4 Gedanken über Natur, Naturschutz und Kunst
(1990)
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Meine Damen und Herren, liebe Freunde, nicht ohne leise Bedenken bin ich der Einladung gefolgt, diese festliche Eröffnung mit einigen Gedanken zu garnieren — mit »niveauvollen« noch dazu, wie dies in der DDR so schön hieß. Ich bin das, was man einen Generalisten nennt, notgedrungen; und so können Sie von mir weder kunsttheoretische noch ökowissenschaftliche Fach-Weisheiten erwarten. In beiden Fächern bin ich Amateur; in Sachen Kunst durch einen Kunsthistoriker-Vater zu einer gewissen Begeisterungsfähigkeit konditioniert, in Sachen Ökologie durch ein gewisses landschaftlich-bayerisches Urgefühl und den kritischen Umgang mit der technokratischen Zivilisationsperiode der fünfziger und sechziger Jahre.
Am ehesten könnte ich mich noch zum anstehenden Dilemma der Literatur äußern, in dem sich das ganze Problem-Feld unserer Zivilisation konzentriert — ein Dilemma, das meines Erachtens ernsthafte Fragen nach dem Sinn des Literaturbetriebs in seiner heutigen Form aufwirft. Aber darum geht es hier und heute nicht.
Wenn ich das Anliegen dieser Veranstaltung richtig interpretiere, dann geht es um die mögliche aktive Rolle der Kunst bei einer Neu-Orientierung unseres Denkens und Fühlens — des Denkens und Fühlens der Menschheit. Ohne eine solche Neu-Orientierung wären wir, das ist ziemlich sicher, als Spezies verloren. Dieses Bewußtsein muß uns hinorientieren auf den Lebenszusammenhang des Planeten, muß uns lehren, diesen Planeten als einen selbstregelnden, sich selbst erhaltenden Organismus zu begreifen; muß uns die Unmöglichkeit offenbaren, weiterhin an einem Konzept festzuhalten, das schlimmstenfalls die schrankenlose Herrschaft über die
Natur, bestenfalls die Partnerschaft einer gleichgestellten, selbständigen Menschheit mit einer sie selbständig konfrontierenden Natur zur Folge hat und gehabt hat. Eine solche Neuorientierung fordert alle unsere Fähigkeiten heraus, ist eine kulturelle Herausforderung im weitesten Sinne. Eine Religiosität, welche sie zu umgehen versuchte, wäre ebenso töricht und unsinnig wie eine Ästhetik, die sich nicht zu ihr verhält. Und damit ist, naturgemäß und zwingend, die Kunst von heute und morgen herausgefordert.
Wie soll ich mich als begeisterter Generalist dieser Herausforderung stellen?
Nun, ich werde mich auf das Feld zurückziehen, auf dem ich mich am besten auskenne, die Methode anwenden, in der ich trainiert bin. Ich werde etliche Geschichten heraufrufen, mich und Sie an etliche Situationen erinnern, die wir erlebt haben — und an denen sich unsere Frage, unsere Problemstellung erörtern läßt. Damit komme ich (so hoffe ich jedenfalls) dem Anliegen dieser Veranstaltung am nächsten.
Am besten beginne ich mit einer Jugenderinnerung.
Wie Sie sich ausrechnen können (ich bin 1922 geboren), stand sie geraume Zeit unter dem Zeichen des Hakenkreuzes, und sie fand in einer schwarzen Kleinstadt, in Freising, statt. Das ergab fruchtbare wie unfruchtbare Spannungen. Wir, d.h. einige Kameraden und ich, waren keine Hakenkreuzler, sondern hielten in einer halblegalen katholischen Gruppe zusammen, die mit den Nazis nichts im Sinn hatte. Dennoch, ich erinnere mich lebhaft an das Gespräch mit einem dieser Freunde, der glaube ich, Josef hieß. Eines, so meinte er, machten die Hitlerleute doch richtig: ihren Kampf gegen die entartete Kunst:
»Schau dir doch diese Bilder, diese Statuen einmal an!«, rief er lebhaft. »Das ist doch Negerkunst, das ist doch Steinzeit, oder?« Nun, ich sah das etwas anders, ich fand solche Vergleiche unstatthaft, immerhin hatte mein Vater an der Philosophisch-Theologischen Hochschule durchaus begeisterte Vorträge über Expressionismus gehalten. Was ich damals nicht wußte, war etwas, was ich erst viel später erfuhr; daß sich diese sogenannten Entarteten durchaus auf Steinzeit und Negerkunst bezogen.
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Und damit kommen wir schon zur zweiten Geschichte.
In den ersten Jahren unseres Jahrhunderts fand in Paris eine kleine, ziemlich schäbige Ausstellung afrikanischer Kunst statt, die nicht allzuviel öffentliches Aufsehen erregte. Einer ihrer Besucher war ein mittelloser, zwergwüchsiger Spanier, der sich damals mit den üblichen Rosinen im Kopf als Maler in Paris herumtrieb. Und dieser Besuch wurde zu einem der umstürzendsten Ereignisse der modernen, wenn nicht überhaupt der Kunstgeschichte. Der kleine Spanier, es war natürlich Pablo Picasso, malte wenig später die »Demoiselles d'Avignon«, mit denen der letzte imitatorische Naturzusammenhang zerreißt.
Der gleiche Picasso besuchte Jahre später das größte Museum steinzeitlicher Malerei an Ort und Stelle: die neuentdeckte Höhle von Lascaux, mit ihren großartigen, wohl magisch gemeinten Tierbildern. Er verließ diese Stätte des uralten Menschheitsgedächtnisses voll tiefer Erregung und verkündete, es gebe seit damals nichts wirklich Neues an und in der Kunst: wir haben nichts dazugelernt und nichts dazuzulernen.
