Versöhnung und salvierende Formel - Religiosität und die biosphärische Problematik
Graduiertenkolleg Bonn, 22.11.1996
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Die Problematik, mit der wir uns hier zu befassen haben, ist so komplex und verwirrend wie die Labyrinthe der Brust, von denen der Dichter spricht, wie auch die Labyrinthe, in denen sich die Menschheit seit der Morgendämmerung der Kulturgeschichte zurechtzufinden versucht. Die Geschichts-Sekunde, die mir jetzt zur Verfügung steht, erlaubt da nicht mehr als ein paar flüchtige Akzente. Ich habe sie im Titel des Vortrags zu fixieren versucht. Hoffen Sie bitte mit mir, daß uns einige Verdeutlichungen gelingen werden!
Die biosphärische Problematik begleitet die Kulturgeschichte der Menschheit natürlich von Anbeginn — ja, in einem gewissen Sinne ist die Kulturgeschichte diese Problematik selbst, jedenfalls bis zum Ende der sogenannten traditionellen Gesellschaften. In dieser Urtradition, die viel unmittelbarer von den Wirklichkeiten der menschlichen Lebenswelt umringt war als wir Kinder von Hochkulturen, wurden gemeinschaftliche Bewußtseinszustände und Regelwerke des Benehmens in uns eingewurzelt, denen wir (dem ursprünglich arterhaltenden, da energiesparenden Schema der unbewußten und vorbewußten Reflexhandlung gehorsam) noch heute in großem, ja überreichlichem Maße unterliegen.
Aber ich greife vor ...
Der Moment, den viele Religionswissenschaftler als den religious event schlechthin sehen, ist der Moment des Gewahrwerdens von Organisation und Desorganisation in der Lebenswelt, von Entropie und Syntropie, um es naturwissenschaftlich zu sagen. Da stehen Tod, Verfall und Zerstörung an, ereignen sich ständig — aber sie werden aufgewogen durch Geburt, Verjüngung, das Wachsen von Komplexität und Organisation in und mit der Natur. Da wird die Sonne müde, Blätter welken und fallen, der Frost sinkt herab; Menschen werden von Alter, Krankheit und Sterben gefällt; Metall verrostet, Holz verfault, soziale Bindungen sind bedroht und lösen sich auf.
Aber dagegen stehen die Kräfte der Syntropie, welche das einmalige Kennzeichen, ja die Strategie des Lebens ist: Kinder werden geboren, mit jedem Frühling springt und sprießt Natur von neuem, die Sonne hat frische Kräfte gesammelt. Und selbst so bedrohliche Himmelszeichen wie Sonnen- und Mondfinsternisse werden vom Prinzip des Lebens überwunden, soziale Bindungen können neu geknüpft, können erweitert und gesichert werden.
Und nun entwickelt sich Religion als ein System von Überzeugungen, Gefühlen und Tätigkeiten, mit dem der Mensch den Kräften des Lebens, der Verjüngung, der Ordnung, letzten Endes der Autopoiesis der Evolution zuhilfekommt — und mit dem er gegen die Mächte der Auflösung und des Todes kämpft. Frühlingsriten sichern die Wiedergeburt der Pflanzenwelt; der Magier-König, der jeden Morgen auf dem Berggipfel betet, hilft (wie die Natchez-Indianer glaubten) der Sonne beim Aufgehen; Passage-Riten helfen dem Menschen, die Gefahren des sozialen Übergangs zu bewältigen oder doch zu minimieren; Zaubertrommeln helfen Sonne und Mond im Kampf gegen die Drachen der Finsternis.
Man hat diese Religiosität animistisch genannt — das Adjektiv beschreibt jedenfalls ihren immensen Respekt für alles Lebendige, aber gleichzeitig die anthropomorphe Interpretation aller Wirklichkeit und des sich daraus ergebenden magischen modus operandi. Animismus (oder, um einen neueren Ausdruck zu gebrauchen, kosmische Religiosität) setzt nicht nur einen umfassenden Schöpfungs-Sinn voraus, sondern auch die Möglichkeit der Kommunikation, des Verkehrs, ja des Handels mit den Mächten dieser Schöpfung.
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Dabei wurden tiefe Einblicke und Einsichten ins universale Netzwerk erworben; doch auch wenn sie uns noch heute tief beeindrucken: trennen uns nicht dennoch Jahrhunderte und Jahrtausende von ihrem rituellen und magischen modus operandi?
Kurz und deutlich: das ist zu bezweifeln. Die Realität, die schon erwähnt wurde — die Realität der uralten unbewußten und vorbewußten Reflexe, hat sich bestimmt noch nicht verabschiedet — jedenfalls nicht vollständig. Sie hat sich verwandelt, gewiß; aber im Kern birgt sie noch das gleiche Grundvertrauen: das Vertrauen vom möglichen sozialen Umgang mit dem nichtmenschlichen Mächtigen.
Setzen wir hier mit einer Geschichte an — einer Geschichte aus diesem Jahrhundert und aus unserem Kulturkreis.
Einer meiner englischen Lieblingsautoren, Gilbert Keith Chesterton, debattierte in einer Londoner Meeting Hall mit einem Fabier, also einem ziemlich radikalen Kathedersozialisten, über die Begriffe, ja die Möglichkeit von Sühne und Vergebung. Der progressive Gesprächspartner erklärte sie für bedeutungslos; er wies auf eines der großen Fenster der Halle und meinte: wenn ein Rowdy von außen einen Stein durch die Scheibe werfen sollte, so wäre sie unwiederbringlich in Scherben, und keine Vergebung könnte sie wiederherstellen.
