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7 - Der notwendige Fortschritt

Amery-1994

 

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Die Mikrobiologin blickt auf die Menschheit. Ihr Zustand ist sofort klar: Er ist bekannt von den Petrischalen, auf denen prächtig-geile Bakterien­kulturen blühen — kurz vor ihrem Absterben wegen Mangels an weiteren Ressourcen. Nur unsere phantastische Selbstbezogenheit — so meint sie — hindert uns daran, diesen Zustand (und damit auch das bevorstehende Ende) bewußt wahrzunehmen.

In der Sache hat sie wohl recht: 

Außer ihren Petrischalen gibt es genug weitere Beispiele aus der Erdgeschichte, die seit Beginn des Lebens vom Prinzip Ausbeutung bestimmt und gestaltet wird. Verschwundene Arten gibt es in Massen, auf eine mehr oder weniger kommt's der grausamen Königin nicht an. Daß solches Verschwinden Erschütterungen der gesamten Lebenswelt hervorruft, ist auch nichts Einmaliges: der Meteoreinschlag, der von vielen für das Verschwinden der Dinosaurier verantwortlich gemacht wird, rief sicher ebenso große, wenn nicht größere Unordnung hervor.

Das Einmalige ist vielmehr, daß wir Menschen über Todesbewußtsein und (wenn auch fehlerhaften) Voraus­blick verfügen, und daß uns der Gedanke schreckt, auf ebenso gleichgültige Weise abzutreten, wie dies etwa der Pterodaktylus tat. (Die Lebensdauer dieser Art betrug ein Vielfaches von der des Menschen.) Da jedoch auch die Inkonsequenz zu unserer Erblast gehört, denken wir (wenigstens vorläufig) nicht daran, gegen dieses Schicksal auch nur die allernötigste Abwehr einzuleiten.

Ganz im Gegenteil. Wir haben uns in den letzten paar Jahrhunderten, einer erdgeschichtlich kaum bemerkbaren Zeitspanne, erlaubt, die Bedingungen für unser Aussterben beschleunigt voranzutreiben. Wir nannten und nennen diese Aktivität FORTSCHRITT — allen Ernstes.

Nun weisen Kenner der Sozial- und Erdgeschichte nach, daß solcher Fortschritt keineswegs das Monopol der Neuzeit sei. Sattsam bekannt ist Platons Klage über die Entwaldung von Attika und anderen Teilen Griechenlands, und auch die Weisheit des Dau konnte nicht verhindern, daß die Anbaufläche Chinas seit Lao-Tse's Zeit auf einen Bruchteil zusammengeschrumpft ist.

Der Unterschied unserer Zeit von der Antike und anderen Raum-Zeit-Theatern der Vergangenheit besteht dennoch — und es ist ein wesentlicher Unterschied. Er besteht in der Vervielfältigung und Vermehrung der Mittel, die wir anwenden, um die Welt in unserem Sinne zu verändern; und diese Vervielfältigung und Vermehrung wäre nicht möglich ohne das, was man heute ohne Erröten den <Produktionsfaktor Wissenschaft> nennt.

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Hinter dieser Wissenschaft wiederum, hinter ihrer Methode von Versuch und Irrtum, von Hypothese und Überprüfung der Hypothese steht nach dem Abschied von jeglicher Natur­religiosität (über den noch zu reden sein wird) die hitzige Leidenschaft der erwachenden Aufklärung, die Leidenschaft zur Melioration, das heißt zur Verbesserung der Lebensbedingungen nicht nur einer Handvoll von Aristokraten oder City-Bankiers, sondern von möglichst großen Teilen der Bevölkerung.

Melioration: An dem Wort läßt sich gut ablesen, was dem Renommee des alten Fortschritts in den letzten Jahrzehnten zugestoßen ist. Im engeren Sinne war damit vor allem die Trockenlegung von Mooren und Sümpfen gemeint; die Reiseberichte der Aufklärer etwa sind voll des Lobes für den Fürsten, der diese Ausweitung der bewohnbaren oder vielmehr anbaufähigen Breiten des Vaterlands voll Tatkraft betrieb. Widerstand, so heißt es da, komme lediglich aus den dumpfen Gehirnen oder vielmehr Eingeweiden der Moosbauern, die bisher auf solchen Flächen ihr elendes Viehzeug weiden ließen — und wohl manchmal des Nachts auszogen, um Stockenten zu wildern.