Mit anderen Worten: Picasso — oder auch Künstler wie Epstein und andere Meister der klassischen Moderne — hätten die Bemerkung meines Schulkameraden überhaupt nicht als Anwurf, als Abschätzigkeit empfunden. Im Gegenteil: ihr Rückgriff auf die Art Lebenserfahrung und Lebensgefühl, die sich in Lascaux und in den Skulpturen Schwarz-Afrikas manifestiert, war für sie eine Erweiterung, ein Durchbruch, war die Wiederaufnahme einer Funktion der Kunst, die durch Jahrtausende abendländischer Entwicklung verstellt und verschüttet worden war.
Was sie damit natürlich bestritten, war die Bewertung, die
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ihnen nicht nur der Postkartenmaler aus Braunau angedeihen ließ. Ich erinnere mich noch gut genug an die Jahre, in denen für die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung van Goghs »Sonnenblumen« so ziemlich das Kühnste war, was man sich an die Wand hängen konnte. Und die Furcht, die man vor der sogenannten »entarteten« Kunst empfand, war verständlich genug.
Picasso selbst hat das sehr deutlich artikuliert. Was er beim Besuch der Pariser Ausstellung verspürte, war die Schau eines Universums, das zu fürchten man jeden Grund hatte und hat. Das Fremde, das Bedrohliche der Natur, des Universums; die Scheinhaftigkeit der vordergründigen Harmonie; die Doppelnatur des Mächtigen, das man — bis in die Römerzeit hinein — das HEILIGE nannte, sein Aufgeladensein mit Gefahr: Der kleine wilde Spanier hat es gespürt und ein Leben lang durchexerziert; aber für ein Säkulum und eine Weltgegend, in der man sich seit den klassischen Griechen an die Kalokagathia, die Vormacht des Schönen und Guten gewöhnt hatte, war das schon reichlich starker Tobak. Daß wenige Jahre später, nämlich 1914, diese Welt sich so veränderte, daß sich auch im Kosmos der Mehrheiten, in ihrer handfesten Wahrnehmung, die Schrecken der Vorzeit aufs neue enthüllten, ja in noch schrecklicherer Gestalt enthüllten — diese prophetische Funktion der neuen Kunst haben wir alle wohl erst mit ein, zwei Generationen Verspätung begriffen.
Den vollen Umfang aber dessen, was uns solche Kunst zu künden hat oder zu künden vermag, begreifen die Meisten auch heute noch nicht. Sie hat ja nicht nur die Schrecken der Historie antizipiert; sie hat — ob dies der einzelne Künstler wußte und weiß oder nicht — viel von den Erkenntnissen vorweggenommen, welche uns die heutige Anthropologie aufzwingt: die Erkenntnis, daß das uns im Alltagsleben vertraute Universum nur einen »Mittelbereich« darstellt, der uns durch höchst unzuverlässige Werk-
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zeuge zugänglich gemacht wird; die Erkenntis, daß wir gar nicht fürs Erkennen, sondern fürs Überleben programmiert sind, und zwar fürs Überleben in einer Welt, die längst nicht mehr die unsere ist; und nicht zuletzt die Erkenntnis, daß die Kausalitäten, auf die wir unseren Umgang mit der Natur, mit dem Universum stützen, auch nicht mehr sind als Wahrscheinlichkeiten, die uns nur unvollkommen von allen möglichen Katastrophen trennen. Nun, all dies an einem Jubiläum des Naturschutzes zur Sprache zu bringen, mag gewagt erscheinen. Das, worum es im traditionellen Naturschutz ging, die Emotionen, die ihn förderten, die Ängste, die ihn vorantrieben, waren zunächst wohl ganz anderer Art.
Schon die Wortwahl beweist es: NATURSCHUTZ — ein höchst wichtiges und löbliches Vorhaben, gewiß; aber ein Vorhaben, das von der weit überlegenen Stellung unserer Spezies gegenüber dem nichtmenschlichen Leben ausgeht. Hände, die sich schützend um eine Blume oder einen Schmetterling wölben; in dieser Geste steckt sowohl ein Mitleids- wie ein Allmachtsgefühl. Und so hat denn für mehrere Generationen der letzten Endes ästhetische Aspekt des Naturschutzes das Maß gegeben. Besonders stolze, besonders schöne, besonders ansprechende Tiere; Blumen und Pflanzen, die unseren ästhetischen Sinn ansprechen; Landschaften oder Landschaftsteile, die vor der Verstümmelung durch den industriellen Fortschritt bewahrt werden sollten: das waren die hauptsächlichen Objekte des volkstümlichen Naturschutzes. Ökologisch gesehen, waren dies meist relativ unwichtige Objekte; aber sie standen im Mittelpunkt der Emotionen, die der Naturschutz mobilisieren konnte und mobilisieren mußte. Es waren die Emotionen einer hochanständigen, im positiven wie im bedenklichen Sinn bürgerlichen Welt: man hatte etwas erreicht, man beklagte die Nebenfolgen, man war bereit, etwas gegen sie zu tun. Aber die Werte, um die man kämpfte, hatten kein eigentliches Bedrohungs-
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Argument hinter sich — es sei denn der lebhafte Argwohn, daß eine Menschheit, die ihre verletzlichsten Mitgeschöpfe aus schierem Erwerbstrieb oder schierer Kurzsichtigkeit umbringt, an ihrer Seele Schaden leiden muß. Das Erbe der Romantik ist hier unverkennbar. Und dieses Erbe entspringt auch der Kunst, keine Frage. Es läßt sich ein Schillerscher Reim über dieses Kunstgefühl setzen:
Die Natur ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual... Und natürlich zieht auch Schmerz durch dieses Lebens- und Kunstgefühl — ein Schmerz, wie er unabweislich etwa aus den Landschaften von Caspar David Friedrich spricht. Der Naturschutz wurde und war, mit anderen Worten, ein aktiver Teil der Zivilisationskritik, die, ohne Ironie sei es gesagt, ein hervorragender Teil dieser Zivilisation selbst war und ist.
