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2   Ökologische Perspektive und ethische Entscheidung 

(Amery-1987)

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Einer meiner Lieblingsautoren, der Engländer G. K. Chesterton, wurde bei einem Vortrag in einem Londoner Saal in eine Diskussion mit einem sogenannten »Fabier«, also einem Linksintellektuellen, verwickelt. Der fortschrittliche Disputant griff Chestertons christliche Ansichten über Vergebung und Sühne an. Er wies auf eines der großen Saalfenster und meinte, daß kein Akt der Vergebung ein solches Fenster wieder ganz machen könnte, wenn der Steinwurf eines Tunichtguts es zerbrochen hätte. Chesterton stimmte ihm nicht zu. 

Für ihn kam es nur auf die Großmut des Eigentümers an: ließ er das zerbrochene Glas ersetzen, so wäre der Status Quo völlig wiederhergestellt — insbesondere dann, wenn er dem Missetäter verzieh. Die Gesellschaft hätte keinen Schaden genommen; im Gegenteil — durch einen Akt der Güte hätte die Gesellschaft als Ganzes gewonnen, hätte einen Schritt gemacht weg vom Chaos, hin zu Ordnung und Erlösung. 

Dieses kleine Beispiel vom Anfang des Jahrhunderts beleuchtet sehr gut ein Zentralproblem, eine zentrale Komplikation der ethischen Wahl angesichts der ökologischen Herausforderung.

Greifen wir zunächst ein Schlüsselwort heraus: Entropie. Entropie, so hat man uns gelehrt, ist der Prozeß der Desorganisation, dem alle rein physischen Ereignisse unterworfen sind: Metalle rosten, Kaffeetassen zerbrechen, Häuser verschimmeln und werden formlos, lebende Wesen altern und sterben.

Nun gilt diese Aussicht, diese Gefahr der immer vorhandenen Entropie, der Auflösung, Unordnung, des Todes nicht nur im natürlichen, sondern auch im sozialen und psychologischen Bereich. Wir benötigen moderne Systemtheorien gar nicht, um die enge Verbindung zwischen den beiden Bereichen wahrzunehmen. Seit Kultur einsetzte, haben große Erzieher die Arbeit an der Jugend, die Formung ihres Geistes und ihres Charakters mit der Aufgabe des Gärtners oder Winzers verglichen; und Staatsmänner, Philosophen, Dichter suchten nach den Bedingungen, unter denen eine Polis, eine menschliche Gruppe oder Gesellschaft die Mächte der Unordnung zurückdrängen und sich zu größerer Harmonie und kollektiver Blüte entfalten konnte. Ich brauche darauf nicht weiter einzugehen. 

Aber es ist wichtig festzuhalten, daß die meisten Metaphern und Redeweisen, ja sogar die Argumentation dieser Weisen von natürlichen Prozessen abgeleitet waren und sind — von der Beobachtung der Neg-Entropie im Bereich der Natur. Frühling; Geburt; die allmorgendliche Rückkehr der Sonne, ihre Wiederkunft sogar nach der erschreckenden Nacht einer Sonnenfinsternis: all diese Ereignisse wurden zunächst zu religiösen und, in der Folge, zu moralischen, ethischen Ereignissen — Modelle gesellschaftlicher Verbesserung, Anlässe für das Ritual, für religiöse und künstlerische Feier. 

Der Mensch wie die Natur, wiewohl beide überschattet von der steten Drohung der Entropie, konnten sich vor ihr retten, konnten sich sogar durch Mächte der Neg-Entropie schrittweise in Gesundheit und Kraft vorarbeiten; Verjüngung, Liebe und eine religiös-ethische Orientierung des persönlichen wie des gesellschaftlichen Lebens waren die Anzeichen wie die Werkzeuge. 

Freilich, natürliches und gesellschaftliches Leben waren in diesem heraufdämmernden religiös-moralischen Bewußtsein nicht scharf geschieden. Auf beiden Gebieten machte man ähnliche, wenn nicht identische Anstrengungen, um ein Maximum an Neg-Entropie zu erreichen. Gut oder Böse; Leben oder Tod; Ordnung oder Unordnung: in der Natur wie in der menschlichen Gesellschaft schienen sie ja aus den gleichen Quellen zu fließen.

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Quellen der Macht, der Beseelung; Mächte, die — je nach dem Geschick und der Weisheit des Handhabenden — Gefahr oder Segen bedeuten mochten. Man entwickelte Verständigungsmethoden, die man aus den Regeln und Erfahrungen menschlicher Verständigung ableitete. Man nahm an, daß die richtige Anwendung solcher Regeln nicht nur bei der Bewahrung und beim Ausbau der sozialen Ordnung, bei der Sicherung von Gesundheit und Komfort des Einzelnen, sondern auch im Kampf des natürlichen Lebens gegen Tod und Desorganisation hilfreich sein müßte. Die Mächte, die über uns herrschen (und es war schon ein Schritt in die Differenzierung, sie GÖTTER zu nennen!) mochten verschlagener, ja irrationaler sein als die Menschen; aber mit einiger Geduld und einigem Zittern mochte man Kanäle finden oder herstellen, um sie zu besänftigen, zu versöhnen — ja, sie zu kontrollieren.

Einer dieser Kanäle war (und ist) die Sühne. 

