Stanislaw Lem

 

 

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wikipedia.Autor  *1921 in Lemberg/Ukraine bis 2006 (84)

DNB.name (671)   DNB.person  

DNB.nummer (500)

Heise Autor   Lem.pl  HOME-deutsch

 

detopia:

Ökobuch    Utopiebuch  

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Franz.Fühmann   Aldous.Huxley  

Neil.Postman

 

Robotermärchen

 

 

 

 

 

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September 2021  dlf   100-geburtstag--stanislaw-lem-science  

1964   wikipedia  Robotermärchen 

1971   wikipedia  Der futurologische Kongreß     DNB.Buch

1964   wikipedia  Summa_technologiae 

1971   wikipedia  Sterntagebücher 


wikipedia  Utopia_Zukunftsroman war die erste westdeutsche Science-Fiction-Heftromanreihe und erschien von 1953 bis 1968 in 596 Ausgaben im Erich Pabel Verlag, Rastatt

 


Die Progression des Bösen

Die Kehrseite des technologischen Fortschritts

11. November 2001

Stanislaw Lem

Die Progression des Bösen | Telepolis (heise.de)

Den Titel für diesen Essay habe ich absichtlich so allgemein formuliert, weil sich für uns das Böse in fataler Weise breit gemacht hat. Ich denke an dieser Stelle vor allem an das Böse als Taten, die ganz allgemein Schäden im Bereich der Technologie verursachen. Alles dagegen, was Menschen den anderen Menschen "nicht-instrumental" antun, lasse ich hier außer Acht.

Das Böse, worüber ich sprechen möchte, stellt gewissermaßen die schwarze Kehrseite der technologischen Fortschritte dar. Wo und wie auch immer es zum technologischen Fortschritt kommt, also jedes Mal wenn sich die technische Front ausweitet oder vorrückt, folgt ihr die schnell wachsende Effizienz ihres verbrecherischen Missbrauchs nach. Auf die Frage: "Warum dies seit dem Paläolithikum bis hin zum "Kosmolithikum" immer so geschieht" soll uns eine kurze Antwort genügen: "Weil die Menschen eben so sind."

 


 

"Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut"

Stanislaw Lem im Gespräch mit Florian Rötzer  -  27.03.2006 

https://www.telepolis.de/features/Wir-stehen-am-Anfang-einer-Epoche-vor-der-mir-graut-3412575.html 

Stanislaw Lem, geb. am 12. September 1921, ist in Krakau mit 84 Jahren gestorben. Florian Rötzer hatte 1996 ein Gespräch mit ihm geführt, auf das wir aufgrund des traurigen Anlasses noch einmal hinweisen wollen, um an das faszinierende Werk dieses großen Autors zu erinnern, der ebenso kritisch wie ironisch und geistreich die wissenschaftlichen, technischen und politischen Entwicklungen verfolgt hat.

Er war einer der erfolgreichsten und bekanntesten Science-Fiction-Autoren und wurde zugleich einer der größten Kritiker dieser Literaturgattung. Schon immer eher ein Wissenschaftsphilosoph, der seine Überlegungen in das Gewand von Erzählungen hüllte, interessierte er sich immer für die Entwicklung der Wissenschaften und der Technik mit ihren sozialen Folgen. Die Lust am Fabulieren war ihm die letzten Jahr offenbar vergangen, das Irdische und Politische wurde ihm wichtiger, seine Skepsis und sein Pessimismus größer.

Bekannt ist Lem mit seinen Science-Fiction-Büchern geworden, doch mit der Gattung hat er seine Schwierigkeiten. Bekanntlich liest er kaum die Werke anderer Kollegen. Immer wollte er dort sein, wo sich für ihn die brennenden Fragen der Gegenwart befinden, denen er sich oft spielerisch, mit hintergründigem Witz und erzählter Philosophie nähert, bei aller Phantastik aber nie wirklich den Boden des Denkmöglichen verläßt. 

Schon lange hat er das Erzählen eingestellt, auch die Futurologie interessiert ihn nicht mehr. Lieber kondensiert er seine Gedanken in Essays, die wissenschaftliche und politische Fragen behandeln, mehr von Skepsis als von Enthusiasmus gegenüber dem Neuen zeugen, gleichwohl aber formal experimentieren, wenn er etwa Einleitungen zu fiktiven Büchern, Rezensionen nie erschienener Werke, über die evolutionäre Weltanschauung oder über die Welt aus der Perspektive der Statistik schreibt.

