7 - Utopisten gegen Realisten
Amery-1983
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Die Ausgangslage für diesen Wahlkampf ist klar: Wir (die wenigen Realisten in der bundesdeutschen Politik, und vorläufig ziemlich ohnmächtig) haben anzutreten gegen eine mächtige Allianz von Utopisten und Traumtänzern, die sich selbst allerwichtigste Tatsachen vorenthalten und sie dem Wähler vorenthalten wollen.
Sie werden - wenn sie weiter das Sagen haben sollten - diese Republik unregierbar machen. Diese Spinner gehen von einer Utopie aus, die, wie alle großen Utopien, zu ihrer Zeit ein gut Teil Wahrheit und eine Menge Begeisterungstreibstoff enthielt.
Es war die Real-Utopie der Neuzeit, und sie hatte mehrere Verfasser:
Francis Bacon, der in seinem Buch vom <Neuen Atlantis> eine machbare Welt der regierenden Naturwissenschaft prophezeite;
Adam Smith, der erwartete, daß die <Unsichtbare Hand> den lieben Gott ersetzen und gemeine Antriebskräfte wie den wirtschaftlichen Egoismus zum Nutzen aller wenden würde;
und nicht zuletzt Niccolo Machiavelli, der das Gleiche von der durchdachten politischen Skrupellosigkeit erhoffte.
Restlose Regierbarkeit der Welt; restlose Verfügung über Dinge und Menschen mit Hilfe unbegrenzter Energie, unbegrenzter Ressourcen und, in ihrer Folge, unbegrenzter Wohlstand: das war die Zielvorstellung dieser Utopie. Zwei Grundannahmen waren dafür unumgänglich:
daß die Unsichtbare Hand wirklich zum Wohle aller funktionierte, d.h. daß Egoismus, Raffgier und hierauf programmierte Rationalität tatsächlich im Endprodukt Gemeinwohl ergeben würden —
die Unerschöpflichkeit bzw. Unerschütterlichkeit der natürlichen Lebensgrundlagen.
Nun haben Utopien den Fehler, daß sie (wenigstens gelegentlich) wahr werden. Dann enthüllen sie ihre schwachen, ja mörderischen Punkte. Sie scheitern dann an zwei wesentlichen Ursachen:
erstens ihrer Geschichtslosigkeit. Alle »literarischen« Utopien gehen davon aus, daß sich »ideale« Bedingungen aus Zeit und Raum herausnehmen lassen, daß sie der Geschichte entrinnen können. Unsere Utopie, die Utopie der »ökonomistischen Kultur«, hat überhaupt nur so lange funktionieren können, weil sie auf Pump zu leben lernte — auf Kosten der restlichen Lebenswelt, auf Kosten der Zukunft. Heute ist der Punkt erreicht, wo theoretische Grenzen dieser Utopie zu wirksamen historischen Grenzen werden;
zweitens an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit: dem Ziel der Utopie, der Geschichtslosigkeit im Wohlstand, steht ihr Instrumentarium gegenüber, nämlich das Instrumentarium der ständigen Expansion.
Daraus ergibt sich ein notwendig katastrophales Ende der Utopie. Es ist heute schon praktisch wirksam, wirft zumindest seine Schatten voraus. Zwei Beispiele mögen genügen:
erstens die Verteidigungstheorie, die auf »Abschreckung« zusammengeschrumpft ist, setzt das Ende der Geschichte voraus, erfordert aber andererseits zur Erhaltung des sogenannten Gleichgewichts stete Erweiterung des Arsenals — Rüstung, Nachrüstung, Nach-Nachrüstung usw.;
zweitens die Hoffnung auf Sanierung der Wirtschaft durch höhere »Investitionen«, die realiter nur noch als Rationalisierungs-, d. h. Arbeits-Vernichtungs-Investitionen vorstellbar sind.
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Wie verhalten sich nun unsere herrschenden Spinner und Utopisten angesichts dieser Perspektive?
Sie verhalten sich, was weiter nicht verwunderlich ist, ausgesprochen irrational. Da rationale Strategien zur Rettung der Utopie kaum mehr vorstellbar sind, flüchten sie sich in sattsam bekannte pathologische Mechanismen, die alle mehr oder weniger nach dem Schema der Verdrängung arbeiten.
