungen zwischen dem steigenden historischen Unsinn unserer ökonomistischen Heilsdramaturgie und dem Widersinn der EG-Berge herzustellen. Was anders ist denn das berühmte Agrarunglück der EG als der gescheiterte Versuch, die Ernährung der Menschheit bzw. eines Teils der Menschheit, in eine Industrie zu verwandeln? Was anders ist die Unterordnung der beiden Europas unter die Selbstmordlogik der atomaren Aufrüstung als das schweigende Eingeständnis, daß Geschichte aufhören muß, wenn überhaupt noch Zukunft stattfinden soll?

Gerade die Logik bzw. Unlogik der Atomrüstung weist auf, an welch kläglichem Punkt seiner Geschichte Europa heute angekommen ist. Seine politische und seine intellektuelle Geschichte haben die Konstruktion von A- und H-Bomben, von B- und C-Waffen erst ermöglicht, und durch die Jahrtausende hat Europa noch nie gezögert, wissenschaftliche Fortschritte auf den Rüstungsbereich anzuwenden und sie einzusetzen. 

Mit der Atombombe ist selbstverständlich der Punkt der absoluten Gotteslästerung erreicht; Selbsterhaltung des Leviathan rangiert auf jeden Fall oberhalb der Lebensbedürfnisse der Menschheit. Aber diese Gotteslästerung hat wenigstens noch den düsteren Glanz des miltonschen Satan, wenn die Supermächte die apokalyptische Keule schwingen. Schwarze Komödie wird es, wenn eine der Postkartendamen des 19. Jahrhunderts, wenn eine jener allegorischen Figuren mit den gepanzerten Büstenhaltern, die sich »Britannia« oder »Germania« oder »La France« nennen, solche Gottähnlichkeit anstrebt.

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Doch ist vielleicht gerade diese schwarze Lächerlichkeit nötig, um das letzte konsequente Argument für eine radikale Umkehr zu illustrieren: das Argument des zerrissenen Gesellschaftsvertrages.

Ja, der Gesellschaftsvertrag ist zerrissen, und damit die Grundlage für die staatliche und gesellschaftliche Organisation im nüchternsten und konkretesten Sinne. Wenn ein britisches Unterseeboot oder eine französische Raketeneinheit den Weltuntergang einzuleiten vermag, aber außerstande ist, ihn wirksam zu verhindern, so ist bewiesen, daß der Zweck des Gesellschaftsvertrags, nämlich die Herbeiführung eines halbwegs erträglichen Lebens und damit einer halbwegs erträglichen Zukunft für die Untertanen, in sein Gegenteil verkehrt ist. Jawohl, in sein Gegenteil; denn nicht die blutigste Anarchie, nicht der zeitlose Steppenkrieg winziger Stämme könnte das fertigbringen, was heute der Leviathan, der souveräne Staat, spielend fertigbringen könnte: den »zweiten Tod« der Menschheit, den Untergang ihrer Memoria, das Abreißen der Lebenskette zumindest auf der nördlichen Hemisphäre. 

Noch nie in der Weltgeschichte war eine Kultur, die auf so banalen Prämissen beruht, wie unsere gegenwärtige ökonomistische Tiefenideologie, mit so vielen Möglichkeiten ausgestattet, sich selbst und die Welt zu vernichten. 

Ich muß gestehen, daß ich es schade fände, wenn wir dies nicht verhindern könnten. Doch welches sind hierzu die wirksamen Mittel? 

Das Potential ist da, und es wäre wohl eine Illusion, zu glauben, daß wir den Verlockungen des Machbaren mit unserer bisherigen kulturellen Ausstattung entrinnen könnten. Es gibt einen einzigen technologischen Trick, den Europa zusammen mit seinen skrupellosen Söhnen inszenieren könnte, einen Trick, der seinem bisherigen Verhalten entspräche — und der geeignet wäre, uns wenigstens auf ein paar Generationen vernünftige Entscheidungsspielräume freizugeben.

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Es wäre dies die Gründung eines internationalen wissenschaftlichen Instituts, welches die Dezimierung der Menschheit in die Wege leiten müßte. 

Es gibt Anzeichen dafür, daß solche Zukunftsspielräume etwa bei 5 Prozent der gegenwärtigen Weltbevölkerung gegeben wären. Das Institut hätte natürlich darauf zu achten, daß der Immunitätsfaktor (denn sicher wäre eine Epidemie die ideale Lösung) nicht an rassische oder geografische Vorteile gebunden wäre. Ebenso würden wir es unserer humanitären Tradition schulden, den Prozeß möglichst schmerzlos zu halten. 