Chesterton widersprach lebhaft. Er behauptete, die Behebung des Schadens hinge ausschließlich vom Verhalten des Hausbesitzers ab. Sei erst eine neue Scheibe eingesetzt, sei der alte Zustand der Ordnung wiederhergestellt — besonders dann, wenn der Besitzer dem Täter auch noch vergebe. Die Gesellschaft hätte dann keineswegs gelitten, im Gegenteil: durch einen solchen Akt der Großmut würde sie insgesamt verbessert, wäre einen Zoll weiter in Richtung auf Ordnung und Erlösung und weg vom Chaos gerückt.
wikipedia G._K._Chesterton 1874-1936
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Chesterton gibt hier sehr schön den religionsgeschichtlichen Fortschritt wieder, der mit der Universalisierung von Vergebung und Erlösung stattgefunden hat. Diese Universalisierung, die man als die Universalisierung der jüdisch-prophetischen Ethik durch das Christentum definieren kann, ist das langfristige geschichtliche Ergebnis jener Achsenzeit der Menschheit, etwa zwischen 1500 und 500 v.Chr., welche die allmähliche Loslösung des religiösen Denkens und Fühlens vom Kosmisch-Animistischen vollzog. Es verschob sich gewissermaßen die Geschäftsordnung der Religiosität: ins Zentrum rückte das Bemühen um soziale Synergie und persönliches Heil, und die nichtmenschliche Lebens- und Dingwelt wurde zwar nicht profaniert, man gestand ihr aber ein beträchtliches Maß an Selbstlauf zu.
Das einleuchtendste biblische Dokument dafür ist sicher die Geschichte von Noahs Landung auf dem Ararat in Genesis VIII/IX und seinem Dankopfer — eigentlich dem letzten naturreligiösen Akt in der ganzen Bibel. Gott sichert, obwohl er ausdrücklich die immanente Bosheit des Menschen betont, in alle Zukunft ökologische Stabilität zu — »Bleiben werden Saat und Ernte, das Zittern der Tiere« vor der Mordabsicht des Jägers. Von nun an hat Religion eine andere Geschäftsordnung ...
Sicher, die alte Naturreligiosität starb nicht so schnell, oft bildete sie den alten Wildstamm, auf den die neue Botschaft aufgepropft wurde. Nach wie vor beteten die Bauern um gutes Wetter, und fast bis in unsere Tage behielten sie auch die eine oder andere magische Praktik bei — aber im Mittelpunkt der neuen Hochreligionen stand und steht nicht mehr das alte Erleben von Entropie und Syntropie, der stetig wiederkehrende Regelkreis der lebendigen Welt, sondern das historische Ereignis — der Exodus, die Erleuchtung des Stifters unter dem Baum oder in der Wüstenhöhle, sein Opfertod für unser aller Heil. Und die religiöse Wahrnehmung war nun den Kategorien zugeordnet, welche der oder die Stifter in ihrer Botschaft artikuliert hatten.
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Dennoch überdauerten Begriff und Praxis der Versöhnung den gefahrvollen Übergang von der kosmischen zur metakosmischen Religiosität. Versöhnung, Sühne: gerade dem vorgeschichtlich erwachenden menschlichen Bewußtsein mochte sie als unausweichlich erscheinen, denn was immer er der Erde, der lebendigen Welt entriß, um sein Dasein zu fristen, hatte ja seinerseits Recht auf Leben, war seinerseits darauf angewiesen, mit den unsichtbaren Mächten auszukommen, die ihm Leben gewährten — verfügte wohl auch über eigene Seelen-Macht, die sich bei allzu gierigem Griff in ihr Daseinsrecht feindselig gegen den Frevler richten mochte. Man konnte den Geist aller Kaninchen beleidigen, oder den Geist des Waldes beziehungsweise einer einzelnen Baumart; und man tat gut daran, sich mit all diesen Mächten gut zu stellen, wenn man sich und den Seinen Lebensrecht erhalten wollte.
Staunenswert sind die Praktiken, die zum Zweck solcher Versöhnung angewendet wurden. Da gab es die >Unschuldskomödie<: man brauchte einen Baum für ein neues Langhaus, fürchtete sich aber vor seinem Zorn, wenn man ihn fällte — und so erzählte man ihm während dieses peinlichen Vorgangs, daß man ihn zu einem besonders schönen Fest ins Dorf mitnehmen, ihn dafür transportabel machen wolle.
Am deutlichsten, ja am ergreifendsten manifestieren sich solche Ausflüchte in der alten Bären-Religion, die sich von der Ostsee über Europa, Asien und die Beringstraße bis in die indianischen Jägerkulturen erstreckte. Bei den Ainus in Nordjapan, die sich junge Bären eigens zu Opfer und Fest großzogen, funktionierte die Unschuldskomödie beziehungsweise der fromme Schwindel: man erzählte dem Bären, ehe man ihn tötete, daß man ihn zu den fernen Ahnen über die Berge senden werde.
