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10   Causa Finalis — oder Der Dritte Bund

Amery-1994

 

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Natürlich kann alles schiefgehen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß alles schiefgeht. Unglückspropheten, die es laut und deutlich rufen, gibt es genug. Von denen gibt es zwei Arten — die eine verkörpert durch Kassandra, die alles Unheil voraussah und der niemand glaubte. Es war von den Göttern verhängt, daß sie auf taube Ohren stieß. Wenn also ein konservativer Parteichef* mit sattem Siegesgrinsen verkündet, daß "Kassandra nicht gewählt wird", sollte er sich sein Grinsen lieber von den mächtigen Brauen wischen — Kassandra hatte nämlich recht!

Der andere Typus ist der des alttestamentarischen Unheilspropheten, des Jesaiah, des Jeremiah, des Jonah

Sie sprechen auch von der nahen Katastrophe, sprechen auch im Indikativ der Zukunftsform. Aber (und das ist der entscheidende Unterschied), es ist Sache des bedrohten Volkes und Sache Gottes, umzukehren, zu widerrufen, den Untergang zu vermeiden. Oft fühlt sich der Prophet blamiert, ist sauer auf den Gott der Barmherzigkeit, der an ihm vorbeihandelte (wunderschön ist das erzählt in der Geschichte des Jonah, des Mannes aus dem großen Fisch).

Erinnern Sie sich an den Gott der Abwesenheit, den wir im 6. Kapitel zurückließen? 

Er steht plötzlich vor uns mit gekreuzten Handgelenken und geschloss­enen Fäusten: Schlag drauf, wähle! Wann und wo und wie der Weg* zur engen Pforte abzweigen wird, wenn wir richtig wählen — nicht einmal das wissen wir; Gott bleibt ein verborgener. 

Und wenn wir Ihn fragen, was für einen Sinn Er uns denn anzubieten habe, wird Er schweigen. Denn es ist klar, daß wir als Seine freien Geschöpfe diesen Sinn selbst ableiten, selbst setzen müssen. Die Zweckursache des Daseins der Menschheit, ihre causa finalis,* darf nicht unseren bereits erreichten Einsichten widersprechen, das ist das Wichtigste.

Und zu diesen Einsichten gehört, daß GAIA — und wir mit ihr — in einem Prozeß der autopoiesis, der Selbst­organisation, zum gegenwärtigen Stand der Lebenswelt gelangten; daß die Frage, ob wir im B&S-Programm stecken bleiben oder die eins komma zwei Prozent jenseits davon richtig einsetzen werden, plötzlich nicht mehr nur uns selbst und unsere Gesellschaft, sondern die gesamte Lebenswelt betrifft und angeht.

Es ist die freieste und die furchtbarste Entscheidung, vor der die Menschen je standen.

Aber sie ist gleichzeitig die verhängteste und verhängnisvollste, denn im Zuge unserer verflixten Begabung für den Gruppenselbstmord haben wir uns wie eine Laokoon-Gruppe in einem Knäuel von Schlangen verheddert — allerdings von Schlangen, die wir mit beträchtlichem Stolz selber großgezogen haben.

 * wikipedia  Theo Waigel  *1939, CSU-Vorsitzender von 1988-1999, Finanzminister
    Weg" nochmal überprüfen im Orginal  
    wikipedia   Causa_finalis   die aristotelische Finalursache (auch Zielursache oder Zweckursache).

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Behandeln wir diese Frage, die Frage nach einer möglichen zukünftigen Lebensart, als eine religiöse Frage. Dies ist schon deshalb berechtigt, weil die Menschheit durch Jahrtausende sich selbst und die rätselhafte Welt, in die sie gesetzt ist, mit Hilfe religiöser Mittel gedeutet hat. Und wir sind ja (im Kapitel über den Homo ss) schon auf die erste Stufe dieser Deutungen, dieses Handelns und Wandelns mit den höheren Mächten eingegangen. Worum es in dieser magischen Frühzeit ging, in erster Linie ging, war die Versöhnung der Natur, die Gnade der Fruchtbarkeit und des heilsamen Zusammenlebens, und die Einsichten, die damit zusammenhingen und die sich dadurch auch erweiterten, waren oft erstaunlich korrekt.