Sechs dieser Muster, die unsere Politik unmittelbar betreffen, seien aufgeführt:
Das Muster des Boten-Mörders: Tyrannen neigten und neigen dazu, Boten, die schlechte Kunde bringen, zu töten oder zumindest in Ketten legen zu lassen. Die Anwendung auf die gegenwärtige Politik liegt auf der Hand — und die Grüne Bewegung ist in der wenig beneidenswerten Lage, dieser Bote zu sein.
Das Muster des frommen Sünders: Schuljungen etwa, welche die Hausaufgaben nicht erledigt haben, erbitten von einem gnädigen Himmel das Abbrennen des Schulhauses vor acht Uhr morgens — oder einen Schlaganfall des Lehrers. Solche frommen Selbstbetrügereien werden etwa im Fall der Atommüll-Entsorgung praktiziert.
Das Muster des Alkoholikers — des Alkoholikers nämlich, der sich von einer Brauereibesitzerin scheiden läßt, aber zur Lösung seines Problems dann eine Schnapsbrenners-Witwe ehelicht. Dieses Muster liegt dem Streit um »Prioritäten« bei Kohle oder Kernkraft für die grundsätzlich kriminell übermäßige Energiefreisetzung zugrunde.
Das Muster des besoffenen Schlüsselsuchers — er sucht den Schlüssel, den er im Dunkel verloren hat, unter der zehn Meter entfernten Laterne, weil er da besser zu finden sein müßte. Neunzig Prozent der heute zur Rettung der Utopie angebotenen Aushilfen fallen in diese Kategorie.
Das Muster des hoffnungslosen Chirurgen — er hat die Bauchdecke des Patienten geöffnet, stößt auf einen Zustand, den er nicht operieren kann, schließt die Bauchdecke und verschreibt dem erwachenden Patienten eine leichte Diät, etwas Bewegung und Plazebos. Wenn nicht alles trügt, gehören so prominente Vorkämpfer der Utopie wie F.J. Strauß und Helmut Schmidt in diese Sparte.
Das Muster des faulen Zaubers, d.h. der primitiven Magie. Versöhnungsgesten wie die gegenwärtige TA Luft, Landschaftsverschönerungs- und Erhaltungsaktionen, Kartierungen von aussterbenden Arten und schwindenden Biotopen gehören zu dieser Praxis, die bestimmt nicht so sinnvoll ist wie das Schlachten eines schwarzen Hahns oder das Aufstecken einer Votivkerze.
Es ist natürlich unvermeidlich, daß bei so irrationalem Verhalten der Spinner und Traumtänzer die Republik zunehmend unregierbar wird. Die Wälder sind es bereits: sie folgen keinem Wiederbelebungskommando der regierenden Utopie, genausowenig wie das verpfuschte Grundwasser und die vergifteten Flüsse.
Ebenso unausweichlich wird die Unregierbarkeit auf die Herzen und Hirne der Menschen übergreifen, deren Ängste, und zwar voll berechtigte Untergangs-Ängste, sich nicht dauernd nach Methode Coue, also durch Selbst-Suggestion, behandeln lassen.
Letzten Endes — tief innen — wissen die Utopisten natürlich, daß sie mit ihren Rezepten am Ende sind; und deshalb erklären sie — wiederum letzten Endes —, die entscheidenden Fragen der Zukunft als unlösbar.
Wir glauben es nicht.
Wir glauben allerdings auch nicht, daß wir von heute auf morgen das fertige Konzept einer neuen Utopie aus der Tasche ziehen können — schließlich sind wir Realisten. Wir erkennen aber heute schon Dutzende von realen und reellen Möglichkeiten, die Richtung zu ändern — die Anstrengungen und die freie soziale Energie von Vielen auf die richtigen Ziele zu lenken.
Dies und nichts anderes steht zur Debatte: schlechte Utopie gegen hoffenden Realismus — und Regierbarkeit oder Unregierbarkeit des Landes und der Menschen.
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Carl Amery 1983