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In der Regel aber ist der Ritus nach der erfolgreichen Bärenjagd eine ehrliche Apologie, ein Eingeständnis der unausweichlichen Versündigung am fremden Leben. So etwa bei den Eismeer-Samojeden auf russischem Territorium, die noch heute nur eine ungefähre Ahnung vom Vorhandensein einer fernen Staatsmacht haben. Ihr Entschuldigungsfest nach dem Erlegen des Bären dauert etwa eine Woche. (Mein Gewährsmann, der ein solches Fest selbst in den Sechziger- oder Siebzigerjahren dieses Jahrhunderts mitgemacht und geschildert hat, ist Lennart Meri, ein estnischer Journalist und später der erste Staatspräsident des selbständigen Estland.) Bei den Lakotas, die wir Sioux nennen, küßte die älteste Großmutter des Stammes unter Tränen das blutige abgetrennte Bären-Haupt und erklärte ihm feierlich, daß sein Tod für das Weiterleben des Stammes unbedingt notwendig war.
Solche Apologie kann sich zur Sühne erweitern. So war der Maya-Jäger gehalten, sich die Zunge oder den Penis zu durchbohren, wenn er vor dem erlegten Wild stand. Ein neues, aber auch archaisches Motiv der Versöhnungs-Praxis: das Talionsprinzip, angewendet auf den Umgang mit der beleidigten Natur — das schmerzvolle Blutopfer als Entgelt in einem sacrum commercium. Schmerz als Entgelt: das durchschlingt fast alle Modi der Kommunikation mit der seelen-erfüllten Lebenswelt — und später mit den Überirdischen. Das blutige Opfer der Erstgeburt; welch ein unentrinnbares Gefühl des Ausgeliefertseins an möglichen himmlischen Zorn setzt es voraus! Welche Entschlossenheit, mit allen, auch den schmerzvollsten Mitteln die Versöhnung anzustreben!
Gern nimmt man dergleichen bestimmt nicht auf sich — und so tauchen bald die verschiedensten Methoden der Substitution, des Ersatzes auf; das commercium wird wieder und wieder zum Schauspiel, ja zur Komödie. Ergreifendes Spiel etwa zwischen Jahwe, Abraham und Isaak: was Gott da einfordert, ist zunächst Gehorsam buchstäblich bis zum Tode, aber gleichzeitig leitet Er selbst die Substitution ein, gestattet das Tier- statt des Erstgeburts-Opfers. Nachlaß, Ablaß wird möglich und sichtbar.
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Und er tritt ein in die nächste Phase, die man schon eine vortheologische nennen könnte: das Opfertier wird zum rein symbolischen Entgelt. Man wickelt etwa das Gedärm und sonstiges Ungenießbare in die abgezogene Haut und wirft diese Opfer-Maskerade ins heilige Feuer, erfreut sich selbst am Wohlgeschmack des Restes; wohl wissend oder ahnend, daß der Gott oder die Götter zwar dergleichen durchschauen, aber in ihrer Gnade das Wertlosere als Ehrfurchtszeichen gelten lassen und die Mahlgemeinschaft mit den Menschen billigen — jedenfalls haben sie noch nie vernehmlich dagegen protestiert. (Sicher, gelegentlich tun sie's scheinbar doch. So hat Karthago in Zeiten nationaler Katastrophe das ursprüngliche Opfer der Erstgeborenen im glühenden Bauche des Baal wiederhergestellt — als politische Konzession an das Volk, das gerade den Reichen und Mächtigen listige Umgehung der schmerzvollen Pflicht vorwarf.)
Der Animismus freilich war um diese Zeit längst dahin; was an Versöhnung mit der Natur noch zu leisten war, geschah nun auf dem Umweg über eine Gottheit — in der Regel über die zuständige Gottheit, in der Regel eine weibliche. Die Götter waren angekommen, hatten die tausend Augen der Lebenswelt, die der Animist stets in einiger Panik auf sich ruhen spürte, in ihre eigene Güte und ihren eigenen Schrecken zusammengefaßt, waren die Sprachrohre der Welterklärung geworden, stellten Ordnung her im Rauschen der sich überlappenden, widersprüchlichen Erfahrungen des Herzens und der Sinne. Nun wurden Sterne und Schafslebern professionell gedeutet, die Mythen wurden komplizierter, und Theologie entstand, wenn auch heidnische.
Aber auch diesen Prozeß sollte man nicht zu abrupt sehen; schon die Schamanen waren Experten in ihrem Bereich, mit geheimnisvollen Erfahrungen, die interpretiert sein wollten. Und vor allem kannten sich die Schamanen mit dem aus, was schon im Kulturkreis des Animismus manchmal unentbehrlich ist oder scheint: der salvierenden Formel.
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Folgende Geschichte erzählte der Indianerbeauftragte der kolumbianischen Regierung, der eben noch, auf einer ökologischen Konferenz in Cornwall, die überaus gut an seine Lebensverhältnisse angepaßte religiöse Praxis eines Urwaldstammes geschildert und gepriesen hatte: man setzte ihm, den geehrten Gast, einen schmackhaften Fisch, eine Salvaletta vor. Der Gast wußte genau, daß diese Fischart zur Zeit durch ein strenges Tabu gesperrt war, und er lehnte ab, schon aus Höflichkeit. Doch der örtliche Schamane beruhigte ihn: er, der Schamane, verfüge über einen Zauberspruch, der stark genug sei, die Sanktionen des Tabus aufzuheben.