(Es ist bei uns Mode geworden, in solchen Zusammenhängen weise Indianerhäuptlinge zu zitieren. Ich empfehle da Vorsicht — man sollte diese Weisen nicht für so dumm halten, daß sie nicht gewußt hätten oder wissen, welche Position im Umgang mit den Bleichgesichtern von Vorteil ist. Aber das nur nebenbei.)

Auf Korrektheit kommt es hier so oder so nicht an. Wichtig sind die Anliegen, die im Mittelpunkt der Gebete und Riten stehen, die Anliegen, die sozusagen die Tagesordnung des religiösen Lebens bildeten. Und die waren die Anliegen des Lebens gegen das Altern und Verkommen und Welken, waren die Anliegen der Syntropie gegen die eisige Strömung der Entropie, die aus dem Kosmos gefährlich eindringt.

 

Nun geschah etwas Entscheidendes, von etwa 1500 bis 550 vor Christus, was das Antlitz der Erde veränderte. (Jaspers hat deshalb von einer "Achsenzeit" gesprochen.) Lange vor jeder exakten Wissenschaft verschob sich das religiöse Interesse. Es ging nicht mehr oder nur mehr in zweiter Linie um die kosmische Krankheit oder Gesundheit, um die Entropie oder die Syntropie der Natur. Man begriff ihre majestätischen Zyklen als unabhängig von unserer Sorge und Aufmerksamkeit. Das Auge der Religion wandte sich dem Menschen und seinen seelischen und gesellschaftlichen Gefährdungen zu — “kosmische” Religiosität wurde von “metakosmischer” abgelöst. Das geschah nicht nur im westeurasischen Raum, sondern in der Gestalt des Gautama Buddha auch im fernen Ostasien.

Selbstverständlich waren und sind die alten Arten der Betrachtung und Verehrung, die Modi des heiligen Handelns in jeder Form nicht von heute auf morgen ausgestorben — ja, sie sind überhaupt nicht ausgestorben. Überall auf der ganzen Welt haben sich Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus-Buddhismus auf alte stämmige Traditionen aufgepropft, denen sie ihre jeweiligen örtlichen Eigenarten verdanken: den bayerischen, den irischen, den italienischen Katholizismus, die griechische, russische, bulgarische Orthodoxie, den anglo-amerikanischen Puritanismus; aber auch den thailändischen Buddhismus und die wunderlich-prachtvollen Feste im Himalaya-Königreich Bhutan. Die alten Anliegen sinken ins sogenannte Brauchtum ab, insbesondere alles, was kosmisch-matriarchalisch ist oder so erfühlt wird.

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Wahrhaft dramatisch verläuft diese Wandlung in unserer jüdisch-christlichen Tradition. Das letzte Naturopfer der alten Art, bei dem es sich um ein kosmisches Anliegen dreht, ist Noahs Brandopfer nach der Sintflut auf dem Berg Ararat, Buch Genesis, 8/9. Es ist natürlich ein Dankopfer für gnadenvolle Rettung, und Gott besiegelt seinerseits einen neuen Pakt mit der Menschheit, den man eine ökologische Stabilitätsgarantie nennen kann: "Bleiben werden von nun an Saat und Ernte ..." — auch und obwohl ausdrücklich gesagt wird, daß des Menschen Herz zum Bösen neige von Jugend an. Von dieser Zeit an geht es nur noch um Gottes Bund mit seinen Erwählten — insbesondere um den glor- und mühereichen Auszug des neugebildeten Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten.

Dieser Exodus, dieser Auszug ist für unsere ganze weitere Geschichte zum Muster geworden. Das Volk Gottes (Abraham, Moses und die Seinen, die ersten Christen, der Prophet Mohammed) löst sich vom Alten. Oft genug geht der Auszug in die Wüste, ins Ungewisse, oft genug in die Verbannung. Immer verweist er auf größere Wunder, die folgen sollen, auf die Annäherung an das Reich Gottes, das sich aus gesellschaftlich-moralischen Lernprozessen ausfaltet und weiterverzweigt. Und immer wieder kommt es zum Aufstand gegen alte starre Riten, säubert sich die Verkündung, das jeweilige Wort Gottes, von entstellenden Schlacken, lehrt die ihren immer aufrechteren Gang (das hat Ernst Bloch wohl ganz richtig beschrieben).

