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 Teil 3  - Politik und Ökologie 2  -  Die Schatten werden länger  

   1 Kassandra

 

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Warum stockte der Kreuzzug in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre? Man hat gute Gründe dafür gefunden - unter anderem den allgemeinen Bewußts­einswandel - und weniger gute, etwa den immer desolateren Zustand der Grünen und die Energie, die dadurch von den Bürger­initiativen abgezogen wurde. 

Wichtiger scheint mir zu sein, daß um 1985 die Theorie-Arbeit zu stagnieren begann. Sie war und ist längst in die Fachbereiche des Akademischen abgeglitten. Und noch wichtiger: das Beharrungsvermögen der meisten »organischen Intellektuellen« (also der Leute, die fürs Denken bezahlt werden) hat es fertiggebracht, die Grüne Sache auf ein psychologisches oder soziologisches Feld zu transponieren. 

Die Bedrohung blieb so isoliert, verdrängt. Damit liegt ein Verrat vor, ein ungeheuerlicher Verrat: eine <trahison des clercs>, also ein Verrat der artikulierenden Klasse. (Der französische Ausdruck stammt aus der Zwischenkriegszeit und wurde damals auf die Ohnmacht gegenüber dem Faschismus angewandt.) 

Nur dieser Verrat an der eigenen Verantwortung, dieses Ausweichen vor der Unerbittlichkeit des Nachdenkens, hat es ermöglicht, daß mit der zweiten, der größeren internationalen Wende, markiert durch die Wahl des Großen Darstellers in den USA, die Rückkehr der alten, scheinbar längst ausgetriebenen Dämonen begann: sie fanden ihre alte Wohnung wieder vor, leer und besenrein. Der Rückschlag bringt seine eigenen Vorteile mit sich: man wird selbstkritischer. 

<Ist Kassandra verstummt?> Das ist zunächst eine Frage an den Autor selber. Der Vortrag wurde im Münchener Bibliotheksbau am Gasteig gehalten und in <Natur> veröffentlicht. Unschwer wird der Leser erkennen, daß darin der alte Bileam wieder auftritt — genauer gesagt: sein Esel...

Genauer, differenzierter wurde auch die Auseinandersetzung mit den anthropologischen Problemen im weitesten Sinne. Das holde Vor-Urteil für archaisch-animistische Weisheit (noch immer in New-Age-Kreisen virulent) hat abgenommen, auch hier wurden und werden die Schatten länger. Die Überlegungen über »ethische Entscheidungen und ökologische Perspektiven« trug ich 1987 in Edinburgh vor, im dortigen <Centre for Human Ecology>, das mein Freund Ulrich Loening leitet. (Überhaupt war der Zugewinn an internationalen Freundschaften ein tröstlicher Aspekt dieser Jahre.)

Damit es etwas lustig wird, füge ich noch eine kleine Marginalie von 1989 zur Autokultur hinzu, eine »Sinnvolle Verteufelung«. Sie soll zeigen, mit welchen massiven Schwachsinnigkeiten die ökologische Perspektive auch heute noch rechnen muß.

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1. Ist Kassandra verstummt?   

(1987) 

 

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Wer war Kassandra? Wer oder was ist sie heute? In den meisten Köpfen nicht mehr als ein Signal, ein zu heulender Wehklage geöffneter und gerundeter Mund, eine unpraktische Unwirklichkeit, eine die öffentlichen Angelegenheiten störende, doch gottseidank nicht ernst zu nehmende Hysterie.

»Kassandra wird nicht gewählt«, sagte jüngst ein Politiker kategorisch, und damit ist sie erledigt. Der dreiste kleine Sozialminister zieht, wenn ich recht zugehört habe, im Bundestag öfters den Namen der mythischen Prophetin im genannten Sinne denunzierend heran. Ja, der Name ist heute negativ besetzt, wie das so schön heißt; man glaubt den, welchen man damit dekoriert, in die Ecke gedrängt, disqualifiziert, geschlagen zu haben. 

Die Kassandra-Rufer, die sind ja in der Regel identisch mit den Kultur-Pessimisten, den Angst- und Panikmachern, den Schwarzmalern, die durch ihre Prognosen unsern Schwung, unseren Fortschritts-Elan lähmen oder brechen wollen. Wie gut also, daß Kassandra nicht gewählt wird...

Angesichts solcher Festlegung ist es doch wohl nützlich, sich die mythisch-antike Figur etwas genauer anzusehen. Wiederholen wir die Eingangsfrage also ganz lexikalisch, schlagen wir in einem Wörterbuch der griechischen Sage nach: wer war Kassandra?

 

Sie war eine Tochter des Troer-Königs Priamos und seiner Gemahlin Hekuba, und sie war zur Priesterin Apolls bestimmt. Der Gott liebte und begehrte sie und verlieh ihr die Gabe der Weissagung. Sie wies seine stürmischen Avancen zurück, und zur Strafe schlug sie der Gott mit dem Fluch, daß niemand ihren Prophezeiungen glauben würde. 

Ja, das Geschlagensein mit der Gabe der Weissagung: sie waren sehr scharfsichtig, diese Alten, sie verstanden etwas von kollektiver Psychologie

Kassandra sah das ganze Entsetzen des Krieges voraus; den Untergang ihrer Vaterstadt, den Brand und den Jammer, den Tod ihrer Lieben, ihre eigene Vergewaltigung durch den Lokrer Ajax; sie allein warnte (umsonst natürlich) vor dem trojanischen Pferd, und sie, bei der Verteilung der Beute als Sklavin dem siegreichen Eroberer und Oberfeldherrn Agamemnon zugelost, wußte ihn und sich verdammt zu blutigem Tod nach seiner Rückkehr in den buhlerischen Palast von Mykene. 

Zweierlei ist also für Gestalt und Geschick der Kassandra entscheidend:

Erstens, sie hatte immer recht. Alles, was sie voraussah, traf ein, von Anfang bis zum Ende der troischen Tragödie und ihrer Folgetaten. Und zweitens, ihr wurde nie geglaubt. Sie wurde immer ausgelacht, wenn sie den Mund zur Prophezeiung öffnete — und vermutlich bot sie, in der schamanischen Trance der vorweltlichen Priesterin, einen für aufgeklärte Troer und Griechen durchaus lächerlichen Anblick. Der Fluch dieser steten Zurückweisung, dieser Einsamkeit in ihren schrecklichen Gesichten war allerdings notwendig, soviel ist klar; notwendig, wenn sich das vom unerbittlichen Schicksal verhängte Ende sowohl Trojas wie Agamemnons programmgemäß vollenden sollte.