Daß die notwendigen Kapazitäten bereits vorhanden sind und nur der Internationalisierung bedürfen, darf beim sattsam bekannten Rüstungseifer unserer Wissenschaft getrost angenommen werden. Anwendung solcher Mittel wäre jedenfalls zum genannten Zweck um viele Grade ethischer als die Zwecke, die jetzt von der B-Waffen-Forschung angestrebt werden. Moralische Sentimentalität wäre also völlig fehl am Platz.

Wenn ich für meine Person eine solche Lösung ablehne, dann aus einem hauptsächlichen Grund: sie ist mir zu wenig radikal. 

Sie verbleibt im Rahmen jener technisch-wissenschaftlichen Vorherrschaft, welche sich ohne Änderung der gesamten kulturellen Gewohnheiten über kurz oder lang wieder vor den gleichen Problemen fände, die uns heute bewegen. Dabei darf, um jedes Mißverständnis auszuschließen, weder die wissenschaftliche Einsicht, noch das geeignete technische Werkzeug als solche verbannt werden. 

Entscheidend ist vielmehr ihre perspektivische Anwendung in einem Kulturentwurf, der sich radikal von unserem bisherigen unterscheidet. 

Relativer Wert oder Unwert von Techniken, von ethischen Geboten, von Einzelheiten unserer Gesittung müßten zunächst und vor allem von der Überlegung diktiert werden, ob und wie sie der künftigen Bewohnbarkeit unseres europäischen Raumes nützen oder schaden.

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Würden diese Faktoren richtig bedacht, so stünde etwa ein Lobbyist für die Kohle-Industrie, der gegen die Entschwefelung kämpft, im öffentlichen Ansehen weit unter einem Verkäufer sechsjähriger Kinder nach Hongkong. So verächtlich der Kinderhandel erscheinen mag: sein negativer Einfluß auf die Lebens­verhältnisse der Zukunft ist wesentlich geringer, ja fast null, verglichen mit dem Einfluß unseres Kohle-Lobbyisten.

Der entscheidende Maßstab zur Beurteilung einer Region, eines Staatsgebietes, eines Kontinents wäre dann nicht mehr seine sogenannte Prosperität, sondern seine relative Unverwundbarkeit, seine relative Sturzhöhe im Fall menschengemachter oder natürlicher Katastrophen. Diese Sturzhöhe ist gegenwärtig ungeheuer. Und gerade das ist es, was die Umstellung für Europa so dringlich macht. 

Diese Sturzhöhe läßt sich zum Beispiel nur reduzieren bzw. beseitigen, wenn unsere Landwirtschaft auf Subsistenz-Kreisläufe hin reorganisiert wird. Zur Zeit ist das durchschnittliche europäische Dorf (mit möglichen Ausnahmen in marginalen Gegenden) genau so sturzanfällig wie die Städte: selbst kurzfristiger Ausfall von Energie-Nachschub in Form von Dieselöl, Elektrizität und so fort führte zur Katastrophe, ebenso die Unterbrechung des Lebensmittelnachschubs in einer Welt landwirtschaftlicher Monokulturen. Reorganisation unserer Landwirtschaft im Sinne einer vorstellbaren Überlebensfähigkeit der betreffenden Region könnte und müßte, wenn wir konsequent wären, zu 50 Prozent aus den Verteidigungs-Etats erfolgen. 

Ähnliches gilt von der Energieversorgung. Sie ist hochgradig zentralisiert, je mehr sie vom Gitter der Stromversorgung abhängt, und sie ist ungemein verwundbar — insbesondere dann, wenn es sogenannte friedliche Kernenergie ist, die zunehmende Anteile der Energie liefert. 

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Die Auswirkungen auf die Freiheit der Bürger sind bekannt, spätestens seit dem Fall Klaus Traube; aber was für die künftige Bewohnbarkeit Europas, seine Selbstbewahrung, leider noch schwerer wiegt, das ist die unglaubliche Erpreßbarkeit, die sich allein aus der Existenz nuklearer Energie-Anlagen ergibt. Auch hier käme alles darauf an, diese Erpreßbarkeit zu reduzieren und, wenn möglich, zu beseitigen. Alternative Energiekonzepte — auch sie müßten, wenn es uns wirklich um die Unverletzlichkeit Europas zu tun ist, aus Mitteln des Verteidigungs-Etats subventioniert werden.