Es lohnt sich, etwas ausführlicher auf dieses Schlüsselwort einzugehen. Auf der Ebene der archaischen Gesellschaft war Sühne etwas ungemein Vernünftiges. Es war der Ersatz einer verlorenen oder beschädigten Lebens-Kraft, Lebens-Energie, Lebens-Potenz der Gruppe durch den schuldigen Teil. So mußte der Totschläger eines Jäger-Kriegers der Mann der Witwe (oder Witwen) werden, der Vater seiner Kinder. (In J. F. Coopers »Wildtöter« erstreckt sich diese Möglichkeit auch auf das schuldige Bleichgesicht.) Das mag in vielen Fällen auch Strafe gewesen sein; aber die dahinterstehende Idee war höchst einfach — einfacher als die befriedigter Gerechtigkeit, besänftigter Götter. Die Gruppe der Trauernden brauchte jemand anstatt des Getöteten, um sie zu ernähren und zu schützen, und es war eine Frage von Ursache und Wirkung, so die Lücke auszufüllen, welche durch die Tat entstanden war.

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Später konnte solche Sühne-Dienstleistung durch eine Summe Geldes oder andere Wertsachen (etwa Vieh) ersetzt werden. Die Grundidee wurde durch solchen Ersatz nicht verändert.

Viel später wurde das Gesetz der Vergeltung vorherrschend: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Gesellschaftlich war es auf die (meist vergebliche) Hoffnung genügender Abschreckung gegründet. Moralisch und religiös war es jedoch eine Sublimation, an die allgemeine Idee des Opfers gebunden.

Das Opfer! Für den vorgeschichtlichen Menschen und seine unmittelbaren Nachfahren war es eine zentrale Verkehrsform mit den Göttern. Sein strengster und (wahrscheinlich) ältester Modus war das Menschenopfer, im engeren Sinn das semitische Melech — die rituelle Tötung des Erstgeborenen. Sie umschloß, wie wir wissen, Mensch und Tier. Im Laufe der Zeit wurde die Tötung des Erstgeborenen durch Tieropfer ersetzt (davon spricht die Erzählung von Abraham und Isaak auf dem Berge). Doch wäre es übereilt, solche Abschaffung oder solchen Ersatz unmittelbar mit der Idee des »Fortschritts« zu koppeln, mit der Idee wachsender gesellschaftlicher Komplexität. Karthago zum Beispiel war sicherlich eine viel »modernere« Organisation als Abrahams Nomadenstamm — aber Karthago behielt das Kinderopfer bis zu seinem Ende bei. Nun war Sühne sicher nicht das einzige Motiv für das Opfer. Aber es blieb eine zentrale Idee — und die mächtigste. Schritt für Schritt, in dem Maße, in dem »Sühne« und »Opfer« sich immer mehr verfeinerten und spiritualisierten, flössen ihre Bedeutungen und Inhalte ineinander. Der Sündenbock der Juden, einmal im Jahr mit der Schuld des Volkes beladen und in die Wüste gejagt, ist schon ein sehr raffiniertes Mittel, sich der sozialen Negativität zu entledigen; aber die Sühne wurde unendlich zivilisierter, als man sie in der Zeit der Propheten und des Christentums praktisch mit Akten der Reue, des Bekennens und der Buße identifizierte.

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Sicher, der Heilige Handel, das sacrum commercium, mit den himmlischen Mächten war in der Regel mit einem strikten Wiedergutmachungsauftrag verbunden. Doch allmählich trat immer klarer hervor, daß die höchste Form sozialer Wiedergutmachung, ja der Erreichung einer höheren Ordnungs-Stufe, die Amnestie ist — in der einen oder anderen Form. Und dies ist exakt Chestertons Argument in unserer Geschichte. In seiner (sehr christlichen) Sicht können die materiellen wie die gesellschaftlichen Schäden gleich wirksam durch die heilende Kraft der Vergebung überwunden oder neutralisiert werden. Noch genauer: das Bekenntnis, die Reue, die Vergebung sind zur Substanz der moralischen Wiedergutmachung geworden, während die Ausbesserung des tatsächlichen Schadens zur Nebensache, zum accidens geworden ist.

Fassen wir hier nochmals zusammen: die neg-entropische Entwicklung der menschlichen Kulturen, ihr Aufstieg zu immer höherer Komplexität ist begleitet von der wachsenden Sublimierung der Sühne. Ja, man kann von einer »Spirale des Fortschritts« sprechen: in den Tagen der Krieger und Jäger war Sühne die nüchterne Wiederherstellung gesellschaftlicher Energie innerhalb der Gruppe, und es scheint, daß das Prinzip der »Resozialisierung«, das immer stärker unser Strafdenken bestimmt, diese archaische Nüchternheit auf einer höheren Stufe wieder aufgreift. Sühne im engsten, im Sinne des Opfers, ist in unserer Kultur nicht mehr operativ (wenn sie auch tendenziell überlebt und in Krisenzeiten wieder nach oben drängt). Die humanen, die christlichen und nachchristlichen Werkzeuge, sich mit destruktivem Verhalten auseinanderzusetzen, sind sicher ein großer Fortschritt nicht nur in menschlicher Kommunikation, sondern im ökonomischen Umgang mit sozialer Energie.