Recht haben und nicht ernst genommen werden — diese schicksalhafte Verknüpfung ist das Signalement Kassandras geblieben, durch die Jahrtausende bis auf den heutigen Tag. Sind sich die mehr oder weniger satten, mehr oder weniger selbstgefälligen, dümmlich-optimistischen Typen, die Kassandra für unwählbar und damit für unwichtig erklären, eigentlich klar darüber, wo und wie sie sich mit solcher Benennung einreihen? Sie erklären sich selbst zu bereits Verfluchten und Gezeichneten, denen ein Gott versagt, sich über die wirkliche Lage klar zu werden und dann vielleicht doch noch das Richtige, vielleicht doch noch zur rechten Zeit zu tun.

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Nun ist aber Kassandra nicht die einzige Verkörperung der Unheilsprophetie in unserer abendländischen Tradition. Neben dem steinschweren Schicksal, der Moira, der unentrinnbaren, das uns die Antike überliefert hat, steht der alttestamentarische Prophet des Unheils, als der bekannteste von ihnen Jeremias. Jeder dieser jüdischen Unheilspropheten aber, selbst der, welcher das schwärzeste Unheil beschwört, ist gleichzeitig und in erster Linie Bußprediger, d.h. er ruft zur Umkehr auf. Er spricht im Indikativ: dies und jenes wird geschehen, dies und jenes Unglück wird hereinbrechen — aber oft genug, so etwa im Falle des Propheten Jonas und seiner Botschaft an das gottlose Ninive, widerlegt Gott selbst seinen Unheilsboten, ohne dem Propheten davon Mitteilung zu machen: das Verhängnis ist nie unwiderruflich, vorausgesetzt, die Botschaft wird gehört und beherzigt.

In diesem Spannungsfeld — dem Feld zwischen unwiderruflichem Verhängnis und durch Umkehr widerrufener Gefahr — steht alle heutige Prognostik.

Aber sprechen wir jetzt von der Kassandra, um deren Verstummen es hier geht, von der modernen, gewissermaßen kollektiven Kassandra des Dilemmas der gegenwärtigen Menschheit! 

Sie begann ihre Stimme kurz vor i960 zu erheben, nicht ohne Vorläufer auch in Deutschland gehabt zu haben — aber allen hörbar wurde die Botschaft aus dem angelsächsischen Bereich. Der Name, den man dort solchen Warnern umhängt, lautet bezeichnenderweise Doomsday Prophets, Propheten des Jüngsten Tages also. So nannte und nennt man jene meist biblisch-bärtigen Typen, die in den Straßen der amerikanischen und englischen Großstädte, vornehmlich an den Freistätten für Redner wie dem Londoner Hyde Park Corner, ihre düsteren Rufe ausstoßen oder ihre Plakate emporrecken: Repent, repent, the end is at hand tut Buße, das Ende ist nah! 

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Dem Ausdruck haftet also ebenfalls etwas Gutmütig-Geringschätziges an: die Reaktion des sogenannten gesunden Menschenverstandes und des Urvertrauens in den normalen Gang der Dinge auf etwas Anormales, das nicht ernst genommen werden kann. Aber die Botschaft, die nun von diesen Propheten verkündet wurde, war zu gewichtig und wissenschaftlich zu wohlfundiert, um nicht doch ernstgenommen zu werden. 

Die erste bedeutende Persönlichkeit, die den neuen Kassandrarufausstieß, war (bezeichnend oder zufällig) eine Frau: die Amerikanerin Rachel Carson

Ihr Buch, das 1962 erschien und den Titel »Silent Spring« (Der stumme Frühling) trug, wurde eine Art Grundschrift der neuen ökologischen Bewegung. Dabei war die Warnung, die es formulierte, nach heutigen Begriffen harmlos und beschränkt; es ging um das Verstummen der Vögel und Grillen, bedingt durch die rücksichtslose Verwendung von Pestiziden und Herbiziden in der Landwirtschaft, die den Artenreichtum des Lebens zu veröden droht.

Dann verlängerte sich die Liste rasch — Paul Ehrlich, Gordon Rattray Taylor, Edward Goldsmith, um nur ein paar Namen zu nennen. Namen von Concerned Scientists, von »besorgten Wissenschaftlern«, wie man sie rasch benannte. Mit ihrem Einstimmen in den Kassandraruf erweiterte sich der Blickwinkel der Visionen: die Bedrohung der Menschheit, ja der gesamten Biosphäre wurde in ihrem vollen Umfang sichtbar. Sie umfaßte nun alle die Klagen, die noch heute die weltweite ÖKOPAX-Bewegung in den entwickelten Nationen umtreibt: Klagen über Bevölkerungs-Explosion, Nahrungsverknappung, Ressourcenschwund, Umweltzerstörung, die nukleare Krise und das Außer-Rand-und-Band-Geraten der Naturwissenschaft und der Technik.

Was noch fehlte, brachte das Jahr 1972 ein: die feierliche wissenschaftliche Priesterweihe durch den Computer.

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Ja, Kassandra bediente sich der Computer von MIT, die »Grenzen des Wachstums« warfen die Schrecken der Zukunft nicht mehr nur in warnenden Bildern, sondern in graphischen Kurven an die öffentliche Leinwand. Deutlich wurde, daß fast alle Parameter, alle Zielrichtungen, die bisher als unbestrittene Wegweiser und Voraussetzungen des Fortschritts gegolten hatten, in eine globale Düsternis, ja in ein globales Todes-Erlebnis führen würden. Gewiß, man hat dem Szenario »Grenzen des Wachstums« mittlerweile Dutzende von Fehlern, groben Verallgemeinerungen, unzulässigen Extrapolationen nachgewiesen; fest steht, daß sein Grundansatz bis heute nicht widerlegt und durch Nachfolge-Studien wie GLOBAL 2000 erhärtet worden ist.

Widerlegt wurde die erste Generation der »Besorgten Wissenschaftler« und Kassandras an einem ganz anderen Punkt. Sie unterbreiteten nämlich der Öffentlichkeit ihre Befunde in dem guten, unter Naturwissenschaftlern häufig anzutreffenden naiven Glauben, daß solche Aufklärung die Regierenden in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft veranlassen würde, das Richtige zu unternehmen. 

Es ist heute fast atemberaubend, diese alten Vorschläge wiederzulesen, mit denen etwa Paul Ehrlich, Edward Goldsmith (in seinem »Planspiel zum Überleben« von 1972), der Club of Rome und andere an die Mächtigen herantraten — in der Regel sahen sie, um E. Goldsmith zu zitieren, a series of humane and orderly measures, eine Reihe von humanen und geordneten Maßnahmen vor, mit deren Hilfe die notwendige Umkehr kanalisiert, das sonst unvermeidliche Menschheits- und Welt-Chaos vermieden werden könnte. 

Diese besorgten Wissenschaftler empfanden sich eben nicht als Renegaten und Oppositionelle; im Gegenteil, sie fühlten sich als verantwortliche Bürger einer entwickelten, rationalen Weltgesellschaft, die einen wichtigen und (in ihren eigenen Augen) unentbehrlichen Beitrag zu ihrer Erhaltung leisten wollten.