Das ist nun, recht betrachtet, eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Offensichtlich hatte der Fisch unserem Gewährsmann nicht geschadet. Das war vielleicht gar nicht zu erwarten, wenn das Tabu korrekt, nämlich ökologisch begründet war. Es gab jedoch in den vielen Ausfaltungen des Tabu-Systems auch jede Menge totemistischer, esoterischer, letzten Endes lebensfeindlicher Verbote, mit denen kaum mehr zu leben war. Vielleicht gehört dazu auch das Salvaletta-Tabu, und der Schamane wußte das. Aber wahrscheinlich setzt man bei solcher Annahme schon einen okzidentalen, metakosmischen Wissensbegriff voraus. So oder so: ein Zauberspruch, eine salvierende Formel war nötig, um das Tabu gefahrlos zu umgehen.
Noch komplexer, ja fast künstlerisch ist ein Beispiel aus Australien. Viele der Aborigines-Stämme haben derart abgenommen, daß die alten, ungeheuer verwickelten Endo- und Exogamie-Regeln schlechthin nicht mehr einzuhalten sind. Der Stamm würde in kürzester Zeit aussterben, wenn sie alle befolgt würden — aber noch ist der Respekt vor den Ahnen, die das Netzwerk der Regeln woben, zu fest verwurzelt, als daß man sie einfach aufgeben und zerreißen würde.
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Was tun also zwei junge Menschen, die zum Lebensbund entschlossen sind?
Nun, in einem Fluß, der zum Territorium des Stammes gehört, gibt es eine kleine, unbewohnte Insel, die als das Reich der Toten gilt. Dorthin brennen die beiden durch, mit genug Lebensmitteln, um ein paar Wochen in der Einsamkeit überstehen zu können. Nach diesen Flitterwochen kehren sie Hand in Hand zur Siedlung des Stammes zurück, der sie zunächst mit allen Zeichen des Entsetzens als Heimgekehrte aus dem Totenreich abwehrt, aber schließlich doch aufnimmt — als Neugeborene, ungefesselt durch die alten Bindungen.
Hier liegt eine salvierende Formel von äußerster Kühnheit vor. Ein sozio-religiöses System, das sich nicht selbst aufgeben will, aber das unter völlig veränderten Bedingungen zur Sackgasse zu werden droht, findet innerhalb seiner eigenen Prämissen die Möglichkeit nicht bloß zur Vergebung der Tabubrecher, sondern zum Verschwindenmachen des Tabus selber, das als Teil des tribalen Ideenhimmels erhalten bleibt, aber das Fortbestehen des Stammes nicht mehr gefährden kann.
Wären die beiden durchgebrannt, wenn sie die salvierende Formel, die Praxis der heiligen Komödie nicht gekannt hätten? Aber mußte es nicht ein erstes, geniales Paar gegeben haben (oder auch eine geniale Schwiegermutter), welche auf sie gestoßen, ja sie erfunden hatte? Es ist wohl müßig, hier nach einem Entweder-Oder zu fragen. Es steht jedenfalls fest: seit animistischen Zeiten verfügt der Homo sapiens (und, wer weiß, vor ihm vielleicht schon der Homo neanderthalensis, wie jüngste Funde nahelegen) über ein reiches Arsenal von kommunikativen Werkzeugen beim Umgang mit den Mächten, die er zunächst in allen Dingen der Natur, aber schließlich auch personifiziert in Gottheiten vermutet:
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Bitten, Flehen, Murren und Harren (wie Heinz Robert Schlette sagt), schmerzvollste Opfergaben auch, Schauspielereien bis hin zur Unschuldskomödie, gelegentlich kühner Ausbruch in neues Lebensgelände: all dies kreist, wenn wir so reduktionistisch vorgehen dürfen, um die beiden Pole der Versöhnung und der salvierenden Formel'.
Aber kehren wir nun zurück in die Londoner Meeting Hall, zur Debatte zwischen Chesterton und dem Fabier. Chesterton zeigt da jedenfalls Stil und Großmut, und der Fabier ist ein filziger kleiner Materialist. Was macht schon eine zerbrochene Fensterscheibe aus, wenn sie in unseren fortschrittlichen Tagen fast über Nacht ersetzt werden kann? Ja, könnte sie nicht, bei christlichem oder postchristlich-humanistischem Verhalten der Beteiligten, zu einem Segen für die Gesellschaft werden, zu einem Anlaß für ein moralisches Aufwärts, einem Anlaß, sprechen wir es ruhig aus, für praktizierte Christenliebe?
Aber springen wir nun über den Zaun, über den die kaputte Scheibe in den Müll expediert worden ist — hinein in die Scherben der Entropie, die Gleichgültigkeit der Physik!
Und siehe da: hier hat Chesterton unrecht, völlig unrecht, und der Fabier völlig recht. Von der Warte der Physik und der Natur her gesehen, ist die Schandtat wirklich nicht mehr gutzumachen. Gewiß, tagtäglich wird in fleißigen Fabriken Glas gefertigt, jederzeit kann's angeliefert werden, kann Glaser und Glasergesellen ins Brot setzen. Aber die Verschleuderung von Energie und Rohstoffen, der Schritt von der Ordnung in die Unordnung, mit anderen Worten: die Erhöhung der Entropie — das ist irreversibel. Nur ein neuer Schub von Energien kann eine neue Scheibe herstellen — die Entropie-Bilanz bleibt bestehen.