Vielleicht ist der Rückzug aus der Zukunft eine Frage des Alters, bei dem die Erdenschwere und die Weisheit wächst, vielleicht ist die Gegenwart zu voll an Science-Fiction, vielleicht überschlagen sich Innovationen oder Ankündigungen dessen, was gleich möglich sein wird, zu schnell, als daß Exkursionen in die Zukunft noch reizvoll erscheinen. Vielleicht ist die Zuwendung zu ganz praktischen und aktuellen wissenschaftlichen und politischen Fragen aber auch eine Folge des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes.

Der Zensur konnte man mit Fabeln und dem Ausflug in die Zukunft besser entgehen, seine Gedanken dort sicherer verstecken und zugleich zum Ausdruck bringen. Vielleicht aber sind es die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in Polen, die Lem nicht von der mittlerweile schon zum Markenzeichen gewordenen digitalen Revolution schwärmen lassen, auch wenn sie vielleicht irgendwie damit verbunden sein mögen, sondern ihn zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart auffordern. 

Wie auch immer: Stanislaw Lem, der 75jährige, sprudelt weiter vor Ideen, seine Neugier ist ungebremst, sein moralischer Antrieb ungebrochen, seine Souveränität, einfach das zu machen, was er will, beeindruckend.

 

 

 

 

 

 

Rötzer: Warum schreiben Sie keine Science Fiction mehr?

Lem: Meine Laufbahn als Autor von Science-Fiction-Erzählungen ist schon vorbei, aber ich hatte immer das Bewußtsein, daß man nur über das schreiben und reden darf, was von der menschlichen Vorstellungskraft verstanden werden kann. Es wäre ganz leicht, etwas total Unverständliches zu schreiben. Das ist auch vielen postmodernen Autoren sehr lieb und geschieht nicht nur in der Science-Fiction. 

Die Mannigfaltigkeit im Kosmos muß weit größer sein, als wir imstande sind, sie zu verstehen und zu studieren. An einem Beispiel kann ich das besser erklären.

Das Spektrum der elektromagnetischen Wellen ist gewaltig. Es reicht von Gamma- über Röntgen oder Infrarotstrahlen bis zu jenen, die wir mit unseren Augen sehen können. Das ist aber nur ein winziger Ausschnitt des elektromagnetischen Wellenspektrums. Mit den Weltraum­fahrten ist das ähnlich. Erst jetzt beginnt man allmählich darüber zu sprechen, daß es nicht allein die Barriere der Kosten­entwicklung ist, die uns an Fahrten zu anderen Planeten oder an einem langen Aufenthalt in einer orbitalen Station hindert. 

Es ist einfach so, daß der Mensch ein auf der Erde durch und durch gestaltetes Lebewesen ist, das im schwerelosen Raum nicht länger leben kann. Es ist grausam, wenn man liest, daß die Astronauten schon auf der Nähe der Erde gelegenen Weltraumstation wegen der Strahlung sehr schnell altern. Das wurde sogar an Ratten erprobt. 

Bisher hat man hauptsächlich von den vielen Dollars gesprochen, die eine Fahrt zum Mars kosten würde. Es ist ja Mode geworden, alles nur in Geld zu berechnen. Wenn etwas eine Milliarde kostet, ist es schon ein schreckliches Hindernis. Aber es gibt eben auch ganz andere, nicht monetäre Probleme, die eine solche Fahrt unmöglich werden lassen. 

Es wird immer waghalsige Menschen geben, denen es nichts ausmacht, wenn sie schnell alt und bald sterben werden, und die dann solche Fahrten ausführen werden. Die durch irdische Schwerkraft gestalteten Wesen verlieren bei einem langen Aufenthalt im schwerelosen Raum die Knochen­substanz, die Knochen werden brüchig, die Muskeln leiden. Man konnte schon sehen, daß der auf die Erde zurückkehrende Astronaut auf einer Bahre getragen wurde, weil er nicht mehr stehen konnte. Das ist traurig, aber wir sind nun einmal sehr stark erdgebunden.

Würden auf anderen Planeten andere Wesen entstehen, so müssen sie keineswegs uns Menschen gleichen.