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Leider ist diese Methode auf ökologische Entropie in keiner Weise anwendbar.

Und in dieser Hinsicht hatte Chesterton völlig unrecht, sein Gegner völlig recht. Was GKC übersah, war die Irreversibilität, die Nicht-Umkehrbarkeit der Entropie. Wofür immer der Eigentümer des Saals sich entscheidet; wie immer er sich gegenüber dem Missetäter verhält: das Fenster ist kaputt. Ordnung, molekulare und räumliche Organisation wurde zu Unordnung und Abfall, Information zu Chaos. Entweder werden die Scherben auf die Schuttberge geworfen, welche die Menschheit seit den Tagen des Homo Habilis anhäuft — oder sie werden eingeschmolzen und in etwas minderwertigeres Glas umgegossen. (Wie D. Georgescu-Roegen sehr gründlich bewiesen hat, herrscht Entropie auch im Reich der Rohstoffe und ihrer Weiterverwendung.) Auch Recycling erhöht ja die Entropie, es benötigt vor allem zusätzliche Stöße von (gewöhnlich un-erneuerbarer) Energie.

Umkehrbarkeit, Unumkehrbarkeit: damit betreten wir ein anderes Feld im Kosmos der ökologischen Ethik. Wenn es stimmt, daß ökologischer Schaden sich hier grundsätzlich von gesellschaftlichem unterscheidet, dann wird »Wiedergutmachung« ein recht prekärer, zweifelhafter Faktor im ethischen ökologischen Verhalten.

Nun häufen sich Bücher und Aufsätze über ökologische Ethik in dem Ausmaß, in dem unser Dilemma immer erkennbarer wird. So hatte ich kürzlich Gelegenheit, drei Bücher von deutschen Theologen (katholischen wie protestantischen) einzusehen, die sich mit unserem Problem befaßten. Natürlich versuchen sie, die Ökologie ins Rahmenwerk christlicher Tradition einzufügen. Sie tun dies ebenso wie viele humanistische Denker und Philosophen. (An erster Stelle steht wohl Hans Jonas mit seinem »Prinzip Verantwortung«.) Die meisten dieser Bücher und Aufsätze enden mit irgendeinem kategorischen Imperativ nach

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Immanuel Kant. In der Regel lautet er etwa so: »Handle so, daß dein Tun die biosphärische Lebensgrundlage künftiger Generationen nicht schädigt oder beeinträchtigt!« Dieser Imperativ klingt vernünftig genug —ja, er klingt unausweichlich. Tatsächlich gibt es jedoch nur drei Gruppen von Menschen, die fähig (oder gezwungen) sind, sich in der Praxis ihm zu fügen: Säuglinge, Eingeborene in Gegenden wie der Kalahari-Wüste oder dem oberen Amazonas — und Flüchtlinge, die irgendwo in Äthiopien oder Zentralafrika verhungern. Ein System, das auf einer Weltbevölkerung von fünf Milliarden basiert, kann nicht mit erneuerbarer Energie aufrechterhalten werden; doch ein solcher Lebensstil, basierend auf erneuerbarer Energie, wäre der einzige, der sich mit dem erwähnten Imperativ verträgt. Selbst ökologische Aktivisten verstoßen laufend dagegen. Um etwa diesen Vortrag in Edinburgh halten zu können, mußte ich ein Lufthansa-Billett kaufen — in anderen Worten, ich unterstütze eine Organisation, die von der Entfaltung ungeheuerlicher Mengen kinetischer Energie lebt und den Planet mit den Auspuffstoffen von 2000 Mittelklassewagen pro Jetflugzeug besprüht.

Wie rechtfertige ich dieses schlechte ökologische Benehmen (um es sehr milde auszudrücken)? Nun, ich rechtfertige es durch Güterabwägung — aber soziale, nicht ökologische Güterabwägung.

Ich rechtfertige es mit der Notwendigkeit, die ökologische Theorie möglichst zu stärken und auszubauen; das internationale Netzwerk der Zusammenarbeit zu verstärken; mit anderen Worten: mit der Notwendigkeit, die politischwirtschaftliche Megamaschine ein paar Zentimeter in den Bereich der Umkehrbarkeit zu schieben. Ich handle eine ökologische Sünde gegen ein soziokulturelles Gut (oder, wenigstens die Möglichkeit, daß ein solches Gut aus meiner Reise nach Schottland entstehen könnte): nämlich die Beschleunigung der Kräfte, die eine Welt schaffen können, in der der ökologische Imperativ nützlich und anwendbar ist.

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Ich gebe zu: eine windige Konstruktion; ein moralisches Mobile von beträchtlicher Gebrechlichkeit. Und ich bezweifle, daß ich es noch lange mit dem verbinden kann, was man ein »gutes Gewissen« nennt. Seinen allerletzten Anspruch auf Ehrenhaftigkeit könnte es von der synergistischen Theorie ableiten: in chaotischen Verhältnissen vermag ein neues Prinzip, ein neuer »Ordner« das Bewegungsmuster zu verändern und bisher unbestimmte, ja anders organisierte Kräfte in ein neues Muster zu zwingen (zu »versklaven«, wie das heißt).