Noch im Dritten Reich spielte das Pathos der Moorsoldaten (natürlich nicht der KZ-Häftlinge, sondern des braunen Arbeits­dienstes) eine große Rolle auf der Propagandabühne; Bauernland wird da dem Meer oder den Sümpfen entrissen.

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Heute ist es wohl nicht nur eine Handvoll Naturschützer, sondern die Mehrheit des aufgeklärten Publikums, welche es hoch an der Zeit findet, mit derlei ökologischem Unsinn Schluß zu machen.

Der Fortschritt, so stellt sich heraus, ist mit dem Sachverstand von Geldschrankknackern betrieben worden, die über immer bessere Werkzeuge verfügen. Es geht um die Sore (hebr. =Beute), die hinter den dicken Rätseltüren der Natur lockt und die ihr entrissen werden muß. Wie jeder von Einbrüchen Betroffene weiß, ist dabei oft der im Büro- und Wohnungsumfeld angerichtete Sachschaden um ein Vielfaches größer als die Beute wert ist. Und sehr zum Schaden der Menschheit verrügen die Knacker nach wie vor über genügend politische und wirtschaftliche Machtbeziehungen, um ihr Treiben und vor allem das dahinterstehende Prinzip der Ausbeutung, das blinde B&S-Programm, mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.

Die Leute, die heute das B&S-Programm schützen und vorantreiben, nennen sich Konservative oder Liberale, je nachdem; die Unterschiede zwischen ihnen beziehen sich auf ein paar Gipsschnörkel des Überbaus. Mit echtem Bewahren hat das nichts zu tun — mit echtem Freisinn schon eher, wenn auch der gegenwärtige Liberalismus in die Macht von Ungeheuern geraten ist, deren Blindheit und Freßlust biologisch kaum höher liegt als der Entwicklungsstand von HIV-Viren: in die Macht der großen politischen und wirtschaftlichen Interessen.

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Die alte Industriekritik aus dem Geist des rückwärtsgewandten Pessimismus und der Naturschwärmerei ist seit 1945 so gut wie verschwunden — und der Mittelstand, der von diesen Interessen am meisten zu fürchten hat, wollte jahrzehntelang keine Gegner als die sogenannte Linke kennen.

Die entscheidende Gegenströmung gegen den alten Fortschritt, deren Kraft und Bedeutung zunächst nur von wenigen geahnt wurde, geahnt werden konnte, entstand aus den Quellen der Wissenschaft selbst — der wirklichen, das heißt der desinteressierten Grundlagen­forschung. Es sind die Lebens­wissenschaften, insbesondere die Biologie im weitesten Sinne, aber auch Anthropologie, Psychologie und Kybernetik, die (oft ohne es voraus­zusehen) den Fortschrittsbegriff regelrecht umgestülpt haben.

Ziemlich plötzlich wurde den am allgemeinen Denkprozeß Beteiligten (soweit sie genügend Ehrlichkeit aufbrachten) klar, daß die bisherige Bewußt­losigkeit des sogenannten Fortschritts, mit seinem Energieheißhunger, seinen Müll- und Sondermüllhalden, seiner Verwüstung halber Erdteile, von der Bewußtlosigkeit der Bierhefe nicht zu unterscheiden ist. (Lassen wir die Schimpansen einmal beiseite — vielleicht täten wir ihnen Unrecht.) Wären wir nicht so geschickt in der Anwendung unseres ›überorganischen Faktors› (um den saftlosen Ausdruck zu gebrauchen), könnten wir damit rechnen, daß eine oder mehrere Taten Gottes über kurz oder lang die Menschenart auf einen äußerst bescheidenen Platz in der Lebenswelt zurück­werfen würden.

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Doch leider ist das Problem spätestens seit Hiroshima aus dem entwicklungsgeschichtlichen Gang ausgerissen, es geht höchstwahrscheinlich um Alles oder Nichts — wenigstens oberhalb einer Welt von Gräsern und Insekten. Dies ist das schwarze Ende des B&S-Programms.  Dies ist die Clownsfratze der sinnlosen Apokalypse in den Sternbildern der Zukunft: das blutvoll-blutige Abenteuer LEBEN, einschließlich unserer geschichtlichen Heimaten von Altamira bis Washington D.C., endet in der Sinnlosigkeit. Aber gleichzeitig damit taucht wie Aphrodite aus dem zyprischen Meeresschaum ein ganz neuer, unerträglich anziehender und unerträglich schwieriger Fortschrittsbegriff auf.