Man übersehe dabei einen ganz wichtigen Faktor nicht: den Historismus. Der Historismus, das heißt die Beurteilung der Existenz nach historischen Gesichtspunkten, die oft geradezu ängstliche Pflege des historischen, vor allem des künstlerischen Erbes (noch im 18. Jahrhundert war dergleichen unbekannt) entsprach einem der ehrgeizigsten Vorhaben des Naturschutzes überhaupt: dem Projekt der Nationalparks.
Das Wort ist mehrdeutig. Es könnte den irrtümlichen Eindruck hervorrufen, daß solche Parks nationales Erbe bewahren sollen. Das ist, exakt durchdacht, natürlich Unsinn. Die Flora und Fauna, die da geschützt wird, die Biozönosen und Biotope sind vor aller Nation-Werdung entstanden, man nehme nur den Yellowstone Park in den USA. Der Terminus national bezieht sich vielmehr auf das Subjekt, den Schützer. Wenn das Individuum (oder der örtliche Verein) einen Weiher, ein Stück Moor oder auch nur ein paar seltene Pflanzen retten will, so steht es der Nation an, das Gedächtnis der vor-nationalen Vorzeit, ein Stück Naturgeschichte und weiterwirkender Naturgeschichte, zu retten.
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In all dem war und ist auch ein Stück moderner Philosophie lebendig: ein Stück Cartesianismus. Es war der Franzose Descartes, der zum ersten Mal und in präziser Weise das Objekt vom Subjekt, die res cogitans von der res extensa, also den unstofflichen Beobachter von der beobachteten Materie schied. Nicht-Einmischung ist geboten; aber sie ist deshalb geboten, um der Anschauung der gegenwärtigen Menscheit ein kostbares Stück nichtmenschlicher Geschichte zu bewahren. Dieses Stück Geschichte, Naturgeschichte, wenn man will, ist der Ökonomie des Menschen entzogen, nur so kann sie erhalten und gerettet werden. Nein, ich korrigiere mich: der Naturschutz traditioneller Art hat durchaus eine ökonomische Funktion, aber sie ist nicht verrechenbar. Er ist ein Stück Reproduktion; eine Eiserne Ration von Zweckfreiheit in einer eisernen und verschleißenden Welt der Zwecke. Erbauung, Erholung, Bereicherung — wie immer man den Gewinn aus Naturschutz nennen will, er ist und bleibt ein echter Gewinn, der leider nicht mit konkreten Zahlen in die Berechnung des Bruttosozialprodukts eingesetzt werden kann. Und hier reichte der Naturschutz die Hand der traditionellen Kunst, der holden, die für die Belebung grauer Stunden gedacht war. Zwei Schlüsselbegriffe: das Erhabene und das Liebliche (griech. hypsos und hesychia) konnten dafür verwendet werden, sowohl das Rauh-Feindselige wie das durch den Baby-Effekt liebenswert gemachte Rehlein in solche Ästhetik einzubeziehen.
Man begreift: dies ist eine ganz andere Ästhetik als die Picassos, als die der Schwarzafrikaner und der Steinzeitkünstler. War man seinerzeit bemüht, ein verletzliches Stück Natur zu retten und (künstlerisch gesprochen) einen Rest erhaben-lieblicher Schönheit zu bewahren, so behauptet die neue Ästhetik, die Ästhetik der klassischen Moderne,
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daß es ringsum, in uns und um uns, eine Welt gibt, die wir schlechthin nicht zu durchdringen vermögen; ein Universum über (oder unter) unserem Mittel-Kosmos, das sich unserer dürftigen Überlebens-Apparatur von Erkenntnis entzieht — ein Universum, furchtbar, erhaben, möglicherweise tödlich, aber möglicherweise und notwendigerweise auch das Universum, in dem die Halteseile unserer Existenz ausgespannt sind.
Die wissenschaftliche Aufklärung unseres Jahrhunderts (und das ist seine gewaltigste und, wie ich meine, hoffnungsvollste Paradoxie) hat alles getan, um diesen Eindruck zu bekräftigen. Während die sogenannte schweigende Mehrheit, seit etwa hundert Jahren dem religiösen Glauben und damit der frommen Scheu vor dem Unbegreiflichen immer weiter entzogen, die handfesten Prämien des materiellen Fortschritts einheimst und nicht im Traum daran denkt, zugunsten der sterbenden Wälder auch nur einen Kilometer weniger Auto zu fahren; während eine scheinbar geschlossene Welt aus Kunststoffen und künstlichen Relationen Millionen von Mitbürgern jeglichem Naturbewußtsein entzieht, taucht in der eigentlichen Bastion der Aufklärung, der Zitadelle der Lebens-Wissenschaften, welche heute der wichtigste Zweig der internationalen Akademie sind, ein vieldimensionales Bild der Welt auf, ein Bild voll wachsender Unbestimmtheiten und Unbestimmbarkeiten, aber auch, und natürlich damit verwoben, das Bild einer Natur, die etwas gänzlich anderes ist als die Schaufenster-Effekte der holden Kunst von einst. Das Bild oder vielmehr das bewegte und ständig sich bewegende Hologramm einer in alle Richtungen vernetzten, mit Millionen Rückkopplungen ausgestatteten Schöpfung; das Bild einer Welt, in der das Flügelflattern eines Schmetterlings in Hongkong einen Tornado in San Francisco zu entfesseln vermag. (Dies ist ein berühmtes Beispiel aus der Chaosforschung.) Unmittelbar damit im Zusammenhang steht die schon er-
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wähnte neue Bescheidenheit, betreffend die Erkenntniskraft des homo sapiens sapiens. Auch wenn die Adjektive doppelt beteuern, daß er gescheit und weise ist, deuten die Einsichten etwa der evolutionären Erkenntnistheorie in eine ganz andere Richtung. Unsere Erlebnis- und Denkfähigkeit, so besagt diese Theorie, ist konditioniert, und zwar unwiderruflich konditioniert, durch die Entwicklung der Art selbst. Diese Entwicklung (»Evolution« genannt, was noch in den Rückbezug der Eigen-Einwirkung des Organismus Erde auf ihre eigene Befindlichkeit hineingestellt werden müßte) hat nie darauf verzichtet, alte und uralte Bausteine in neue Arten einzubauen, wenn sie sich einmal bewährt hatten. Und so ist unser schöpfung-krönendes Großhirn tausendfach mit Antrieben verbunden, die bis in die Reptilien-Dämmerung unseres Stammbaums zurückreichen.