In anderen Worten: Während eine rasche Umkehr der Gesellschaft noch nicht sichtbar ist, und da diese Gesellschaft die jämmerlich geringe Manövrierfähigkeit eines Riesentankers hat, müssen diejenigen unter uns, die sich um die ökologische Perspektive sorgen, ihre Anstrengungen vervielfältigen, um diese Umkehr zu ermöglichen und sie so wirksam wie möglich zu machen.

Leider ist Effizienz, Wirksamkeit, etwas, was sehr schwer bestimmbar ist; und es muß abgewogen werden gegen den Wert (oder Unwert) persönlichen Zeugnisses. Vielleicht registriert das kollektive Unbewußte unserer Gesellschaft den Lufthansaflug eines Okologisten wie seine Eß- und Trinkgewohnheiten intensiver als die Theorien und Probleme, über die er redet?

Verfolgen wir, der Klarheit halber, diese Frage etwas weiter. Es gibt heute eine Menge wohlhabender Leute, die ihre ökologische Motivation (oder ihr schlechtes Gewissen, wenn Sie wollen) in eine Zweitwohnung investieren — draußen auf dem Land, mit einem Garten dabei. Da fühlt man sich richtig erdnah, man erwirbt Kenntnis und Freundschaft von anderen lebenden Wesen, Pflanzen oder Tieren, ja, man kann ein sogenanntes Biotop planen und anlegen — ein Stück ungemähtes Land mit einem Weiher, wo kleinräumige Wildnis nicht nur erlaubt, sondern gefördert wird.

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Soweit, so gut; was die guten Gefühle betrifft. Aber unser Zweitwohnungsbesitzer muß sich klarmachen, daß sein Lebensstil ökologisch weit bedenklicher ist als der eines Stadtbewohners ohne Auto. Seine Energiebilanz schießt weit über das Erlaubte, ja über den Durchschnitt hinaus: da braucht man zusätzliche Möbel, Elektrizität, Heizung und so fort, und dazu kommt der stete unerbittliche Bedarf von Individualverkehrsmittel und Benzin. Ähnliche Probleme entstehen bei der Ernährung. Tausende, möglicherweise Zehntausende von Deutschen kaufen heute chemiefreie, bekömmliche Produkte. So geben sie, sollte man meinen, dem noch nicht bekehrten Durchschnittskonsumenten ein sehr gutes Beispiel. Nun ist die Vermarktung solcher Nahrung an sogenannte Reformhäuser, an Genossenschaftsringe und so weiter gebunden. Die Durchschnittspreise dort sind aber mindestens doppelt so hoch wie die der entsprechenden konventionellen Güter.

Ich möchte sofort betonen, daß viele der Konvertiten, die diese Preise zahlen, keineswegs reiche Leute sind. Insgesamt jedoch dürften Arbeiter, Verkäuferinnen, die Masse der Arbeitslosen doch das Gefühl haben, daß dieser Markt ihre Mittel übersteigt — und (was noch wichtiger ist) daß ein Klassenvorhang (wohl kein eiserner, aber einer, der aus den sehr stabilen Spinnennetzen des Standesgefühls gewoben ist!) zwischen ihnen und dieser neumodischen Art zu essen hängt.

Sicher, es gibt Rückkopplungen: je mehr Leute sich bekehren, desto integrierter werden die Verteilungskanäle, und die Preise fallen. Außerdem (und das ist ökologisch wichtiger) sinkt die Transport-Energie pro verteilter Kalorie. Zumindest dürfen wir hoffen, daß die Rückkopplung so wirken wird...

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Wahrend wir also die Maschen des ethischen Entscheidungs-Netzes zu entwirren versuchen, die so verfilzt mit dem Gewebe unserer Gesellschaft sind, merken wir, daß die Entscheidungsfelder selten mit Feldern bewiesener oder beweisbarer Wirksamkeit identisch sind. Mit anderen Worten: in dem Moment, wo ökologischer Schaden als solcher erkannt wird, kann es bereits unmöglich oder fast unmöglich sein, ihn wiedergutzumachen. Als etwa das Auto eingeführt wurde, priesen es die New Yorker Zeitungen fast einhellig als eine Antwort des Fortschritts auf ein ernstes Umweltproblem: die Berge von Roßäpfeln, die sich auf den Straßen türmten. Und ist es bezweifelbar, daß dieser begeisterte Konsens dazu beitrug, eben das Problem zu beschleunigen, vor dem wir heute stehen: die massive ökologische Zerstörung, die vom Verbrennungsmotor ausgeht?

Ökologisches Denken, ökologische Entscheidungsfindung müssen deshalb in die nächste Dimension aufsteigen: die Dimension der Analyse und Berücksichtigung dessen, was systemische Denker den »Reusen-Effekt« nennen. Wir alle kennen das Sprichwort: »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.« Traditionelle Morallehren kennen diese Tatsache recht gut; und man interpretiert sie in der Regel so, daß Überschätzung der eigenen Energie, der eigenen Willenskraft zu allzu vielfältiger Tugend-Anstrengung führt, die dann keines der angestrebten Besserungsziele erreichen wird.