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Daß sie gerade dadurch zu Renegaten wurden; daß die Weltgesellschaft nicht den geringsten Wert auf Umkehr legte — diese Lektion begriff erst die nächste Generation (zu der sie dann teilweise selbst gehörten). In dem Augenblick aber, wo dies begriffen wurde, enthüllte sich Kassandras Botschaft als politischer Sprengstoff — als der gefährlichste vielleicht, der bisher je an die Fundamente der Macht gelegt wurde.

Doch davon später. 

In den späten siebziger Jahren schien es eine Zeitlang, als seien Mächtige wirklich drauf und dran, wenigstens die allgemeine Tendenz der Botschaft zu begreifen. Der Wichtigste war vielleicht der US-Präsident Carter, der leider kein guter Politiker war, dessen Andenken jedoch viel mehr als nötig geschmäht wird. Er erkannte die Ölkrise als das, was sie (wie jede Krise) sein konnte: als moralische Herausforderung, ja, als the moral equivalent of war — als moralische Herausforderung, die in ihrem Ernst und Umfang einem Krieg gleichkam. Er war es auch, der den Bericht »GLOBAL 2000« in Auftrag gab. Nun, wir wissen, woran Carter scheiterte. 

In der Bundesrepublik scheiterte die Regierung Brandt, unter der die SPD drauf und dran war, wichtige ökologische Einsichten in ihre politische Plattform zu nageln. Der harte Kurswechsel unter Helmut Schmidt 1974 machte solchen Aussichten ein Ende, und Kassandra wurde wieder das, was sie politisch in der Regel war und ist: Opposition.

Es war dies wohl auch kaum zu vermeiden. In der Bundesrepublik bewirkte Kassandra immerhin das Äußerste, was von ihr erwartet werden konnte: das Entstehen und die Festigung einer ÖKOPAX-Bewegung, welche sogar die Parteienlandschaft veränderte. Wenn man aber bedenkt, was für unser modernes, sattes, durch Jahrhunderte kolonialen Ausgriffs an Wohlstand und Machbarkeit gewöhntes Troja auf dem Spiel steht, war die Regression, die lachhafterweise unter dem Namen »Wende« läuft, wahrlich vorprogrammiert.

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Denn schließlich schrie und schreit Kassandra gegen die machtvollste Zivilisation an, die die Welt bisher gekannt hat. 

Es ist, kurz und grob gesagt, die Welt des Westens — eines Westens, dessen wesentliche Grundlagen in marxistischer Interpretation weit nach Osten vorgestoßen sind. Es entspricht der inneren historischen Logik, daß diese marxistische Interpretation kaum mehr in der Lage ist, sich gegen die letzte und triumphalste Ausprägung der westlichen Zivilisation zu verteidigen: den unbeschränkten Konsumismus. (Es wird in den nächsten Jahren sehr interessant werden, die Schachzüge des dynamischen Generalsekretärs in diesem verzweifelten Spiel zu verfolgen.) 

Die wichtigste Waffe des Westens ist, global gesprochen, der »neidvolle Vergleich«. Er ist die Falle, in die sämtliche Revolten gegen den Westen und seinen Imperialismus unweigerlich zu rennen scheinen: der Erfolg der Revolte wird früher oder später daran gemessen, ob es ihr gelingt, »aufzuholen« — d.h. die Produktions-, und Konsumtions-Standards der Entwickelten zu übernehmen. So entstehen psychologisch einleuchtende, aber für die Zukunft katastrophale Fronten. 

Der Versuch etwa, ein »Volksauto« einfachster Bauart und schonendsten Materialverbrauchs für die sogenannte Dritte Welt zu entwickeln, wird von den Sprechern dieser Welt zurückgewiesen und als Versuch des Westens denunziert, ihnen ein Sklaven-, ein Proleten-, ein Armengefährt aufzuhalsen. Oder: die Rufe Kassandras nach Geburtenkontrolle und Bevölkerungsbeschränkung stehen von vornherein unter dem Verdacht, Werkzeuge zur weiteren Niederhaltung der farbigen Welt zu sein. Daß gerade die farbige Welt früher und grausamer an diesem Aufhol-Utopismus scheitern dürfte als der Westen selbst — das ist als Erkenntnis ganz offensichtlich nicht abzuverlangen.

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Umso wichtiger wäre es, daß Kassandras Ruf, daß der Umkehr-Ruf der Bußpropheten im Westen, in den entwickelten Metropolen, gehört und verstanden wird. 

Was aber erleben wir zumindest seit 1980?

Die USA, also die Metropole der Metropolen, hatten sich in diesem Jahr bereits für Ronald Reagan entschieden. Es wäre töricht, die <Wende>, die so sichtbar wurde, an seiner Gestalt und seinem Namen festzumachen. Wichtiger ist, daß für das Geschäft der Regression, die man sich leistete, sein spezielles Talent, sein spezielles Profil benötigt wurde. Und es hing natürlich mit solchem Geschäft zusammen, daß der Bericht <GLOBAL 2000> sofort in der hintersten Schublade der nationalen Verdrängung verschwand. Es ergab einen Sinn, daß der Großangriff auf Bodenschätze, die häufig genug in Nationalparks oder Indianer-Reservaten lagen, vehement anlief. Es ergab einen Sinn, daß als erster Naturschützer, nämlich als Innen-Minister der ersten Reagan-Administration ein fundamentalistischer Christ eingesetzt wurde, der ohnehin vom baldigen Kommen Jesu überzeugt war und der Evolutionslehre kritisch gegenüberstand.

Dabei konnte und kann natürlich keine Rede davon sein, daß sich Kassandras Daten geändert hätten, daß sie widerlegt worden wären — im Gegenteil, das wissenschaftliche Bild rundete und ergänzte sich seit 1980 in erschreckendem Maße. Seine bisher unheimlichsten Facetten sind meiner Meinung nach erstens die Tatsache, daß sich über dem Südpol ein Ozonloch Jahr um Jahr rapide erweitert, und daß zweitens die große Klimamaschine, so unerklärlich sie uns noch sein mag, immer deutlichere Anzeichen dafür aufweist, daß sie insgesamt ins Schleudern geraten ist. Was immer die Ursachen dafür sein mögen, — anthropogen, d.h. vom Menschen verursacht, sind sie allemal. Kassandras Ruf wurde zudem durch das ergänzt, was man in frömmeren Zeiten himmlische und irdische Zeichen genannt hätte. 

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Die Zeichen tragen geographische Namen, die jeder kennt: Bhopal, Seveso, Harrisburg, Tschernobyl, Basel. Es ist stochastischer Zufall, daß sie nicht Cattenom, Sellafield, Hoechst, Gundremmingen heißen. Man verschone uns doch mit ideologisch-geopolitischen Spitzfindigkeiten: das Katastrophensignal ist einer Kultur der Energiesucht und der technischen Gewalttätigkeit inhärent, die himmlisch-irdischen Zeichen gelten uns allen, in Ost und West, in Nord und Süd. Und die Wirkung?

