46      Start   Weiter

  6   Science Fiction - Genre, Erwartungshaltung, Ware? 

Amery-1984

 

272-284

Science Fiction. Science Fiction/Fantasy. Zukunftsroman. Spekulative Literatur: Allein in der Namengebung und ihren Unsicherheiten verrät sich die Unbestimmtheit einer Branche, eines Genres, eines Marktes, die in sehr kurzer Zeit zu den wichtigsten - jedenfalls quantitativ wichtigsten - des Westens geworden sind. 

Während sich die erhabene Kritik der gehobenen Kulturteile, Feuilletons, Medienmagazine darum bemüht, »Qualität« zu verkaufen; während Feinsinnigkeit, öffentlich-rechtlich subventioniert oder von den dicken Inseratenteilen der Presse mitgeschleppt, nur mühsam ihr Territorium behauptet, wuchert der SF & Fantasy-Markt mit der Effizienz und Unbekümmertheit von Löwenzahn und Männertreu. 

Dutzende von völlig ungeförderten Magazinen sind aus dem Boden geschossen, mit tönenden Namen wie <Astronaut>, <Andromeda>, <New Dimensions>, <Intergalactic> und so weiter. Zu nationalen, kontinentalen, globalen Riesenkirmessen, den sogenannten CONs, streben die Fans mit Rucksack und asketischer Entschlossenheit aus Nah und Fern zusammen. Näheres darüber kann ich als Außenseiter oder Randerscheinung nicht berichten — aber die Tatsachen als solche stehen, wie man heute so hübsch sagt, im Raum; und diese Tatsachen sind für den Feinsinnigen, den Literatur-Literaten beklemmend genug. 

Höchste Zeit also, sich mit diesem diffusen, unreinlichen, dabei so vitalen Phänomen näher auseinanderzusetzen.

Da eine solche Aufgabe, wenn man sie als Auftrag zu akademischer Genauigkeit auffaßt, ohnehin unlösbar ist, werde ich mich der extremen Subjektivität befleißigen. Ich werde von Erfahrungen mit der SF berichten — Erfahrungen als Leser und als Autor. Und ich werde versuchen, von diesen Erfahrungen her das eine oder andere Vermessungsdreieck zu markieren. Dies hat auch den Vorteil, daß ich für krasse Fehlbeurteilungen nicht zur Rechenschaft gezogen werde...

Als ich begann, Science Fiction zu lesen, also etwa Mitte der dreißiger Jahre, hieß das Genre bei uns in Deutschland schlicht Zukunftsroman. Es gab ein paar Autoren, die darauf spezialisiert waren — Lasswitz, Baumann, Dominik sind die Namen, die mir unmittelbar einfallen. Diese Autoren legten noch großen Wert darauf, naturwissenschaftlich-technisches Pathos zu vermittelnund zumindest den Anschein, von den technischen Wundern, die sie beschrieben, wenigstens das Grundsätzliche zu verstehen. (Wie ich später erfuhr, war dies nicht immer der Fall.) 

Die Romane waren, mit wenigen Ausnahmen, Juvenilia, richteten sich an ein vorpubertäres, vorwiegend männliches Leserpublikum. Im großen Ganzen folgten diese deutschen »Zukunftsromane« also ziemlich genau dem Muster oder liefen ihm parallel, das um die gleiche Zeit im Westen, vor allem in England und den USA, sich entwickelte. Allerdings war die Präponderanz westlicher Zukunftsliteratur schon damals spürbar — und zwar in erster Linie bei einem durchaus »gehobenen« Leserkreis.

  wikipedia  Präponderanz 

Es war die Welt weniger Autoren, für die hier zwei Namen stehen sollen: Jules Verne und Herbert George Wells. Es gibt so ziemlich keinen Topos der Science Fiction — von der Raumfahrt bis zur negativen, gesellschaftskritischen Utopie —, welche nicht bereits von diesen Autoren antizipiert wurde. Daß sie - in einem altmodischen Sinne - sehr gute, ja gerissene Erzähler waren, hat dabei sicher viel geholfen.