  

Ausdrücklich: Es handelt sich dabei nicht um Utopie im üblichen Sinn. Das Mißtrauen gegen Utopie und Utopisten ist weiß Gott nicht grundlos, die Menschheit hat im Lauf ihrer Geschichte die Knochenhand der Utopie schrecklich genug zu spüren bekommen — gerade dann, wenn sie zu wohlmeinender Hilfe ausgestreckt wurde. 

Schon Plato konnte von Glück reden, daß er nie die Machtmittel fand, sein Staatsbuch Politeia ins Konkrete zu übersetzen, von Campanellas Sonnenstaat ganz zu schweigen. Selbst der Utopia des Thomas Morus haftete, wäre sie nicht in Ironie gehüllt, die Starre geschichtsloser Perfektion an. Und was waren die großen Planver­wirklichungen unseres Jahrhunderts anderes als verleiblichte und dadurch zerfleischende Utopien?

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Nein, im Gegenteil! Unser neuer Fortschritt hat zunächst nur dringliche Notstandsaufgaben zu bewältigen: Aufgaben von Ambulanz und Feuerwehr, Abwehr der Weltzerstörung und, nicht zuletzt, der schlüssigen und entschlossenen Barbarei à la Hitler und Pol Pot (auch sie als Utopien geplant und verwirklicht).

Wenn man allerdings - wie etwa die kaltäugigen Wahrsager der <FAZ> - jeden von einer übergeordneten Idee oder auch nur humaner Anteilnahme befeuerten Versuch, den gegenwärtigen Kurs auf den Abgrund etwas umzulenken, schon als Utopie anschwärzt, dann fordern es schon die guten Manieren, daß man sich im Gegenzug ohne Zögern zum Utopismus bekennt.....

Aber beschreiben wir zunächst diese neue Gestalt des Fortschritts: Wodurch unterscheidet er sich von der bisherigen Praxis und (vor allem) der bisherigen Fortschrittsideologie?

Der erste Schritt dieses Fortschritts: Er erkennt entschlossen die erdgeschichtliche Herkunft des Menschen, seine Kreatürlichkeit an. Und er stellt sich immer vor Augen, daß es innerhalb dieser Kreatür­lichkeit keine Auswege, keine Ablaßsysteme gibt.

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Aus uraltem Erbe haben wir Menschen die hartnäckige Vorstellung übernommen, daß die sogenannte Umwelt, daß die thermo­dynamischen Gesetze, daß die Entropie schon irgendwie zu überreden oder wenigstens zu besänftigen seien; und dazu tritt die schon erwähnte Unfähigkeit unseres Erkenntnis­vermögens, Wirklichkeit außerhalb unserer sinnlichen Daten stets mit der notwendigen Schärfe wahrzunehmen.

Mit dem einfältig-titanischen Menschenbild des neuzeitlichen Humanismus, das uns über Liberalismus und Marxismus hinweg und hindurch noch heute stark bestimmt, ist unter der Fahne dieses Fortschritts Schluß, endgültig. Dabei ist dieser Fortschrittsbegriff alles andere als wissenschaftsfeindlich; im Gegenteil, gerade weil er sich um ständige Einsicht in menschliche Begrenzung bemüht, weiß er, daß er ohne den Vorlauf der Wissenschaft niemals in die Lage gekommen wäre, seine Warnungen und Vorbehalte gegenüber dem technisch verstärkten und beschleun­igten B&S-Programm auch nur wahrzunehmen, geschweige denn zu artikulieren.

Aus unserer Kreatürlichkeit folgt zweitens unabweisbar die Tatsache, daß nur unsere sozialen, nicht aber unsere materiellen Handlungen zurücknehmbar sind. Damit stellt er sich den Paradoxen des gegenwärtig herrschenden Verhältnisses von Lebenswelt und Geist/Seele.