Heute können und müssen wir das Sprichwort viel wörtlicher interpretieren. Die Geschichte zeigt uns, daß mindestens die Hälfte des Elends, das sich die Menschheit selbst zufügt (wenn nicht mehr), durch gute Absichten hervorgerufen wird. Die schlimmen, so könnte man meinen, sind schon schlimm genug — aber es gibt grimmige Beweise für die Verderblichkeit der guten oder neutralen Absichten. Der Grund? Oft genug ist es die Unfähigkeit oder die Ahnungslosigkeit in systemischer Denkweise. Direkte Verfolgung eines Ziels, selbst eines sehr guten Ziels, rechnet nicht mit all den Nebenfolgen, den Rückkoppelungen einer bestimmten Entscheidung oder Handlung. Was im Rückblick absolut einleuchtend wirkt, ist von vorne oft genug uneinsehbar.

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Zwei Beispiele mögen genügen — ein historisches und ein sehr zeitgenössisches.

Zum historischen: Im 17. Jahrhundert schickte Kardinal Richelieu eine kleine Armee (etwa 8000 Mann, wenn ich mich recht erinnere) vom Landesinneren an die Atlantikküste. Zweck des Manövers: Bestrafung der Hugenotten. Moderne französische Historiker haben Methoden [entwickelt, mit deren Hilfe die Folgen eingeschätzt werden können. Nun kann man von vornherein daran zweifeln, ob es eine gute Absicht ist, Hugenotten zu strafen; Richelieu sah es jedenfalls so. Aber was so oder so außerhalb seines ethischen Kalküls stand, waren die Zweit-, Dritt- und Viertfolgen seines Befehls. Sie beliefen sich auf etwa 200.000 Tote — innerhalb Frankreichs, mitten im Frieden. 

Einige Ursachen hiefür liegen auf der Hand: Tod durch Marodeure, Vergewaltiger, Tod durch Lustseuche oder ansteckende Krankheiten. Aber viel wirksamer noch war eine indirekte Folge: beim Nahen einer Armee (ganz gleich welcher, ob einer der eigenen Leute oder des Feindes) ließen Bauern und Knechte alles liegen und stehen, sammelten ihre Angehörigen und verschwanden in die nächste ummauerte Stadt, wo es relativ sicher war. Dies hieß nicht nur erhöhte Chancen für Bakterien und Viren; es hieß vor allem, daß die Ernte eines Jahres ganz oder fast ganz verloren war im Kielwasser der Marschroute. Wenn man die knappen Margen bedenkt, die damals einer Subsistenz-Landwirtschaft zur Verfugung standen, konnte man auf Massentod durch Verhungern im nächsten und übernächsten Jahr rechnen.

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Nun mag Richelieu ein Schurke gewesen sein; aber im Rahmen der traditionellen Entscheidungsfindung war sein Befehl weder bösartig noch unüblich. Zweitfolgen dieser Art waren häufig genug; und die traditionelle Moraltheologie entwickelte eine Art von Rabatt-System, in welchem Zweitfolgen dieser Art unter dem Wert der zentralen guten Absicht gehandelt wurden. Und es ist genau dieses Bilanzsystem, das sich so hervorragend zu höllischem Straßenbau eignet...

 

Aber nun zum modernen, weit zwingenderen Beispiel. 

Es sind die Untersuchungen von Dietrich Doerner, Professor in Kiel, Gießen und jetzt in Bamberg, über Mechanismen der Entscheidungsfindung.

Der Umfang dieser Untersuchungen geht aus dem Untertitel seines Buches hervor: »Lohhausen — Entscheidungsfindung angesichts von Komplexität und Unbestimmtheit«. Da sie unser Thema direkt betreffen, darf ich etwas näher auf sie eingehen.

Seine beiden Experimente trugen fiktive Namen: TANALAND und BÜRGERMEISTER VON LOHHAUSEN. 

Das erste beruhte auf der Computer-Simulation einer kleinen Region der Dritten Welt (den Einzelheiten nach wohl in Afrika); das zweite auf der eines hessischen Städtchens von etwa 3000 Einwohnern. (Beide waren natürlich restlos erfunden.) Die Methode beider Experimente war etwa die gleiche: Freiwillige erhielten die Weisung, diese Gemeinwesen so gut zu leiten, wie es eben ging, und ihre Lebensverhältnisse zu verbessern, wenn möglich. In sechs (bzw. acht) Zweistundensitzungen konnten sie sowohl an den Computer wie an den menschlichen Versuchsleiter Fragen stellen, konnten sie zur Grundlage weiterer Entscheidungen machen. Die Entscheidungen bezogen sich auf simulierte Zeiträume. 

In den aufeinanderfolgenden Sitzungen konnten sie die Folgen früherer Entscheidungen überprüfen, sie revidieren, wenn sie dies für

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richtig hielten, und die nächsten anordnen oder planen. 

Die beiden Experimente unterschieden sich im Umfang der Dauer wie der Auswertung. Während TANALAND für den Ökologen möglicherweise interessanter ist, beruhen Doerners entscheidende Auswertungen meistens auf den LOHHAUSEN-Protokollen, in denen die systemischen Daten reichhaltiger und die Freiwilligen zahlreicher waren.

Es wäre faszinierend, ins Detail dieser komplizierten Spiele zu gehen. Hier genügt es festzustellen, daß alle Teilnehmer bestens motiviert und fest entschlossen waren, ihre fiktiven Untertanen zu beglücken. Dennoch haben 11 von 12 Tanaland-Regenten ihr kleines Land total ruiniert — bis zum Punkt des Massensterbens.

