Teil 4 - Kultur und Ökologie - Zwischen den Stühlen der Kulturen
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Zwischen den Stühlen ist es nicht bequem, aber man kann schließlich auch stehen, und vor allem kann man versuchen, die Stuhl-Kluft durch ein (und sei es noch so dürftiges) Brett zu überbrücken. Insgesamt wäre dies die wichtigste Aufgabe der Gegenwart überhaupt.
Die Kulturen, von denen schon vor dreißig Jahren C. P. Snow sprach (ihm ist der erste Aufsatz dieses Abschnitts gewidmet, eine Auftragsarbeit für den Westdeutschen Rundfunk), litten wohl noch nie unter so viel Apartheid wie heute. Wenn die Grüne Bewegung überhaupt einen gesamtkulturellen Ansatz zu generieren vermag, dann muß er hier zu spüren sein — in der Überbrückung der Kluft zwischen der naturwissenschaftlichen und der sogenannten »humanistischen« Kultur.
In die bin ich natürlich unweigerlich hineingeraten. Meine scientistische Unbildung kann ich in meinem Alter nicht mehr wirklich abschaffen; aber ich kann und konnte auf die Signale der Sprache eingehen, die die verschiedenen Kulturen aussenden. Und die interessantesten kommen heute nicht aus dem sogenannten Kulturbetrieb, sondern aus der Wissenschaft. Ich habe sie in Freundschaften erfahren — in Freundschaften mit bedeutenden und weniger bedeutenden Renegaten. Ich traf sie alle im Rahmen von ECOROPA — und seines kleinen Münchener Ablegers, der »E. F. Schumacher-Gesellschaft für politische Ökologie«, die wir 1980 gründeten. Diesen Kontakten verdankte ich etwa die Teilnahme an der ersten Konferenz über die GAIA-Theorie in Cornwall 1987, von welcher der Aufsatz über die <Drei Helden> handelt.
Nun, für den Publizisten liegt die Sache einfacher als für den Romancier (der ich letzten Endes geblieben bin). Der Publizist kann und muß auf die <Nachrichten aus der wahren Geschichte> eingehen, wie ich sie schon 1977 auf einer P.E.N.-Tagung darzustellen versuchte. Schwieriger, sicherlich umstürzender ist das Verhältnis der neuen, der ökologischen Perspektive zu den eigentlichen Künsten: zur bildenden, zur Literatur — der »gehobenen« sowohl wie zu ihren mutwilligeren Nebengebieten. Über <Kunst, Natur und Naturschutz> sprach ich anläßlich der Kunstaustellung zum Jubiläum des Nationalparks im Bayerischen Wald 1990 in Freyung. Die Ausstellung selbst, die ich vorher nicht gesehen hatte, illustrierte einige der betrachteten Aspekte und Probleme...
Der Versuch über <Macht und Ohnmacht der Literatur im Zeitalter der biosphärischen Verantwortung> wurde 1980 in Belgrad vorgetragen.
Auf einem sehr mutwilligen Gebiet bin ich jahrzehntelang zwischen die Stühle geraten — nämlich zwischen die Stühle der Kritiker. Die deutsche Science-Fiction-Gemeinde hat mich (aufgrund des kleinen Bandes von 1975 <Der Untergang der Stadt Passau>) zu so was wie ihrem Doyen erhoben. Ich konnte also am eigenen Leibe einige Probleme studieren — so etwa das der literarischen Rezeption und der »Erwartungshaltungen«. Davon handelt das Referat, das ich in der katholischen Rabanus-Maurus-Akademie zu Wiesbaden-Naurod im Mai 1984 hielt.
Doch wie wird das Leben, das Selbstverständnis einer oder eines »Gebildeten« in einer Welt der biosphärischen Verantwortung aussehen, aussehen müssen? Darüber nachzudenken (unter erschwerten, da konkret pädagogischen wie festlichen Bedingungen) bot sich die Gelegenheit beim Abitur einer Tochter 1978. Ich wünschte mir, daß ich damit bei Menschen Eindruck gemacht habe, die wichtiger sind als ich selber: auf Menschen der nächsten tragenden Generation.
Zuletzt wieder eine Nachspeise: Aufgefordert, an dem von Walter Jens herausgegebenen Sammelband »Leben im Atomzeitalter« mitzuwirken, in dem sich die artikulierende Klasse zwecks Erteilung von Lebenshilfe versammeln sollte, konnte ich nicht umhin, einige »allgemeine Verhaltensregeln für Kulturwort-Produzenten in entwickelten Nationen« zu entwickeln. Das war 1987; gelten werden sie wohl noch lange — so lange, bis es wirklich ernst wird.
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1. Persönliches zu Charles Percy Snow
(1989) wikipedia C._P._Snow 1905-1980
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Zwei Kulturen: als vor dreißig Jahren das Stichwort fiel, schien es mir unmittelbar einleuchtend. Da ich in Illustrationen denke, stellte ich mir zwei Ordinarien vor, einen für Anglistik und einen für Pysik. Der eine weiß nicht, was das Zweite Thermodynamische Gesetz ist — der andere kennt den Namen von Hamlets Freundin nicht oder nicht mehr. Sie können über Politik oder Frauen oder das schlechte Wetter reden, wie zwei Nachbarn beim Bier; aber daß sie sich nichts oder fast nichts über ihre geistigen Reiche mitteilen können, ist in der Tat betrüblich.
Dann, bei der Lektüre von Snows Vortrag, taten sich hinter der einleuchtenden Illustration diverse Fragen auf. Die Rede von den zwei Kulturen ist eben zu einleuchtend, um präzise zu sein.
Erste Frage: wenn die naturwissenschaftliche Kultur, die naturwissenschaftliche Denk- und Redeweise die Techniker einschließt (Snow betont das ausdrücklich), schließt sie dann auch die wirtschaftlichen Verwerter mit ein — sagen wir, die Herren von Messerschmitt-Bölkow und DWK?
Frage zwei: es gibt bedeutende Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften, die der naturwissenschaftlichen Methode — Verifikation von Hypothesen aufgrund wiederholbarer Phänomene — näher stehen als dem, was Snow mit der »literarischen Kultur« meint, zum Beispiel die zünftige Sprachwissenschaft seit den Brüdern Grimm; wo gehören die hin?
Frage drei: wie stehts mit den sogenannten Gesellschaftswissenschaften — etwa einer gewissen Soziologie oder Politologie, deren Publikationen oft den sprachlichen Charme einer medizinischen Doktorarbeit mit der gedanklichen Präzision einer Opernkritik vereinen?
Frage vier: stimmt überhaupt Snows Beschreibung der Machtverhältnisse? Es mag ja sein, daß in seiner Lebenserfahrung Minister gescheiter über Shakespeare daherreden können oder konnten als über Molekularbiologie (in unseren heutigen Verhältnissen ist es zu bezweifeln, auch in England) — aber jeder Intellektuelle, den ich kenne, ist fest davon überzeugt, daß die naturwissenschaftliche Kultur, jedenfalls ihre Anwender, den Zentren der Macht wesentlich näher stehen als er — der Ausdruck dafür heißt Technokratie.
Fünfte Frage: Snow meinte damals, die naturwissenschaftliche Kultur stehe im großen Ganzen links — während die Kunst- und Wort-Schmiede retrospektiv, konservativ, maschinenstürmerisch gestimmt seien. Wiederum gibts gute Gründe, das zu bezweifeln, jedenfalls hierzulande: die 1968er Revolte machte eindeutig vor den Pforten der naturwissenschaftlich-technischen Fakultäten halt, und die politischen Ansichten der scientistisch-technisch Gebildeten sind oft erschreckend naiv auf den gesellschaftlichen und politischen Status quo fixiert.
Fragen über Fragen also, die alle erst sondiert werden müßten, ehe man sich fragen läßt, ob sich in den dreißig Jahren seitdem objektiv etwas geändert hat. Lassen wir sie lieber im Augenblick beiseite. Ich glaube, ich tue gut daran, mich auf ein persönliches Zeugnis zu beschränken — auf meine Erlebnisse mit und in den zwei Kulturen, national und international, seit dem Stichjahr 1959. Wie stand es denn damals um mich? Wie stand es um die Orientierung, sagen wir, von uns Angehörigen der »Gruppe 47«, die doch wohl so ziemlich das reinste Beispiel dessen sind, was Snow als seine zweite, intellektuelle Kultur begreift?
Nun, von naturwissenschaftlichen Fragestellungen verstanden wir, das sei zugegeben, nichts oder so gut wie nichts. Aber wir empfanden auch nicht die geringste Opposition gegen sie. So fraglos wie nur irgendein Kfz-Mechaniker unterwarfen wir uns in entscheidenden Punkten dem Konsens, der damals technisch-naturwissenschaftlich herrschte.