Dazu kam aber noch etwas anderes, — etwas, das sicher dazu beigetragen hat, den Namen »Science Fiction« zum Namen eines neuen Genres zu machen. 

273/274

Jules Vernes Ideologie kenne ich nicht genügend, wohl aber traue ich mir das Urteil zu, daß H. G. Wells mit seinen zahlreichen »Science Fiction«-Romanen (nennen wir sie von jetzt ab so) einen innerliterarischen missionarischen Zweck verfolgte.

Als Fabian, also als Mitglied des sozialistischen Intelligenzclubs der Fabianer, war er sich der Umwälzungen in der Industriegesellschaft voll bewußt, und er empfand die Einseitigkeit des gängigen Literaturbetriebs (die auch heute noch gilt), die Konzentration auf klassisch-humanistische Bildungsinhalte, als gesellschaftliche Gefahr. Es galt, die Eigenständigkeit und Würde der neuen Themen und vor allem des neuen, des technisch-naturwissenschaftlichen Wissens, ins öffentliche Bewußtsein einzuführen, und dazu bot sich die Literatur als Waffe an.

Eine solche Zielsetzung, ein solcher Versuch, der Literatur gewissermaßen von außen her neue Aufgaben aufzudrängen, ist natürlich stets fatal, aber im Falle der genannten Autoren (und auch im Fall so seltener deutscher Talente wie etwa Curd von Lasswitz) war er nicht lebensgefährlich.

Wie schon erwähnt, waren sowohl Jules Verne wie H.G. Wells begnadete Erzähler; dazu trat noch eine andere Gunst der Verhältnisse, genauer gesagt, ihrer Chronologie. Es war ihre Zeit eine Epoche, in der man noch mit einem gewissen Recht hoffen durfte, als begabter und fleißiger Autor die Stichworte des technisch-naturwissen­schaftlichen Fortschritts einigermaßen korrekt verarbeiten zu können; das Zeitalter der Enzyklopädisten lag noch nicht allzuweit zurück. Der Anspruch einer naturwissenschaftlich orientierten Belletristik (und nichts anderes besagt der Name Science Fiction) war durch solche Autoren einigermaßen glaubhaft aufrechtzuerhalten.

Dennoch haben weder Monsieur Verne noch Mister Wells den Terminus »Science Fiction« geprägt oder für ihre Werke in Anspruch genommen. 

Der Gattungsname ist vermutlich einige Stockwerke weiter unten entstanden — auf einem Markt, der für Literatur-Literatur nicht nur höchst dürftig, sondern so gut wie nicht vorhanden war. 

274


In den USA vor dem großen Einbruch des Relativismus; in jenem Amerika, das Sinclair Lewis in seinem »Babbitt« beschreibt, dem Amerika der Go-Getter und der Herrschaft des Business und der technischen Expansion, war die müßige Befassung mit erfundenen Fabeln moralisch verdächtig und von der öffentlichen Meinung sowohl wie von strengen Elternhäusern der Mittel- und Unterklasse rigoros verfolgt. Was dagegen begünstigt wurde, war die Lektüre von Zeitschriften wie etwa <populär mechanics> — Zeitschriften, von denen man sich einen Effekt für die Karriere der hoffnungsvollen Jugend erhoffte. Und hinten in diesen Hobby-Zeitschriften konnten eben Kurzgeschichten der sogenannten Science Fiction unterschlüpfen — Geschichten von technischen Wundern der Zukunft, von schaudererregenden Robotern und den Bewohnern ferner Welten, die wie Langusten oder wie ausgewachsene Heuschrecken aussehen mochten. 

Science — das war in solchem Zusammenhang nicht viel mehr als das Alibi, das die Veröffentlichung auf einem denkbar unfruchtbaren Markt ermöglichte. Diese doppelte Kausalität — einerseits der Versuch einiger Geister, die technische Akzeleration des 19. und des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand der Literatur zu machen, andererseits der geglückte Versuch, auf dem Umweg über billige Phantastik in Märkte einzubrechen, die der zünftigen Literatur nicht zugänglich sind — scheint mir heute noch für weite Bereiche der Science Fiction typisch. 