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Christi Ankunft verallgemeinert, universalisiert diesen Pakt. Seine Botschaft greift nicht über den Kreis der jüdischen Volkszugehörigkeit hinaus, er verankert auch das Versprechen der persönlichen Unsterblichkeit als Erstgeborener von den Toten. Das ist das Osterereignis, das sinnträchtig auf zwei anderen Ostern aufruht: dem Gedenken des Exodus, also dem jüdischen Paschah, und den zeitlosen alten Heidengeschichten des Frühlingsfestes mit Eiern und Palmzweigen.

Doch die grundsätzliche Andersartigkeit der jüdisch-christlichen Botschaft brach sich immer machtvoller Bahn, trotz aller heidnischen Überreste, trotz aller Widerstände in der Tiefe der Seelen. Was aber in diesen Tiefen vorging, war nichts anderes als die hartnäckige Verfolgung des B&S-Programms auch mit magischen Mitteln, die Vertrautheit mit alten Nahgöttern und das Mißtrauen gegen die herrschaftlichen Sieger. Es hat Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit immer stärker verloren, wurde abgesunkenes Kulturgut, blieb aber im entscheidenden Punkt unbehelligt: Die metakosmische "obere” Religion überließ und überläßt die unauflösbaren Rätsel des natürlichen Überlebens zunehmend und fortschreitend der alten, animistisch-magischen "Geschäftsordnung" der Tradition und der Tiefenschichten der Seelen.

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Dies ändert sich erst durch den letzten, wahrhaft logischen Schritt: die Befreiung von der kosmischen wie der metakosmischen Religiosität, die wissenschaftliche Aufklärung, ihre Anwendung auf die Technik und auf die Dinge des täglichen Lebens. Man spricht in solchem Zusammenhang von "Säkularisierung", Verweltlichung; aber was da säkularisiert wird, ist zunächst nichts anderes als eine Erkenntnis- und Handlungsform, die selbst eine Emanzipation von der alten kosmischen Überlebensreligiosität gewesen war.

Fassen wir diese zutiefst dialektische Entwicklung genauer ins Auge!  

 

Die jüdisch-christlich-muslimische Überlieferung hatte sich von der alten kosmischen gelöst, und sie hatte vor allem etwas als Erlösungslehre verkündet, was den großen Unterschied ausmachte: eine eigene Heilsgeschichte. Diese Geschichte der Befreiung durch die Gnade Gottes, des Auszugs aus den jeweiligen Sklavenhäusern, des endgültigen Triumphes über den Tod war keine reine Überlebensgeschichte mehr; vielmehr wurde verkündet, daß nicht nur das Überleben, sondern der endgültige Sieg bereits gesichert, daß der Durchlauf durch die letzten irdischen Stationen der alten Todesherrschaft mit dem Anbruch eines ewigen Heils, der strahlenden Enthüllung der Stadt Gottes enden würde, enden mußte.

Nun, der letzte Schritt in die Weltlichkeit schien den Aufklärern zunächst nichts anderes als der Abschied vom "Aberglauben" zu sein; und das hieß für die meisten von ihnen: Abschied auch von den alten, orthodoxen Formen der Metaphysik, des Denkens und Redens über jede Überwelt schlechthin.

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Was sie zunächst gar nicht merkten, nicht merken konnten: Sie gaben damit dem freie Bahn, was in den alten Kulturen, von den steinzeitlich-magischen bis zu den Ein-Gott-Kulturen des Abendlandes als Sinnsuche für das blinde B&S-Programm und als wenigstens teilweise Kontrolle dieses Programms versucht und (teilweise) verwirklicht worden war.

Mit anderen Worten: Seit dem Triumph der rein diesseitigen Aufklärungstheorien und -Praktiken war nichts mehr da, was den siegreichen Zug der Lemminge ins Meer noch wirksam aufhalten oder wenigstens kritisieren konnte.

Die Geistes- und Sozialgeschichte unserer europäisch-atlantischen Welt ist seitdem von Ratlosigkeiten erfüllt. Und die Kirchen, die Bekenntnisse sind voll in diese Ratlosigkeit einbezogen. Aus einem uralten Priesterinstinkt heraus waren sie zunächst meist selber Kritiker dieser Entwicklung, waren sich darin einig mit den Interessen des Feudalismus, später des gesättigten Bürgertums — kurz, mit all denen, welchen die Entwicklung einfach zu schnell verlief. Was jedoch vor dem Hintergrund der Lehre und der Erfolgs­geschichte von Jahrtausenden nicht zu leugnen war: Schon durch den Aufstieg der metakosmischen Religiosität war der Umgang mit der sogenannten Umwelt, lies: der Lebenswelt und ihren Ressourcen in der Praxis freigegeben.