Im LOHHAUSEN-Experiment waren die Verhältniszahlen etwas besser, es tauchte eine »positive Gruppe« auf, die gut abschnitt. Dennoch überwogen auch hier die negativen Resultate. (Daß das Resultat bei TANALAND katastrophaler war, ist darauf zurückzuführen, daß es eher biologisch orientiert war — wir werden darauf zurückkommen.) 

Und nun noch einige Auswertungsergebnisse, die für unser Thema wichtig sind:

 

1. Die Endergebnisse — ob Beglückung oder Verderbnis der Untertanen — hingen nicht von Art oder Grad der Motivation und des Engagements ab;

2. es gibt keinen sichtbaren Zusammenhang zwischen formaler Bildung und Versuchs-Erfolg;

3. gleichermaßen keinen zwischen IQ und Versuchs-Erfolg; sowie

4. keinen mit formal gemessener »Kreativität«.

5. Politisch-ideologische Schulung und/oder Überzeugung scheint Begabung zur Entscheidungsfähigkeit nicht zu beeinflussen. Religiöse Zugehörigkeit scheint eine statistische Rolle zu spielen, aber auf eine höchst indirekte Weise, die hier vernachlässigt werden kann.

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6. Wenn es irgendwelche besonderen Merkmale für die »Negativ-Gruppe« gibt, lassen sie sich vielleicht so beschreiben:

  • Starre der Überzeugung (ganz gleich welcher);

  • Ungleichgewicht zwischen abstraktem und konkretem Denken;

  • Zaghaftigkeit beim Fällen von Entscheidungen; oder auch

  • übermäßiges Selbstvertrauen bei Entscheidungen. (Viele dieser Merkmale entsprechen natürlich dem Archetyp des sogenannten »Managers«.)

7. Als »positive« Merkmale für Entscheidungsträger können angeführt werden:

  • Neugier, und

  • die Begabung oder Gewohnheit, rasch von abstraktem zu konkretem Denken und zurück zu schalten.

8. »Richtige« oder »falsche« Entscheidungen konnte man nachträglich den Sitzungsprotokollen entnehmen. In der Regel fielen sie längst, bevor eine bewußte Entscheidung aufgrund sichtbarer Veränderungen (nach oben oder unten) getroffen werden konnte.

9. Wie schon oben erwähnt, war das biologisch orientierte TANALAND-Modett viel schwieriger zu handhaben als das Stadt-Modell. Biologische Systeme enthalten viele negative Rückkopplungen nach dem Modell »je mehr von ... desto weniger von« oder, umgekehrt, »je weniger von ... desto mehr von«. Die negativen Rückkopplungen sind die Methode der Natur, ein Flußgleichgewicht zu sichern. Sie sind ziemlich robust, d.h. schwer zu zerstören; aber einmal ins Rutschen gebracht, sind sie ihrerseits sehr zerstörerisch, und vor allem kaum mehr umkehrbar...

LOHHAUSEN andererseits war ein sozio-ökonomisches Modell, in dem positive Rückkopplungen überwogen. (Tatsächlich enthielt es Simplifikationen, die einem Ökologisten ärgerlich erscheinen müssen — z.B. im Bereich Energie.) 

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Die Schlüsse, die wir aus diesen Resultaten für unser Thema zu ziehen haben, sind, so meine ich, klar genug. 

Ein Gewissen, das für die Auseinandersetzung mit ökologischen Problemen genügend gerüstet sein soll, muß systemische Daten berücksichtigen können, die in bisherigen ethischen Systemen nicht oder nur ungenügend auftauchten.

Es gab, wenn ich mich recht erinnere, in der unmittelbaren Nachkriegszeit moraltheologische Äußerungen, die auf die existentialistische Stimmung der Zeit zurückgingen. Eine Kategorie moralisch relevanter Entscheidungen wurde dabei »Vorentscheidungen« genannt — also Entscheidungen genereller Art, die den punktuellen vorausgingen — man könnte sie »Drehscheiben-Entscheidungen« nennen. 

Solche Drehscheiben zur Entscheidungsfindung müssen durch die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Philosophie und Religion erbaut werden, um die schlimmen »Reusen-Effekte« aufsuchen und eliminieren zu können, die für so viel und so riesiges Elend der Menschheit verantwortlich sind. Es ist dieses neue Feld, diese neue Dimension der Entscheidungsfindung, welche für eine Überprüfung unserer Sühne- und Wiedergutmachungspraxis allentscheidend ist.

Eine solche neue, komplexe, facettierte Perspektive entspricht genau dem besonderen Charakter der ökologischen Probleme und Gefahren; einem Charakter, bei dem gute Absichten und hehre Motive wenig, sehr wenig zählen. Aber es ist nutzlos, ein neues ökologisch-moralisches System auch nur in Betracht zu ziehen, ohne brutale und tiefgreifende Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Umwelt. 

Es wird noch eine Weile dauern, ehe wir wesentliche Skrupel über die Wahl des rechten Pfades empfinden müssen: es gibt so viel massive Zerstörungskraft, so viel Blindheit in unserer Welt, daß die nächsten und übernächsten Schritte klar sind: Konfrontation und Aufklärung.