 


Rötzer: Sie sagten, daß Sie bereits seit einigen Jahren keine Science-Fiction-Erzählungen mehr schreiben. Man kann sich zwar alles Mögliche vorstellen, aber man weiß sehr wenig und meistens ist es anders, als man sich das vorgestellt hat. Ist das ein Grund, warum Sie keine Geschichten mehr schreiben?

Lem: Nein, ich habe unlängst wieder für eine Zeitung eine Science-Fiction-Geschichte geschrieben. Aber es macht mir keinen großen Spaß mehr. Ich habe auch genug geschrieben. 40 Bücher reichen. Ich habe mich jetzt anders orientiert. In Polen habe ich einen Bestseller über Informatik geschrieben. Überhaupt habe ich immer das geschrieben, was mich zu einer bestimmten Zeit besonders interessiert hat. Für eine polnische Wochenzeitschrift schreibe ich jetzt kurze Artikel über die aktuelle politische Lage der Welt. Das konnte ich während der Zeit der sogenannten Volksrepublik Polen nicht machen, weil man damals nicht alles schreiben durfte, was man wollte. Wenn man heute so eine Freiheit hat, soll man sie auch nutzen. Es gibt auf der Welt recht interessante Geschehnisse, besonders das kommende Informations­zeitalter, über die ich gerne als hausbackener Informatiker und nicht mehr als Poet schreiben will.

 

R - Wird denn das Informationszeitalter tatsächlich unsere Welt so tiefgreifend verändern, wie viele glauben? Man spricht von der digitalen Revolution, die entweder alles besser macht oder uns der Katastrophe näherbringt. Ist das nicht auch nur eine Wunschvorstellung, die vielleicht durch das Nahen der Jahr­tausendwende gefördert wird.

Lem: Seit dem Neolithikum hat jede neue Technologie eine positive und negative Auswirkung für die Menschen gehabt. Es gibt keine Technologie, die nur gut für die Menschen ist. Sogar mit einem Brotmesser kann man einem anderen Menschen den Hals abschneiden. Meist kann man nicht sagen, was positiv und was negativ ist. Von der nuklearen Energie hat man sich viel versprochen, aber sie hat sich als recht peinliche Geschichte erwiesen. Man muß sich nur die Geschehnisse um den Castor-Transport oder Tschernobyl ansehen, um zu verstehen, was nukleare Energie bedeutet. Jetzt ist es schon wieder Mode, gegenüber dem Internet oder World Wide Web Enthusiasmus entgegen zu bringen. Aus meiner Intuition heraus meine ich, daß uns das Internet mehr schaden als Profit bringen wird.  

Es gibt beispielsweise das deutsche Sprichwort: <Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.> Wahrscheinlich hat es Greuel und Völkermorde immer gegeben. Nur wußten die Menschen in früheren Zeitaltern nichts davon. Was wußten die Menschen in Europa schon im 16. Jahrhundert darüber, was im Fernen Osten geschieht? Gar nichts. Jetzt weiß man mit der Geschwindigkeit des Lichtes, mit den elektromagnetischen Wellen, alles. Man hat beispielsweise eine solche Satellitenschüssel auf dem Dach, mit der man viele Sender aus der ganzen Welt empfangen kann.


Benutzen Sie eigentlich das Internet?

Stanislaw Lem: Nein, ich weigere mich, es zu benutzen. Man hat versucht, mich gewissermaßen mit einer großen Schachtel von Schokoladen­bonbons dazu zu bringen, einen Zugang einzurichten. Ich hätte das ganz umsonst erhalten, aber ich will nicht. Ich habe hier so viele wissenschaftliche Bücher und Journale, die ich noch nicht lesen konnte. Ich fürchte mich vor der sogenannten informatischen Sintflut.

Durch das Internet werden gewisse Pfeiler des Kapitalismus erodieren. Das Copyright ist bereits jetzt schon in Gefahr geraten. Es ist fast unmöglich, ein vollkommenes Eigentum des Copyright zu garantieren. Und dann gibt es beispielsweise diese pädophilen Dinge im Internet. Man versucht, Schranken einzurichten, um dies unterbinden, aber dann stellt sich heraus, daß diese Inhalte dann über andere Länder ins Internet kommen.

Das ganze Netz wurde ja mit der Absicht entworfen, um eine zentrale regulative und kontrollierende Funktion zu umgehen, damit eventuelle Angriffe etwa durch Atombomben nicht das ganze Netz zerstören können. Jetzt gibt es zwar den Ost-West-Konflikt nicht mehr, dafür aber haben wir das Netz und muß man sich Mittel ausdenken, wie man es kontrollieren kann.