Zweifellos, zunächst war sie immer gegeben, und oft genug mochte sie die Hoffnung auf Umkehr beleben. Hunderttausende von Müttern, Landwirten, Rentierzüchtern, die alle vor ein paar Kaffeelöffeln radioaktiver Elemente in Europas Atmosphäre zitterten; eine komplett vergiftete Ortschaft in Oberitalien; ein bis auf die Mikro-Organismen herab abgetöteter Rhein: das waren schon Fakten, die auch politische Fakten werden konnten. 

Aber in den Bastionen der Macht sowohl wie in der Psyche der Mehrheit haben sie wenig, allzuwenig bewirkt. Sieben Wochen nach Tschernobyl fanden Wahlen in Niedersachsen statt — sie wurden nicht zum Signal, zum Datum der Umkehr, sondern vielmehr zum Signal und zum Datum des Wiedererstarkens der Regression und der Unbußfertigkeit. Und selbst Tschernobyl konnte den Trend nicht mehr wenden. Aber ist es wirklich so schlimm? Hat Kassandra (über die Existenz der ÖKOPAX-Bewegung hinaus) wirklich gar nichts bewirkt? Spielt das Umwelt-Problem (um nur den wesentlichsten Punkt zu nennen) in den Wahlkämpfen nicht eine zunehmend wichtigere Rolle? Ein kluger Franzose (ich glaube, es war La Rochefoucauld) hat einmal die Heuchelei die »Verbeugung des Lasters vor der Tugend« genannt. Wird dieser Diener vor der nötigen Umwelt-Tugend nicht tagtäglich in allen Medien vollzogen, und zwar von Entscheidungsträgern jeder Richtung?

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Die Frage macht es notwendig, auf einige der Mechanismen einzugehen, mit denen sich die herrschende Regression, die herrschende Wachstums-Ideologie Kassandras (oder des Propheten) Botschaft vom Leibe hält. Es sind dies zweifellos höchst traditionsreiche Mechanismen, die sich in der Regel sehr gut an die sogenannten modernen Umstände anpassen lassen und angepaßt haben. Eine ganz exakte Systematik ist natürlich nicht möglich, manchmal überschneiden sich die Mittel und Motive, aber wenn man dies berücksichtigt, ergibt sich doch sehr viel Erhellendes bei solcher Betrachtung.

 

Unterscheiden wir also, im Kampf gegen Kassandra bzw. den Unheils-Propheten, folgende Tätertypen: 

 

1. — den Propheten- oder Boten-Mörder. 

Aus der älteren Geschichte wissen wir: Stammeshäuptlinge, Tyrannen, Feldherrn neigen dazu, Boten, welche schlechte Kunde überbrachten, zu töten oder sonstwie zum Schweigen zu bringen. Die Grüne Bewegung, die in der wenig beneidenswerten Lage ist, dieser Bote zu sein, sieht sich — in etwas zivilisierteren Formen, versteht sich — oft genug in der Lage des Boten. Entsprechende Mordwirkung läßt sich durchaus auch erzielen, wenn man die Hiobsbotschaft in der Öffentlichkeit entsprechend unterdrückt oder entstellt. Dafür gibt es zahlreiche Methoden — von der Plazierung in den Meldungen und Magazinen bis zur glatten, nackten Zensur. Dieser muß, zum Beispiel, die Tatsache zum Opfer fallen, daß der Widerstand gegen die WAA in Wackersdorf zu neunzig Prozent christlich artikuliert ist. 

Möglich ist dies alles — die Erstickung oder zumindest Knebelung der Botschaft — in erster Linie wegen der Existenz der sogenannten Informations­gesellschaft. Sie bietet und empfängt eine derartige Überfülle von Informationen, daß wiederum ein Ordnungsgitter, ein Sortier- und Prioritäten-Verfahren notwendig ist, um die sich überlappenden Botschaften wenigstens scheinbar verständlich zu machen. 

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Genau dieses Ordnungsgitter aber ist es, das die Botschaft, konsequent verstanden, zerstören muß. Der Bock — nämlich die troische Ideologie — entscheidet also über die Botschaft Kassandras, ist ihr Gärtner. Die Folge davon erleben wir täglich.

In engem Zusammenhang damit steht ein anderer Typus: 

2. — die Verhöhnung Kassandras.

Ihr ungepflegtes Äußeres, ihr skandalöses Benehmen, der schrille Ton ihrer Wehklage ist, wie schon erwähnt, aufgeklärten und zivilisierten Troern wie Griechen ein Greuel. Die Tatsache, daß die kollektive Kassandra Schlips und Kragen verabscheut, auf die kulturellen Signale nicht eingeht, daß sie abnorme Sitten pflegt, dient als Beweis für ihre Un-Möglichkeit im wörtlichsten Sinne: sie benimmt sich unmöglich, also ist auch ihre Botschaft unmöglich. Daß Kassandras oder des Unheilspropheten Abnormalität ein Signal für die Gefährlichkeit der bisherigen Normalität an sich sein könnte, wird naturgemäß verdrängt. (Dieser Typus überschneidet sich mit einem anderen, nämlich dem Typus des Urvertrauens, über das noch zu sprechen sein wird.)

Aber selbst bei teilweiser Akzeptanz der Botschaft; etwa bei Anerkennung der Notwendigkeit, etwas für die »Umwelt« zu tun, ist noch eine Reihe von Verhaltens- und Argumentationsmustern möglich, die Kassandras Ruf verfälschen, ja umkehren. Da ist, zum Beispiel, 

3. — der Typus der Schlüsselsuche unter der vertrauten Laterne. 

Die Geschichte ist bekannt — die Geschichte des Betrunkenen, der seinen verlorenen Schlüssel im Helligkeitskreis der vertrauten Laterne sucht. Er weiß zwar mehr oder weniger genau, daß er ihn da hinten irgendwo im Finstern suchen müßte, aber logisch wie er ist, geht er davon aus, daß er ihn dort ohnehin nicht finden würde. Das gebückte, emsige Spähen in den vertrauten vier Quadratmetern vermittelt ihm (wenn nicht schon den Beiständern) das Gefühl,

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das Problem erkannt zu haben und etwas dagegen zu tun. Unter diesen Typus fallen alle die politischen Angebote, die dem ökologischen Problem mit mehr Bruttosozialprodukt und dem Rüstungsproblem mit mehr Nachrüstung beikommen wollen. Es fallen darunter die meisten Rezepte, die irgendwann und irgendwie von Versöhnung reden — Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, Versöhnung von Umwelt und Arbeit, von Frieden und Sicherheit, von Bündnistreue und Selbständigkeit. Die Komplikationen der praktischen Politik sind selbstverständlich in Rechnung zu stellen, und oft mag auch der zweckmäßige Kompromiß geboten sein, wenn die Richtung stimmt, nämlich die Richtung auf den notwendigen Umbau der Gesellschaft. In der Regel jedoch bezweckt das Versöhnungsgerede genau das Gegenteil: das sogenannte Umwelt-Problem oder Sicherheits-Problem aus dem bedrohlichen Dunkel ins Licht des kulturell und politisch Vertrauten zurückzuholen. Dort ist es aber beim besten Willen nicht mehr zu finden — eben, weil es uns nebenbei, bei unserem betrunkenen Weg durch die Finsternis, ausgekommen ist.