Dies gilt insbesondere für die sogenannte »hard-core«-SF, die »Schaltplan«-SF, wo es wirklich und wahrhaftig darauf ankommt, technisch-wissenschaftlich exakt zu sein. Aber die Bedeutung dieser »hard-core«-SF ist nicht mehr groß, ist es vielmehr nie gewesen. Sie wurde und wird dauernd von der Phantastik überwuchert — und zwar aus guten Gründen. 

275/276

Es sei hier erlaubt, aus einem Essay über den Kriminalroman zu zitieren, einfach deshalb, weil über die SF bisher kein auch nur halb so gescheiter und amüsanter Aufsatz geschrieben worden ist wie »Die simple Kunst des Mordes« von Raymond Chandler. Und das Zitieren ist deshalb möglich, weil der zünftige altmodische Krimi eine ganz ähnliche Problematik für den Autor und Leser bereithält wie die »hard-core«-SF.

Chandler schreibt:

Ich nehme an, das Hauptdilemma des traditionellen oder klassischen oder streng deduktiven oder auf Logik und Deduktion aufgebauten Kriminalromans (lesen wir hier: SF-Romans!) liegt in dem Umstand, daß er, um auch nur annähernd Vollkommenheit zu erreichen, eine Kombination von Eigenschaften erfordert, die sich in ein und demselben Kopf nicht finden. Der kühl berechnende Konstrukteur kommt nicht ebenso auch mit lebenden Charakteren zurande, mit geschliffenem Dialog, dramatischem Tempo und scharf beobachtetem Detail. Der verbissene Logiker entfaltet so viel Atmosphäre wie ein Reißbrett. Der wissenschaftliche Spürhund hat ein schönes, neues, hochglänzendes Labor, aber es tut mir herzlich leid, an sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern ... 

Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit dieser Kombination wird jeder SF-Leser auf Schritt und Tritt zwischen den bunten Buchdeckeln seiner Lieblingslektüre vorfinden. Und so verwundert es nicht, daß die große Zeit der sogenannten SF erst begann, als sie ihrem Signum eigentlich schon nicht mehr entsprach; als nämlich erzählerisches Talent in großer Menge und beachtlicher Höhe über das Genre herfiel und es zum Vehikel ganz anderer Absichten machte. Darüber später mehr.

Was jedoch dem riesigen SF/Fantasy-Bereich aus dieser Gründungszeit, dieser Zeit der Namengebung, verblieb, war eine Haltung. Im Grunde zwei Haltungen: die des Autors und die des Lesers. Wieder sei Chandler zitiert, der über einen der Gründerväter seines Genres, des Krimi, schreibt:

276/277

Conan Doyle hat Fehler begangen, die einige seiner Geschichten vollkommen zu Krüppeln machen, aber er ist ein Pionier, und Sherlock Holmes besteht letzten Endes im wesentlichen nur aus einer Attitüde... 

Einer Attitüde, das heißt einer Haltung, und zwar einer Haltung gegenüber der Wirklichkeit, der er mit Elimination und Deduktion beikommt. Die spekulative Attitüde, welche sämtlichen Hervorbringungen der SF, auch ihren schundigsten, eigen ist, läßt sich sofort erkennen, aber schwer definieren. Robert Heinlein, einer der Altmeister in den USA, hat einmal den Ausdruck »spekulative Literatur« dafür vorgeschlagen — also eine Literatur, welche die Frage stellt: »Was wäre, wenn —?«     wikipedia  Robert_A._Heinlein  1907-1988

In dieser Frage, und oft nur mehr in ihr allein, ist selbst die purpurnste Fantasy-Welt, welche heute die absolute Mehrheitsmenge des Marktes stellt, mit der ursprünglichen Attitüde der Science Fiction verbunden.

Ansonsten jedoch herrscht ein enormer Grenzverkehr. Themen romantischer Wolkenkuckucksheimerei gleiten zusehends ins Fantasy-Feld hinein; die alten Anliegen der Utopien, nämlich die kritische Darstellung der eigenen sozialen und politischen Wirklichkeit, ihre Kritik anhand erfundener Welten — sie sind heute restlos unter dem Etikett der SF subsumiert; J. Swift hätte heute den Ehrenvorsitz der Science Fiction Writers of Great Britain and Ireland inne.