Schlimme Aussichten, kann man nur sagen.
Schlimme Aussichten einer Spezies, die der rumänisch-französische Philosoph Cioran den »komplizierten Selbstmordversuch der Natur« nennt. Aber — vielleicht ist die unerschrockene An- und Aussicht auf solche Tatsachen der richtige Moment, um zur Kunst zurückzukehren. Vielleicht spielt sie doch eine Rolle, eine wichtige Rolle in der Anstrengung um die Erhaltung der Schöpfung — oder, wenn man dem kecken Motto dieser Ausstellung folgen will, der Schöpfung der Zukunft.
Wie wäre dies möglich? Um es gleich zu sagen: beweisen läßt sich da nichts mehr. Wir betreten ein Gebiet, auf dem Fakt und Fiktion, Beweisbares und Unbeweisbares ineinander verschwimmen. Und das ist gut so. Der Mensch, der homo sapiens (hier folge ich begeistert dem großen französischen Anthropologen Edgar Morin) ist immer und notwendigerweise homo demens, der verrückte Mensch. Das klingt provozierend, und Morin hat wohl auch ein bißchen provozieren wollen — aber es läßt sich schlicht beweisen.
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Lassen Sie mich hier wieder literarisch werden und eine Geschichte ausdenken.
Der Urzeitjäger Falkenauge hat einen Bruder verloren, er wurde vor ein paar Jahren von einem Höhlentiger zerfleischt. Aber natürlich hat er ihn gar nicht verloren, denn in jeder zweiten oder dritten Nacht tritt der Bruder in die Träume Falkenauges und spricht mit ihm, mahnt ihn, ist fröhlich, traurig, zornig, nachdenklich. Zwei Arten von Tatsachen stehen sich also gegenüber: der lebendige Bruder des Traumes und der tote Bruder, der immer blasser werdende, in Falkenauges Erinnerung.
Falkenauge gehört zu einem Stamm, der höchsten Wert auf die Kultivierung der Träume legt. Er hielte etwa die modernen Weißen, welche die Traum-Hälfte ihrer Existenz als eine Art von seelischem Müllplatz betrachten, für dumm und lebensfremd. Es muß also eine logische Erklärung für den Erfahrungs- und Erinnerungsgegensatz geben, in den Falkenauge ausgepannt ist.
Sie ist einfach genug. Der Teil des Bruders, der fähig ist, in Falkenauges Träume einzudringen, ist nach wie vor am Leben, soviel steht fest.
Der tote Körper des Bruders hat seine Seele — vielleicht auch nur eine seiner Seelen — entlassen, die nun in Sehnsucht und Trauer, vielleicht aber auch voll Neid und Rachsucht um den Wohnplatz des Stammes, der Horde, herumstreicht.
Falkenauge bewohnt vielleicht mit den Seinen eine Höhle; um das Jagdglück zu beschwören, besucht er aber eine andere, größere Höhle, einen Tempel voller Tierdarstellungen. In feierlichen Riten werden die Seelen dieser Tiere beschworen, gebannt, unstofflich vor die Speerspitzen der Jäger gezogen.
Verrücktheiten — nach unserer zeitgenössischen Ansicht; aber notwendige Verrücktheiten. Der Mensch braucht, wie Morin betont, ein Muster-Gitter des Begreifens,
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braucht Koordinaten, mit deren Hilfe er das überbordende Chaos der widersprüchlichen Eindrücke zu ordnen vermag. To establish order out qf noise, aus dem Rauschen der sich überlappenden Botschaften in unseren Empfangsgeräten das Verständliche herauszufiltern, und zwar mit Hilfe von Un-Wirklichkeiten: wir machen das heute noch genauso, sind gezwungen, es genauso zu machen. Selbst auf die Gefahr hin, daß sich unsere genetisch gegebenen oder kulturell erworbenen Koordinatengitter als unzulänglich, als borniert erweisen.
Genau hier hat die moderne Kunst, hat insbesondere Picasso ein- und angesetzt, genau um diese Erkenntnis hat der Surrealismus sich errichtet. Es geht um die bitternotwendige Erschütterung der Selbstverständlichkeiten unserer Erkenntnis. Es geht aber auch um ihre Erweiterung, um neue Orientierungspunkte in einer zunehmend gefährdeten Welt. Der Begriff des NATURSCHUTZES erhält in dieser Welt einen neuen Sinn, erfährt eine Wendung um 180 Grad: wie in den Urzeiten der Jäger und Sammler gilt es wieder, uns vor der Natur zu schützen, sie gnädig zu stimmen. Aber — hier ist der evolutionäre Fortschritt unwiderruflich — wir können und dürfen es nicht mehr mit den Mitteln der Magie; sie ist längst unzulänglich. Worum es geht, zu allererst geht, ist die Verankerung einer neuen Weltsicht im tiefsten Zentrum unserer Gefühle: jener Weltsicht, die man gerne mit dem Stichwort GAIA umschreibt.
GAIA — das ist das altgriechische Wort für die Göttin-Mutter Erde. Als GAIA-Hypothese bezeichnet man im engeren Sinne die von der Amerikanerin Lynn Margulis und dem Engländer James Lovelock erarbeitete Auffassung der Erde als eines sich selbst neu erschaffenden und belebenden Organismus, der mit Hilfe des Lebens selbst seine Lebensbedingungen stabilisiert.