Noch niemand hat es fertiggebracht, die Versöhnung, die durch alle Zeiten und Religionen mit den unsichtbaren Mächten angestrebt wurde, auf die Umkehr der Entropie auszudehnen — die Tasse, die vom Tisch fällt, zerbirst, die
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Fensterscheibe vom Stein des Hooligans desgleichen, und bisher hat noch kein Gebet es fertiggebracht, sie ohne Aufwand neuer Energieschübe wieder zusammenzufügen.
(Sicher, es gibt die frommen Legenden, die solche Umkehr des entropischen Prozesses als uralte Sehnsucht der Menschheit enthüllen; aber reifer Religiosität sind sie längst fremd, ja verdächtig geworden, und kein großer Stifter hat sich je mit solchen naiven Spielen aufgehalten.)
Während also Versöhnung und Sühne in qualvollen Jahrhunderten und Jahrtausenden zu immer subtileren Werkzeugen gesellschaftlicher und psychologischer Synergie entwickelt wurden, haben sich die Mächte der Natur, haben sich ihre Götter diesen Werkzeugen letzten Endes immer ins Unbestimmte entzogen. Aber wir sind diesen Werkzeugen treugeblieben, haben sie weiter angewandt, weil wir nichts Besseres hatten — oder zu haben glaubten.
Was uns, und damit auch unserer Religiosität, gelang, das war der endgültige Abschied vom Animismus — auf dem Umweg über die Entseelung der Natur. Was die große jüdische Stiftungstat eingeleitet hatte: die Fundierung des Bündnisses mit Einem Gott auf dem großen historischen Ereignis des Exodus, gab dieser Abwendung von der alten, animistischen und polytheistischen Geschäftsordnung ihre Dynamik und ihre unabänderliche Richtung. In einer kühnen, weit vor aller Wissenschaftlichkeit gewonnenen Erkenntnis, konkretisiert im Wort Gottes an Noah (wir sprachen darüber) vom Selbstlauf der Natur, wurden Henotheismus und Monotheismus zur entscheidenden Triebkraft der westeurasischen Geschichte — aus dürftigsten Anfängen.
wikipedia Henotheismus Der Begriff Henotheismus wurde von Friedrich Schelling eingeführt und vom Indologen Friedrich Max Müller (1823–1900) popularisiert.
Aber wiederholen wir den Sprung über den Zaun, in die Scherben der Entropie hinein: hier, in der Jahrtausendmüllkippe, lud die fortschreitende Menschheit alle die Fragen ab, die sich aus der Undurchsichtigkeit der nichtmenschlichen Lebenswelt ergaben. Die Religion (unsere Art von
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Religion) hatte sich endgültig von allen magisch-animistischen Sühn- und Versöhnungsformeln befreit, es ging um das wachsende Heil der Gemeinde Gottes und schließlich des begnadeten, sündigen und wieder begnadigten Einzelnen. Myself and my Creator — Ich selbst und mein Schöpfer: in dieser markanten Grundformel Kardinal Newmans kulminierte das religiöse 19. Jahrhundert.
Aber auch dafür haben wir bezahlt: indem wir den Blick auf die Natur, die Befassung mit ihr an die Wissenschaft abgaben. Die war nun überhaupt nicht mehr ehrfürchtig oder respektvoll. Sie folgte der Empfehlung des Descartes, die Natur konsequent auf die Folter zu spannen, um ihr die Geheimnisse ihres Daseins und ihres Wirkens zu entreißen. Es lohnt sich vielleicht daran zu erinnern, daß dies der Kirche durchaus nicht mißfiel, im Gegenteil: ein nur Wenigen bekannter Pater Gassendi im Frankreich des 17. Jahrhunderts sah die Möglichkeit, mit dieser neuen Methode endgültig die immer noch drohenden alchemistisch-kabbalistischen Irrlehren zum Schweigen zu bringen, ja endgültig zu entmachten. Und er hat recht behalten.
Was weder er noch die allermeisten Zeitgenossen ahnen konnten: eben diese von jeder metaphysischen Bedrohlichkeit befreite Wissenschaft wurde einerseits zum Produktionsfaktor, wie man heute sagt — und andererseits zum Eroberer immer neuer und größerer Felder der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung. Wir quittieren heute die Tatsache, daß der Vatikan die Evolutionstheorie, und das heißt auch unsere Abstammung von tierischen Vorfahren, gnädig anerkennt, durch mehr oder weniger witzige Karikaturen in den Tageszeitungen; wir haben keine Geschichtskarte mehr im Kopf, auf der die katastrophalen und verlustreichen Rückzüge der offiziellen Religion von Galilei und Giordano Bruno bis zu Darwin noch verzeichnet wären.
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Zweifellos war das auch Befreiung, religiöse Befreiung, Abschied von belastender Anmaßung, peinlichem Erklärungsbedarf. Aber sie führte eben dazu, daß wir, wie Chesterton, die große und stetig wachsende Müllhalde nicht mehr wahrnahmen. Erst heute in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wird klar, daß sie zu uns, zu unserer sozialen, politischen, biologischen Wirklichkeit gehört, und daß diese Müllhalde der menschlichen Zivilisation Kopf und Kragen kosten kann.