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Und nicht nur in der Praxis. Es ist ja wohl nicht zu leugnen, daß in den sechziger Jahren, in der Zeit, als unter anderem die Debatte mit den denkenden Marxisten blühte, zahlreiche Theologen und Ideologen gerade darin, in dem, was sie die "Hominisierung" des Planeten nannten, eine Gesprächsplattform aus fortschrittlichen Planken für die Zukunft erblickten.

(Das wird heute schon wieder tunlichst verdrängt, die "Bewahrung der Schöpfung" ist in. Aber die Protokolle der Paulusgesellschaft, die Gesprächs­protokolle von Karlsbad und Marienbad liegen vor, zumindest in den Antiquariaten....)

 

Und nun ereignete sich in diesem Jahrhundert das, was wir als sein wichtigstes Merkmal erkannt haben: das unabweisliche Eindringen der Gattungsfrage ins öffentliche Bewußtsein. Damit ändern sich die Voraus­setz­ungen nicht nur des profanen Denkens, sondern vor allem auch der Religionen gründlich und vollständig.

Die nichtmenschliche Welt bis tief hinab in die Welt der Rohstoffe und Ressourcen tritt plötzlich und sozusagen überfallartig auch ins religiöse Bewußtsein. Das Leben in seinen bisherigen Formen und vor allem das Überleben der Menschheit steht als solches auf dem Spiel. Das ist die ungeheuerliche Unheils­geschichte, das Dysangelium, die schlimme Botschaft, die heute im Hinterkopf jedes Zeitgenossen bohrt, ob er sich das bewußt macht oder nicht. Dies ist die Drohung mit Letzten Dingen, mit einer Apokalyptik und Eschatologie, die sich grundlegend von denen unterscheidet, die wir in einer jüdisch-christ­lichen Erziehung erfuhren.

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Schwierigste Folgefragen ergeben sich: Ist Hiroshima nicht konkreter als die Hölle, Tschernobyl nicht realer, vor allem aber genauer definierbar als das Fegefeuer? Ist die Erbsünde nicht in Wahrheit eine Erblast — die Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens und die stete Wiederholung des Versuchs, sie mit unzureichenden Mitteln und Deutungen zu überlisten? Und was ist das Gericht? Was sind seine Kriterien und Paragraphen? Wird es uns nur den anerzogenen Beichtspiegel abfragen — oder werden in seiner Jury vielleicht die Delphine und Wale, die Robben und Nashörner sitzen, die wir ausrotten oder ausgerottet haben?

 

Nun, es gibt eine Art von Gläubigen, denen diese Fragen gleichgültig sind: die Fundamentalisten jeder Spielart. Ob Krieger Allahs oder protestantische Sektierer, ob Scientologen oder katholische Engelwerker: Ihre Glaubens- und Lebenssysteme sind in sich geschlossen, in sich logisch wie alle paranoiden Systeme, man geht einfach hinein und haut die Tür hinter sich zu. Was soll's, wenn uns die Trümmer der Welt um die Ohren fliegen?

Es gibt eine amerikanische Sekte, die fest davon überzeugt ist, daß die kleine Minderheit der Bekehrten in einer Weltsekunde — ja, im Bruchteil einer Weltsekunde von Gott auf einen fernen wunder­schönen Planeten entrückt wird, während der unsere explodiert oder implodiert. Sie vergibt oder verkauft Autoaufkleber, auf denen zu lesen steht:

"In case of rapture, this car will be empty" "Im Fall der Entrückung wird dieser Wagen leer sein".

 

          

    

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Jeder Fundamentalismus ist im Grunde ein System der Entrückung, ein System, das durch keine Lebens- oder Schöpfungs­kausalität mit der tatsächlichen Welt verbunden ist. Die Welt ist Schein und Schall und Rauch, und wir werden einzig und allein nach den Kriterien gerichtet werden, die dem jeweiligen fundament­alistischen Credo entsprechen. (Übersehen wir nicht, daß dies auch für den wichtigsten Fundamentalismus von allen gilt: die derzeit herrschende Wirtschaftsreligion. Ihre Frohbotschaft, die Volkswirt­schaftslehre, wird als geschlossenes System ohne wesentliche Berücksichtigung der Lebenswelt gelehrt.)