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Wir waren gegen die Atom-Bombe, sicher; aber wir folgten ohne tiefere Reflexion der allgemeinen Überzeugung, daß das Atom etwas viel zu Nettes sei, als daß man es in Mordpakete stecken dürfte. Experten wie Otto Hahn, Max Planck, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker standen so leuchtend jenseits jeden Zweifels wie für den orthodoxen Gläubigen der heilige Basilius an der Bilderwand. Und mit seiner These, daß nur die Wissenschaft die Welt vor dem Untergang retten könne, rannte Snow bei uns offene Türen ein.
Wir standen in dieser Frage so links wie er. Neben der künftigen Fülle aus der Kernenergie glaubten wir an die Segnungen moderner, wissenschaftlich gestützter Agrarwirtschaft, und die Produktivität der Moderne war uns sogar der Beweis dafür, daß Hitler mit seinem Sozialdarwinismus eben nicht recht gehabt hatte. Eine technisch-scientistisch geformte Kultur verstanden wir als Verbündete gegen die Sorte Dunkelmännerei, in die (wie wir wieder genau wußten, und zwar von unserem Metier her) genug Blut-und-Boden-Reaktion der Tausend Jahre eingeschmolzen war. Das Einzige, was wir möglicherweise gegen unsere Technokraten hatten: daß sie so begriffsstutzig waren und nicht begriffen, daß die Fülle des Fortschritts erst nach Sprengung der Fessel der Profitwirtschaft, des Kapitalismus, undsoweiter: siehe Marx.
Nun, die große Änderung kam, der große Paradigmenwechsel — und er kam nicht durch uns Intelligenzler, er erwischte uns gewissermaßen von hinten. Weder Rachel Carson noch Paul Ehrlich waren Literaten, Konrad Lorenz und Rupert Riedl auch nicht, E. F. Schumacher war ein zünftiger Ökonomist, Ivan Illich ein wutentbrannter Priester.
Kybernetik, Ökologie, evolutionäre Erkenntnistheorie — und, natürlich, die mit allen Weihen des Megacomputers ordinierte MIT-Studie von 1972 — das alles erwuchs aus dem Boden der anderen, der naturwissenschaftlich orientierten Kultur.
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Meine Verwicklung in diese Bewegung ist bekannt. Seit 1970, also seit ich mich, von Theorie und Kulturkritik herkommend, mit Fragen der bewohnbaren Zukunft befasse, hat sich mein Freundes- und Bekanntenkreis völlig verändert, und zwar ausschließlich oder fast ausschließlich durch Zuzügler aus der naturwissenschaftlich-technischen Kultur. Da gibts Renegaten aus der Kernphysik, Biologen verschiedener Disziplinen, Ingenieure, Informatiker, aber auch umgedrehte Wirtschaftswissenschaftler, Klimaforscher — alle mit humanitären Interessen und Übergängen in die andere Kultur, sicher, aber alle nach wie vor in die Denkweisen ihrer Erziehung verwurzelt. Verständigungsschwierigkeiten gibts die Menge, nach wie vor — aber ich sehe den großen Vorteil dessen, was ich die ökologistische Perspektive nennen möchte, gerade darin, daß sie hervorragend geeignet ist, Verständigungsbrücken zu schlagen.
Das Terrain, auf dem solche Verständigung stattfindet, ist weder geistes- noch naturwissenschaftlich im zünftigen Sinne; es ist moralisch-politisch. Man bemüht sich um eine neue politeia, einen neuen öffentlichen Umgang mit den entscheidenen Menschheitsfragen. Der Literat, der Historiker, der Kulturkritiker muß lernen, die Gesetzmäßigkeiten zu respektieren, die sich aus der naturwissenschaftlichen Bemühung ergaben und ergeben. Der naturwissenschaftliche Geistes-Modus seinerseits bedarf der Aufklärung über historische Zusammenhänge, der Aufklärung über die Irrationalität der meisten menschlichen Vorgänge einschließlich der Politik und, oft genug, der Aufklärung über seine eigene naive Plazierung in Zeit und Raum. Dabei ist ständiges gegenseitiges Hinterfragen, ständiges Warnen vor unzulässigen Verallgemeinerungen und Grenzüberschreitungen notwendig.
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An diesem Punkt ist es nun möglich, einige Schlüsse zu ziehen, die übers rein Persönliche hinausgehen. Tatsache Nummer Eins: die interessanten Fronten verlaufen nicht mehr die Grenzlinien der beiden Kulturen entlang, es findet vielmehr ein lebhafter Grenzverkehr statt. Dabei haben, wie leider festzustellen ist, die Literati mehr Angst und weniger das Bedürfnis, diesen Grenzverkehr mitzumachen.
Die interessantesten Zeitgenossen sind jedenfalls für mich die Renegaten; es ist müßig, hier Namen zu nennen, ich möchte jedoch ausdrücklich meines viel zu früh und tragisch verstorbenen Freundes Manfred Siebker gedenken, eines Mitgliedes des <Club of Rome>, der von der Atom-Bürokratie herübergekommen war und zu einem ihrer grimmigsten Kritiker wurde.
(d-2015:) Bild von mir eingefügt
Entscheidend waren und sind auch große Lehrer aus den neuen, mit dem Paradigmenwechsel aufsteigenden Disziplinen — hier nenne ich beispielshalber den Amerikaner Gregory Bateson.
Tatsache Nummer Zwei:
Der Paradigmenwechsel fiel zusammen mit dem Aufstieg der neuen massenhaften Dissidenz, wie sie etwa (zum ersten Mal massiv) in den Ereignissen um Wyhl 1975 sichtbar wurde. Die Wissenschaft (oder sagen wirs genauer: ihre Herrschaft in den Köpfen der Laien) verlor dabei beträchtlich an Nimbus, was ihr trefflich bekam. Etwas entstand, was bis dahin unerhört gewesen war: der Gegen-Experte, der es mit der jeweiligen Opposition hielt. Oft genug selbst ein Renegat, sorgte er für das, was die Gesellschaft auf dem neuen Boden des kollektiven Risikos so dringend braucht — nämlich den offenen, massiven Konflikt auf der Bühne des naturwissenschaftlich geprägten Denkmodus selbst.
Die Literaten und andere Arbeiter im Kulturbetrieb konnten da eigentlich nicht viel mitreden. Sie brauchen es auch gar nicht. Was man jedoch feststellen kann: das Menschenbild, das aus den Errungenschaften des neuen Paradigmas auftaucht, ist uns weißgott nicht fremd.
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Das Bild des Menschen, der in zunehmendem Maß auf die Unvollkommenheit seiner Erkenntnisweisen stößt, der zunehmend feststellt, wie wenig seine Absichten, gute oder böse, in den Kreuz- und Quer-Gittern der Systeme, in denen er steckt, bedeuten — dieses Menschenbild ist das der modernen Literatur, in mannigfacher Abwandlung. Während also der Paradigmenwechsel vom siegesgewissen Fortschritt immer weiter wegführt, hinein in eine Welt der Vernetzung, der geheimnisvollen Rückkopplungen, der offenen Programme, der Synergismen und der Chaotologie — in eine Zukunft, in der sich der Mensch leichter zerstören als erhalten kann, steht der literarische Igel da längst in ihm bekanntem Gelände.
Und einer, der dieses Gelände am intensivsten beschrieb, Franz Kafka, wurde (was er sich auch nicht alpträumen ließ) bereits 1964 zu einer frühen Schwalbe des Prager Frühlings — zu einem posthumen und damit unfolterbaren Zersetzer des scienistitisch-technischen Optimismus realsozialistischer Lesart.
Dies leitet zurück zu Charles P. Snow.
Sein moralisches Hauptmotiv war, wie er selber angibt, die zunehmende Bedeutung des naturwissenschaftlichen Denkmodus für die Abschaffung der Armut und des Elends in aller Welt hervorzuheben; nur die angewandte Naturwissenschaft könne, wie sie dies schon in der industriellen Revolution Europas tat, diese Aufgabe meistern. Dabei trieb ihn die Sorge um, daß uns hier der kommunistische Osten, mit der massenhaften Hervorbringung qualifizierter Wissenschaftler und Techniker, die Schau stehlen, den Rang ablaufen würde.
Wenig hätte er sich damals träumen lassen, wie's dann wirklich lief; wie heute eben dieser, seiner Meinung nach schon überlegene Osten den Rezepten dieser lässigen, schlampigen, von technisch-ideologischer Dissidenz geschüttelten Ersten Welt nachläuft. (Rezepten übrigens, die sie meist selber gar nicht hat.) Und man versucht sich vorzustellen, wie die Welt heute aussähe, wäre man damals Snows Ruf bis in die höchsten Entscheidungsgremien energisch gefolgt. Vielleicht war es für die Welt doch höchst nützlich, daß sie sich einen Fundus des Mißtrauens gegen Snows schöne neue Welt erhalten konnte. Ich bin neugierig, wie's weitergeht...
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2. Drei Helden
Bericht über eine biosphärische Konferenz
(1987)
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Vom 21. bis zum 23. Oktober (1987) fand in Cornwall eine Konferenz über die GAIA-Theorie statt. Wir werden gleich darauf kommen, was diese Theorie besagt — vielleicht war die Konferenz ein großes Ereignis des Jahrzehnts. Jedenfalls begegnete ich im Lauf dieser drei Tage drei verschiedenen Helden.