Ist die Ent-Nuklearisierung weit genug fortgeschritten, ist Umrüstung möglich; Umrüstung in einem strikt defensiven, nicht-nuklearen Sinne. Wenn sich Europa tatsächlich entschließt, Europa zu werden, ist für eine solche Verteidigung auch genug Raum vorhanden, und sie würde mindestens ebenso »abschreckend« wirken wie zur Zeit das kunterbunte Arsenal der atomaren Schreckenswaffen. Die atomwaffenfreie Zone Europa, von Polen bis Portugal, könnte verwirklicht werden — nicht als einseitige Konzession an den Osten, vielmehr als ein zukunftsträchtiges Modell wirklicher und wirksamer Verteidigung, zu der wir uns als Europäer entschließen.

Auch sie wäre, naturgemäß, ein Durchgangsstadium. 

Ein Durchgang zur einzig denkbaren Verteidigung der Zukunft, der sozialen. 

Sie ist jedoch im gegenwärtigen Zustand unserer Zivilisation ein Wunschtraum. Zu viel entwürdigende, denaturierte, entfremdete menschliche Existenz wartet rings um uns darauf, wieder, jawohl wieder, nach Jahrzehnten der Demütigung durch Hitler und Stalin, zum pensionsberechtigten Blockwart ernannt zu werden. Es bedarf eines langen und schwierigen Weges der Europäer, ehe sie stark genug für eine soziale, das heißt eine gewaltlose Verteidigung sein dürften. Bis dahin haben Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Verteidigungskräfte gemeinsam den Weg aus der katastrophalen Sturzhöhe heraus vorzubereiten. Dazu ist auch eine neue europäische Politik der Institutionen nötig. Wie schon erwähnt, sind die Nationalstaaten die letzten, die eine solche Politik einleiten könnten. 

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Versuchen wir zum Schluß unseren Witz an einem politischen Szenario — einem Szenario für eine vereinigtes Europa, das eine Chance hat, in die Zukunft zu sehen und zu gehen. 

Aus den gemeinsamen Leiden der europäischen Regionen ergibt sich der Entschluß, diesen Leiden gemeinsam entgegenzutreten. In Monaco, in Vaduz oder in Andorra treffen sich die wahren Abgesandten Europas — die Abgesandten seiner deklassierten Minoritäten, die Delegierten der Korsen, Bretonen, Walliser, Schotten, Okzitanier, der europäischen Regionen auch, die um ihre künftige biologische Bewohnbarkeit fürchten — also so gut wie aller. 

Dieser Senat der europäischen Regionen — nennen wir ihn so — erhebt Anklage gegen das Europa der Nationalstaaten. 

Er nimmt sich ein Vorbild an den »Gravamina der Deutschen Nation«, wie sie der Reichstag zu Worms erlebte, oder den »Cahiers de Doléance«, den Beschwerde-Heften, die kurz vor der Französischen Revolution gegen das absolutistische Regime eingebracht wurden. Der Senat der Regionen erklärt sich zur einzig legitimen Vertretung der europäischen Völker — und er hat mindestens so viel Recht dazu wie seinerzeit das Rumpf-Parlament in England, wie seinerzeit der Dritte Stand im Jeu de Paume, im Ballspielsaal zu Versailles Anno 1789.

Der Senat dürfte, aller Voraussicht nach, von einem Leutnant und zehn Mann auseinandergejagt werden; egal, ob sie Francois aus Paris, Helmut aus Bonn oder Felipe aus Madrid losschickt, die Interessen liegen da gleich. Der Senat geht über die nächste Grenze, oder er geht in den Untergrund. Er hört nicht auf, die europäische Legitimität der gegenwärtigen Marionetten-Institutionen neu zu bestreiten. Er entwirft eine europäische Konstitution, die den Namen verdient — die Konstitution einer Födeeration aus fünfunddreißig bis vierzig Regionen, zunächst Mittel- und West-Europas.

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Der Senat wäre, und wenn er nicht anders existierte denn als flüchtiger Schatten von Torre Molinos bis Lübeck, die ständige lebendige Herausforderung der gegenwärtigen pompösen Ohnmacht Europas. Er wäre legitimer als alle gegenwärtigen Regierungen — denn er würde, sofort und jedem einsichtig, auch das Europa der Verlierer verkörpern. Und in enger Verbindung mit dieser Legitimität würde er es sich zur Aufgabe machen, den Regionen konkret Rat und Lebenshilfe zu geben. Er würde sich, zusammen mit den allenthalben in Europa aufstrebenden Minderheiten, die einen alternativen Lebensstil anstreben, der Rehabilitation verödeter oder verödender Landschaften widmen. Er würde den einzigen Minderheitenschutz betreiben, der noch möglich und sinnvoll ist: die Herstellung konkreter Verhältnisse, in denen wieder Kirchturmspolitik, d.h. eine Politik überschaubarer Kompetenzen, betrieben werden kann. Nur in einer solchen überschaubaren Welt wird sich das richtige Werkzeug finden lassen — und der richtige Name für das richtige Werkzeug. Nur in einem Europa der Regionen wird sich gesundes örtliches oder traditionelles Selbstbewußtsein mit gesundem europäischem Selbstbewußtsein verbinden lassen. Und nur in einem solchen Europa kann eine Energiebilanz aufgestellt werden, die nicht auf Zerstörung unserer Zukunft hinausläuft.