Diese Tendenz wurde — wenn ich hier zu meinen persönlichen Erinnerungen zurückkehren darf — in den frühen 50er Jahren in den USA durch den sogenannten McCarthyismus enorm verstärkt. Bedeutende Autoren flüchteten ins subkulturelle Reservat der SF, um dort, anhand von Swiftischen Parabeln, schärfste »linke« Kritik an der Entwicklung der modernen, speziell der US-amerikanischen Politik und Gesellschaft zu üben. 

277


Die Werke jener Zeit, geschrieben von Autoren wie etwa Frederick Pohl und Kornbluth, gelten heute als Klassiker des Genres; die Intention der Autoren aber, ihre gesellschaftskritische Wahl des Genres, ist mir durch F. Pohl im persönlichen Gespräch bestätigt worden. Man kann diese neue Entwicklung natürlich auch systemimmanent, d.h. SF-immanent, erklären. Es gibt eine Theorie der Dekaden-Einteilung; danach standen zunächst die Wissenschaften der Hardware, des Engineering, der industriellen Planung im Vordergrund des SF-Interesses. Ihnen folgte eine Dekade des sozialwissenschaftlichen Interesses, und dieser wiederum eine des ökologisch-anthropologischen Interesses.

So weit, so gut. 

Fest steht, daß diese Dekaden-Einteilung jedem, aber auch jedem Talent (und leider auch Nicht-Talent) die Chance gab und gibt, sich als SF- bzw. Fantasy-Autor zu verstehen. Persönliche Erinnerung kann hier wieder illustrieren. Als ich 1974 das »Königsprojekt« schrieb, einen phantastisch-humoristischen Roman um eine vatikanische Zeitmaschine und ein schottisch-bayerisches Restaurations-Komplott, da war mir die Frage der »Einordnung« völlig gleichgültig. Und die sogenannte »bürgerliche«, also die gehobene, die »Literatur-Literatur«-Kritik, kam auch nicht auf die Idee, das Buch als SF zu klassifizieren — jedenfalls nicht sofort. 

Erst als ich im Jahr darauf, 1975, eine längere Erzählung, eigentlich eine Fingerübung, unter dem Titel »Der Untergang der Stadt Passau« ohne Umweg über den Hardcover sofort in der Heyne-sf-Reihe, also an den Bahnhofskiosken, anbot, und als feststand, daß diese Erzählung allen zünftigen Kriterien des Zukunftsromans entsprach, wurde das »Königsprojekt« sozusagen rückwirkend zur SF und der Autor mehr oder weniger zum Doyen der seriösen deutschen SF-Produktion ernannt.

War dieser Gang der Dinge ein Irrtum? War er illegitim? Ich möchte dies bezweifeln.

278/279

Auf die Gefahr hin, des Exhibitionismus und der Eigenreklame bezichtigt zu werden, möchte ich einfach aus zwei Kritiken des »Königsprojekts« zitieren. Die erste erschien 1974, nach der Erstveröffentlichung, der sehr seriösen, bei Piper. Die zweite erschien dieser Tage im »Heyne SF Magazin« Nr. 10. Zitieren wir zuerst aus der von 1974 — Herbert Rosendorfer schrieb sie für die SÜDDEUTSCHE Zeitung:

Das Buch ist ... ein Spielwerk der Form. Sowas gilt ja heutzutage sehr viel... Dennoch wage ich nicht zu hoffen, daß Amerys Buch bei den Literatur- und Kritikpäpsten allzuviel (eingestandenes) Wohlwollen erwerben wird, denn dem Roman fehlt das aktuelle Gütesiegel, die sofort erkennbare Progressivität... seine Tiefgründigkeit liegt außerdem nicht auf der Oberfläche. Abgesehen von der originellerweise in der Tiefe ... des Buches verborgenen Tiefgründigkeit drängt sich die Form dieses Romans, die eigenartig und vielleicht sogar neu ist, nicht nach vorn... Der Roman ... ist der Spaziergang durch eine Bildergalerie, deren Bilder die verschiedenen Stationen einer Geschichte erzählen. Aber immer wieder unterbricht ein Fenster die Serie der Bilder. Dem Betrachter eröffnen sich Blicke in nahe und ferne Gegenden, und manchmal erkennt der Betrachter — der Maler und der Architekt waren außerordentlich geschickt, wenn auch, aber das ist ja kein Vorwurf mehr, etwas manieristisch angehaucht — in der Landschaft ein Gemälde wieder, manchmal umgekehrt, manchmal tauchen spielerische Bezüge zwischen den Gemälden und den Blikken in die Landschaft auf, und manchmal zweifelt man einen Moment, ob das jetzt Bild oder Fenster ist... 

Soweit Rosendorfers Kritik, die wohl damals die verständnisvollste überhaupt gewesen ist.

Und nun die von 1984, die SF-Kritik des gleichen Buches (das jetzt in Heynes Bibliothek der Science Fiction Literatur erscheint), geschrieben von Walter Bühler (natürlich auch nur auszugsweise):

279/280

Die Taschenbuchausgabe von Carl Amery ... ist ursprünglich, da außerhalb der gängigen Science-Fiction-Reihen erschienen, kaum beachtet worden. Der Roman verunsicherte 1974 ... vor allem die etablierte Literaturkritik, war es doch Amerys erster Ausflug in die Science Fiction vor dem bekannten und erfolgreichen Post-Holocaust-Roman »DER UNTERGANG DER STADT PASSAU« (1975) und dem Parallel­weltroman »AN DEN FEUERN DER LEYERMARK« (1979) ... Amerys SF spielt nicht irgendwo im Weltraum, sondern sozusagen mitten unter uns — hier in Europa. Die Erzählung ist sehr facettenreich, sehr gut recherchiert und daher voller interessanter Fakten...

Die Grundzüge dieser Satire sind für das SF-Genre keineswegs ungewöhnlich oder neu, aber die überragende Detailfülle und die ... Gags machen den Roman zur vergnüglichen Unterhaltungslektüre. Verglichen etwa mit Kurt Vonnegut wirkt Amery äußerst »europäisch« ... Gegenüber der angloamerikanischen Szene kann sich das »KÖNIGSPROJEKT« wohl behaupten...

 

Es ist inzwischen (hoffentlich) klar geworden, warum ich diese Kritiken so ausführlich heranziehe. Sie sind, infolge eines merkwürdigen Zu- oder Glücksfalls, das perfekte Exempel für eine These, die ich hier vertreten möchte: die Klassifizierung bestimmter Werke, ihre Einordnung als »Literatur-Literatur« oder SF (man könnte hinzufügen: oder als Krimi) ist eine Frage der an das Werk gerichteten Erwartung. Genau das, was dem feinnasigen bürgerlichen Kritiker Rosendorfer als das unerhörte Novum des Romans erscheint — die manieristische Abfolge von Fenstern und Gemälden, d.h. von Dokumentation und Fiktion, ist für den SF-Rezensenten vertrautes Gelände. Ahnliches gilt für den Zeitmaschinen-Effekt, ähnliches für alle Reize, die aus dem »Was-wäre-wenn-Effekt« spekulativer historischer Belletristik entstehen.

280/281

Selbstverständlich fallen bei solcher Betrachtungsweise Feinheiten psychologischer, historischer, ästhetischer Art durchs wertende Sieb, aber die Heranziehung Vonneguts durch W. Bühler im Schlußsatz macht einiges wieder wett. Vonnegut gehört schließlich zu den wenigen, sich allerdings vermehrenden SF-Autoren (zusammen mit dem Polen Stanislaw Lem und der Amerikanerin Ursula LeGuin), die in einem paradoxen Prozeß des Gegenverkehrs auch hierzulande für die »Literatur-Literatur« an Land gezogen werden.

Die Punks von gestern werden zum Opernball nicht nur zugelassen, sondern eingeladen ...