Der erste gehörte Europas romantischer Jugend an — und damit auch der meinen: König Artus.
Der Konferenzort, »Worthyvale Manor«, ein stattliches und schön modernisiertes Anwesen aus grauem Stein, liegt nämlich mitten im Sagen-Land des alten Königs, und durch seinen Grund fließt, von Erlen überschattet, der kleine Bach, an dem der Legende nach des Königs letzte, bittere Schlacht gegen den Verräter Mordred geschlagen wurde. Im nassen Dunkel am Bachrand, zwischen den Wurzeln der Büsche, liegt ein kelto-romanischer Grabstein für Macartius, des Latinus Sohn, er trägt wacklige Quadrata-Schrift und einige Zeichen des geheimnisvollen Ogham-Alphabets.
Hundert Meter bachaufwärts wölbt sich die enge »Slaughter Bridge«, die Brücke des Gemetzels: dort schlug Egbert der Sachse die letzten kornischen Verteidiger, und das ist wohl die Basis für des Artus legendäre Anwesenheit. Die Erde dort, die kornisch-grüne, hecken- und hohlwegdurchzogen, dampft immer noch von der Trauer um die dahingegangene Pax Britannka, den römischen Frieden. Es ist diese Trauer, aus der jede europäische Romantik gewoben wurde: die erste im Hochmittelalter, die zweite im 18. und die dritte im 20. Jahrhundert; die Hälfte all der Fantasy-Taschenbücher, die sich in Buchhandlungen und Bahnhofskiosken drängen, ist den Lenden des Artus und seiner schimmernden Ritter entsprungen; jedes einzelne ein vager, bittersüßer Widerspruch gegen die kalte Faktizität germanischer Macht.
Nun, für die Konferenz selbst war dieser dahingegangene keltoromanische Kleinkönig nicht wichtig. Ihr Gegenstand war kosmischer. Ausgerichtet wurde sie von Edward Goldsmith, dem Fach-Ökologen und Redakteur der international renommierten Zeitschrift THE ECOLOGIST, der keine fünf Kilometer entfernt in Wadebridge wohnt. Hier, bei der GAIA-Theorie, ging es nicht mehr um ferne Jahrhunderte, hier ging es um Jahrmilliarden. Zur Debatte stand, wie schon erwähnt, die GAIA-Theorie; das heißt, eine seit etwa 15 Jahren diskutierte und immer besser ausgebaute Theorie über die wahre Natur der Erde.
GAIA, das ist der altgriechische Name für die Erd-Urmutter, und James E. Lovelock, der Vater der Theorie, hat den klassischen Namen von William Golding geschenkt bekommen, dem Nobelpreisträger, der sein kornischer Hausnachbar ist. (Man sieht: der genius loci ist nicht ohne Bedeutung.) Die GAIA-Theorie ist am besten in Lovelocks eigenen Worten zu beschreiben:
»Die Erde ist ein guter Platz für lebende Organismen, und sie ist es geblieben, seit das Leben überhaupt begann: also seit etwa 3,5 Milliarden Jahren. Sie ist es geblieben, obwohl die Sonnenhitze in diesem Zeitraum um etwa 25 Prozent angestiegen ist. Die Atmosphäre ist eine unstabile Mischung radioaktiver Gase, aber ihre Zusammensetzung bleibt konstant, atembar für lange Zeit — und für alle möglichen Arten von Bewohnern. Dies ist die Evidenz, auf der die GAIA-Theorie beruht. Es waren die lebenden Organismen selbst, die den Planeten stets bewohnbar für das Leben erhielten und erhalten. Im Gegensatz dazu steht die bisher gängige Ansicht, daß sich das Leben an unausweichliche physikalische und chemische Bedingungen und an ihre Veränderungen anpassen mußte.
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Wir haben die Hypothese zum ersten Mal in den 70er Jahren aufgestellt; seither haben neue Evidenz und neue Modellbildungen die GAIA-Theorie gefestigt. Sie sieht die Evolution lebender Arten so eng mit der Evolution ihrer physikalischen und chemischen Umwelt gekoppelt, daß sie zusammen einen einzigen und unteilbaren evolutionären Prozeß bilden.«
Diese Hypothese scheint, falls verifizierbar, das Ende der bisherigen Evolutionsvorstellungen zu bedeuten; aber Jim Lovelock, der alles andere als ein Fanatiker ist, fügt kollegial hinzu:
»Die Theorie widerspricht keineswegs der großen Vision Darwins. Sie weitet sie vielmehr aus: die Erde ist als solche der größte lebende Organismus im Sonnensystem.«
Ansätze zu dieser Sicht waren durchaus schon vor Lovelock und Lynn Margulis, der amerikanischen Mikrobiologin und Mitschöpferin der GAIA-These, vorhanden. Darauf wies Jacques Grinevald aus Genf hin, der zur Zeit ein gewichtiges Werk über die Geschichte der Biosphäre-Idee schreibt und es als <Report an ECOROPA> demnächst vorlegen wird. Seiner umfassenden Darstellung zufolge waren vor allem zwei Pioniere schon in der ersten Jahrhunderthälfte am Werk: Teilhard de Chardin und der Russe Vernadski. Hinter diesen beiden Namen verbirgt sich eine Problematik, die auch heute noch die Diskussion um die GAIA-These beherrscht. Sie läßt sich so formulieren: Ist der Homo Sapiens durch seine zivilisatorische Entwicklung zu einer Gefahr für den Gesamtorganismus Erde geworden — oder gehört diese zivilisatorische Entwicklung selbst in die GAIA-Evolution? Führt sie — wie Teilhard de Chardin es ausgedrückt hat — die Erde aus der bewußtlosen Biosphäre in die durch den Geist, das Bewußtsein geprägte Noosphäre?
Zunächst sah es so aus, als würden Lovelock und Margulis diesen optimistischen Pfad beschreiten.
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Zum Beispiel meinte Lovelock von den Fluorkohlenwasserstoffen: »Fluorkohlenwasserstoffe, die hauptsächlich aus der chemischen Industrie stammen und niemals vorher in freier Luft aufgetreten sind, ehe der Mensch kam, sind ein gutes Beispiel für das Leben an der Arbeit.«
Und Lynn Margulis ging einen Schritt weiter: »Nicht nur die Menschen sind eine von über 10 Millionen existierenden Arten, sondern auch unsere Maschinen ... Wir könnten die künftige Evolution der Maschinen mit der Evolution des Lebens auf dem Lande vergleichen, die vor 400 Millionen Jahren begann. Dann könnte das Leben weiter expandieren in einer >technobischen Autopoiese<«.
Jacques Grinevald hat es nicht versäumt, diese optimistischen Thesen negativ zu interpretieren; für ihn fallen sie zusammen mit seiner Kritik an Teilhard de Chardins <Noosphäre>:
»Das Erklärungsschema, das Teilhard vorschlägt: den Menschen als <Schlüsselfigur der Evolution> zu sehen und so. Die Biosphäre durch die Noosphäre zu verstehen, beruht nicht nur auf einer höchst kuriosen Konzeption der Biosphäre, sondern ist vor allem die ... Rückkehr zu einem teleologischen Argument der christlichen Theologie — einer religiösen Konzeption, die der modernen ökologischen Perspektive höchst fern steht...«
Nun man braucht nicht bis in die Theologie emporzusteigen, um den ursprünglichen Optimismus von Lovelock und Margulis bedenklich zu finden. Dieser Optimismus paßt unter anderem sehr gut in die synthetische und etwas schwachsinnige Heiterkeit der New-Age-Bewegung und fand seinen Weg in die Argumente der härtesten Technokratie. Heute ist es zumindest Jim Lovelock klar, daß er solche Mißverständnisse selbst heraufbeschworen hat. Er meint jetzt:
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»Es ist gesagt worden..., daß die GAIA-Hypothese eine Machwerk ist, dessen Argumentation es der Industrie erlauben soll, nach Belieben die Welt zu verschmutzen, da Mutter Gaia den Saustall schon aufputzen wird. Nun ist es wahr, daß ein homöostatisches System auf Störungen nachsichtiger reagiert. Aber dies ist nur dann der Fall, wenn es gesund ist und über hinreichende Regulierungskapazität verfügt. Ist dagegen das System bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angespannt, kann schon eine kleine Störung genügen, um es in einen neuen statischen Zustand springen oder völlig zusammenbrechen zu lassen... Es könnte sein, daß die Klima-Regulierung nicht weit von solchen Bedingungen entfernt ist...«
Hier gesteht Lovelock also zu, daß die gegenwärtige Praxis der »Noosphäre« durchaus imstande sein kann, den Gang des Lebens der GAIA negativ zu beeinflussen. Daß er trotzdem gelassen bleibt, mag seine Ursache im stetigen Blick des Naturforschers haben, jenen Blick, den er auf die Prioritäten im Lebenssystem richtet:
»Das Leben auf diesem Planeten ist sehr zäh, robust und anpassungsfähig, und wir sind nur ein kleiner Teil davon. Der wesentlichste Teil ist vermutlich all das, was auf den Böden der Kontinentalsockel und im Boden unter der Oberfläche lebt. Große Pflanzen und Tiere sind ziemlich unwichtig... die zähen, verläßlichen Arbeiter, die das Mikrobenleben des Bodens und der Meeresbetten bilden, sind diejenigen, die die Dinge in Gang halten ...«
Und damit sind wir beim zweiten Helden angelangt, über den es zu reden gilt. Lynn Margulis stellte ihn vor, die Mutter oder wenigstens die Ziehmutter der GAIA-Hypothese. Sie hat die zwingendsten Beweise geliefert für die titanische Arbeit, die seit den Urzeiten der Erde von den Bakterien geleistet wird: die Bindung von Kohlenstoff in Schlamm, Erde und Fels — und die Freisetzung des zerstörerischen, zerfressenden, aber absolut lebensspendenden Sauerstoffs.