Es ließe sich von diesem Typus ein Sub-Typus abspalten, welchen man den des planenden Alkoholikers nennen könnte. Dieser planende Alkoholiker hat ein Problem — der Stoff geht ihm aus. Er sieht zwei Lösungen: nämlich entweder die Witwe eines Bierbrauers oder die eines Schnapsfabrikanten zu heiraten. Diesem Subtypus gehören alle Argumente an, die etwa den Ausbau der Kernkraft befürworten, weil uns die Kohle bzw. das Öl ausgehen. Das Kernproblem des Alkoholikers, seine Verfallenheit, entspricht dem Kernproblem unserer Gesellschaft: der Süchtigkeit auf Energie. Alle Substitutionen, die innerhalb des ungelösten oder als unlösbar klassifizierten Kernproblems gemacht oder vorgeschlagen werden, fallen unter diesen Typus — entweder des alkoholisierten Schlüsselsuchers oder des pfiffigen alkoholischen Freiers.

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Ernster schon ist der Typus, den ich

4. — den Typus des hoffnungslosen Chirurgen nennen möchte. 

Er hat die Bauchdecke der bestehenden Macht- und Überflußgesellschaft geöffnet; er stößt darunter auf einen Zustand, den er als ernst erkennt, und diagnostiziert ihn als unheilbar. Er schließt die Bauchdecke, schafft den Patienten in seine vertraute Umgebung zurück, verschreibt dem aus der Narkose Erwachenden eine leichte Diät, Enthaltsamkeit von Zigaretten und Alkohol und einige schmerzstillende Mittel. Zum ersten Mal in unserer Betrachtung wage ich den Namen eines bekannten Entscheidungsträgers zu nennen: Helmut Schmidt. Ich bin fest überzeugt, daß er den Typus des hoffnungslosen Chirurgen ziemlich rein verkörpert. Er war und ist zu gescheit, um die Dimensionen des Dilemmas der Menschheit nicht in ihrem ganzen Umfang wenigstens zu ahnen. Aber er hat, in die Regierungsverantwortung gestellt, den einsetzenden Klärungsprozeß, d.h. Diagnoseprozeß in seiner Partei abrupt abgebrochen. Er hat sich von Aufgaben, die er als unlösbar diagnostizierte, wieder denen zugewandt, die hergebrachte Regierungskunst (seiner Meinung nach) zu lösen imstande ist: von der Ökologie zur Ökonomie, von einer umfassenden Bearbeitung des Friedensproblems zur Verfeinerung und Differenzierung des Gleichgewichts des Schreckens. Es ist seine persönliche Tragik, daß er in beiden Fällen nicht erfolgreich war — nicht erfolgreich sein konnte, weil die Tumore unter der Bauchdecke weiterfressen.

Diesem Typus benachbart ist

5. — der Typus des faulen Zaubers.

Er ist, zweifellos, der vorläufig verbreitetste und vorläufig erfolgreichste. »Fauler Zauber« — das bedeutet primitive Magie, Schamanentum, verbale und organisierte Riten, welche die beleidigte Wirklichkeit irgendwie versöhnen sollen. Die beste Illustration für solchen faulen Zauber ist der

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Schamenentanz um das deutsche Auto, den wir seit Jahren erleben.

Daß das Auto ein in jeder Hinsicht mörderischer Kulturgegenstand ist, darf wohl nicht mehr ernstlich bezweifelt werden. Es gibt Berechnungen (ich kann sie nicht nachprüfen), nach denen es, alle Zubringer-Tätigkeit wie Treibstoffbeschaffung, Straßenbau usw. eingerechnet, für gut die Hälfte der gesamten globalen Umweltschädigung verantwortlich ist. All das störte aber weiter nicht, bis wieder ein himmlisch-prophetisches Zeichen gesetzt wurde: das Waldsterben. Nachdem etwa 50 Prozent der deutschen Forstflächen von ihm betroffen waren, drang so etwas wie eine Erkenntnis in die bruttosozialprodukt- und wachstumsbesessenen Gehirne unserer Entscheidungsträger, daß da wohl irgendwas geschehen müsse. Daß es nichts wirklich Wirksames und Nützliches sein durfte, war ebenfalls klar — und dieses Dilemma war und ist die zwingende Voraussetzung für faulen Zauber, für rituelle Magie.

Ein Minimalprogramm zugunsten der Wälder wäre, zum Beispiel, die Einführung einer wirklichen Kosten-Nutzen-Rechnung auf dem Wege über eine wirkliche Steuerreform: Energie-, Boden-, Emissions-, Rohstoffsteuer und so weiter. Sie würde die Rentabilität des privaten PKW und des meisten Lastverkehrs als die Chimäre ausweisen, die sie ist. Aber natürlich stand und steht das alte Begriffsgitter, die Ideologie unseres stolzen Troja einer solchen Reform unschlagbar im Wege. Nicht einmal die übelste Gewohnheit des deutschen Automobilisten, seine Verfallenheit an rücksichtslose Raserei, durfte ernsthaft in Frage gestellt werden; und so wurde der Alte Bund der Tempofreiheit feierlich erneuert.

Dafür wurde uns, als Zauber-Medizin, der Katalysator beschert. Der Katalysator paßt hervorragend ins Begriffsgitter der Wachstumskultur. 

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Ökologisch gesehen ist er natürlich Unfug: als Zusatzgerät muß er wiederum energieaufwendig hergestellt werden, und er ist auch im Betrieb einfach ein zusätzliches Aggregat, das zusätzliche Energie erfordert, um gleichbleibende Leistung zu erbringen. Das machte aber nichts, angesichts seiner hohen Qualität als Dschudschu-Zauber. Sicher, es war vorauszusehen, daß die Westeuropäer in der EG nicht mitspielen würden. Es war vorauszusehen, daß sie zunächst einmal das Tempolimit von uns einfordern würden, das dort zumindest legal vorhanden ist. (Auch das Tempolimit ist kein wirkliches Heilmittel, aber wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung, weil es der Todes-Erotik den Kampf ansagt, welche der tiefste und schwärzeste Grund der Schnellfahrerei ist...) 