Und damit steht unser bisheriger Umgang mit Versöhnung und Heil zur Disposition.
Jahrhundertelang wurde Heil nur im Reich des Geistes, im Innenleben der Gemeinde und des Einzelnen gesucht — oft genug durch die handfeste Anwendung der sanierenden Formel, ich brauche hier nicht deutlicher zu werden. Die Müllhalde betrachteten wir moralisch wie metaphysisch inert — ja, ihre Vermehrung durch christlichen Gewerbefleiß konnte, bei entsprechender guter Meinung, sogar zur individuellen und gesellschaftlichen Seelenrettung beitragen. Seelenrettung — das hieß aber letzten Endes nichts anderes als eine Methode, den Tod zu überholen und zu besiegen.
Sieg über den Tod, den Tod auch in seinen verborgeneren Formen als Hunger, Leid, Pestilenz und Seelenqual: Das war und ist letzten Endes die causa finalis, das Gesamtziel der Heilssuche. Es hatte sich seit den Tagen des Animismus von den groben biologisch-biosphärischen Zielen gelöst, hatte die Biosphäre ihrem eigenen Lauf überlassen — und dabei den Begriff der WELT mehr und mehr hominisiert.
Was dabei außer Sicht geriet, wird erst jetzt, erst im 20. Jahrhundert als neues Zentralproblem der Menschheit wieder sichtbar. Während wir unsere hominisierte Binnen-Religiosität unerhört verfeinert haben, stehen uns (und zwar auch der sogenannten säkularisierten Gesellschaft) für den Umgang mit der Biosphäre, das heißt aber für den Umgang mit der drohenden selbstverschuldeten Selbstzerstörung unserer Zivilisation, nichts als die alten anthropogenen Werkzeuge und Formeln zur Verfügung, die hiefür vollständig inadäquat sind: Chestertons Fensterscheibe wird durch sie einfach nicht mehr ganz.
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Nein, es ist so schlimmer. Worauf es ankäme, wäre, es nicht erst zum Zerschmeißen der Scheibe, zur Erhöhung der Müllhalden, zum Anwachsen des Todes und des Todespotentials in der nichtmenschlichen Welt kommen zu lassen. Doch haben uns fünfhundert Jahre der sogenannten Moderne aufs trefflichste darin eingeübt, dieses Potentials gar nicht erst ansichtig zu werden.
Und so erleben wir ringsum den Triumph der faden Unschuldskomödie, der salvierenden Entschuldigungsformel, die tränenreichen Küsse der alternativen Großmütter für das abgetrennte Haupt der lebendigen Natur. Wir vernehmen verlogene Formeln wie Entsorgung für die ratlose Hin- und Her-Verschiebung von Jahrtausendgiften, Waldzustandsbericht statt Waldschadensbericht; wir erleben die lächerlichen Empfehlungen von rituellen Gipfeltreffen, die nie in die Tat umgesetzt werden, weil sie dem Selbstlauf eines globalen Systems widersprechen, in dem eine ganz neue, fast nie als solche erkannte Religion triumphiert: der fundamentalistische Ökonomismus.
Dieser Ökonomismus ist insofern fundamentalistisch, als er, wie alle anderen Fundamentalismen, in ein geschlossenes paralogisches System eingezogen ist, in dem Wirklichkeiten jenseits seiner Koordinaten einfach nicht verarbeitet, andere Prioritäten einfach nicht anerkannt werden können. Er hat die alten Umgangs-Formen und -Formeln, die seit dem Animismus in Gebrauch sind, für seine Zwecke zurechtgebogen und zurechtgefeilt, er hat die bereits zitierten Sprach- und Denk-Regelungen erfunden, er quält sich mit dem Problem herum, wie man eine ökologische Komponente in die üblichen Rentabilitätsrechnungen hineinmogeln könnte. Er hat seine eigenen theologischen Fakultäten, nämlich die Wirtschaftswissenschaften, die allerdings noch nicht ganz die Präzision der scholastischen Magister des 15. Jahrhunderts erreicht haben.
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Er erteilt Ablaß für fromme Stoßseufzer wie Katalysatoren und Mülltrennung, während er die ihm restlos verfallene Gemeinde mit seinen Zentralsakramenten: der D-Mark und dem Führerschein nährt. Wie verkorkst es im Kopf eines solchen Fundamentalisten aussehen kann, erhellt ein Satz des Abgeordneten Ost, CDU-Berichterstatter im Wirtschaftsausschuß des Bundestages: »Es muß eben auch die Umwelt ihren Beitrag zum Industriestandort Deutschland leisten.«
wikipedia Friedhelm_Ost *1942 wikipedia Salvatorische_Klausel
Die alten Religionen, vor allem die Hochreligionen, haben mit diesem Fundamentalismus ihre Schwierigkeiten. Verurteilt wird er selten, höchstens etwas mürrisch getadelt wegen seiner moralischen Konsequenzen. Und wenn schon eine ökumenische Beratung über die von ihm verursachte soziale Krise stattfindet, holt man sich vorsichtshalber auch die Meinung der Deutschen Bank ein.