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Es ist diese Zusammensetzung der Atmosphäre, welche die Erde radikal von ihren Nachbar-Planeten unterscheidet — eine Unterscheidung, die Lovelock befähigte, der NASA die Unbewohntheit von Mars und Venus vorauszusagen.
Und Lynn Margulis benennt ihren Helden, sie nennt ihn wörtlich our bacterial hero. Es genügt ihr nicht, den Helden Bakterie zu benennen — in wahrhaft prophetischer Begeisterung, temperiert durch die praktische Energie einer mittelmeerischen Hausfrau, führte sie Dias und Filme vor: das Wuseln der Protozoen in den gewaltigen mikrobischen Matten an der Küste von Baja California, das stetige Ablagern von Sedimenten, die sich in den Zeugnissen uralter Gesteinsschichten wiederholen; die blauschwarzen Riesenpilze, die seit dem Archäon der Erde, also seit über drei Milliarden Jahren, bis in unsere Tage durch die Ablagerung von Algen-Rückständen vor der Nordküste Australiens gebildet werden. Allen Teilnehmern an dem Symposium hat sich diese Begeisterung mitgeteilt; ohne viel verbale Verständigung wurde klar, daß die Welt durch diese Theorie und ihre Verifikation anders geworden ist.
Die meisten anderen Referenten sprachen über »implications« — über Folgerungen also aus der GAIA-Theorie für ihre jeweiligen Fachgebiete: Philosophie, Epistemologie, Gesellschaftswissenschaft, Anthropologie, Theoretische Ökologie und die ökologische Bewegung. Sachlich am weitesten zu reichen schienen mir zwei Beiträge, aus ganz verschiedenen Gründen: der eine war der einer anglo-chinesischen Professorin, Frau Ho, über die Folgen der Theorie für die Evolutionslehre, die nun in ihrer rüden neodarwinistischen Version nicht mehr zu halten sei — da spürte man, wo und mit welcher Wucht sich kritische wissenschaftliche Massen begegnen können.
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Der zweite war der des Welschschweizers Matthias Finger über die Folgen für die Gesellschaftswissenschaften. Er war aus einem doppelten Grund wichtig: zunächst stellte er klar, daß die GAIA-Theorie durch ihre Existenz allein schon gesellschaftliche Bedeutung hat, und zwar eine revolutionäre; sie leitet sich ab aus dem Unterschied zwischen Diagnose und Therapie:
»Man darf die Fähigkeit des Menschen (oder der GAIA?), die Krankheit zu diagnostizieren, nicht mit der Fähigkeit verwechseln, GAIA zu reparieren oder ihr zu helfen. Lovelock hat die Erde mit einem Patienten verglichen; nun, der Patient mag genau wissen, daß er Krebs hat, er mag sogar verstehen, wie Krebs zustandekommt und arbeitet — aber es mag sein, daß er unfähig ist, etwas dagegen zu tun, wenn er nicht sein gesamtes Leben ändert ...«
Die zweite Schwierigkeit liegt im Ursprung und der Zielsetzung der Sozialwissenschaften selbst. Alain Caille, einer ihrer wenigen Philosophen, wird von Finger zitiert:
»Die Gesellschaftswissenschaften wurden aus der mehr oder weniger expliziten Einsicht in die Tatsache der Moderne und die Willkürlichkeit vergangener Symbol-Systeme geboren. Sie sind zu Hebammendiensten an einer neuen Welt entschlossen, sind also Demiurgen. Diese Demiurgenrolle ist von ihrem Selbstverständnis untrennbar.«
Daraus folgert Finger:
»Die Gesellschaftswissenschaften stellen sich daher Gesellschaften und ihre Einzelgruppen... als unabhängige und auf sich selbst bezogene Einheiten in ewiger Entwicklung vor — in Evolution oder Fortschritt... Es ist dann Sache des Gesellschaftswissenschaftlers, zu diesem Fortschritt beizutragen, indem er das Bild einer rational funktionierenden Gesellschaft entwirft... und konkret zu ihrem Management beiträgt... Diese Philosophie wird von den wichtigsten zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaftlern vertreten, seien sie Marxisten oder Antimarxisten. ... Fortschritt, Entwicklung oder Evolution, gefördert von den Gesellschaftswissenschaften, können
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nur auf den Feldern von Rationalität, Theorie und Erkenntnis stattfinden, während die innere wie die äußere >Natur< sogenannte >epistemologische Hindernisse< für sie sind. Die >Natur< wird so entweder zu einer Grenze bzw. zu einem Hindernis für den Fortschritt — oder sie muß durch Wissenschaft zu einem Instrument des Fortschritts gemacht werden.«
Finger wies allerdings auch auf die minoritären Teile der Gesellschaftswissenschaften hin, die in eine andere Richtung drängen — eben in Richtung der Solidarität mit der GAIA, einer Unterstützung des nicht mehr anthropozentrisch gesehenen Lebens.
Hier, in diesen Beiträgen, wurden die gewaltigen Implikationen der biosphärischen Wissenschaften am klarsten sichtbar. Was in Worthyvale Manor noch fehlte, waren die Geisteswissenschaften — von der Theologie bis zur Literaturkritik. Hier sind, ebenso wie in den Gesellschaftswissenschaften, noch nicht die Anfänge eines Anfangs sichtbar. Aber wo bleibt der dritte Held, den wir in Aussicht gestellt haben? Nun, er ist nicht vergessen. Die drei Oktobertage, vom 21. bis zum 23., waren, wie erinnerlich, die dramatischen Anfangstage des weltweiten Börsenkrachs; es waren die Tage, in denen über 1000 Milliarden Dollar auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Sie hinterließen nicht einmal eine Spur in der Gashülle — oder in den Schlamm-Sedimenten vor Baja California. Auf den britischen Inseln war die Aufregung darüber viel größer als bei uns: sie waren und sind ja nach wie vor Mittelpunkt globalen Bank- und Börsengeschehens. Vor allem die Presse konzentrierte sich fast vollständig auf das Desaster, ebenso wie die elektronischen Medien.
Nun, wie schon eingangs erwähnt, wurde die Konferenz von Edward, genannt Teddy, Goldsmith ausgerichtet. Teddy ist ein abenteuerlicher Mann, Enkel eines aus Frankfurt eingewanderten Bankiers, einer jener westlichen Herrenmenschen, die in Frankreich wie in England gleichermaßen zuhause sind.
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Noch herrenmäßiger aber ist sein jüngerer Bruder Sir James Goldsmith, genannt Jimmy. Dieser Sir James war längst auf allen Börsenplätzen als eine großer corporate raider, d.h. als Konzern-Pirat bekannt, der riesige Bündel von Eigentum lässig hin und herschiebt. Sir James nun ist unser dritter Held, er hatte nämlich den Braten rechtzeitig gerochen. Schon im Sommer hatte er sich von seinen französischen Werten in Höhe von 1,5 Milliarden Francs entlastet, andere folgten, und er sitzt nun angeblich auf einem Berg von mindestens einer Milliarde Dollars in bar, mit einem Gesamtgewinn von etwa 400 Millionen. »At the moment, I am an interested spectator«, sagt er, er sei also augenblicklich ein interessierter Zuschauer. Aber er sieht schon wieder »interesting possibilities«, interessante Möglichkeiten.
Der Held hat in der Zwischenzeit die Titelseite von TIME und eine volle Textseite in der deutschen ZEIT geschafft, mit allem, was dazugehört: seinen drei Frauen nebst drei Familien, die er in zwanglosem Rhythmus zu besuchen pflegt, seiner Gegnerschaft zur Atomindustrie, seinem harten und schnellen Zugriff auf die jeweilige Opportunität. Er wurde damals laufend interviewt und wird es heute noch — jedes Kind, so meinte er, hätte die Katastrophe vom schwarzen Montag voraussagen können, die wahre, die wirkliche Katastrophe allerdings prognostiziert er für 1992. Wird er bis dahin auf seinem Berg Horeb sitzenbleiben? Oder wird er wieder die Dämonenflügel breiten, hinabstoßen ins Gewimmel der Finanzmächte, die nach wie vor munter die Biosphäre, die GAIA zerfleischen?