So mußte es denn zu nichts als verwässerten Kompromissen kommen — Kompromissen, die für den sterbenden Wald nichts, aber auch schon gar nichts bringen werden und die längst zum Tode verurteilten Grundlagen unserer Produktions- und Konsumtionsform unangetastet lassen. Die wackere Opposition, die in solchen Kompromissen ein Scheitern des Umweltministers (damals noch des Innenministers Zimmermann) sah, hat nicht verstanden (oder durfte es nicht sagen), daß solches Scheitern von vornherein der Sinn des ganzen Manövers war. Der faule Zauber richtet sich ja gar nicht gegen das angeblich zu bekämpfende Übel; er richtet sich ausschließlich an die Psyche des Publikums, dem man Kompetenz vortäuschen will.

Inzwischen häufen sich die Fälle von faulem Zauber — national wie international. Die Schaffung eines Bundes-Umweltministeriums ist schon eine Groß-Zeremonie, ein levitierter Schamanentrick ersten Ranges. Aber reiten wir nicht nur auf unserer armen Republik herum, betrachten wir einen internationalen Tanz von viel schwärzerer Bedeutsamkeit — die Reaktion der Welt-Atomlobby auf Tschernobyl. 

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Ein inzwischen verstorbener Vorkämpfer der Kernindustrie soll einmal geäußert haben: es sei zu hoffen, daß der erste GAU erst dann eintrete, wenn der Ausstieg aus der Atomenergie unmöglich geworden sei. Nun, nach der Reaktion der Unverantwortlichen zu urteilen, ist ihm dieser Wunsch posthum erfüllt worden. Weder Harrisburg noch Tschernobyl waren imstande, die Bastionen der Energiesucht zu brechen. Was stattfand, war fauler Zauber: Gerede über zusätzliche Sicherheitsstandards — und, vor allem, ein internationales Meldesystem bei Störfällen. Wir können also beruhigt von der Tatsache ausgehen, daß wir bei einem GAU, sagen wir, in Cattenom rechtzeitig erfahren werden, was uns ins Haus steht. Unsere Kinder und Enkel leben seither wesentlich fröhlicher. 

Aber ich fürchte, wir haben es uns bisher etwas zu leicht gemacht mit der Aufzählung von Methoden, Kassandras Botschaft zu neutralisieren. Wir haben uns nämlich auf solche beschränkt, die von Entscheidungsträgern angewandt werden. Sie wären allesamt nicht praktikabel, wenn es darunter nicht einen Konsens der Verdrängung gäbe, an dem wir alle mehr oder weniger teilhaben. Diese Typen von Verdrängung sind nicht weniger irrational, aber viel mächtiger und bilden im Grunde die Voraussetzung dafür, daß fauler Zauber, betrunkene Schlüsselsuche, Boten-Mord und dergleichen praktiziert werden können. 

Es waren nicht nur die Könige und Prinzen, es war das Volk von Troja, das Kassandra verlachte — und zu diesem Volk von Troja gehören wir alle. Damit, mit dem Konsens des Volkes zur Verdrängung, haben wir uns nun zu befassen. 

Welche Mechanismen sind hier am Werk?

Da ist, so meine ich, zunächst und leicht verständlich, das Phänomen des frommen Sünders.

Wir kennen es alle — wir kennen es zumindest seit unserer Schulzeit. Der fromme Knabe und das fromme Mägdelein, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, erbitten in angstvoller Abendstunde von einem gnädigen Himmel das Abbrennen des Schulhauses vor acht Uhr morgens — oder einen Schlaganfall das dräuenden Lehrers. 

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Öffentlich bemerkbar wird solche fromme Sündhaftigkeit etwa im Falle der Atommüll-Entsorgung: irgendwas wird passieren, irgendwie wird uns irgendeine Allmacht schon aus der Patsche helfen. Die mathematische Wahrscheinlichkeit eines Schulhausbrandes oder eines Lehrer-Infarkts ist zwar bei weitem größer als die Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeiten, mit denen wir alle (auch unsere Entscheidungsträger) rechnen, aber das läßt die Hoffnung auf sie noch lange nicht erlahmen.

Diese sündige Frömmigkeit kann sich bis zur fundamentalistischen Schizophrenie verdichten. Ausgerechnet in Amarillo, Texas, jener Stadt also, in der die Atombomben der USA fabriziert werden, wimmelt es von Endzeit-Sekten; von Gläubigen, die überzeugt sind, beim entscheidenden Blitz direkt und unmittelbar in den Himmel aufzufahren. Und kein Geringerer als der Generalsekretär der CDU äußert die Ansicht, daß ein wirklicher Christ viel gelassener mit dem Rest-Risiko der Kernenergie leben könne als der Ungläubige, weil er eben wisse, daß der Abschied aus dem Jammertal nicht das Ende sei.

Nun ist, auch für den, der die Voraussetzungen christlichen Glaubens bejaht, ja gerade für ihn, der Pferdefuß dieser Sorte von Frömmigkeit leicht zu erkennen — es ist der Pferdefuß des bekannten Widersachers. Das Gebet um den Schulhausbrand wäre nämlich nicht notwendig, hätten die frommen Kinder rechtzeitig das Richtige getan, nämlich ihre Hausaufgaben gemacht. Und die fromme Hoffnung auf das Verschwinden der Müllberge (radioaktiv oder nicht) setzt habituelle Laster unserer kollektiven und privaten Lebensführung voraus, die, vor jeder Verzeihung, Einsicht und tätige Reue verlangen. Jede andere Haltung, jedes Verharren im Laster bei gleichzeitigem Vertrauen auf Rettung durch Allmacht, ist Vermessenheit; und Vermessenheit ist, soviel ich weiß, eine Sünde zum Tode — ja, die

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Sünde zum Tode schlechthin. (Im Falle des Generalsekretärs wird sie potenziert durch die großartige Gelassenheit, mit der er den Ungläubigen, und die sind längst die erdrückende Mehrheit in unserer Republik, die Risiken seiner christlichen Vorentscheidung aufhalst.) Wohlgemerkt, mir geht es nicht darum, nun meinerseits die frommen Sünder zur ewigen Verdammnis zu verurteilen; es geht darum, die Voraussetzungen einer religiösen Tradition, aus der sie (bewußt oder unbewußt) zu leben glauben, beim Wort zu nehmen. 

Die Botschaft Kassandras ist die Botschaft des unausweichlichen Schicksals; der Christ (oder auch der säkularisierte Nach-Christ unseres Jahrhunderts) glaubt nicht an ein unausweichliches Schicksal. Aber dann und gerade dann hat er die Unheilsbotschaft als das zu begreifen, was sie in prophetischer Tradition immer war und ist: Aufruf zur Umkehr. Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.

Aber vielleicht sind wir wirklich zu streng zu den frommen Sündern — und damit zu uns selbst. Hinter und unter den kleinen schwindlerischen Gebetchen steht etwas noch Mächtigeres, das Kassandra bzw. den Propheten nicht hören will — etwas so Mächtiges, daß es zur Existenz und Entwicklung der Menschheit vermutlich unentbehrlich war — das Phänomen des Utvertrauens.