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Der lebendige Zusammenhang der GAIA: in ihr ist etwa der Baum vor dem Fenster genauso wichtig wie meine eigene Lunge, um mein Leben sicherzustellen. Und der Sauerstoff, den wir atmen, ist die Ausscheidung von Quadrillionen von Bakterien durch Milliarden von Jahren, ist das Werk derer, die Lynn Margulis our bacterial heroes, unsere bakteriellen Helden nannte.
Und es genügt sicher nicht, solche Einsicht nur intellektuell zu vermitteln — dazu sind die alten Triebe und Antriebe aus der genetischen Stammesgeschichte zu mächtig. Leider ist das nur allzugut an der öffentlichen Behandlung des sogenannten Umweltschutzes zu illustrieren. Das Wort von der Umwelt, die wir schon noch in den Griff kriegen werden, ist dumm und objektiv kriminell, mag es auch aus Kanzlermund erschallen. Wir sind im Griff der Umwelt, so sieht das reale Paar Stiefel aus. Was wir bisher betreiben und was sich Umweltschutz nennt, ist Ablaßhandel, sympathetische Magie, nichts Besseres.
Verwunderlich ist dies indes nicht. Es fällt eben furchtbar schwer, sich realistische Vorstellungen vom Umfang der Bedrohung zu machen, wenn unser genetisches und kulturelles Erbe auf den gemütlichen »Mittleren Kosmos« ausgerichtet ist.
Wie wollen wir um diese Klippen unserer Erkenntnis- und Gefühlskraft herumkommen?
Wie wollen wir der bedrängten Natur und der von ihr bedrohten Menschheit wirksam zu Hilfe kommen? Dies ist nur möglich, kann nur möglich sein, wenn wir unsere gesamte Kultur umorientieren — das heißt das Ensemble der Werkzeuge, mit denen wir unserem persönlichen und unserem sozialen Leben einen Sinn verleihen. Nur so können wir — vielleicht! — einen Zugang finden zu den Wirklichkeiten oberhalb und unterhalb unseres Mittleren Kosmos.
Die Versuche, die uralten, solche Zugänge zu entdecken, sind bekannt: Religion und Kunst.
Es hat fast etwas Rührendes, wenn etwa Rupert Riedl, der österreichische Pionier der evolutionären Erkenntnistheorie, seine Hoffnung in die Möglichkeit wirft, daß gerade die Kunst es sein könnte, die versperrte Pforten öffnen, verschüttete Wege gangbar machen könnte, um einer neuen Einsicht und einer neuen Moral weiterzuhelfen.
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Ich bin selbst Romancier, befasse mich also mit einem Metier, das der Kunst zumindest verwandt ist, und ich bin nicht ganz so optimistisch wie Rupert Riedl. Es liegt dies einfach daran, daß ich die Eigenheiten der Kunst etwas genauer sehe als er. Kunst, so will mir scheinen, enthält notwendigerweise einen Faktor der Unwiederholbarkeit. Gerade diese Unwiederholbarkeit unterscheidet sie vom üblichen Modus unserer Erkenntnis und unserer Praxis. Ein- und Anfühlung ist unendlich wichtiger in ihr als routinierte Technik.
Damit ist aber auch der ordentliche Fortgang von Erkenntnisprozessen, das ordentliche Zusammenstecken von Lego-Bausteinen des Verstandes, unmöglich gemacht.
In jeder Diagnose, die die Kunst vornimmt, in jeder Synthese, die sie versucht, beginnt sie gewissermaßen von vorne, setzt sie sich erneut der Spannung des Unbekannten oder doch nur verschleiert zu Erkennenden aus. Nicht umsonst wurde die Medizin in Zeiten vor-technischer Diagnostik Heil-Kunst genannt, und man kann sie als solche noch erleben, etwa in der ayuvedischen Schule Indiens und Tibets. Solche Unwiederholbarkeit bedingt die Einsamkeit des Künstlers. Letzten Endes, auch wenn Schulen, Werkstätten, Teams vorstellbar sind und sich auch zusammenfinden, steht er jedesmal, wenn er sein Werk in Angriff nimmt, auf notwendige und spezifische Weise allein. In Zeiten der Glaubensstärke mag ihm seine Religiosität helfen, das Klima seiner Umgebung, der Codex eines Stils oder einer Stil-Tradition, der Fundus der Themen; aber genausogut kann das alles zum Hindernis, zur Gefahr für sein Ingenium werden und ist es oft genug auch geworden. Logisch folgt daraus, daß die Wirkung jedes Kunstwerks zunächst überhaupt nicht zu berechnen ist.
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Jedes Werk, da besteht kein Zweifel, zielt auf Dauer ab — oder doch auf eine Veränderung im Rezipienten, welche nicht mehr zurücknehmbar ist. Wann und wo indes solche Veränderung auftritt, darüber hat der Künstler keine Gewalt. Dem Literaten sei ein literarisches Beispiel erlaubt, eine der unglaublichsten Wirkungsgeschichten dieses Jahrhunderts.
In der Judenstadt zu Prag lebte ein junger Sonderling, der mit seinem eigenen Leben nicht fertig wurde. Das Verhältnis zu seinem Vater war katastrophal, seine berufliche Existenz war gedrückt und trübselig, seine Versuche, die Liebe der Frauen zu finden, desgleichen. Zu allem andern wurde er lungenkrank und fand einen frühen Tod. Um sein höchst persönliches Leiden wenn nicht zu lindern, so doch auszudrücken, schrieb er absurde Geschichten und drei Romane, von denen nur einer halbwegs fertig wurde. Wenn er im Freundeskreis aus diesen Geschichten und Romanen vorlas, erscholl herzhaftes Gelächter, und der junge Mann mit den großen schwarzen Augen lachte gerne mit. Vor seinem Tod ordnete er an, daß seine Manuskripte allesamt zu vernichten seien.