Das ist natürlich die bedrückendste aller Fragen, die sich stellen: die Welt des Lebens an sich wird wohl nicht kaputtzukriegen sein, dafür sorgt die Zähigkeit der kleinen Helden von Baja California und Nordaustralien, wenn schon nicht das Bodenleben zulande. Aber ist es vielleicht realistisch, sich darauf einzurichten, daß eine gewisse, nicht sehr wichtige Spezies, die sich lachhafterweise als Noosphäre ausgibt, die beste aller Welten wieder der protozoischen Unschuld der Mikroben zurückgeben muß, zur nächsten Runde gewissermaßen? Und was wird dann von dieser unserer Spezies bleiben? Welche geheimnisvolle Ritzschrift an welchem düsteren Wasser?
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3. Nachrichten aus der wahren Geschichte
(1977)
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Eben während ich die endgültige Niederschrift dieser Gedanken in Angriff nahm, teilte die regelmäßige Nachrichtensendung des Bayerischen Rundfunks mit, daß dreiundfünfzig Prozent unserer Tierarten vom Aussterben bedroht sind; darunter so bekannte wie der Storch, der Biber und die Libelle.
Nicht mehr als Nachricht behandelt, da schon mehr oder weniger selbstverständlich, ist die Tatsache, daß die Milch in den Brüsten unserer Mütter durch DDT und andere Substanzen vergiftet wird. Man kann annehmen, daß dieser Tatbestand für mittelalterliche Bauern genügt hätte, um ihre Obrigkeiten zu erschlagen; wir behandeln ihn nur als Nachrichtenwert, wenn er erstmalig auftaucht — und dann auf der Seite acht, zehn oder sechzehn unseres fortschrittlichen Leibblattes.
Eine dritte Nachricht möchte ich erwähnen, die wir, im Gegensatz zu den zwei genannten Meldungen, nie ausdrücklich vernommen haben; es ist die Todesanzeige des europäischen, enger und genauer: des deutschen Dorfes.
Es ist nur noch statistisch als Rechtsform vorhanden; mit dem alteuropäischen Dorf als Wirtschaft- und Lebenseinheit hat es nichts mehr zu tun. Es ist also nicht mehr das Dorf, welches durch Jahrtausende die Regenerationszelle nach interessanten, das heißt nach Katastrophenzeiten unserer Geschichte war.
Dieses Dorf alter Art überstand den Dreißigjährigen Krieg, es überstand Napoleon, es überstand noch den ersten und den zweiten Weltkrieg. Erinnern wir uns, daß es noch 1946 und 1947 die konkrete Chance des Überlebens für den Hungernden aus Bottrop oder Hamburg bot, der mit einem Päckchen Zigaretten oder Rasierklingen auf Kaloriensuche unterwegs war: auf der Suche nach dem Ei, dem Stück Speck, der Bierflasche voll Milch.
Heute wäre, wenn wir auch nur eine konventionelle Katastrophe wie den Zweiten Weltkrieg ansetzen, das Dorf ebenso rasch und ebenso gründlich in die Zerrüttung einbezogen wie die Großstadt; ja, in gewisser Weise ist es verletzlicher als sie geworden. Terroristen etwa, die sich darauf spezialisieren sollten, Hochspannungsleitungen in Milchwirtschaftsgebiete zu unterbrechen, könnten mit sensationellem Erfolg rechnen. Gelänge es nicht, eine bundesdeutsche oder (bei entsprechender Dichte der Anschläge) eine EG-weite Luftbrücke zur Herbeischaffung von Handmelkern zu organisieren, müßte der weitaus größte Teil unseres Hochleistungsviehs notgeschlachtet werden. Gleiches gilt für Silotrockner, für Legebatterien und ähnliche Intensivanlagen. Das Dorf gehört also, mit verschwindenden Ausnahmen, zum Produktionsschema der Metropolis, teilt die volle metropolitanische Anfälligkeit für die politische oder soziale Notsituation.
Diese drei Beispielnachrichten sind, ich gebe es zu, aus einem Gebiet gewählt, für das ich mich in den letzten Jahren besonders interessiert habe. Man kann sie als typisch bezeichnen für das, was ich die Nachrichten aus der wahren Geschichte nenne; aber das soll nicht besagen, daß die wahre Geschichte nur die Frage des ökologischen Überlebens im engeren Sinne betrifft. Genauso wichtig — und genauso vernachlässigt — sind etwa die Nachrichten, welche sich auf die Organisation unserer Arbeit beziehen. Dieser Tage machte in Frankreich ein Büchlein auf sich aufmerksam, das den hübschen Titel »Travailler deux heures par jour« trägt.
Das Verfasserteam versucht (mit großem Scharfsinn) zu beweisen, daß bei entsprechender Organisation des Arbeitslebens in Frankreich zwei Stunden travail lié, also zwei Stunden lohn- und zeitabhängiger Arbeit genügen würden, oder zwölf Stunden pro Woche bzw. eine Achtundvierzigstundenwoche pro Monat, je nach den gesellschaftlichen Zielen, welche die Reorganisation anstrebt, um das bisherige Leistungsvolumen zu erbringen — allerdings nur ohne die üblichen Kaschierungen der latenten Arbeitslosigkeit wie Aufblähung des Apparats, geplanter Schnellverschleiß und dergleichen mehr.
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Das Büchlein ruft natürlich Widerspruch hervor. Aber für unsere Zwecke noch ergiebiger als seine Zentral-These sind die Nachrichten, die es sozusagen am Rande seiner Argumentation enthält. So weisen die Verfasser daraufhin, daß sich die Produktivität in der Primärproduktion pro Arbeitsstunde von 1900 bis 1936 verdreifacht, von 1900 bis 1975 aber verzehnfacht hat. Doch während sich die Wochenarbeitszeit von 1900 bis 1936 (einem Volksfrontjahr, wohlgemerkt!) immerhin von 65 auf 40 Stunden verkürzte, ist sie seitdem konstant geblieben, ja sie ist leicht auf einen Durchschnitt von 42 Stunden gestiegen!
Die Implikation ist klar. Während es technisch möglich wäre, auf eine 12-Stunden-Woche zu kommen, hat unser Wirtschaftssystem es vorgezogen, durch die Schaffung neuer, um 1900 noch unerahnter Angebot- und Nachfrage-Zyklen die Arbeitszeit konstant zu halten — mit entsprechender Auswirkung auf den Mehrwert, ob er sich nun in den Händen der wirklichen Produzenten oder denen der Disponenten, d.h. der Eigentümer oder Manager, befindet — und damit mit entsprechenden sozialen und ökologischen Folgelasten.
Eine andere, ebenso interessante Nachricht aus dem Buch betrifft die nicht lohnabhängige, zeitlich ungebundene Arbeit — die Verfasser nennen sie travail libre. (Ich halte den Ausdruck für nicht ganz glücklich, weil er eine soziale Zwanglosigkeit vortäuscht, die, etwa im Falle der Hausfrauen-Arbeit, nicht von vornherein gegeben ist.) In dem Ausdruck sind (jedenfalls) alle Leistungen zusammengefaßt, deren eine Gesellschaft bedarf, um ihr tägliches Leben und Überleben zu meistern, die aber in kein Bruttosozialprodukt hineingerechnet werden können.
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Aufgrund einer Rechnung, welche ich nicht nachprüfen kann, kommen die Verfasser zu dem Schluß, daß diese Arbeit in Frankreich immer noch drei Fünftel der tatsächlichen nationalen Arbeitsleistung ausmacht. In der Bundesrepublik, wo die Verhältnisse schärfer vorangetrieben sind als in Frankreich, und wo das Substrat von Raum und Gesittung ungünstiger ist, käme man sicher noch auf einen hälftigen Anteil. Fünf Nachrichten also; drei aus dem ökologischen Umfeld im weitesten Sinne, zwei aus der Arbeitswelt. Sie hängen, wie ich meine, eng zusammen; aber daraufkommt es in unserem Zusammenhang, im Zusammenhang des Themas, das sich diese Tagung gestellt hat, erst in zweiter Linie an.
Wesentlich für unser Thema ist vielmehr, daß diese Nachrichten (alles Nachrichten aus der wahren Geschichte, die sich um uns und mit uns ereignet) im gängigen Bereich der Reportage und der Feuilletons, wie wir sie kennen und gewohnt sind, nur bescheidenen Rang beanspruchen dürfen. Ist dies eine Folge von Manipulation, der wir alle unterliegen? Bis zu einem gewissen Grade zweifellos. Aber wir sollten uns die Aufgabe, welche uns das Thema stellt, nicht zu leicht machen, indem wir alles auf den Sündenbock Manipulation laden und ihn dann in die Wüste der pauschalen Anklage schicken. Wir sollten uns vielmehr, so meine ich, damit befassen, welche Hindernisse die Nachrichten aus der wahren Geschichte in unserem eigentlichen Arbeitsbereich, dem P.E.N.-Bereich — also bei uns Romanciers, Schriftstellern, Essayisten, Publizisten — vorfinden, die es ihnen schwermachen, an jene zentrale Stelle der öffentlichen Aufmerksamkeit zu gelangen, die ihnen objektiv zukommt.