Was die Umwelt betrifft (verwenden wir einmal den Ausdruck, der auch eine salvierende Formel ist), so ist gelegentlich von Bewahrung der Schöpfung die Rede, was erstens sehr anthropozentrisch und zweitens wissenschaftlich ziemlich schlampig ist. Der innerkirchliche Fundamentalismus und das Sektierertum innerhalb und außerhalb der großen Konfessionen, tut sich am leichtesten, es sperrt seinerseits alle Wirklichkeiten aus, die nicht in seinem Koordinatengitter Platz haben, und erwartet meist Heil von der ultimativen salvierend-salvatorischen Formel: der Apokalypse.
Wie schwer sich aber die Amtskirchen im allgemeinen und die katholische im besonderen mit der Rückkehr der kollektiven Bedrohung durch die verstümmelte Natur tun, erhellt aus einer der letzten Enzykliken des Papstes mit dem Titel Evangelium Vitae.
Ich gestehe, daß ich sie nicht ohne Spannung erwartete. Nachdem Paul VI. seinerzeit schon das berühmte Rundschreiben Humanae Vitae ausgesandt hatte, war nun mit einer Ausweitung des Themas, mit der längst fälligen Behandlung der drängendsten Frage des ausgehenden Jahrtausends zu rechnen.
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Ich hätte es besser wissen müssen.
Von den vielen hundert Nummern des Dokuments, das sich fast ausschließlich mit den modernen Bedrohungen des menschlichen Lebens, der Ungeborenen und der Behinderten, der Alten und Schwachen auseinandersetzte (durchaus leidenschaftlich, ohne den manchmal so peinlichen kurialen Ton), waren nur zwei oder drei wenigstens ansatzweise dem nichtmenschlichen Leben gewidmet. Und diese wenigen Sätze waren völlig ratlos, ja abstrus. So wurde etwa die Frage aufgeworfen, wie der Tod in die Welt gekommen sei, und die Antwort lautete: durch das Böse!
Es tut mir leid — das ist Obskurantismus. Tod ist eine wesentliche Verkehrsform des Lebens, das ist grundlegende Einsicht der Lebenswissenschaften. Ohne Tod ist Evolution, das heißt Ausfaltung und Höherentwicklung des Lebens, unvorstellbar. Daß er von jedem Lebewesen, also auch von den Menschen, als die letzte und höchste Drohung, als das Böse schlechthin gefürchtet wird, ist Teil dieser Lebensdynamik.
Der Mensch folgte und folgt diesem Fluchtdrang, dieser ultimativen Panik genauso wie alle Kreatur um ihn; er sucht nicht nur den Tod zu vermeiden, sondern alles, was ihn auch nur von fern an ihn erinnert. Er will sich und den Seinen (später immer größeren Verwandt- und Genossenschaften) ein langes, sicheres, möglichst leidfreies und genußreiches Leben bereiten und dabei verschlang und verschlingt er alle erreichbaren Ressourcen.
Seine Schwierigkeit ist, daß er zu erfolgreich war.
Mit der Hoch-Organisation seiner Gesellschaft, die ihm den kurzfristigen Ersatz jeder Fensterscheibe garantiert, hat er sich zum Herrn der Erde gemacht — zuerst nur in tastend-animistischer Kommunikation mit dem mitmenschlichen Leben, dann als homo faber, für den alles nichtmenschliche Irdische entweder Rohstoff oder Werkzeug ist — einschließlich jener (laut Gesetzbuch) beweglichen Sache, die man vulgo Tier nennt.
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Mit solcher Verzweckung des Lebens schwanden die letzten, immer noch anthropomorphen, aber Hunderte von Kulturen befruchtenden Verhandlungs- und Versöhnungsformen, die uns nichtmenschliche Lebenswahrheit jenseits aller Zwecke ahnen ließen. Dürr, opak, unzugänglich bleibt der Tod mitten in einer entseelten Landschaft stehen. Des Homo faber erfolgreichstes Rennen ist so gut wie gelaufen, er ist dabei, sein bisher erfolgreichstes Überlebenssystem zu globalisieren — und sieht sich unversehens am Rande der selbstverschuldeten Selbstzerstörung.
Das Fazit? Die bisher gebräuchlichen Formen des religiösen Umgangs mit der Biosphäre sind für diese katastrophale Lage so oder so nicht mehr geeignet. Sie waren es vielleicht nie, wie uns die Wissenschaft immer schlüssiger erklärt — aber sie genügten in einer Welt, deren Verwendung des solaren Energie-Imports so gut gelang, daß die mehr oder weniger großen Sünden gegen die Biosphäre ausgeglichen werden konnten — oder wenigstens unbemerkt blieben. Hier und heute geht das zuende. Die Ratlosigkeit der meisten Religionen gegenüber dieser Tatsache liegt auf der Hand.
Müssen wir uns also daran gewöhnen, daß Religion als Wirkmacht gerade gegenüber dem wesentlichsten Problem des nächsten Jahrhunderts einfach ausfällt, daß sie sich mit der Rolle des Sozialarbeiters begnügen muß? Und wenn das so ist: Welche andere Wirkmacht ist stark genug, sich mit diesem Problem zu messen?
Das ist die entscheidende, das ist die Schlußfrage. Und ich wage eine Antwort, die zunächst paradox erscheint: die einzige Wirkmacht, die universal genug ist, ist bestimmt nicht die Wissenschaft. Die vermag nur Zusammenhänge zu erhellen und Daten zu liefern. Nein, die einzig vorstellbare Wirkmacht wird wieder Religion sein — aber Religion, die sich der Tatsache unserer Kreatürlichkeit in voller Souveränität zu stellen vermag.