Bestätigt und präzisiert wurden diese literaturpolitischen Erfahrungen durch die Rezeption des (in der Bühler-Kritik erwähnten) späteren Romans »AN DEN FEUERN DER LEYERMARK.« Dies ist ein Roman, der spekulativ die Frage stellt: »Was wäre gewesen, wenn ... ?« Ich ging davon aus, daß 1866 nicht Preußen, sondern der Deutsche Bund und, insbesondere Bayern (mythisch überhöht durch den Namen »LEYERMARK«) siegreich bleiben. Dies wird erreicht durch das Eingreifen einer mehrere hundert Mann starken Amerikanischen Legion mit sehr überlegenen Gewehren und sehr fortgeschrittenen Söldner-Prinzipien.

Selbstverständlich war für mich das Wichtige nicht die rein spekulative Veränderung des Kriegsverlaufs, sondern die Veränderung menschlicher Schicksale (individueller wie kollektiver) in einer solchen Konstellation — nicht ohne »message«, also nicht ohne politisch-gesellschaftliche Botschaft geschrieben.

Die Feuilleton-Kritik, im allgemeinen wohlwollend, stufte den Roman als bildungsbefrachtet-esoterisch ein. Die Folgen für den Verkauf waren entsprechend katastrophal. Diesmal wurde nicht mehr, wie im Fall des »Königsprojekts«, der Umweg über ein »bürgerliches« dtv-Taschenbuch-Publikum gewählt, die Nebenrechte gingen, nach der üblichen Schamfrist von zwei Jahren, direkt an Heyne.

281/282

Mit einem neuen, sehr lustigen Umschlag ging das Buch an die Kioske und wurde dort eifrig gekauft — unter anderem von einem Publikum, das sich das Hardcover-Original ohne weiteres hätte leisten können, das sich jedoch durch die Tatsache der Taschenbuch-Kiosk-SF-Verbreitung von seinen Minderwertigkeits- und Unterlegenheitsgefühlen befreit sah.

Nebenbei: ein solcher »Was-wäre-gewesen-wenn«-Stoff trägt im SF-Gewerbe den Gattungstitel »Parallelwelt-Roman«, wenn Sie sich an die Rezension erinnern. Sie gehören für mich zu den reizvollsten spekulativen Stoffen überhaupt — vor allem auch ihre Lektüre. Ihre eingehende Besprechung würde einen weiteren Vortrag erfordern. Hier genüge die Feststellung, daß es sich dabei für mich auch um eine der »wissenschaftlichsten«, nämlich historisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten der SF handelt.

Versuchen wir uns nun an einer Zwischenbilanz!

Der Namensanspruch der Science Fiction; ihre Absicht bzw. ihr Anspruch, naturwissenschaftliche Inhalte und Vorgänge unterhaltsam-belletristisch zu vermitteln, konnte in den wenigsten Fällen eingelöst werden. Und es ist mehr als fraglich, ob eine solche Literatur in ihrer Reinform überhaupt besonders wünschenswert wäre. Der geforderte »unmögliche« Autor, die Kombination von Shakespeare und Francis Bacon ist denn auch noch nicht aufgetreten bzw. nur in abgeschwächter Form — siehe H. G. Wells.

Stattdessen haben Autoren (und nebenbei auch Leser) alle möglichen anderen Motive für das Schreiben bzw. Lesen von Science Fiction gefunden: Den Spaß am Geschichtenerzählen, und zwar von Tall Tales, die wir deutsch unliebenswürdigerweise »Lügengeschichten« nennen; die satirische Möglichkeit, die schon seit Zeiten der Antike im Fabulieren fremder und ferner Gesellschaften steckt; die Möglichkeit zur Zeitkritik in einer dem Zensor meist entgehenden Form; die Spekulation über alternative Geschichtsverläufe; und schließlich die krude Lust an plumpen Schauerlichkeiten und zusammengestoppelten Exotika. 

282/283

Bedeutet das nun, daß man in Zukunft die SF einfach in die Literatur-Literatur verschwinden sehen wird? Bedeutet es, daß das Genre als solches nicht mehr definierbar ist? Keineswegs. 