Nun, geben wir's zu: 

Ein solches Parallelweltschema war bis vor ganz kurzer Zeit Allgemeinglaube der Christen­heit. Die Großkirchen, die keine Sekten werden wollten, haben es Stück um Stück zurück­genommen, haben die letzten Reste naiver kosmischer Verbundenheit verschwinden lassen oder abstrahiert, haben Heil und Heilsgeschichte immer innerlicher definiert, als Seelenheil und Seelen­geschichte, während die Geschäfte dieser Welt von Christen und Nichtchristen immer ununterscheid­barer betrieben wurden.

Und die Geschäfte dieser Welt sind die Geschäfte der Bierhefe, die blind und hartnäckig alles Genießbare ringsum auffrißt, um folgerichtig an den eigenen Exkrementen zu ersticken. So erging und ergeht es auch den anaeroben Bakterien, die unsere Atmosphäre schufen — wir zollen ihnen dafür selten den schuldigen Dank, aber vielleicht haben sie demnächst, wenn uns die Kontrolle über das B&S-Programm nicht gelingt, wieder ihre Chance.....

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Jedenfalls erklärt das die gegenwärtige Zwickmühle der Kirchen. Während die Fundamentalisten gedeihen wie der grüne Lorbeer, weil die Zeitgenossen die Wahrheiten des Dysangeliums einfach nicht aushalten und lieber in geschlossene Treibhäuser einziehen, werden die Gestalten und Bezüge der sogenannten Heilsgeschichte in unseren Herzen und Hirnen blasser und blasser, haben weniger und weniger Kraft, den steten Hunger der Menschheit nach dem Sinn, nach einer möglichen Bestimmung zu befriedigen.

Nun, jetzt stellen sich zwei Fragen.

Erstens: Gibt es eine Form der Religiosität, die den neuen Einsichten der Lebenswissenschaft standzuhalten, ja sie zu ergänzen und zu bereichern vermag? Und —
zweitens: Brauchen wir eine solche Religion oder Religiosität überhaupt? Ist es nicht ökonomischer und sinnvoller, alle anstehenden Gefahren und Möglichkeiten aus der ehrlichen Weltlichkeit heraus anzugehen?

Erinnern wir uns, warum im Zug unserer Überlegungen die Frage nach der Religion überhaupt aufgetaucht ist! Eine Kultur oder vielmehr Kulturen schienen uns lebensnotwendig, die eine nachhaltige Zukunft bereiten könnten und sollten; eine Zukunft nicht in kreatürlicher Dumpfheit und Angst, nicht in mehr oder weniger zorniger Unterwerfung unter eine Ökodiktatur oder ein eitel-zynisches planetarisches Management, eine oder mehrere Kulturen ohne Verzicht auf die Souveränität des Menschen, auf die in Jahrtausenden der Kulturentwicklung errungene Vielfalt der Möglichkeiten und die innere Ausweitung unserer Grenzen und Gerüste.

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Diese Möglichkeiten werden von der Wissenschaft auf dem Weg des Ausschlusses definiert; sie macht es uns immer klarer, was wir uns in Zukunft noch leisten können und was nicht. Aber Sinnbestimmung ist nicht ihre Sache, darf es nicht sein. Eine solche kann sich der Mensch nur auf dem Weg der Philosophie beziehungsweise der Theologie geben. Die Frage lautet also: Welche Bestimmung, welche causa finalis, vermag der Mensch, vermögen wir aus den strengen Voraussetzungen unserer jüngsten Einsicht abzuleiten? Welche Eigenschaften muß sie haben, um ihnen gerecht zu werden?

 

Zunächst und vor allem: Mit allen Sorten von Ablaßwesen muß es vorbei sein. Die Ursachen und Folgen, die Rückkopplungen von Ursachen und Folgen, die unsere Lebenswelt beherrschen, lassen sich nicht durch Handelschaften mit außerirdischen Instanzen verändern. Keine Verbeugung in Richtung Rom wird die Halbwertszeiten des Plutoniums verkürzen; keine nach Mekka wird das Ozonloch schrumpfen lassen: Hier sind wir in eine Verantwortung gerufen, welche sich weder durch freundliche Einladungen in christliche Akademien noch durch Hirtenworte wegeskamotieren läßt. Das Wort "Schuld" gewinnt in solchem Zusammenhang seine rein wissenschaftliche Bedeutung zurück: Bezeichnung eines Auslöse­vorgangs. Und kein neg-entropischer Weg führt auf dem Zeitpfeil zurück.