Diese Paradoxe haben sich auf allerlei seltsamen Wegen in unsere Vorstellungs- und Tatenwelt eingeschlichen. In der Regel wird das Christentum für den Hauptschuldigen an der Leib- und Schöpfungs­feindlichkeit gehalten, aber das ist geschichtlich löchrig, ja ungerecht. Die starre Gegen­überstellung von Leib und Seele, wobei die Seele immer als höherwertig, ja in vielen Theorien sogar als Gefangene des Leibes, ihres Kerkers galt, ist aus östlichen Philosophien, aber auch aus dem Platonismus und der Gnosis ins Judentum (das ursprünglich keinen Leib-Seele-Dualismus kannte) und dann ins Christentum eingedrungen.

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Später kam die Unterscheidung des Descartes hinzu: das Ich als die eine denkende Sache, res cogitans, und die übrige rein stoffliche Welt als die res extensa, die lediglich einen bestimmten Raumanteil einnimmt. So lebt denn unsere gesamte Praxis von der völligen Unterwerfung der stofflichen, ja der nichtmenschlichen Welt unter unseren Willen, unsere Vorstellungen, unsere oft ganz nebelhaften Appetitanfälle.

(Ich fürchte allerdings, daß wir, die Botschafter des neuen Fortschritts, es vorläufig nicht viel besser treiben. So erwarb ich vor einigen Jahren ein Rückticket der Lufthansa nach Edinburgh, machte mich also für den Abgasausstoß von etwa 2000 Mittelklassewagen mitverantwortlich, nur damit ich dort vor etwa vierzig Leuten, immerhin sogenannten Multiplikatoren, meine Ansichten und Schlüsse zur ökologischen Weltkrise als einer moralischen Herausforderung darlegen konnte. War das zu rechtfertigen? Wäre es zu rechtfertigen, wenn dort nicht vierzig, sondern vierhundert Multiplikatoren erschienen wären? Habe ich eine große Wende angestoßen? Habe ich den Riesentanker unserer Mordzivilisation einen Millimeter, ja nur einen möglichen Millimeter vom Todeskurs abgebracht? Ein moralisches Mobile von wunderlicher Zerbrechlichkeit ...)

Aber sehen wir von der eigenen Bresthaftigkeit ab.

*detopa-2010 aus Wikipedia: Die Bezeichnung bresthaft bedeutet gebrechlich, kränklich. Sie wurde vor allem in Süddeutschland und Österreich bis in die 1990er für Menschen mit Behinderung verwendet. Sie bezog sich primär auf Menschen mit einer Körperbehinderung, wurde aber auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderung verwendet. Es wurden zum Teil auch alte, sowie kranke und anders gebrechliche Menschen als „bresthaft“ bezeichnet. Da die Bezeichnung als abwertend gilt, wurde sie aus der Gesetzgebung entfernt und durch weniger diskriminierende Formulierungen ersetzt. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist sie aber durchaus in einigen Regionen noch üblich, wenngleich mit abnehmender Tendenz.

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Wenden wir unser Augenmerk den neuen Lichtern, der neuen Beleuchtung zu, in die der neue Fortschritt alles Erfahrbare setzt, es gleichzeitig in Frage stellt und auf gänzlich neue Weise bestätigt! Die Sätze, von denen wir ausgingen, gehören schon zu ihm: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will und deshalb tötet und stirbt.

Der Mensch kann die Krone der Schöpfung bleiben — wenn er weiß, daß er sie nicht ist.

Wir können hinzufügen:

Und schließlich:

Der letzte Vorstoß aber hieße: Tod ist eine Verkehrsform des Lebens.

Wir unternehmen ihn noch nicht. Wir sparen ihn auf für eine Gesamt-Bemühung um die sogenannte Umweltethik, die man um der Klarheit willen Lebens/Todes-Ethik nennen sollte. 

Bevor wir uns diesen Vorstoß leisten, gibt es, beim jetzigen Stand der Gattungsfrage und der Weltgefahr, noch einmal zu prüfen, ob sich nicht die Religion der Machbarkeit, in der wir atmen und leben, zu einer letzten furchtbaren Anstrengung aufraffen könnte, dem Stand der Gefahr mit den ihr vertrauten Mitteln beizukommen. 

Diese Anstrengung wird durchaus erwogen; vorläufig hat sie nur einen englischen Namen: planet management.

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 Die Botschaft des Jahrtausends