Nun, Sie wissen, wer es war, es war Franz Kafka. Sein Werk wurde gottlob nicht vernichtet, und er ist wohl heute der meistgelesene deutschsprachige Autor nach Goethe — wenn nicht vor ihm. Wichtiger noch: er wurde zum politisch wirkungsvollsten Autor des Jahrhunderts. In seinen zerquälten, schuldgetränkten Texten spiegelt sich prophetisch eine Welt, wie sie vor allem in Osteuropa zum Alltag wurde: eine Welt, in der die Strafe nach ihrer Schuld sucht (so Milan Kundera über Kafka). Und Männer wie der polnische Intellektuelle Bartoszewski bezeugen, daß ihnen — nach Jahren im stalinistischen Gefängnis — beim Besuch einer Dramatisierung des »Prozeß« buchstäblich die Luft weg blieb.
Mehr noch: im Jahr 1964 fand in einem nordböhmischen Schloß eine kritische Tagung über Kafka statt, veranstaltet von dem bedeutenden tschechischen Germanisten Goldsticker. Diese Tagung ist in ihrer Wirkung dem Korb 3 von Helsinki vergleichbar. Sie zwang die Ästhetik des sogenannten Sozialistischen Realismus zum Rückzug und schließlich zur panischen Flucht. Wer weiß, wie viel Literatur vor allem in slawischen Ländern bedeutet, kann den Einfluß dieser Tatsache auf die politische Gesamtentwicklung ermessen.
Dies — um zu unserem Anlaß zurückzukommen — sollte nur eines illustrieren:
Wir alle, wir Künstler und Literaten, nehmen notgedrungen an einer Lotterie teil, deren Ausgang wir nicht kennen, und jeder von uns kann nur hoffen, daß seine Arbeit zur großen Änderung beiträgt, die stattfinden muß.
Unsere Arbeit an der Zukunft sind buchstäblich Entwürfe: Zeichen und Worte, die wir in die Nacht vor uns werfen in der Hoffnung, daß sie sich dort verwurzeln. Das geht nicht ohne Disziplin, nicht ohne äußerste Anspannung der Ressourcen. Aber das ist der Preis, den wir für den freiesten Beruf der Welt zu zahlen bereit sind...
Zum Schluß noch ein Wort über den traditionellen, den Naturschutz aus Hege-Gesinnung. Ist er wirklich überholt? Ich glaube nicht. Ich glaube, daß er nach wie vor sogar notwendig ist. Schließlich stammen seine Impulse aus dem Erbe der Menschheit, mit dem sie Jahrhunderttausende so leidlich zurechtgekommen ist. Daß diese Impulse nicht mehr ausreichen, bedeutet nicht, daß sie verschwinden müssen. Die Breite unseres Naturverständnisses muß zunehmen, das ist es. Und die Kunst, die Literatur müssen das ihre, also fast alles dazu tun.
Nur so ist die kulturelle Umorientierung vorstellbar, die wir benötigen.
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5. Macht und Ohnmacht der Literatur im Zeitalter der biosphärischen Verantwortung
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Während des letzten Jahrzehnts hat die Menschheit eine Ebene des Bewußtseins betreten, auf welcher ihr eine völlig neue Verantwortung bewußt wird: die Veranwortung für die Biosphäre.
In dieser Form, das werden Sie gemerkt haben, ist der Satz nicht korrekt. Es handelt sich nicht um eine neue, sondern um eine uralte Verantwortung. Es ist nicht einmal korrekt zu sagen, daß sie erst jetzt der Menschheit bewußt geworden sei. Bereits in taoistischen Schriften, die mehrere Jahrhunderte vor der Zeitwende entstanden sind, findet sich ein philosophisches Bewußtsein der Gleichrangigkeit und Verwobenheit alles Lebendigen, das die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unseres Jahrhunderts denkerisch vorwegnimmt — und sie, was die Stringenz der ethischen Folgerungen anlangt, weit übertrifft.
Dazu kommt die hohe Wahrscheinlichkeit, daß gerade die »primitiven« Religionen (wie etwa die der nordamerikanischen Indianer) praktisch nichts anderes als »Ökosystem-Religionen« sind. (Wir werden darauf noch zurückkommen.) Was jedoch die Verantwortungs-Lage unserer Gegenwart grundsätzlich von jener der Vergangenheit unterscheidet, das ist die nun eingetretene Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer Zerstörung der Biosphäre — jedenfalls der Biosphäre, die wir kennen. Sowohl durch den entfesselten Atomkrieg wie auch durch die kumulativen, synergistischen Wirkungen der Produktionsweise kann das Ende aller höheren Arten herbeigeführt werden. Dies ist ein qualitativer Sprung, etwa im Vergleich mit den historischen Verheerungen, die wir aus Geographie und Geschichte kennen (Versalzung des Schatt-el-Arab, Verödung Mittelasiens, Verkarstung der Mittelmeerküsten u.a.). Jene historischen Verheerungen konnten und können noch abgetan werden als »zyklische« Katastrophen, wie sie etwa auch die Schneehasen oder die Lemminge heimsuchen — jetzt droht uns der Untergang der Spezies selbst, eine Katastrophe also, wie sie logischerweise »seit Menschengedenken« noch nie stattgefunden hat.
Seit Menschengedenken: damit sind wir beim Thema, nämlich beim Thema Literatur. Sie ist einmal definiert worden als record of total experience, d. h. als das Protokoll, das kollektive Protokoll, einer totalen Erfahrung. Ist die Literatur heute in der Lage, diesem neuen Bewußtsein durch die Darstellung neuer Erfahrung, erfahrener Erschütterung gerecht zu werden?