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Ebenso wichtig, vielmehr noch wichtiger ist die Einsicht in die Kreatürlichkeit unserer Erkenntnis. Wir sagten es: Erbsünde soll und muß uns zur Erblast werden; zu der offensichtlichen Last unserer Grenzen, wenn es um den Blick auf die volle Wahrheit geht.

Aber Religion beginnt erst da, wo solche Einsichten in Schuld und Last nicht mehr als Minderung, sondern als Mehrung unserer Menschlichkeit empfunden werden; wo sie uns, mit anderen Worten, eine Souveränität geben, die unter der alten Todespanik des B&S-Programms nie und nimmer zu erreichen ist. Das Wissen, daß man nicht Krone der Schöpfung ist, aber auch das Wissen, daß man eben wegen dieses Wissens sich von allen anderen Lebenswesen unterscheidet, ist der unerhörte Kreuzungspunkt von Souveränität und Demut, der der zeiträumliche Ort künftiger Religiosität sein muß.

Straf- und Lohnsysteme über die Ursächlichkeit des Lebendigen hinaus gibt es nicht mehr, braucht sie nicht zu geben. Der Spruch des Gerichts ergeht so oder so, zum Guten oder zum Schlimmen, nach dem Gelingen oder Nicht-Gelingen eines wahrhaft menschlichen, das heißt über B&S hinausgehenden Programms. Im übrigen waren den wirklichen religiösen Begabungen Fragen von Lohn und Strafe ohnehin immer gleichgültig, ja verdächtig.

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Und jetzt kommt natürlich die entscheidende Frage: 

Sind in der Geschichte unserer Art irgendwo Anzeichen dafür zu finden, daß eine solche Religiosität, das heißt eine solche anthropologische Möglich­keit besteht? Oder sind wir hoffnungslos überfragt?

Das sind zwei Fragen, die nicht notwendigerweise etwas miteinander zu tun haben. Die Antwort auf die erste lautet Ja. Es gab und gibt auf der ganzen Welt Menschen, welche die von uns formulierten Bedingungen in sich vereinigen. Menschen von fast völliger Unabhängigkeit vom B&S-Programm, die ihre scheinbar so schwierige Existenz als Reichtum, als fast unendliche Ausweitung ihrer Souveränität empfanden. Man nennt sie Heilige.

Entkleiden wir das Wort jeglicher amtlichen Definition, des ganzen Krimskrams von der Ehre der Altäre, dem Weihrauch, den gewirkten Wundern und so fort. Vergessen wir die Differenzen in der Kultur, in den Doktrinen, in den jeweiligen Wegen der Spiritualität. Die Heiligen, um die es hier geht, leben in Himalaya-Klöstern und in Indianer-Schwitzhütten, in christlichen und jüdischen Kulturen, in den Traditionen der islamischen Mystiker. Was sie eint, sind die ganz strengen Kriterien, die wir als Voraussetzung für eine Religiosität der Zukunft aufgelistet haben. Diese Heiligen waren und sind keine Übermenschen; im Gegenteil, das "Übermenschen"-Ideal etwa der Moderne ist im Vergleich zu ihnen lächerlich tierisch, nichts als ein überhöhtes B&S-Programm, eine Modellfigur des dümmlichen Eroberers, der in der Sinkgrube seiner eigenen Energieabsonderungen zu ersticken bestimmt ist.

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Diese Heiligen sind Zielvorstellungen für unsere Zukunftsreligion. Und es ist zunächst nicht zu erwarten, daß sie die vorhandenen Gemeinschaften abschaffen werden. "Abschaffen" war noch nie im Sinne der großen Stifter. Es wird vielmehr darum gehen, auf dem Felsgrund eines einzigen Glaubensartikels, eben des Wissens um den notwendigen Weg zur Pforte der Freiheit, des Weges des großen Freiheitsgewinns aus dem großen Abschied vom B&S-Programm, einen neuen Bund, einen Bund für alle zu errichten, die von Mittag und Mitternacht, von Aufgang und Niedergang kommen, um den wirklichen, den entscheidenden Sieg über den Tod zu erringen: den Sieg, der aus der Gelassenheit, aus der Einsicht in seine Notwendigkeit als Verkehrsform des Lebens entsteht.