Die Eltern sollen beispielsweise bestimmte Zugangsbeschränkungen für die Kinder einbauen. Aber warum sollten die Eltern zu Wächtern werden, die immer mit diesen technischen Mitteln hantieren? Als erstes werden die Kinder natürlich versuchen, das zu umgehen und kurz zu schließen. Bekanntlich kann ein zehn- oder zwölfjähriger Bursche besser mit einem Videogerät oder einem Computer umgehen als die meisten Erwachsenen. 

Das sind Probleme, die nicht bewältigt wurden, und ich weiß auch nicht, wie man sie bewältigen kann, um so mehr das Barbarische gegenwärtig weiter zunimmt. Es gibt immer mehr Verbrechen. Lange vor dem Zweiten Weltkrieg wurde das Kind von Lindbergh entführt. Das erschütterte damals die ganze Welt. Heute gibt es schon so viele Entführungen, daß man sie alle schon gar nicht mehr in den Nachrichten nennen kann. 

Es gibt diese Eskalation der Gewalt. Das Internet wird dies weiter verstärken. Wenn man sich als ruhiger Mensch wie ich vor den Fernseher setzt, Erdnüsse ißt und ein Bier aus der Dose trinkt und dann bald 400 Programme zur Auswahl hat, kann man lernen, wie man einen Schalldämpfer auf eine Pistole setzt, wie einfach es ist, andere Leute umzubringen, und warum man dies macht - wegen der Diamanten, wegen Heroin oder weil es um eine Erbschaft geht. Die ganze Palette des Verbrechens wird uns als Instruktion geboten. Es gibt viele negative Aspekte der Medien und des Internet.

 

 

R: Andererseits gilt das Internet, weil es nicht von einzelnen Regierungen und Staaten regulierbar ist, als ein Instrument zur Demokratisierung und, im Gegensatz zu den herkömmlichen Massenmedien, zur Schaffung einer weltweiten Öffentlichkeit auch für einzelne.

Lem: Das ist kein Mittel der Demokratisierung. Wenn man nach China sieht, das letzte große kommunistische Imperium auf der Erde, wird die gesamte Kommunikation streng kontrolliert. Wenn man die Freiheiten erwürgt, die das Internet eröffnet, errichtet man sicher gleichzeitig große Hindernisse auf dem Weg zur freien Kommunikation. Dann gibt es das ganze Gerede über die Pornographie. Ein pornographisches Werk ist beispielsweise nicht nur das Alte Testament oder jedes Buch über Gynäkologie. Ich sehe keine einzige klare Methode, wie sich so etwas eindämmen lassen könnte, ohne daß dies vielen Menschen, die tatsächlich Informationen benötigen, schaden würde. Das ist alles sehr kompliziert und hat gar nichts mit dem Leben auf dem Mars zu tun.

 

Rötzer: Es werden ja von den Angehörigen der Cyberkultur große Hoffnungen auf das Internet gesetzt, aus dem sich eine kollektive Intelligenz entwickeln könnte. Man vergleicht es mit einem globalen Gehirn, weil es nicht nur ungeheuer viel Informationen auf ihm gibt, sondern diese auch durch viele Links oder Assoziationen verbunden sind. Wenn es zunächst durch die Benutzer und dann durch virtuelle Agenten und Programme auch intelligent wird und lernen kann, würde sich vielleicht ein globales Gehirn herausbilden, dessen Teile dann unter anderem aus Menschen bestehen. Verbunden damit ist natürlich oft der Glaube, daß die Menschen sich dadurch vereinen werden.

Lem: Mein Gott, wir sind ja nicht kleine Kinder. Als Sie mir die Vorstellungen über das globale Gehirn erzählten, dachte ich an das Verhältnis der Russen zu den Tschetschenen. Das Schicksal der Tschetschenen gleicht dem der Polen vor 100 Jahren. Im Verhältnis zu Tschetschenien ist Rußland ein enormes Land. Was hat das Internet, was hat das Fernsehen damit zu tun? Das einzige ist, daß es beispielsweise noch brave Fernsehjournalisten gibt, die bereit sind zu sterben, um den Menschen Bilder vom Gemetzel der zivilen Bevölkerung zu zeigen.

Es gibt auf der ganzen Welt eine Unmenge solcher Krisenherde. Keine technologische Entwicklung kann diese Konflikte löschen. 