Wir stießen schon auf den englischen Ausdruck doomsday prophets — für jene bärtig-urigen Gesellen, die mit ihren Unheilsrufen die Straßen und Plätze der amerikanischen und englischen Großstädte bevölkern: repent repent, the end is at hand! und wir sprachen über die humorvolle Gelassenheit, die man ihnen im allgemeinen entgegenbringt. In solcher Gelassenheit steckt Normalität, kein Zweifel; die Normalität einer Gesellschaft, die ihrer selbst sicher ist oder doch sicher zu sein glaubt. Darunter und dahinter aber etwas viel Älteres, das wohl so alt ist wie die Menschheit selbst: ein Urvertrauen in den Weltlauf.

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Es ist dieses Urvertrauen, das, nach Auskunft des Psychologen, jeder »normale« Mensch auf seinen Lebensweg mitbekommt oder doch mitbekommen sollte. Das Urvertrauen, das sich im körperlichen Einssein von Mutter und Kind bereits vorformt, das im Antwortspiel des Lächelns, in der Geborgenheit des Getragenwerdens sich festigt und differenziert. Daß das Ende kommt, und zwar für jeden, wird wohl von jedem Menschen irgendwie wahrgenommen; aber dennoch nimmt jeder (oder fast jeder) als selbstverständlich an, daß dies den Weltlauf als solchen nicht betrifft, nicht betreffen kann. Ängstlichkeit über den Zustand der Sonne oder des Mondes bei Eklipsen, die grimmige Todesfälle des Winters können, das ließ sich die Menschheit durch Jahrhunderttausende iVes Bestehens beibringen, immer überwunden werden. Bleiben werden Saat und Ernte, bleiben wird die Furcht und das Zittern der Tiere vor dem Menschen.

Dieses Urvertrauen ist wohl der mächtigste, weil gelassenste Feind Kassandras. Und es scheint, daß unter den Ursachen für die unreduzierbare konservative Grundstimmung so vieler Menschen dieses Urvertrauen als wichtigste fungiert — ja, daß es die Grund-Ursache für alle anderen bildet. Es ist, um das uns nächstliegende Beispiel zu nennen, gerade der bayerischen CSU gelungen, das gerade im hiesigen Stamm noch so relativ breite und mächtige Urvertrauen zu ihrem Verbündeten zu machen. Das sollten all jene bedenken, die in den hiesigen Wahlergebnissen nichts als verstockte Zurückgebliebenheit sehen wollen.

Aber — und das ist vielleicht eine der schmerzlichsten Fragen, vor denen wir stehen — ist es undenkbar, daß ererbtes Urvertrauen und verstockte Zurückgebliebenheit heute nur mehr zwei verschiedene Worte für das gleiche Phänomen geworden sind? Daß wir in eine Phase der menschlichen Entwicklung getreten sind, in der die Vernunft der Geschichte die breiten, soliden Häuser der »Normalität« verlassen und sich auf die Seite der bärtigen Unheilspropheten, auf die Seite der Minderheit mit gestörtem Urvertrauen geschlagen hat? 

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Ist es (um eine mögliche Illustration aus der deutschen Gesellschaft heranzuziehen) logisch, daß gerade bei uns, in einer historischen Landschaft fürchterlich erschütterten Urvertrauens, die alternative Bewegung die größte politische Durchsetzungskraft aller entwickelten Staaten erlangt hat? Wäre somit (um diesen Gedanken weiterzuführen) gerade die weitere Zersetzung familiären, sozialen, politischen Urvertrauens die notwendige Voraussetzung für eine konkrete, das Fortleben der Menschheit in einer bewohnbaren Biosphäre sichernde Umkehr? 

Aber wer würde (um auch dies gleich auszusprechen) sich selbst, seinen Kindern und Enkeln wirklich den Ruin des Urvertrauens wünschen? Und bestünde nicht gerade im Fall dieses Ruins die fast sichere Aussicht, daß die Gesellschaft als Ganzes unfähig würde, auch die einfachsten Aufgaben ihrer eigenen Erhaltung zu meistern? Vorjahren gab es die Analyse einer Wiener Equipe mit dem Namen STUDIA, welche auf diese Fragen einging, sie in der Manier des Club-of-Rome-Reports analysierte, vorhandene gesellschaftliche Trends extrapolierend verlängerte; wobei gewissermaßen blindes Vertrauen in die wirtschaftlichen Voraussagen der Wachstums-Schule zugrundegelegt wurde: Steigerung des Bruttosozialprodukts um drei Prozent pro Jahr, ein Realeinkommen von durchschnittlich 100.000 DM in unseren Landen usw. 

Andererseits ging die Studie auf die (vorläufig unvermeidlichen) Begleiterscheinungen solchen Wachstums ein: wachsender Drogen-Konsum einschließlich Alkohol, wachsende Prozentsätze von Singles, von Scheidungen, von informellen Partnerschaften, wachsende Prozentsätze von Neurosen und Psychosen und so fort. 

Bezeichnenderweise kam die Studie auf das gleiche Apokalyse-Jahr wie <Grenzen des Wachstums>: ab 2030 etwa, so ihre Schätzung, würde der totale Katzenjarnmer einsetzen, gerade die unzähligen Dienstleistungen, die bereits monetarisiert sind und weiter monetarisiert werden dürften von der Wiege bis zur Bahre, würden an allgemeiner Unwilligkeit und Schlamperei zusammenbrechen. Die Funktionsunfähigkeit der arbeitsteiligen Gesellschaft wäre dann gegeben.

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Nun, es gibt verschiedene Gründe anzunehmen, daß es nicht soweit kommen wird. 

Doch fällt, von diesen Überlegungen her, immerhin eine zusätzliche, schärfer konturierende, wenn auch zwiespältige Beleuchtung auf die Tendenz, Kassandras bzw. der Unheilspropheten Botschaft zu verweigern. Die Verweigerung wird — wenigstens im anthropologischen Sinne — legitimer, eine kollektiv-psychologische Angst vor der zerstörenden Angst. Einerseits wird dadurch die Methode der konservativen Politik, sich dieser Angst vor der Angst als MehrheitsbeschafFer zu versichern, fast unwiderstehlich — andererseits enthüllt sie sich als laufende Verstärkung dieses Verweigerungsmechanismus. Aber das ist noch recht vordergründig. Ernstere Überlegungen drängen sich auf. Ist das Urvertrauen, der bisher zuverlässigste Begleiter der Menschheit, zu ihrem tückischsten Feind geworden? Ist die Menschheit in ihrem Drang nach Macht über alle Umstände ihrer Existenz, zwangsläufig in diese Falle geraten, oder ist sie vielleicht einem Todestrieb gefolgt, der, neben der lichten Möglichkeit des Urvertrauens, immer als das schwarze Pendant in ihren Tiefen schlummerte?