 

Dies wäre, in aller Nüchternheit, der dritte Bund, von dem durch die ganze Christenheits­geschichte hartnäckig die Rede war: das Reich des Heiligen Geistes. Er wird, im Doppelsinn zwischen Bibel und Jargon, alle vorhandenen Lehr- und Leerschläuche reichlich alt erscheinen lassen. Betonen wir es nochmals: Es wäre töricht von dieser Eidgenossenschaft, sich in Grabenkämpfe mit existierenden heiligen Büros zu verstricken. Ihre heiligen Texte liegen in Fülle vor: bei den Mystikern, in den Logien Jesu, im Sonnengesang des Franz von Assisi.

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Ob einzelne Eidgenossen an ein Leben nach dem Tod im herkömmlichen Sinne glauben; ob sie, wie die Meister des Dau oder des ZEN, Gottesrede von vornherein leer und taub finden; ob sie ihre Suche nach Reinheit noch in den alten Formen der traditionellen Gesellschaften vollziehen — was sie einen muß, ist der Dritte Bund, der Covenant of the Spirit. Dies, soviel ist klar, kann nur eine erste, allererste Überlegung sein.

Nun zur zweiten Frage: Brauchen wir überhaupt dergleichen? Ist nicht die Ehrlichkeit einer ganz anderen Internationale wichtiger und entscheidender: das universale Gefühl der äußersten Dringlichkeit der Rettung?

In der zweiten Form der Frage steckt meines Erachtens schon die Antwort. Theoretisch ist es sicher möglich, daß die Mensch­heit oder doch ihre gestaltenden Mitglieder zu korrekten Entscheidungen über den einzuschlagenden Weg aus der Misere des B&S kommen. Was dabei so schwierig ist, das ist die Tatsache, daß innerhalb der menschlichen Gesellschaft solche Entscheidungen immer einer mächtigen Zustimmung bedürfen. (Selbst in Diktaturen ist das der Fall, man täusche sich da nicht.) Und solche Entscheidungen werden in aller Regel als Kompromisse erarbeitet.

Nun ist aber die Natur, ist die GAIA nicht kompromißfähig. Ihre Wahrheiten unterliegen weder Abstimm­ungen noch obrig­keitlichen Dekreten. Im ganz buchstäblichen Sinn verlangt sie: Vogel friß oder stirb. Es gibt in der Geschichte keinerlei Anzeichen dafür, daß solche Annahme der Naturwahrheit anders als durch einen großen kulturellen Konsens zustandekommen kann.

Und gerade dann, wenn wir uns eine Vielfalt von künftigen Kulturen der Nachhaltigkeit wünschen, ist das überwölbende Dach einer gemeinsamen Religiosität von höchster Wirksamkeit. Und es ist gleichzeitig — übersehen wir das nicht! — eine der wirksamsten, vielleicht die einzig wirksame Sperre gegen die große und schlüssige Barbarei, die als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts nicht wegzuleugnen ist.

Wie wahrscheinlich ist das alles? 
Sind die Menschen imstande, über diese hohe Meßlatte, durch dieses enge Nadelöhr zu kommen? 

Ich weiß es natürlich nicht, das sagte ich schon. Das Gericht im Geist des Dritten Bundes wird in nichts anderem bestehen als im Erreichen oder Nicht-Erreichen, im Durch­kommen oder im Nicht-Durchkommen. Es ist dieses Erreichen bzw. Durchkommen, das zeigen wird, ob sich die Evolution mit uns etwas Lebensunfähiges geleistet hat oder nicht.

Vorläufig jedoch: 

Auf diesem Abschnitt der Wüstenwanderung, auf der wir uns dahinschleppen, ungetröstet in voller Absicht durch die Lappalien des Zivilisations­betriebs, rechts und links begleitet von den Skeletten und dem Schrott der Barbarei, blicken wir empor und gewahren die gekreuzten, zu Fäusten geschlossenen Hände des abwesenden Gottes: Wählt.

Das ist die Botschaft des Jahrtausends.

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Ende

 

 

 

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Die Botschaft des Jahrtausends