Wir wissen, wie schwach wir gegenüber der Natur sind. Man erzählt uns Märchen etwa in der Klimatologie, daß das Klima angeblich immer wärmer wird. Einen solchen kalten und verregneten Sommer wie diesen habe ich noch nie in meinem ziemlich langen Leben erlebt. Was die Gelehrten sagen, was geschehen oder was durch den Computer entstehen wird, stimmt oft nicht.

 

R: Sie haben vor mehr als dreissig Jahren einmal geschrieben, daß gegen eine Technologie immer nur eine andere helfen kann. Ist das noch immer Ihre Meinung?

Lem: Natürlich geht das, aber mit Maßen. Wenn eine Arznei beispielsweise unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt, dann kann man diese mit einer anderen lindern. Aber wenn diese andere Arznei wiederum andere Nebenwirkungen hat, dann gibt es einen unendlichen Kreislauf und dann kann man Technologie auf Technologie aufhäufen. Man wird an erster Stelle hier eine Kostenschwelle bemerken, denn das kostet dann einfach zuviel. Wir hören sowieso von den Ökonomen, daß uns alles zuviel kostet. Der Wohlfahrtsstaat kostet uns zuviel. Deswegen ist ein Sparpaket notwendig, weil die Kosten davonlaufen. Immer wieder hört man, daß sich die Deutschen übernommen haben. 

Meineserachtens hat die DDR damals etwas Kluges gemacht. Sie hat die Propagandamaschine so gut entwickelt und so gut lügen können, daß alle glaubten, sie sei wirklich ein blühendes Land. Nach dem Fall der Mauer zeigte sich, daß die DDR ein grundloser Brunnen war, in den man Milliarden um Milliarden hineinwerfen kann. Es gibt zwar eine gewisse Verbesserung, aber die kostet enorm viel. Es gibt zwar noch Befürworter der Vereinigung bei den Deutschen aus dem Westen, aber das ist eine immer kleiner werdende Schar. Das habe ich schon bemerkt, wenn ich mit meinen Besuchern spreche. 

Wir in Polen hingegen hatten keinen so reichen Bruderstaat. Es gab kein reiches Polen, das uns Subventionen in Milliardenhöhe geben konnte. Trotzdem geht es irgendwie, während in Deutschland nichts recht vorankommt. Wenn man nur die Ladenzeiten ein bißchen verlängern will, dann gibt es gleich ein entsetzliches Geschrei. Bei uns gibt es jetzt die im Verhältnis zu Deutschland schreckliche Freiheit. Wenn Sie ein Ladenbesitzer sind, dann können Sie Ihr Geschäft 24 Stunden öffnen, wenn Sie das wollen. Sie müssen sich nur mit Ihren Verkäufern verständigen. 

Wenn man zuviel von den Gewerkschaften hält, ist dies vielleicht ein bißchen ungesund. Lady Thatcher hat seinerzeit einen Krieg mit den Gewerkschaften geführt und ihn ziemlich gut gewonnen. Allerdings sagt man, daß sie einen Scherbenhaufen hinter sich gelassen hat. Das ist schon möglich. Ich bin kein Ökonom, sondern das ist nur meine private Meinung. Wenn man bei uns sagen würde, Sie dürfen Ihren Laden nur bis 18 Uhr öffnen, dann würde man dies nicht mehr verstehen. Jeder soll es so machen, wie er will. Das ist die Freiheit.

 

Aber eben das ist auch die Freiheit, die heute noch im Internet möglich ist.

Lem: Das ist wieder etwas anderes. Die Polen waren schon immer ein bißchen Anarchisten. Das hat uns in der kommunistischen Zeit sehr geholfen.

 

Um noch einmal auf die Technik zu kommen, so spricht man heute immer mehr von einer technischen Evolution. Überhaupt wird die Evolutionstheorie zu einem beherrschenden Paradigma. In Ihrem futurologischen Buch "Summa technologia" haben Sie auch bereits die biologische Evolution mit der technischen Evolution in Analogie gesetzt und ganz ernsthaft von einer Technoevolution gesprochen. Wenn man von Evolution spricht, dann heißt das immer auch, daß man von Konkurrenz und Auslese, aber auch von einem kaum steuerbaren und vor allem nicht voraussagbaren Prozeß spricht. Technoevolution hieße so auch, daß die Menschen keine Gewalt über die Technik besitzen. Sehen Sie das noch immer so? Und sehen Sie in der Technoevolution eine bestimmte Zielrichtung?