Fangen wir, wie sich das gehört, mit der persönlichen Gewissenserforschung an.
Wir sind Kinder eines Milieus, eines sehr speziellen Milieus, ganz gleich, welche soziologische Herkunft wir haben.
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Wenn wir einen konkreten Ausdruck, eine konkrete Verdichtung dieses Milieus suchen, dann werden wir kaum fehlgehen, wenn wir die Halle 6 der Frankfurter Buchmesse als sein irdisches Himmelreich ansetzen. In dieser Halle verdichtet sich, räumlich wie gesellschaftlich, alles, was uns als berufliches Interesse bekannt und vertraut ist. Ihre Kojen, ihre Titel, ihr Klatsch, ihr mehr oder weniger mühsam verdecktes kommerzielles Leben, ihre mehr oder weniger personalisierten Konkurrenz-Situationen: da wissen wir Bescheid, das macht (auf eine nie ganz zugegebene hämische Weise) sogar Spaß.
Dieses sonderbaren Festes wegen nehmen wir unverschämte Strapazen auf uns und ertragen Streß jeder Art. Wir tun es mit einer gewissen Berechtigung. Denn in diesem Himmelreich Nummer Sechs sind wir Zwischenschicht-Insekten unter uns. Wir sind im Inneren eines höchst labilen Marktes, eines Marktes, der nur mit hoher Geschicklichkeit rentabel gemacht werden kann. Er hängt, wie fast kein anderer, von der Gunst und Beschaffenheit primärer und sekundärer Konjunkturen ab. Wir befinden uns so in der prekären Lage, sagen wir, von Polarfuchsen, deren Lebenschance ausschließlich von Zahl und Feistigkeit einer bestimmten Art, der kanadischen Schneeschuhhasen, bestimmt wird. Sinkt diese Konjunktur unter einen gewissen Punkt, wird das Interesse des Publikums an dem, was wir zu verkaufen haben, unverhältnismäßig stark zurückgehen.
Mit anderen Worten: wir hängen immer noch von einem Souverän ab, einem Souverän, der wenigstens potentiell so launisch ist wie die Häuptlinge, die einst als Erste für den Lebensunterhalt von Wort-Spezialisten sorgten. Die Huld des Häuptlings aber ist nur operativ, wenn der Mehrwert, von dem er selbst lebt, seiner Meinung nach die zusätzliche Ernährung eines Barden und Redners erlaubt.
Um solchen subjektiven Urteilen, solchen Häuptlings-Launen des Souveräns zu entgehen, sind wir auf eine Technik zurückverwiesen, die wir (soweit wir Linke sind) in anderen Sparten aufs heftigste beklagen und attackieren: auf die Technik des marketing...
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Das heißt mit dürren Worten:
Wir sind Arbeitnehmer oder doch arbeitnehmerähnliche Personen auch insofern, als unser Unterhalt im konkretesten Wortsinn von der Massenhaftigkeit der Schneeschuhhasen, sprich von der unmöglichen Entwicklung unseres Bruttosozialprodukts abhängt, dessen mörderische Auswirkungen auf die Zukunft die Nachricht Nummer Eins der wahren Geschichte ist. Unsere Erkenntnisprozesse muß das nicht beeinflussen, darf es nicht beeinflussen, wenn wir unserer Aufgabe gerecht werden wollen; aber es erschwert natürlich unsere existenzielle Einstimmung auf diese Aufgabe.
Nähern wir uns den Schwierigkeiten, die wir mit den Nachrichten aus der wahren Geschichte haben, von einer scheinbar anderen Seite. Nach dem Krieg erregte ein Wissenschaftler, der gleichzeitig als Romancier bekannt wurde, nämlich Lord Snow, die englische literarische Öffentlichkeit mit einem Schlagwort — dem Schlagwort von den two cultures. Lord Snows Argument von den Zwei Kulturen lief darauf hinaus, daß hier, im industrialisierten Westen, das öffentliche Bildungsbewußtsein scharf von der wissenschaftlichen Kultur getrennt ist, und daß dieses Bildungsbewußtsein bisher immer die alten Humanwissenschaften und die Künste als zentral, die naturwissenschaftliche Bildung dagegen als peripher einstufte. Snows bekanntestes Beispiel: jedermann, auf einer Party gefragt, ob er das Zweite Thermodynamische Gesetz kenne, dürfe diese Frage getrost verneinen, ohne dadurch an Status zu verlieren; niemand aber dürfe zugeben, nie eine Zeile von Shakespeare gelesen zu haben, ohne nicht sofort als Banause und Plebejer zu gelten.
Snows Konklusion aus dieser Lage: ohne teilweise Durchdringung der beiden getrennten Kulturen, ohne gegenseitige Befruchtung ihrer Kenntnisse und Erkenntnisse sei die alte humanistische Kultur zur Sterilität verurteilt, und Nachrichten aus der wahren Geschichte könnten von denen, welche sie eigentlich einordnen und interpretieren müßten, nämlich den Publizisten und Essayisten, darüber hinaus natürlich auch von den Belletristen, nicht als solche erkannt, geschweige denn verarbeitet werden.
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Soweit Lord Snow.
Einen Schritt weiter ging bekanntlich Arnold Gehlen. Auch er meint, unsere Kultur werde von zwei verschiedenen, ja sich befehdenden Klassen getragen, nämlich den Experten und den Intellektuellen. Die Experten sind die tatsächlichen Fachleute, ihnen stehen die »Meinungsträger und Moralisten gegenüber, die die Macht des geschriebenen und gesprochenen Wortes handhaben, die progressiven Geister, sehr viele unter den Publizisten, Künstlern, Schriftstellern, Studenten und Theologen«.
Gehlen läßt keinen Zweifel daran, was er von diesen progressiven Geistern hält; etwa diese Versammlung wäre in seinen Augen so gut wie überflüssig. Wir, die progressiven Geister, wie er spöttisch sagt, halten nur den Betrieb auf, urteilen und verurteilen aus einer Position der Unwissenheit, verhindern die letzte noch mögliche Stabilisierung der Gesellschaft, welche die Stabilisierung durch die Sachzwänge und Eigengesetzlichkeiten der Technokratie ist.
Nachrichten aus der wahren Geschichte? Nur die Experten wissen überhaupt, welche das sind. Nur die Experten haben das Recht, sie herauszugeben, zu interpretieren und zu kommentieren. Was ist schon von progressiven Geistern zu halten, die nicht einmal die Wirtschaftsseite, sagen wir, der FAZ mit Nutzen zu lesen verstehen? Sie befinden sich in der Lage der unmündigen Laien, sie sind selber nur Laien, die sich zu Unrecht aufblasen und von ihrer Wichtigkeit überzeugt sind.
Soweit Gehlen.
Und Hand aufs Herz: wen von uns überkommt nicht gelegentlich das Gefühl der Verzagtheit, wenn er tatsächlich versucht, die Wirtschaftsseite der FAZ mit Gewinn zu lesen?
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Wen packt nicht gelegentlich das Grausen, wenn er sich durch die endlosen Pro- und Contra-Argumente der Kernenergie-Debatte zu kämpfen sucht? Und wer von uns könnte wirklich auf Anhieb eine sichere Definition des Zweiten Thermodynamischen Gesetzes aus dem Stegreif aufsagen?
Nun, ich habe mich interessehalber mit dem Zweiten Thermodynamischen Gesetz befaßt, und für mich hat es sich gelohnt. Ich würde mir sogar zutrauen, unter fachmännischer Anleitung in ein paar Wochen die Wirtschaftsseite der FAZ mit Gewinn lesen zu können. Hexerei ist das alles nicht. Aber — und damit kommen wir zu unserer eigentlichen Aufgabe, was die Nachrichten aus der wahren Geschichte betrifft. Unsere Aufgabe besteht gar nicht darin, mit Experten über Fachfragen zu diskutieren, oder die Meinungen dieser Experten möglichst leichtfaßlich unters Volk zu bringen. Unsere Aufgabe besteht auch nicht darin, den Experten um jeden Preis auf die Füße zu treten. Unsere Aufgabe besteht darin, die Abwesenheit von Wahrheiten zu konstatieren, wo sie jedermann zu erblicken glaubt, und stattdessen nach den wahreren, den übergeordneten Wahrheiten zu fragen. Und diese Aufgabe kann im Märchen bekanntlich von einem sechsjährigen Lausbuben wahrgenommen werden.
Das bedarf der Illustration. Lassen Sie mich eine solche anführen, die ich leider schon des öfteren erleben konnte. Sie sitzen auf einem Podium mit Herren von der Wirtschaft zusammen, sei es ein Landesminister, ein Professor an einem wirtschaftswissenschaftlichen Institut, ein Mann der Praxis oder ein Wirtschaftsjournalist. Sie erklären ihm, daß Sie kein Wirtschaftler seien, und daß diese Qualifikation für das, was Sie zu sagen hätten, auch gar nicht nötig sei. Sie hätten lediglich mitzuteilen, daß die bisherige Wachstumsrate aus ökologischen, thermodynamischen, letzten Endes arithmetisch-logischen Gründen nicht beibehalten werden könne, und daß aus eben diesen Gründen das Nullwachstum unumgänglich sei.