Ein paar nüchterne Fakten aus der Literaturgeschichte, insbesondere der modernen Literaturgeschichte, lassen daran zweifeln. Vergegenwärtigen wir uns das durchschnittliche Dasein und Sosein eines Literaten der Neuzeit seit, sagen wir, den Herren Addison und Steele um 1700 — oder auch seit der Renaissance, mit ihrem prototypischen Vertreter Pietro Aretino. Erfolgreich hat sich dieser Literat eine gewisse Freiheit vom labor improbus, also von der leidigen Primär-Produktion und ihren leidigen Knappheiten erkämpft. Meist auf dem Umweg über die Akkumulatoren von Mehrwert, nämlich Fürsten oder andere mächtige Patrone (in England seit etwa 1700 die bürgerlichen Akkumulatoren von Mehrwert, womit das eigentliche Zeitalter der professionellen Literaten beginnt) beteiligt er sich selbst an der Abschöpfung des Mehrwerts (was natürlich nichts aussagt über sein eigenes Arbeitsethos, das sehr hoch sein kann). Die Probleme, die er behandelt, sind von Anfang an nicht die Probleme der Arbeitswelt, es sind, ganz nüchtern gesprochen, Überschußprobleme (wenn auch nicht immer und überall Überbau-Probleme).
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Mit anderen Worten: der durchschnittliche europäische Literat ist existentiell kaum oder nie in der Lage, hinter gesellschaftlichen Verhältnissen oder interpersonalen Konflikten das natürliche Gewebe zu erkennen, in das sie eingebettet sind.
Unser Literat ist daran natürlich nicht »schuld«, weder in einem moralischen noch in einem kausalen Sinn. Gerade wenn er auf das Wert legt, was er mit Recht seine Freiheit nennt, kann er sich nicht in die Plackereien verstricken lassen, die neunzehn Zwanzigstel seiner Zeitgenossen als den Inhalt ihres Lebens akzeptieren müssen. Er ist — um einen brutalen leninistischen Ausdruck zu gebrauchen — ein Zwischenschicht-Insekt; und zwar natur- bzw. gesellschaftsnotwendig.
Verschärft wird sein Problem mit dem Anbruch der naturwissenschaftlich-technischen Revolution. Sie erzeugt, wenn auch mit einiger Verzögerung, scharf getrennte Bildungsgänge; Bildungsgänge, die zu dem führen, was der Engländer C.P. Snow das Problem der <Zwei Kulturen> genannt hat. Wichtiger für unser Thema als diese rein personalen Arbeitsbedingungen, aber natürlich von ihnen mitgeschafften und getragen, ist die Frage nach dem tatsächlichen »Natur«-Verhältnis in der modernen Literatur. Selbst dort, wo (etwa seit Rousseau) die Zivilisations-Kritik ihr Material aus dem erkennbar gestörten Verhältnis von Natur und Gesellschaft holt, ist die literarische Technik (im weitesten Sinne) eine anthropozentrische Technik. In der antiken Dichtung etwa spielt die lebendige nicht-menschliche Natur nicht nur eine »Rolle«. Sie ist vielmehr Farbe, Schicksal, Materie (= Mutterboden) alles Gesagten — selbst dort, wo sie, wie etwa bei Homer, stilistisch nie eigens aus dem großen epischen Fluß herausgehoben wird. Moderne Literatur, insbesondere die erzählende Prosa, geht in der Regel andere Wege. Die Natur ist entweder als Ruhepunkt geschildert, welcher den Erzählfluß mehr oder weniger angenehm unterbricht oder akzentuiert — oder sie ist »Stimmungs-Theater« für die Stränge einer letzten Endes immer anthropozentrischen Gesellschafts-Handlung angelegt.
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Zweifellos liegen hierfür Gründe vor, die älter sind als die Moderne. Der wichtigste ist sicher die jüdisch-christlich begründete Religiosität. Mit dem Alten und dem Neuen Testament ändern sich die Paradigmata des Religiösen; die Natur als solche hat in ihm plötzlich keinen Spielraum mehr, auf dem Theatrum Mundi ist für sie keine Rolle, jedenfalls keine handelnde Rolle mehr vorgesehen. Selbst dort, wo sie, etwa bei Paulus, als »in Wehen liegend« beschrieben wird; oder dort, wo sie, etwa in der griechischorthodoxen Christologie, als »miterlöst« oder mitterlösbar gesetzt wird, bringt sie dabei nichts Eigenes mehr ein. Das Drama läuft eindeutig und ausschließlich zwischen Gott und Mensch; die Ent-Sakralisierung der nichtmenschlichen Bereiche ist vorbereitet und führt geradewegs zur »säkularisierten Stadt«. Gerade die »fortschrittliche« Theologie der Gegenwart hat dies, nicht ohne Selbst-Gerechtigkeit, sehr gut herausgearbeitet.
So ist nach wie vor das literarisch-technische Verhältnis zur Natur in der erzählenden Prosa und noch mehr im Drama fast unwiderruflich anthropozentrisch bestimmt. Immer höhere Qualitäten der Hervorbringung wurden gerade über diese Technik erreicht. Demgegenüber gelingt es nur ganz Wenigen, qualitätvolle Natur-Romane, Landschafts-Romane oder dergleichen zu schreiben. (In der Regel werden sie auch für »Subkulturen« der literarischen Konsumtion, wie z.B. Leser von »Jugend«-Büchern oder von Leihbibliotheken alter Art produziert.) Das Paradigma aller modernen Literatur hat nichts oder nur am Rande mit »Natur« zu tun.
Hier sei die Frage hintangestellt, ob dies zwangsläufig so ist bzw. sein muß. Es gibt selbstverständlich einen Zweig der Literatur, der das Problem kaum kennt — die Lyrik. In ihr stecken noch mehr Elemente des alten Schamanentums, das
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jahrzehntausendelang der Erlebnis-Begleiter der Menschheit war. Gerade die moderne Lyrik bietet eine ungeheure Menge von »ökologisch« getönten Stoffen und Stimmungen.