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    3. Das Auto — eine sinnvolle Verteufelung   

(1989)

 

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In Frankfurt läuft die 53. Internationale Automobil-Ausstellung — läuft in Glanz und Gloria, mit mehr Pferdestärken unter der Haube und mehr Kilometern pro Stunde auf dem Tacho als je zuvor. Sicher, dem Zug der Zeit folgend hat man auch nachdenkliche Töne zugelassen: der Bundespräsident warnte gut protestantisch, daß Rasen der Seele schade, und Wirtschaftsminister Haussmann redete der Branche ins Gewissen, die Forderungen des Umweltschutzes etwas ausreichender zu erfüllen als bisher, schon um den Anti-Auto-Ideologen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn die sind wirklich tückisch; sie haben es sogar fertiggebracht, auf die Titelseite eines Magazins, in dem es jede Menge Auto-Inserate gibt, ein Monstrum zu schmuggeln, das chromgrillfletschend eine deutsche Spielzeuglandschaft zermalmt. 

Nicht grundlos warnte also der Minister zuguterletzt doch noch vor einer »sinnlosen Verteufelung« des Produkts Auto.

Nun, als Intellektueller lebt man davon, Wörter wörtlich zu nehmen, nicht vor ihnen zu erschrecken und sie zuende zu denken — wenn nicht zuende, so doch ein Stück weiter. Was ist das, eine »Verteufelung«? Noch dazu eine »sinnlose«? Gibts vielleicht gar eine sinnvolle Verteufelung? Wenn ja, wie könnte die im Falle des Autos aussehen? Der Teufel, das ist zunächst einmal eine theologische Kategorie: der große Durcheinanderbringer, der Vater des Bösen und der Affe Gottes. Als solcher spielt er seit dem Mittelalter in der volkstümlichen Vorstellung eine höchst farbige Rolle. Da bietet er die Möglichkeit, einen Seelen-Verkaufs-Vertrag zu unterschreiben, schwarz auf weiß (oder vielmehr sepia auf weiß, weil mit Blut zu unterfertigen): man erwirbt dafür ein paar Jahre mobiler, polyglotter und ganz allgemein flotter Lebensführung, mit erotischen Vorteilen, dem Talent, illusionäre Erscheinungen in den Raum zu projizieren, und dergleichen mehr. 

Am Ende steht allerdings das ewige Verderben — darüber läßt der Teufel seinen Klienten keinen Augenblick im Zweifel. Da ist er absolut ehrlich, er kann es sich leisten. Mit Ausnahme der Ehrlichkeit, die bei der Werbung nicht eben im Vordergrund steht, ergibt sich da doch eine sehr enge Parallele. Und was die Ehrlichkeit betrifft, so ist sogar sie allmählich in der allgemeinen Bewußtseinslage anzutreffen. Jeder, der lesen oder lesen lassen kann, müßte heute wissen, daß etwa die Hälfte der globalen biosphärischen Zerstörung in irgendeiner Form auf den Bau, den Betrieb und die Vernichtung von Gefährten mit Verbrennungsmotor zurückzuführen ist. Und dennoch bleiben wir, kollektiv und global, beim Teufelsvertrag. 

Seine handfesten Vorteile (aus dem Mittelalterlichen bequem in die Errungenschaften der Moderne übersetzt) überwiegen nach wie vor in unserer Kosten-Nutzen-Rechnung; wenn auch die Verdammnis (in Gestalt von Toten und Verletzten, deren Zahl jährlich einem mittleren Feldzug entspricht, von Vernichtung der Kulturdenkmäler, von Terror gegen Kinder, alte Menschen, Dorfbewohner im allgemeinen und andere Randgruppen, von großflächigen Angriffen auf die Biosphäre) ihre handfesten Signale längst vorauswirft. Zwecks Auto-Erwerb und Jet-Betrieb verjuxen wir nicht nur der Oma ihr klein Häuschen, sondern gleich alle möglichen Biotope dazu, vom Erdinger Moos bis zu den Weltmeeren.

So erweist sich die Anstrengung, über die Parallele Auto-Teufel nachzudenken, schon auf der bescheidenen Ebene der literarischen Folklore als sinnvoll. Wagen wir nun den zweiten Schritt, den aus der Welt des Volkstümlichen ins strikt Theologische, besser und objektiver noch, in die vergleichende Religions­wissenschaft. Hier können wir mit absoluter Objektivität vorgehen.

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Alle Irrationalismen, denen uns das Auto unterwirft, lassen sich zwanglos erklären, wenn wir davon ausgehen, daß es ein religiöses Phänomen ist. Es ist dabei nicht nötig, ja sogar ungenau, vom »Götzen« Auto zu reden; erstens wertet das schon wieder ab (was der Geist der Wissenschaft nicht zuläßt), und zweitens wäre seine Rolle damit zu zentral gesehen. Richtiger ist es, das Auto als Sakrament zu definieren — als Sakrament der Religion, in der wir leben, atmen, uns bewegen, wie der Apostel Paulus sagt. 