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Die Wirtschaftslehre, die Wirtschaftswissenschaft, die Wirtschaftspraxis habe den Auftrag, sich diesen Gegebenheiten anzupassen, ein Schema, eine Theorie/Praxis zu entwerfen, die solchen arithmetisch-logischen Tatsachen Rechnung trage. Es handle sich nicht um den persönlichen Wunsch, die Marotte eines Naturschützers oder wildgewordenen Linken, sondern um den Auftrag, der sich aus den Naturgesetzen ergebe. Der Herr oder die Herren von der Wirtschaft haben zugehört, mit unbewegten Gesichtern. Wenn ihr eigener Diskussionsbeitrag kommt, scheint es aber meistens, als ob sie überhaupt nicht zugehört hätten. Sie machen vielleicht eine rituelle Verbeugung vor dem, was sie »Umweltschutz« nennen (ein typisches Wort aus der falschen Geschichte), machen vage Unterscheidungen zwischen quantitativem und qualitativem Wachstum, ohne zu erklären, was sie genau damit meinen, und gehen dann dazu über, die Wachstumsprozentsätze zu proklamieren, die sie für notwendig halten. Sie halten sie für notwendig, weil sonst, wie sie sagen, zwei oder drei Millionen Arbeitslose ins Haus stehen werden, oder weil wir sonst nicht mehr konkurrenzfähig sein werden, oder weil sonst das Aufkommen für die Rentenversicherung nicht reicht.
Sie sind, auf gewisse Weise, sonderbarer als der Kaiser in Andersens Märchen, der im entscheidenden Augenblick wenigstens wußte, daß er nackt war. Sie verweigern schlichtweg die Nachricht aus der wahren Geschichte, die über den Zaun ihres (möglicherweise ehrenwerten) Expertentums zu ihnen dringt. Sie wandern ungerührt die Straße ihrer Prognosen weiter. Und solange die Öffentlichkeit ihre Prognosen tatsächlich für die einzig wichtigen, jedenfalls die wichtigeren hält, besteht auch wenig Aussicht, ihre Nacktheit ad oculos zu demonstrieren. Man muß daraus schließen, daß die Kapazität der Informationsverweigerung nahezu unbegrenzt ist, vorausgesetzt, die Nachrichten aus der wahren Geschichte würden ein vorhandenes Weltbild demontieren.
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Hier, genau hier, liegt der tödliche Irrtum Arnold Gehlens und, bis zu einem gewissen Grade, auch der Irrtum von Lord Snow. Illustrieren wir diesen Irrtum, weil Beispiele immer besser sind als Diskursives, anhand einer anderen Nachricht aus der wahren Geschichte: anhand der Vorgänge von Wyhl.
Die Fischer, Bauern, Winzer, Dissidenten von Wyhl hatten, wären sie Arnold Gehlens Analyse gefolgt, überhaupt kein Recht, Widerstand zu leisten. Sie waren Laien, blutige Laien — auf der anderen Seite standen in anmutiger Eintracht die Experten der Technik, der Politik, der Wirtschaft. Wie konnten die Nuklear-Laien vom Kaiserstuhl sich anmaßen, in den Widerstand einzutreten? Waren sie von progressiven Geistern, von Schriftstellern und Moralisten aufgehetzt? Ich vermute, das anzunehmen, wäre wohl reichlich hochmütig.
Zunächst waren die Wyhler Betroffene, d.h. Interessierte. Sie waren, mit anderen Worten, genauso interessiert wie ihre Gegner, die ihnen das Landschafts-Fell über die Ohren ziehen wollten. Dafür wurden sie weidlich beschimpft, weil sie ihr Partikular-Interesse gegen das sogenannte Gemeinwohl ausspielten. Aber das ist noch gar nicht das eigentlich Erregende. Das Erregende ist vielmehr das, was dann, in Wochen und Monaten und Jahren, folgte: der Aufstand einer Landschaft nicht nur in dem Sinne, daß sie ihre legitimen Interessen verfocht, sondern daß sie auch gegen den Mythos der Expertise aufstand. Die Winzer, Bauern, Handwerker von Wyhl, sie lernten. Sie ließen sich instruieren über Kernenergie und Millirem und Strahlungsrisiken und was sonst noch zu den Girlanden der Experten-Sprache gehört. Natürlich waren und sind sie keine Kernphysiker geworden.
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Aber immerhin — und das ist schon umstürzend genug — waren sie imstande, die Abgeordneten des Stuttgarter Landtages zu beschämen; jene Abgeordneten, die vorher in schöner »überparteilicher« Meinungsbildung den Experten geglaubt hatten (Experten, die allesamt mit den Interessen der Kernlobby zusammenhangen), und die sich nun in Wyhl und Umgebung belehren lassen mußten, daß die Bauern und Winzer und Handwerker ihre Millirem besser gelernt hatten als sie, die zur Entscheidung bevollmächtigten Vertreter des Volkes.
Seitdem, seit Wyhl, wird die Wirtschaftsszene in dieser Republik nie mehr so sein können, wie sie einmal war, und mit ihr die politische Szene. Seitdem wird es nicht mehr möglich sein (selbst wenn sich die Interessen total durchsetzen sollten —), zu behaupten, daß der »Sachzwang«, die »Eigengesetzlichkeit« der politischen Entscheidung, d.h. der Entscheidung für oder gegen bestimmte Werte, grundsätzlich übergeordnet werden könne... In einer entscheidenden, vielleicht in der entscheidenden Frage der Technokratie ist die »Überparteilichkeit« geplatzt: die Überparteilichkeit, die in einer lebendigen Demokratie in der Regel nichts anderes ist als das Siegel der Geräuschlosigkeit, mit der sich übermächtige Interessen durchsetzen konnten.
Das bedeutet nicht, daß unsere Abgeordneten (und, seien wir ehrlich, die allermeisten von uns!) in der Frage der »friedlichen Nutzung der Kernenergie« vorher schlechten Willens gewesen, daß sie wissentliche Parteigänger von Interessen gewesen waren. Es bedeutet ganz einfach, daß diese Abgeordneten und Minister, genauso wie wir, blutige Laien gewesen waren, und daß sie, genau so wie wir, dennoch in der Lage sind und das Recht haben, eine Zumutung der Technokratie zu verweigern; und sei es aus keinem anderen Grund, als weil diese Zumutung eine Lage der Unübersichtlichkeit zu schaffen droht, in der wesentliche konkrete Grundlagen der Freiheit verloren gehen.
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Aber es gibt natürlich wesentlichere Gründe für die Verweigerung — und damit wird das Beispiel interessant, noch interessanter für unser Thema. Der »Sicherheits-Experte« der Kraftwerksunion versteht sicher viel mehr von den Faktoren und Umständen, welche die größtmögliche Sicherheit eines Atomkraftwerks heute bedingen. Wovon er aber nichts versteht — jedenfalls nicht mehr als wir, die blutigen Laien —, ist der weitere Sicherheitsbereich, der etwa die notwendige polizeiliche Dauerbewachung des Objekts, die notwendige Belauschung aller Angestellten, die notwendigen Änderungen der Freizügigkeit im Katastrophenfall, die notwendigen Aufweichungen der Gewaltenteilung betrifft.
In all diesen Fragen sind wir mindestens ebensosehr Experten wie er — wahrscheinlich mehr, weil seine berufliche Konzentration auf die unmittelbare Aufgabe einen Blindbereich im Randgebiet seiner Sehschärfe hervorruft. Desgleichen ist er, der Sicherheitsprofessor, unzuständig für die theologische Sicherheit, lies: den moraltheologischen Aspekt des Problems. Er ist nicht zuständig für die ökologische Gefahr Nummer Eins aus all diesen energetischen Großvorhaben, nämlich der ungezügelten zusätzlichen Energiefreisetzung mit ihren völlig unbekannten klimatischen und biologischen Folgen. Er ist ferner nicht zuständig für die Frage, ob der Krieg wirklich auf die Dauer abgeschafft werden kann — was eine Grundvoraussetzung für die Installierung von Kernenergie überhaupt wäre.
Für alle diese Fragen sind Daten aus der wahren Geschichte abrufbar. Es sind Daten, die keineswegs der besonderen Zuständigkeit bedürfen, im Gegenteil. Die Art Zuständigkeit, die Lord Snow und, in weit höherem Maße, Arnold Gehlen im Auge hatten, wäre sogar ausgesprochen hinderlich. Denn im Rahmen unserer Produktionsverhältnisse und Produktionsformen sind Zuständigkeiten immer monokausal organisiert: der »Experte« wird dafür bezahlt, sich auf einen ganz bestimmten Punkt des Produktionsfeldes zu konzentrieren.