Hier steht mehr auf dem Spiel als der eine oder andere Zeitgeist, die eine oder andere »Stimmung im Westen«, wie dies Martin Walser einmal formuliert hat. Für ihn, wie für alle Intellektuellen, liegt immer die Versuchung nahe, von der Rezeption der Fakten statt von den Fakten selbst auszugehen. Die Fakten, die Kassandra mitteilt, sind nicht zu widerrufen. Was wir wählen können, ist einzig und allein unsere Reaktion auf sie.

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Diese Reaktion aber entscheidet darüber, ob der Ruf Kassandras im antiken Sinne vergebens bleibt oder nicht. Sicherlich, die Plausibilitäten sind überwältigend, die Chancen stehen nicht gut für die Menschheit. Verweigert sie als ganze den Anruf, so bestätigt sie eine skeptische Anthropologie, die zusehends an Boden gewinnt; eine Anthropologie, welche die Spezies auf Dauer für unfähig hält, mit den von ihr geschaffenen Problemen fertig zu werden. Und es gibt (das muß betont werden) kaum eine historische Evidenz für das Gegenteil. Die Zeiträume, über die unsere kollektive Erinnerung verfügt, sind dafür zu gering, und die Krisen, welche die Menschheit bisher durchzumachen hatte, haben sich nie in der Größenordnung abgespielt wie das gegenwärtige globale Dilemma. 

Insgesamt, so muß der Historiker und der Vorgeschichtler feststellen, ist die Menschheit dem irreversiblen Zeitpfeil gefolgt; hat, wenn sie genügend organisiert war, Wälder in Steppen, Steppen in Wüsten verwandelt. Weder die Verkarstung des Mittelmeers noch die Versalzung des Schattel-Arab ist rückgängig zu machen. Das älteste Manöver, dem Mangel zu entrinnen, das nomadische Weiterziehen, ist im Prinzip das einzig praktikable geblieben. Aber neue Kontinente sind nicht in Sicht, und der Sprung zu den Sternen, naiv-vulgärer Ausweg technischer Spekulationen, ist von der Energiebilanz her zu aufwendig, selbst wenn er technisch machbar sein sollte. Grund zur Resignation ist also in Fülle gegeben. 

Andererseits ist Resignation keine Handlungsgrundlage. 

Sie wäre (und damit kommen wir auf die angeschnittene zentrale Frage zurück) die Konsequenz einer Annahme der Unheilsbotschaft bei völligem Schwund des Urvertrauens. Ja, gerade das, was der alttestamentarische Unheilsprophet predigt (im Gegensatz zum Kassandra-Schicksal predigt), ist die realistische und volle Annahme der Botschaft bei gleichzeitig heraufgerufenem Vertrauen: Vertrauen in die Wirksamkeit der Umkehr.

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Gerade in dieser äußersten, schärfsten Krise; gerade in der Konfrontation mit dem möglichen globalen Unheil wird also unsere kuriose Freiheit sichtbar. Sie ist nicht bloß eine Freiheit zum Entweder-Oder, sie enthält mindestens drei Optionen:

 

Die erste Option

ist das Verharren in der Verweigerung der Botschaft, die erst dadurch zur Kassandra-Botschaft, d.h. zur Voraussicht unausweichlichen, von der Moira gesetzten Schicksals wird — eine Verweigerung, die den dümmlichen Optimismus mit einschließt (»Das mit der Umwelt, das kriegen wir hin«). Dies scheint im Moment die vorwiegende Stimmung des Westens zu sein.

Die zweite Option

ist die der einsichtigen Akzeptanz — aber einer Akzeptanz, die mit der völligen Zerstörung des Urvertrauens verbunden ist. Paradoxerweise wird gerade den Mahnern zur Umkehr diese Haltung vorgeworfen: »Panikmache«, »Nihilismus«, und wie die Etiketten alle beschriftet sein mögen. Es ist jedoch durchaus möglich, ja wahrscheinlich, daß das Verharren im dümmlichen Optimismus auf derartiger Resignation im Unbewußten aufruht: der Typus des »hoffnungslosen Chirurgen« vermischt sich mit dem Typus des »Alkoholikers« und des längst nicht mehr frommen, sondern im Grunde verzweifelten Sünders. Kassandra behielte recht — obwohl die Troer wüßten, daß sie recht hat.

Die dritte Option

endlich würde die Kassandra-Botschaft erst in eine prophetische Botschaft verwandeln, indem sie die Warnungen und die himmlischen Zeichen als Aufforderung zur Umkehr deutet. Dabei ist ausdrücklich zu betonen, daß eine Erfolgsgarantie unserer begrenzten Einsicht nicht gegeben ist. 

Was uns gegeben ist, heute schon gegeben ist, das ist Wissen über die Richtung, welche die Umkehr einschlagen müßte. In diese Richtung wäre fortzuschreiten, und der Fortschrittsbegriff wäre von seiner fatalsten Eigenschaft befreit: seiner blinden, krebsartigen Naturwüchsigkeit. Die Irreversibilität der Wucherung, die wir bisher Fortschritt nannten, ist der eigentliche Skandal, den es zu beseitigen gilt. Er enthüllt sich, ist man erst zur Umkehr entschlossen, als eine letzte und wohl die gefährlichste Variante der Moira, des dumpfwaltenden Schicksals, dem einst, am Ausgang der Antike, unsere Vorväter zugunsten der Möglichkeit tätiger Reue, das heißt aktiver Umkehr, abgesagt haben. 

Sie mögen zum Schluß die Frage stellen, wie ich selber die Chancen beurteile; ob ich an die Botschaft der Kassandra — oder die Botschaft des Propheten glaube. Und ich bekenne, daß ich es nicht weiß — und daß ich es, was unsere Handlungsweise betrifft, nicht für sehr wichtig halte. Handlungsgrundlage muß immer die Annahme sein und bleiben, daß tätige Umkehr möglich ist. 

Wenn ich mir aber eine sozusagen untergeordnete Prophetie erlauben darf: ich glaube, daß sich in der nächsten Zukunft die himmlischen Zeichen vermehren werden, und daß sie in allmählichem Übergang zu Teilkatastrophen werden können. Eine solche Teilkatastrophe, die sehr bald eintreten kann, ist das Entsorgungsproblem — und nicht nur das nukleare. Es können Zustände eintreten, wo riesige Müllmassen heimatlos zwischen den Staaten, ja zwischen den Kontinenten herumirren. Es wird Kurzschlußlösungen geben, Phasen mafiahafter Brutalität, etwa gegen die Weltmeere oder das Polareis, aber sie würden die Lebensgrundlagen so rapide verschlechtern, daß die Betroffenheiten unwiderstehlich zum Umsturz der bisherigen mörderischen Verhältnisse drängen. Doch dies nur zur Illustration. 

Vielleicht setzen die Teilkatastrophen (oder Ketten von Teilkatastrophen) auch an einem ganz anderen Punkt ein. Hoffen wir, daß es so kommen wird — es wäre dies jedenfalls eine Barmherzigkeit, die wir nicht verdienen.

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