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Auch für sie sind globale Ansätze zu finden; Ansätze und vorgelebte Modelle. Es sind, kurz gesagt, die Modelle der Mystik und der rechtverstandenen Askese. Es ist die Mystik und die Mystik allein, die alles Verhandelbare zwischen Gott und Mensch, zwischen Leiden und Mensch, zwischen Tod und Mensch aufhebt und gerade darin den Menschen weit jenseits der Biologie zur Krone der Schöpfung macht. Die fatale Doppelwelt der herkömmlichen Religiosität — eine mehr oder weniger schlaue Optimierung des biologischen Programms, das wir mit der Bierhefe teilen, und die mehr oder weniger unbestimmte Handelschaft mit dem Übernatürlichen — kann und muß sich dann verabschieden.
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Ich versuche nun eine letzte Konkretisierung dieses Gedankens, mit der ich, lassen Sie es mich offen gestehen, an die Grenzen dessen gelange, was ich bisher zu leisten versuchte. Und ich bitte Sie um Verzeihung dafür, daß sie notwendigerweise sehr diskussionsbedürftig bleibt.
Ich will über Ostern sprechen.
Wir feiern, wenigstens potentiell, heute ein dreifaches Ostern. Eier und Frühlingsblumen und Palmkätzchen rufen die Erinnerung an die zyklische Religiosität der animistischen Ahnen herauf — an Ischtar, Persephone, Ostara. Die Liturgie der Osternacht, die mit dem Preis der Osterkerze an diese alte Welt anknüpft, stellt darauf aber die zweite, gewaltige Erinnerungsschicht: die Erinnerung ans erste Pascha, an den Exodus, an die Befreiung aus dem Sklavenhaus — und damit die Erinnerung an die völlige Veränderung der religiösen Agenda, die Suche nach dem Bündnis des Volkes mit Gott, seine stete Bewahrung, Verwerfung und Wiederauffindung, die dadurch erst ermöglichte Höherentwicklung des Menschheits-Ethos.
Aber die Krönung des Ostergeheimnisses ist für uns natürlich erst die dritte, die christliche Schicht — die Auferstehung des Erstgeborenen von den Toten, der uns in die Unsterblichkeit vorangeht. Dux vitae mortuusi regnat vivus, wie es in der wundervollen Ostersequenz heißt.
Mit anderen Worten: der Tod ist besiegt. Merken wir es?
Ist das wirklich aufrechtzuerhalten am Rande der selbstverschuldeten Selbstzerstörung?
Ist das mehr, kann das mehr sein als eine verzweifelte Invokation, wenn wir uns nicht in das fundamentalistische happy end eines Jüngsten Tages zurückziehen wollen, der in keinerlei Kausalbeziehung zu dieser Schuld steht?
Oder werden nicht (wenn wir schon beim Jüngsten Tag bleiben wollen) auf der Richtbank die Delphine, die Wale, die Wölfe und Gazellen, die tausend und abertausend Gedanken Gottes sitzen, die wir aus Raffgier, Blutdurst oder reiner Gedankenlosigkeit vernichtet haben? Wo bleibt dann der Sieg und das Regnum des Lebensfürsten? Oder: wie wird der Christos Kosmokrator dann mit uns verfahren, um Seinen Sieg zu behaupten?
Nein, so kommen wir mit Ostern nicht mehr zurecht. Und ich vermute, daß wir es in einen Prozeß, zunächst einen möglichen Prozeß umdenken müssen, wie wir dies schon mit der Schöpfung und — letzten Endes — mit der Passion tun. Wir haben Jesus als Stellvertreter, als Substitut, als Erstlingsopfer — und das heißt doch als Handelspreis in einem sacrum commercium verstanden, das uns erlaubt, weiter unser biologisches Programm zu verfolgen — und damit auf der Flucht vor dem Tod zu bleiben. Doch wenn das christliche Ostern wirklich die Universalisierung des Sieges über den Tod bedeutet, eines Sieges, der ihn unmöglich als Verkehrsform des Lebens beseitigen kann und darf — dann ist diese Universalisierung nichts anderes als seine Bejahung, ja seine Umarmung als ebendies, eine Form des Lebens, die der dux vitae in seiner Epiphanie bestätigt.
Was dies kulturell, sozial, politisch bedeuten würde, ist ungeheuer und vorläufig noch gar nicht abzusehen. Aber was immer oberhalb der natürlich notwendigen praktischen Umbauten der menschlichen Gesellschaft (die vorläufig von leicht zu benennenden Interessen systematisch blockiert werden) wahrgenommen werden müßte: eine Metanoia geringeren Ausmaßes, geringerer Kraft wäre ohne jede Zukunftsaussicht.
Ohne sie könnten wir uns nur auf die elegante Gelassenheit zurückziehen, auf das Prinzip Akzeptanz, das uns von gewissen Neo-Stoikern längst empfohlen wird, oder auf die neo-kannibalische Borniertheit, wie sie etwa aus dem Antlitz von Herrn Westerwelle leuchtet. Ich finde beide Alternativen grauenhaft — für ein solches Endspiel haben die religiösen Genies der Jahrtausende vor uns nicht gelebt.
Danke.
79-80
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wikipedia Guido_Westerwelle 1961-2016