Aber auch hier (und damit wird die Frage nach Macht oder Ohnmacht konkret) werden die Stoffe und Stimmungen politisch, gesellschaftlich, kulturell vermittelt. Dichtung ohne Gesellschaft ist nicht denkbar, ist es nie gewesen. Soll die Literatur angesichts der biosphärischen Verantwortung, in der wir stehen, und die alle früheren Verantwortungen zu nichts verblassen läßt — soll die Literatur in dieser Lage nicht völlig ohnmächtig werden, so hat sie gerade die Aufgabe, durch gesellschaftliche, politische, kulturelle Problemstellungen hindurch die letzte, die höchste Verantwortung zu dolmetschen und zu verdeutlichen.
Daran ist nicht Nostalgisches. Eine reine, eine paradiesische, eine vulgär-rousseauistische Perzeption der Natur hat es nie gegeben, auch in den Höhlen von Altamira nicht, wie die atemberaubenden Tierdarstellungen dort beweisen. Immer, und gerade auch in den sogenannten »primitiven« Kulturen, bedurfte der Mensch einer kulturellen Programm-Sprache, um sich den vieltausend verwirrenden Erscheinungen der Lebenswelt zu nähern. Diese Programm-Sprache, sie war zunächst magisch-mythisch — und sie war als solche jahrzehntausendelang erfolgreich. Erfolgreich in dem Sinne, daß sie den Menschen daran hinderte, seine Artüberlegenheit blind-naturwüchsig zur Verheerung der Natur einzusetzen. Erst unsere kümmerliche Version von »Fortschritt« gab die letzten Reste von kultureller Hemmung gegenüber der Natur auf, gab sie damit zur totalen Ausbeutung frei — um, in einem furchtbaren Bogen objektiver Ironie, damit die Voraussetzungen zum eigenen Untergang zu schaffen.
Eine magisch-mythische Programmatik ist uns heute verwehrt.
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Sie mag dem einen oder anderen Dichter, der sie anstrebt, das trügerische Gefühl der Wort- und Welt-Macht vermitteln — an dem schlimmen Gang der Wahrscheinlichkeiten ändert sie nichts. Unsere Aufgabe, wenn wir im Zeitalter der biosphärischen Verantwortung der Literatur noch eine bescheidene Macht bewahren wollen, ist es vielmehr, eine Literatur auf der Höhe der Erkenntnis — der naturwissenschaftlichen wie der gesellschaftlich-historischen — zu bewahren und auszubauen. Sie muß jedoch — und das ist die eigentliche Schwierigkeit — transparent werden; transparent für die Problematik des gesamten Lebens, des menschlichen wie des nicht-menschlichen. Mit anderen Worten: eine »Umwelt-Dichtung«, eine Dichtung mit dem Begriff »Umwelt« als Thema wäre eine höchst unwirksame und traurige Angelegenheit. Die Dichtung hat »Welt-Dichtung« zu sein — so wie sie es bisher, in ihrem subjektiv ehrlichen Bewußtsein auch gewesen ist. Aber sie hat sich sozusagen eine zusätzliche Dimension zu geben. Gelingt ihr das nicht, wird sie in einer Ohnmacht verharren (oder in sie geraten), die sie als gesellschaftlich wirkende Kraft ausschließt. Gelingt es ihr jedoch, wird sie ihrem ältesten, vornehmsten Ruf wieder gerecht werden: immer und überall Anwalt und Sprecher des tiefsten und des geheimsten Leidens zu sein.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine — bewußt subjektive — Illustration. Einer der Schriftsteller, dem nicht nur ich diese Fähigkeit zuspreche, ist der Deutsche Hans Henny Jahnn. Man kann ihn, längst vor die naturwissenschaftlichen Untergangs-Propheten auftraten, als den »Tragiker der Natur« bezeichnen. In Deutschland war und blieb er lange verkannt, da man ihn für das hielt, was man heute in einer häßlichen Neubildung als »Chaoten« bezeichnet. Doch erst kürzlich hat ihn der hervorragende Literaturkritiker Hans Mayer rehabilitiert und ausdrücklich daraufhingewiesen, daß Vieles oder Alles in H. H. Jahnns Werk nach Ordnung schreit — einer Ordnung, die weit über die personellen und gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus in die nichtmenschliche Natur hineinreicht.
Ein letzter Gedanke zur Literatur im biosphärischen Verantwortungs-Zeitalter.
Es gibt ja nicht nur die Verantwortung der Literatur vor der Gegenwart. Es gibt immer und überall die neuen Gedanken, welche die gesamte Tradition verändern. So hat etwa der Marxismus sich nicht darauf beschränkt, eine »neue Literatur« zu fordern. Er hat bewußt die vorhandenen Bestände der Weltliteratur mit Hilfe neuer Kategorien untersucht und dabei wertvollste Einsichten für uns alle — und gerade auch für die literarische Kreativität der Gegenwart gewonnen.
Vielleicht stehen wir an einer ähnlichen wichtigen Schwelle. Vielleicht vermag der Gedanke eines »ökologischen Humanismus« jene kritischen Einsichten aus sich zu entlassen, die uns gerade die Meisterwerke der Vergangenheit in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lassen. So würde nicht nur die gegenwärtige Literatur, sondern unser gesamtes literarisches Erbe eine Dimension dazugewinnen — eben jene Dimension, von der ich gesprochen habe.
Damit taucht das auf, was an jeder Krise das Tröstlichste ist: die Möglichkeit neuer Wege. Noch nie waren sie vermutlich so ungebahnt wie heute, noch nie bedurften sie so gewaltiger Anstrengung, sie begehbar zu machen. Aber, so meine ich, vor dieser möglichen Anstrengung — und ihren möglichen Gewinn — dürfte fast alles schwinden, was sich heute in unfreiwilliger, aber gerechter Selbstverspottung »Literaturbetrieb« nennt.
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