Lem: Ja, es gibt eine Technoevolution, die nach ähnlichen Gesetzen abläuft wie die biologische. Früher hatte man geglaubt, daß es durch die Entwicklung der Computertechnologie bald zur Realisierung einer Künstlichen Intelligenz kommen wird. Aber man hat gesehen, daß dies sehr viel an Mühe und Geld kosten wird und vor allem Fertigkeiten verlangt, die man noch nicht hat. Deswegen geht diese Welle der technischen Entwicklung jetzt nicht in Richtung der Künstlichen Intelligenz, sondern in die der technologischen Verbindungen, also hin zu Netzen. Das ist billiger und bringt dem Kapital mehr Erträge ein.

 

R - Aus den technischen Verbindungen heraus entsteht aber jetzt doch ein neuer Ansatz. Man versucht, mit neuronalen Netzen und eher unter der Perspektive der Modellierung eines Insekts, nicht mehr unter der der höchsten menschlichen Leistungen Roboter zu entwickeln, die durch Lernen, also von unten nach oben, dann allmählich Intelligenz erwerben sollen.

Lem: Das rein Ökonomische reguliert die Entwicklung. Was einen hohen Preis hat, ist nicht besonders beliebt, zumal wenn es nicht sofort erhebliche Profite abwirft. Früher gab es natürlich auch Idealisten. Der Graf Zeppelin war ein solcher. Oder die Gebrüder Wright dachten mit ihrem ersten Flugzeug nicht in erster Linie daran, viel Geld zu verdienen. Aber wenn die Herstellung von Flugzeugen in die Massenproduktion geht, dann erhalten die Kosten ein enormes Gewicht. In der biologischen Evolution ist das ganz genauso. Einer der Hauptfaktoren ist beispielsweise die Schwerkraft. Vor 60 Millionen Jahren haben die Dinosaurier gelebt, die bis zu 100 Tonnen gewogen haben. Aber diese Entwicklung hat sich nicht gelohnt. Man mußte natürlich für diese Entwicklung nichts zahlen, doch die natürliche Kontingenz, der Rahmen, in dem sich diese Evolution vollzieht, ist durch die irdischen Umstände, durch die Schwerkraft, die Atmosphäre usw., vorgegeben. Ähnliche Faktoren kann man auch in der technischen Evolution bemerken. Es wird das gemacht, was dem Menschen, aber zugleich, was dem großen und kleinen Kapital dient. Man kann keine Dinge produzieren, die niemand braucht.

 

Andererseits ist es in der technischen Entwicklung doch oft so, daß man etwas für einen bestimmten Zweck herstellt, während es sich später oft herausstellt, daß dieser Zweck ganz nebensächlich ist. Es entstehen meist Folgen, an die man überhaupt nicht gedacht hat. Dadurch verändern sich Technologien, aber auch die Welt, in der sie wirken.

Lem: Der Unterschied liegt darin, daß die Menschen denken, während die biologische Evolution dies nicht tut. Und doch ist immer zu bemerken, daß man im voraus niemals weiß, was sich aus den Anfangsstadien später entwickeln wird. Zwei Millionen Jahre vor unserer Gegenwart konnte niemals jemand voraussagen, daß aus dem homo habilis in Südafrika der homo sapiens entstehen und unsere Erde beherrschen wird. Als man die ersten Versuche machte, Computer miteinander zu verbinden, wußte man noch nicht, daß ein Netz entstehen würde. Es gibt gewisse tiefe Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Evolutionsformen.

 

Das Kennzeichen von beiden wäre doch ihre Unsteuerbarkeit und ihre Unvorhersehbarkeit? Es handelt sich um ein Spiel, das einen gewissen, aber vermutlich nicht vorher ausmeßbaren Möglichkeitsraum ausschöpft, der sich mit jeder weiteren Entwicklung verändert.

Lem: Die Technoevolution kann man ebenso wenig steuern wie die biologische. Wir können die biologische Evolution zumindest jetzt noch nicht steuern. Aber das könnte durch die Gentechnologie noch kommen. Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bißchen graut.