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Die Unfähigkeit etwa der obengenannten Wirtschaftsmänner, Daten aus der wahren Geschichte auch nur zu rezipieren, ist nicht die Folge bösen Willens, sondern Folge des ganz spezifischen Auftrags, den ihnen ihre Fakultät erteilt, und dem sie nachkommen müssen, solange die Scholastik einer reinen Polit-Okonomie in vacuo, das heißt ohne Rückbezug zu ökologischen Daten, betrieben werden muß. Solche Spezialisten werden immer den Druck auf den einen Punkt der Kernfedermatratze verstärken — bis am entgegengesetzten Ende die Metallspirale durch den Drellbezug bricht.
Hier, so behaupte ich, liegt die große Aufgabe — und die große Chance für Reportage und Feuilleton, wie es wirklich betrieben werden müßte. Beides, Reportage und Feuilleton, müßten betrieben werden mit äußerster Rücksichtslosigkeit; das heißt mit ständiger Rückfrage an die Daten aus der wahren Geschichte. Es genügt zum Beispiel nicht, daß ein TV-Reporter — auch ein so geschulter wie Alexander von Cube — treulich dem visuellen Material folgt, das ihm die »Experten« bieten, wenn er ein Feature über Kernenergie produziert. Wenn er nicht die politischen, die moralischen, die gesellschaftlichen Hintergründe, die Zweit- und Drittfolgen, einzubeziehen vermag, welche noch unsere Kinder und Enkel betreffen, hat er in dieser speziellen Sendung der Bewußtlosigkeit Vorschub geleistet.
Das ist nicht eine Frage der enzyklopädischen Bildung. Gewiß, Bildung ist immer nützlich, und vor allem hat der Publizist, der aus seiner freischwebenden Höflings-Eigenschaft eine Tugend macht und seine Neugier in bisher unbekannte Gebiete vortreibt, den beneidenswerten Vorteil, ja das Privileg, in einem ganz wesentlichen Bereich jung zu bleiben. (Ich gestehe hier offen, daß ich rückblickend meine Interessenverlagerung auf das Gebiet der ökologischen Kulturkritik als hohen persönlichen Gewinn werte: sie hat mir neue, internationale Freundschaften von hohem Wert gebracht, und das Bewußtsein, etwas vom Zweiten Thermodynamischen Gesetz zu verstehen, ist schließlich auch nicht zu verachten.)
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Aber lassen wir die rein persönlichen Befriedigungen, sie sind nicht so wichtig. Wichtiger ist, daß der Reporter und Publizist, der seine Aufgabe, seine zentrale Aufgabe wahrnimmt, nämlich die Aufgabe, Nachrichten aus der wahren Geschichte in eine interessen- und angstbestimmte öffentliche oder veröffentlichte Meinung einzuführen, dies nicht als Experte tut, sondern als Anti-Experte; als der Generalist, der Störenfried, der nach des Kaisers Kleidern fragt.
Hier liegt die grundsätzliche Schwäche aller Modelle des technokratischen Konservativismus. Erinnern wir uns — ich bitte auch die linken Freunde meines Alters, sich zu erinnern —: in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren war dieser technokratische Entwurf absolut dominierend, ja er nahm noch den Purpurmantel des Fortschritts für sich in Anspruch. Nur mit Schaudern kann man sich heute ins Gedächtnis rufen, daß etwa die SPD tatsächlich Professor Steinbuch, einen tpyischen technokratischen Konservativen, der auch nie ein Hehl aus dieser Überzeugung gemacht hat, für einen Linken, ja für den möglichen Bildungsminister der Bundesrepublik hielt. (Dies ist keine persönliche Invektive, sondern eine notwendige Illustration.) Was immer an der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre schief, ahistorisch, platt, ja neurotisch gewesen sein mag — eines rechne ich ihr heute ohne Zögern und ohne Reserve zugute: sie war eine Seelenrettungsrevolution, und sie brachte auf ihre vertrackte Weise den alten Humboldt wieder in die deutsche Bildungsdiskussion zurück.
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Sie brachte den Anspruch des Generalisten zurück, der, wenn er seinen Auftrag gewissenhaft wahrnehmen will, immer ein Humanist sein muß, ein Humanist in einem weiteren Sinne, dem auch das Zweite Thermodynamische Gesetz nicht notwendigerweise ein Buch mit sieben Siegeln ist — der aber, nicht so sehr kraft seines akkumulierten Wissens als vielmehr kraft seines Auftrags und seiner Berufung, deren wesentliche Eigenschaft die unzähmbare Neugier ist, den jeweils zu Klumpen geballten Expertenhaufen die unangenehmen Fragen stellt, die sich aus den Nachrichten der wahren Geschichte ergeben.
So behält, meiner Meinung nach, der keineswegs unbeachtliche Arnold Gehlen auf eine komplizierte Weise recht. Er behält recht in seiner Annahme, daß zwischen den technokratischen Experten und denen, die er progressive Geister und Moralisten nennt, der Konflikt programmiert ist. Dieser Konflikt erwächst aber keineswegs aus einem aristokratischen Führungsanspruch der Progressiven.
Er erwächst ganz schlicht aus einem Tatbestand, der Gehlen notwendig fremd war: dem Tatbestand der republikanischen Gewaltenteilung. In angelsächsischen Ländern führt denn auch die Presse einen Ehrentitel, der hierzulande völlig unvorstellbar war und ist: the fifth estate — der Fünfte Stand. Es handelt sich nicht um eine Klasse, sondern um einen Stand im politischen Sinne der Etats Generaux, der politisch maßgebenden Generalstände. Wie konkret wirkungsvoll diese Rolle noch heute wahrgenommen werden kann, das zeigt das Beispiel der jungen Männer von der WASHINGTON POST und ihrer unerschrockenen Recherchen in der Watergate-Affäre. Leider kennen wir in der Bundesrepublik ein nicht minder machtvolles Beispiel, das allerdings in die andere Richtung operiert, und ich möchte den P.E.N. ausdrücklich bitten, dem Fall Wallraff kontra <bild> seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Nein, was Gehlen und die Seinen, was auch Lord Snow übersehen hat, ist die Tatsache, daß in einer von Experten und Spezialisten erfüllten Welt, in der jede Aktion, die von ihnen angezettelt wird, fast naturnotwendig falsch ist, dem Generalisten, dem rasenden Reporter, dem unbefangenen, radikale Fragen stellenden Publizisten eine ungeheuer wichtige und notwendige Aufgabe zufällt: die Aufgabe, nach des Kaisers Kleidern zu fragen.
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Die Aufgabe, den Winzern, Bauern, Fischern, Dissidenten, den Betroffenen und Überfahrenen von soundsoviel Projekten des »Gemeinwohls«, den Mut zu geben, sich ihrerseits als Experten zu fühlen, und zwar als Experten in eigener Angelegenheit. Darüberhinaus aber die Aufgabe, nie den ökologischen, den historischen, den planetarischen Hintergrund all dessen vergessen zu lassen, was sich auf flacher zweidimensionaler Bühne als sogenannte Nachricht ereignet. In einem solchen Auftrag — vielmehr: in einer solchen Bündelung von Aufträgen — steckt Spannung. Sie will ausgehalten sein.
Wie ist sie auszuhalten? Zweifellos auch mit Hilfe von Bildung, einer Bildung, die man sich sozusagen auf der Fährte erwirbt — nicht der ungefähren Fährte des Tages, sondern der Fährte des Jahrzehnts oder des Jahrhunderts — auf der Fährte der wahren Geschichte, die man mehr erahnt als genau zu definieren weiß.
Wichtiger noch ist aber etwas Anderes. Meinem Referat wird das von Herrn Podlech folgen, das wesentlich systematischer, wesentlich grundsätzlicher als das meine sein wird. Dennoch möchte ich mich und Sie einstimmen mit einem Zitat, das es ihm erlauben wird, unmittelbar anzuschließen:
Wenn der unreine Geist aus dem Menschen gefahren ist, geht er in die Wüste, sucht Ruhe und findet sie nicht. Und er wird zu sich sprechen: Ich will in das Haus zurückkehren, aus dem ich kam! Und er findet es leer, besenrein und geschmückt. Da holt er noch sieben weitere Geister, die ärger sind als er, und sie ziehen zusammen ein. So steht es zuletzt um diesen Menschen schlimmer als zu Anfang. (Matth. 12, 43-45)
Wichtig ist, mit anderen Worten, daß wir die Leser und Hörer nicht allein lassen, wenn der entscheidende Exorzismus, die Austreibung der falschen Geister und Kategorien, geglückt ist. Wichtig ist, daß wir die Nachrichten aus der wahren Geschichte, die wir durch den Filter der falsch programmierten Aufmerksamkeit bringen, nicht isoliert stehen und so verkümmern lassen. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir — ohne es ständig auszusprechen — unter einem kategorischen Imperativ stehen sollten, der unserem Engagement die Richtung gibt.
Für meine Person habe ich, erlauchten Spuren folgend, diesen Imperativ so formuliert: Bisher hat sich der Materialismus damit begnügt, die Welt zu verändern — jetzt kommt es darauf an, sie zu erhalten.
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