Natürlich wird der Senat auch seine politischen Ansprüche an das real existierende Europa von Brüssel und Straßburg anmelden. Er wird hartnäckig seinen Anteil in den europäischen Finanzen beanspruchen. Er wird bekanntgeben, wie er sich seine eigene künftige Finanzierung und die Finanzierung seiner Wiederherstellungsprogramme vorstellt: durch eine radikale Besteuerung von Luft, Wasser, Boden, Energie, genauer gesagt: die radikale Besteuerung jedes Vorgangs, der diese grundlegenden Ressourcen mindert, beeinträchtigt, in nicht vorhersehbarer Weise verändert.

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Nur eine solche Besteuerung wäre imstande, den grauenvollen Betriebs-Egoismus all der mörderischen Schädlinge zu beenden, die uns, von Sizilien bis zur Nordsee, die öffentlichen Folgen für ihr wahnsinniges Tun aufhalsen. Und die Mittel solcher Besteuerung sind vermutlich wirksamer als technische Vorschriftten, wirksamer als polizeiliche Überwachung, die immer lückenhaft sein wird und vor allem den Nachteil hat, den Menschen gegen die Natur als eine Feindin seiner Bequemlichkeit und seines Wohlbehagens aufzubringen.

Ein wunderliches Szenario? 
Eine seltsame Fiktion? 

Nun, wir könnten auch ohne sie auskommen. Aber nur dann, wenn wirklich eine europäische Kulturrevolution stattfindet; eine Revolution, die viel tiefer greifen müßte als die Revolutionen, die wir aus unserer Geschichte kennen. Welche Veränderungen ergaben sie denn schon, diese Revolutionen, außer der Veränderung der führenden Schichten, die dann unter der Anleitung des alten Drehbuchs fortfuhren, das alte Spiel weiterzuspielen? Die wirklichen Revolutionen, etwa die neolithische, waren schweigsamer und griffen tiefer. Eine solche schweigsame und tiefgreifende Revolution braucht heute Europa, und die mehr oder weniger wahnsinnigen Szenarios, die ich Ihnen angeboten habe, dienen im Grunde nur dazu, zu zeigen, wie oberflächlich, wie viel zu wenig radikal sie die europäischen Dinge verändern würden.

Doch die richtigen Schritte in die richtige Richtung könnten heute schon unternommen werden. Heute schon könnten wir damit beginnen, Europas Sturzhöhe zu vermindern, seine selbständigen Kompetenzen zu vermehren, die Gesundheit seiner Regionen wiederherzustellen, seine Position in einer waffenstarrenden Welt zu verbessern. 

Und Gottseidank gibt es auch europäische Traditionen, die uns dabei helfen können — es ist durchaus nicht notwendig, dle Blicke auf japanischen Zen und indische transzendentale Techniken zu richten. Wir haben nicht nur eine franziskanische, eine bruderschaftlich-protestantische Tradition, wir haben eine benediktinische, deren großer möglicher Beitrag zu einem gemeinschaftlichen Leben in ökologisch determiniertem Frieden viel zu wenig erörtert wird. 

Wir haben die großen Träume der Sozialisten, der Anarcho-Syndikalisten, der modernen Lebens-Erneuerer. Es wäre nicht nur unpraktisch, es ist de facto unmöglich, ein besseres Europa ohne die besseren Traditionen Europas zu errichten. Dazu ist Engagement notwendig, Forschung, wissenschaftliche Unerschrockenheit, vor allem aber der feste Entschluß, Europa nicht aufzugeben. 

Right or wrong my country, right or wrong our Europe — die Sentenz wird in der Regel falsch interpretiert. Sie will nicht besagen, daß wir durch dick und dünn, durch jede Schurkerei unserer Kumpanei die Stange halten sollen. Sie will vielmehr besagen, daß wir, ob uns das zusagt oder nicht, an unser Land, unser Europa mit all seinen schrecklichen Vergangenheiten gebunden sind; daß uns gerade dieses historische Entsetzen dazu verpflichtet, Europa in all seinen Sünden nicht im Stich zu lassen. 

Dann kann es uns wieder das werden, was der Bauerndichter Vergil als Heimat beschrieb — iustissima tellus, allgerechte Erde, die uns eben auch nicht im Stich läßt, wenn wir ihr unser Mühen zuwenden.

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