Im Rahmen unserer Produktions- und Konsum-Religion, deren Pfingsten bei uns in der Bundesrepublik die Währungreform von 1948 war, bildet das Auto tatsächlich so etwas wie das Zentral-Sakrament, der christlichen Eucharistie vergleichbar. Ein Sakrament ist, um altmodische Katechismen zu zitieren, das äußere Zeichen für eine unsichtbare Gnade; das hat als erster jener Kaufmann erfaßt, der wenige Tage nach der Währungsreform in Wolfsburg aufkreuzte und die Barsumme für einen Käfer in neuen DM-Scheinen auf den Tisch des Hauses blätterte. 

In der Zwischenzeit ist das Sakrament von einem ganzen Blumengarten mehr oder weniger unsichtbarer Gnaden umrankt; es zeigt den Gnaden-Stand des Besitzers in den Augen der Leistungsgesellschaft an, es läßt (vom protzigen Schlitten des Zuhälters bis zum trotzigen Entlein des Quasi-Aussteigers) jede Menge von individuellen Distinktionen zu, solange die Verehrung des Sakraments als solche nicht unterbrochen wird. Im Neben-Sakrament des Führerschein-Erwerbs besiegelt es die Mannbarkeit des Bürgers und der Bürgerin — ein Ritus, der längst viel realer ist als etwa die Konfirmation oder die Erstkommunion.

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Vor allem aber hebt der sakramentale Charakter das Auto hoch über alle lächerlichen Rentabilitäts-Erwägungen. In der Tat könnte nicht einmal die Hälfte der Produktion abgesetzt werden, wenn die Erwerber wirklich rechnen würden: die hedonistischen Freuden, die es verspricht, ließen sich selbst bei massiver Wunschprojektion viel billiger einkaufen, wenn man sich an das vorhandene Miet-Angebot einschließlich Taxi hielte. 

Ein Franzose hat schon vor geraumer Zeit die sogenannte Realgeschwindigkeit verschiedener Autotypen ausgerechnet — also die Geschwindigkeit bei Zurechnung der Zeit, die zum Erwerb und Betrieb des Wagens nötig ist. Diese Realgeschwindigkeit liegt, mittlere Einkommen und mittlere Wagenklassen vorausgesetzt, bei etwa 10 km/h. Das schnellste Fahrzeug wäre in einer solchen realen Rechnung das Veloziped. 

Uns allen ist klar, daß so nicht gerechnet wird, nicht gerechnet werden kann. Es würde das Auto der Ehre der Altäre berauben, das Sakrament der schnöden Kalkulation unterwerfen.

Ebenso klar wird, daß das Sakrament, ein so zentrales zumal, seine Opfer verlangen kann — noch keine Religion, die sich selbst ernst nimmt, ist davor zurückgeschreckt. Laßt ruhig die Mütter beben, wenn die Söhne Ostbayerns nächtens von Disco zu Disco rasen — sie haben auch gebebt, als die Söhne für Gott und Vaterland auszogen, und, wie alle Kriegerdenkmäler beweisen, heiligt der Tod noch allemal nachträglich die Sache, für die er stattgefunden hat.

Laßt ruhig die alten Dome unter den Abgasen bröckeln — es sind die Dome eines fernen, uns längst nicht mehr zugänglichen Gottes, wir lassen sie stehen, weil wir pluralistisch sind, aber man soll doch nicht von uns erwarten, daß wir die Religion, in der wir leben und uns bewegen, Seinetwegen beeinträchtigen oder schwächen. Und was die Biosphäre betrifft — du lieber Gott, in unserem Verständnis warst du noch immer über rein Biologisches hoch erhaben, das ist einfach eine Frage der Güter-Abwägung. Soweit so gut — oder so schlecht, je nach Standpunkt. 

Wir haben in unseren theologischen Ausführungen auf jeden Standpunkt verzichtet, lediglich den Sachbeweis geführt, daß das Auto ein Sakrament, höchstwahrscheinlich das Zentral-Sakrament der Religion ist, die uns beherrscht und mit Hilfe derer wir über die Welt herrschen. Leider ist es an dem, daß wir in dem Augenblick, wo wir einen anderen religiösen Standpunkt, etwa den einer monotheistischen Offenbarungslehre, einnehmen, automatisch dieses Sakrament verteufeln. Das ist keine Frage tönender Bannformeln, sondern einfach eine Frage der Logik: die Götter des einen sind die Teufel des anderen Bekenntnisses. 

Natürlich ist von den Kirchen nicht zu erwarten, daß sie sich dazu anders als mißverständlich äußern — in Formeln etwa wie der vom »rechten Gebrauch« und dergleichen. Erstens wissen sie die Toleranz zu würdigen, welche ihnen die herrschende Religion entgegenbringt, bis hinab zum Kirchensteuer-Einzugsverfahren, das ja auch die Arbeitnehmer von Dingolfing und Sindelfingen erfaßt; und zweitens liefert das Auto gerade auch kirchlichen Würdenträgern nicht zu verachtende Ersatzbefriedigungen. (Der amerikanische Schriftsteller J. F. Powers, ein Katholik aus dem Mittelwesten, hat dies in seinen subtil-dämonischen Priestergeschichten sehr gut beschrieben.) 

Gerade darum darf ich der Kulturredaktion des Bayerischen Rundfunks ausdrücklich dafür danken, daß sie diese Kommentarzeit dem Kirchenfunk abgetreten hat, zu Zwecken einer sinnvollen Verteufelung.

208-209

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