Zunächst dient der Name — SF/Fantasy — ganz einfach als Auffangbecken für unglaubliche Massen von Schund, was der »bürgerlichen« Kritik auch in Zukunft erleichtern wird, das Genre als solches den Spezialisten zu überlassen. Hier handelt es sich, letzten Endes, um eine Kapazitäts- und Markt-Frage: wie soll man alle die Neuerscheinungen, die sich Monat für Monat in die Drehständer der Bahnhöfe ergießen, im »normalen« Besprechungs-Betrieb bewältigen?

Zweitens wird der Unterschied in den Erwartungshaltungen bleiben — denen des Lesers wie denen des Autors. Es ist die »Attitüde«, wie Chandler das bei Sherlock Holmes genannt hat. Diese Attitüde kann für bestimmte Autoren verschwinden — ich möchte zum Beispiel annehmen, daß für Patricia Highsmith die alte Attitüde des »Detektivromans« keine Rolle mehr spielt, so wenig wie für mich Anno 1974 die »Attitüde« des SF-Romans. Es verbleibt jedoch die Erwartungshaltung des Lesers — und für diese gesonderte Erwartungshaltung möchte ich leidenschaftlich plädieren. Ich wünsche mir, daß sie uns erhalten bleibt — und zwar paradoxerweise aus Gründen des literarischen Niveaus.

Die Misere der deutschen Unterhaltungsliteratur war und ist teilweise heute noch bedingt durch das Fehlen differenzierter, handwerklich bestimmter Erwartungshaltungen. Grob gesprochen: nicht jeder gute Schriftsteller ist auch ein guter Krimiautor oder Science-Fiction-Autor. Die Hoffnung, armselige Plots oder armselige Kenntnisse, mangelnde Bereitschaft zur Arbeit am Reißbrett durch gehobene Schreibe schon irgendwie kompensieren zu können, trügt immer. (Man lese daraufhin einmal Texte von prominentesten deutschen Autoren, die sich sozusagen nebenbei im SF-Genre versuchen!)

Die etwas Schweiß kostende Befassung mit dem Metier darf und kann niemandem erspart werden. Und deshalb ist es außerordentlich wichtig, über eine Leserschaft bzw. eine Kritik mit speziellen Erwartungen zu verfügen. Den bürgerlichen Leser, der den Stand des Metiers nicht kennt, mag ich vielleicht täuschen durch eine schludrige Behandlung des Zeitmaschinenproblems, genauso wie ich den gewitzten SF-Leser mit Pappdeckelcharakteren zufriedenstellen mag.

Aber die Pappcharaktere werden mir in den Spalten der Feuilletons angekreidet, die schludrige Zeitmaschine dagegen nicht.

Für sie, für die handwerkliche Sauberkeit und Würde des Metiers, brauche ich eben eine spezielle Erwartungshaltung, brauche ich die speziellen SF-Fans.

Daß der Markt zu 95 Prozent mit Schund beliefert wird, sei sozusagen nur am Rande angemerkt. Seit Jahrhunderten ist dies übrigens in sämtlichen Spalten der Literatur der Fall — siehe den enormen Erfolg von Goethes Schwager Vulpius mit seinem »Rinaldo Rinaldini«, siehe den Erfolg der sogenannten Volksbücher und der entsprechenden Moritaten. Das Genre »Liebesroman« etwa deckt und deckte einen ebensogroßen Prozentsatz von Schund und Trivialität, ohne daß man deshalb »Anna Karenina« nicht als Liebesroman bezeichnen dürfte.

  wikipedia  Christian_August_Vulpius     wikipedia  Rinaldo_Rinaldini     wikipedia  Räuberroman

Der Feuilletonbetrieb der Literatur-Literatur kann sich ja an ein paar Namen klammern, die sozusagen approbiert sind — wie etwa im Krimi-Genre die Namen Hammett, Chandler, Simenon und Highsmith. Bei der SF sind das vorläufig Vonnegut, Lem, die LeGuin — und, vielleicht, mit einem Zentner Glück, der Name des Unterzeichneten.

283-284

#

 

www.detopia.de     ^^^^