 

Es gibt nicht nur die Gentechnologie, sondern auch Entwicklungen in der Neurotechnologie und überhaupt in der medizinischen Technik, so daß man den Menschen immer mehr mit Prothesen ergänzen, in ihn immer mehr Maschinen einbauen kann, ihn also zu einem Cyborg machen kann. Vielleicht wird man auch, wovon Hans Moravec immer gern erzählt, das kognitive System des Menschen auf eine andere Hardware speichern und dort laufen lassen können. Davon haben Sie ja auch schon früh in Ihren Dialogen gehandelt. Wenn man diese ganze Entwicklung im Bereich der Computer- und Biotechnologien ansieht, die Hand in Hand gehen, dann geht es offenbar um einen Umbau des Menschen, vielleicht auch um eine Restrukturierung der Ökosphäre. Genau dies könnte es möglich werden lassen, ein Leben außerhalb der Erde und ihrer Bedingungen zu führen.

Lem: Das ist schon möglich, aber meines Erachtens ist dies wirklich nicht wünschenswert. Der Mensch eignet sich nur zum Leben auf der irdischen Oberfläche. Solange man sich nicht auf dem Mond befand, konnte man sich noch vorstellen, daß es dort sehr interessante Landschaften gibt. Nein, das ist eintönig, das ist wirklich eine Wüste. Wer wird schon für 10 oder 20 Jahre oder gar für das ganze Leben in der Wüste und dazu noch in einem geschlossenen Gefängnis leben?

Dafür gibt es dann vielleicht die Virtuelle Realität oder die Phantomologie. So ließe sich vielleicht das Leben in einem Gefängnis aushalten.

Lem: Das ist schon etwas anderes. Aber auch wenn man phantomologisch das Beste zum Essen bekommt, so wird man davon nicht satt.

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Zum Tode von Stanislaw Lem, dem bedeutendsten zeitgenössischen Science-Fiction-Autor Europas

Am Ende einer weiten Reise   -  Marcus Hammerschmitt, 28.03.2006

 

Zwei Dinge fielen mir ein, als ich vom Tod Stanislaw Lems hörte: die Frage "Wieso gestorben?" und der abgeschmackte Begriff "Altmeister". Einerseits ist das eine reichlich absurde, ja peinliche Reaktion, andererseits aber auch gut verständlich: Wir halten uns alle für unsterblich, und in einem Akt der großzügigen Übertragung gönnen wir gerne auch denen illusionäre Unsterblichkeit, auf die wir uns berufen, denen wir viel verdanken. Unsere Gewährsleute sollen Gewissheit verbürgen, wenn sie sterben, gerät ein Stück Selbstgewissheit ins Wanken. Und das kann im Bereich der Literatur eben auch mit Menschen geschehen, die man nie persönlich getroffen hat.

Wann habe ich "Solaris" gelesen, den Text von Stanislaw Lem, mit dem er in Erinnerung bleiben wird, nicht nur, weil er sein bester ist, sondern weil er zwei Verfilmungen erfahren hat, die ihn dem Welt-Mediengedächtnis erhalten werden? Fünfzehn oder sechzehn war ich, ich weiß es nicht mehr genau. Woran ich mich genau erinnere, ist der Zustand, in dem ich dieses Buch zuklappte: nämlich mit einer gewissen Trockenheit in der Kehle, einem Herzklopfen, das jene literarischen Offenbarungen kennzeichnet, die so selten und so kostbar sind in einer Lesebiographie, die vielleicht gar nicht häufiger vorkommen dürfen, weil sie den Leser sonst überfordern würden.

Es war etwas geschehen in mir durch die Lektüre dieses Buchs, etwas hatte mich gestreift, und ich war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Seither ist dieser Zustand noch mehrere Male aufgetreten, im Kontakt mit Lyrik, mit der sogenannten ernsthaften Literatur, auch mit der Musik, aber nur noch selten bei der Science Fiction, jener wunderbaren und erbärmlichen Kunst, die so oft auf Kunst verzichten zu können glaubt, die sich so wenig selbst vertraut wie keine andere, und auch aus diesem Grund zu den Schmuddelkinder der Literatur gehört.

William Gibsons Roman "Neuromancer" hat mich seinerzeit noch so berührt, einige seiner Erzählungen vielleicht, und einiges von Lem selbst, so zum Beispiel "Der Unbesiegbare". Aber was war es genau, was mich hier so elektrisierte?

Heute würde ich sagen: die Kühnheit Lems. Der Mut, mit dem er einer wenig attraktiven, epigonalen und manchmal sterilen Literaturform Vision, Poesie, literarische Genauigkeit beibrachte. Wie er da hin ging und sagte: Euch zeig ich, dass bestimmte Erfahrungen und Konstellationen unseres Zeitalters überhaupt nur im Rahmen der Science Fiction verhandelbar sind, und nirgendwo sonst. Euch zeige ich, wie das absolut Fremde in der Literatur benannt und beschworen werden kann, ohne dass man zu billigen Kostüm- und Theatertricks greifen muss. Ich stelle dar, wie es Menschen in einer Welt geht, die nicht für Menschen gemacht ist, die uns zwar auf höchst unklare und manchmal tief verstörende Weise entgegen kommt, aber von der nicht zu sagen ist, ob sie uns auf Dauer auch nur toleriert.

Freier Geist im extremen Jahrhundert

Dass Lem die Kühnheit besaß, all dies in einem repressiven Gesellschaftssystem zu sagen, das dann doch flexibel und vernünftig genug war, ihn an diesem Punkt gewähren zu lassen, lernte ich erst später zu schätzen.

Und das war Lems Lebensprogramm: unter einengenden Umständen für seine Leserschaft die Moderne in all ihren erschreckenden Facetten einzuholen und in Literatur zu übersetzen, ob diese Leser­schaft das nun unbedingt zu schätzen wusste oder nicht. Das gilt für jeden seiner Romane, von dem ersten, rein realistischen "Hospital der Verklärung" bis zu "Fiasko", seinem letzten Roman von 1987.

  Lem, und das muss als seine historische Leistung betrachtet werden, zeigte, was man im "Jahrhundert der Extreme" (Eric J. Hobsbawm) als freier Geist sagen konnte, wenn man klug genug war, sich beim Klugsein von den Dummen nicht erwischen zu lassen. "Solaris", "Der Unbesiegbare", "Der Schnupfen", "Eden", "Robotermärchen", "Memoiren, gefunden in der Badewanne" (ein Roman, der Staats- und Geheim­dienstparanoia auf unnachahmbare Weise darstellt) - so heißen einige Wegmarken dieser langen Wanderung durch das Labyrinth des 20. Jahrhunderts.

Die einzigen, die unter vergleichbaren Umständen mit Lem auf dem Gebiet der Science Fiction mithalten konnten, waren die Gebrüder Arkadij und Boris Strugatzki.

Freilich, man tut dem Andenken Lems keinen Gefallen, wenn man verschweigt, dass er sein Pulver verschossen hatte, als er 1987 Fiasko veröffentlichte. Der Roman ist ein schwer lesbares philosoph­isches Traktat, das von einem gewissen Hang zur Pedanterie gekennzeichnet ist.

Erst recht nicht schließen die späteren medien- und technologiekritischen Essays zur gedanklichen und literarischen Höhe auf, die Lem mit seinen früheren Texten so spielend erreicht hatte. Zu sehr trat jetzt ein Kampf um den eigenen Rang in den Vordergrund, der paradoxerweise längst gesichert war.

Es stimmt, auch die ständigen Hinweise Lems, er habe diese oder jene technologische Entwicklung, diese oder jene Problemlage zuerst erkannt, vorausgesagt, benannt, sind nicht völlig ohne Halt: "Der Unbesiegbare" mag gut und gern eine der ersten literarischen Darstellungen von Schwarmintelligenzen enthalten haben, wie sie heute in verschiedenen Wissenschaftsbereichen, von der Biologie bis zur "Künstlichen Intelligenz" Furore machen.

Aber der Nachdruck, mit der sich Lem im Alter immer wieder als Meisterdenker in Szene setzte, brachte ihm von verschiedener Seite den Vorwurf der Penetranz ein. "Selbstdemontage" war einer der herberen Wertungen, denen das Alterswerk Lems begegnete.

Dennoch: Es gibt keinen Zweifel an der überragenden Bedeutung Stanislaw Lems für die Science Fiction. Als er es aufgab Science Fiction zu schreiben, hat er das Genre als einen "hoffnungslosen Fall" bezeichnet (vgl. "Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut"), eine starke Behauptung, für die es gute Gründe gibt. Allerdings ist sein Werk weiterhin einer der besten Gründe dafür, die Science Fiction für den interessantesten unter den hoffnungslosen Fällen zu halten.

 

https://www.telepolis.de/features/Am-Ende-einer-weiten-Reise-3405574.html 

 

 

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