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Teil 2    Über das Geld, die Macht, den Markt und die Kirchen


1.  Markt / Mensch / Natur - Ein anthropologischer Hintergrund

(Katholische) Rabanus-Maurus-Akademie-Mainz, Februar 1995   wikipedia  Hrabanus_Maurus  *730 in Mainz

 

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Nicht nur von Arnold Gehlen bekommen wir's mitgeteilt: der Mensch ist ein Mängelwesen. Ohne üppiges Fellkleid fiel er aus den Bäumen auf die Savanne, sein Gebiß ist zu dürftig für perfekte Einzeljagd, besonders schnell ist er auch nicht, selbst als er gelernt hat, auf zwei Beinen zu sprinten. Weder die Schwingen noch der Scharfblick des Adlers sind sein Teil. 

Werkzeuge und Grips, das waren demnach seine einzigen Chancen; schon der homo erectus soll es gelernt haben, mit kantigen Steinen die Hautdecke eines gefällten Tiers aufzureißen, ehe die wirklichen Beutemacher und Aasfresser kamen, vor denen er hastig ausriß. Ein elendes Leben das, ein Leben immer an der Kante des Heißhungers und der Gefahr, bis weit in die Zeit der archaischen Kulturen hinein. So sah es schon der karge Engländer Hobbes, er beschreibt das Leben der Wilden als nasty, brutish and short — also garstig, brutal und kurz.

Aber dagegen gibts energischen Widerspruch. Ich erinnere mich an das Buch von Marshall Sahlins, Stone Age Economics, das in den Sechzigerjahren Furore machte. Sahlins weist nach (oder bemüht sich erfolgreich nachzuweisen), daß die vorgeschichtlichen Jäger und Sammler eine Vierzig-, ja auch nur eine Fünfunddreißig-Stunden-Woche entrüstet als ein sklavisch entfremdetes Leben zurückgewiesen hätten. 

Selbst die Steinzeitmenschen von heute (etwa die Buschmänner der Kalahari oder die noch frei lebenden Aborigines Australiens), alle in Gebiete von äußerster Dürftigkeit zurückgedrängt, seien mit der Nahrungs­beschaffung in kürzester Zeit fertig und widmeten den weit größeren Anteil ihrer wachen Tage den Riten, dem Plausch, der sozialen Wärme ihrer kleinen Gemeinschaften. Um wieviel sorgloser, so Sahlins, müssen die Jahre der Cromagnon-Menschen verlaufen sein — an reichen Flüssen, auf üppig beweideten Savannen, an lebensstrotzenden Ufern von warmen Flüssen und Meeren!

Und in der Tat: angesichts etwa der wimmelnden Herden, die in der großartigen Höhlenkunst von Lascaux, Altamira und der neuentdeckten Chauvet-Höhle sich tummeln, angesichts auch der Muschelschalenhaufen, die sich vor einigen Steinzeit-Portalen finden (etwa am Ufer des Rivadasella-Flusses in Kantabrien), ist es fast unmöglich, sich diese wachen, ästhetisch so sicheren Ahnen in einem Leben des Elends vorzustellen.

Oder ist all diese Kunst, sind all diese Herden vielleicht (wie manche meinen) schon die Spiegelungen einer nostalgischen Spät-Epoche, einer Epoche der erschwerten Jagdbedingungen, in der man die erinnerte oder erhoffte Fülle magisch beschwor? 

Eines steht auf jeden Fall fest: die durchschnittliche Lebensdauer war wesentlich kürzer als heute, es war sehr schwierig, ein hohes Alter zu erreichen; Unfälle und vor allem Krankheiten waren üblich, wenn auch andere als heute. (Das, was ein großer französischer Historiker als das Hauptereignis der anhebenden Neuzeit beschrieb, nämlich die Internationalisierung der Mikroben, lag in ferner Zukunft.)

Es ist wohl gar nicht nötig, die widersprüchlichen Hypothesen der Philosophen und Anthropologen gegen­einander auszuspielen. Insgesamt, so ist es wahrscheinlich, war die Entwicklung des Menschen von immer wiederkehrenden Krisen begleitet, von Perioden der Fülle und des Hungers, von Zeitaltern voll Feindseligkeit und Epochen friedlichen Nebeneinanders. 

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Ausweichen wurde der Konfrontation, rituelle Drohgebärden dem realen Totschlag vorgezogen. Beides, sowohl die düstere Sicht von Hobbes wie die vitale Überfluß-Theorie des Georges Bataille, könnte richtig sein, für beide Szenarios ließen sich wohl durch die Paläo-Anthropologie Belege in Fülle finden ...

 

Für unser Thema ergibt (oder ergäbe) sich daraus der Schluß, daß die Motive, die zum Entstehen eines Marktes oder mehrerer Märkte geführt haben, wohl auch sehr gemischter Natur waren. John Maynard Keynes soll einmal in den Dreißigerjahren bemerkt haben, der einzige Austausch zwischen Kulturen und Regionen, der empfehlenswert und nicht destabilisierend sei, wäre der Austausch von Informationen und Gastgeschenken; und in der Tat hat der Fernhandel bis in die Zeit der Frühgeschichte hinein wohl öfters die Funktion und die Form diplomatischen Austausches gehabt als die der profitablen Handelschaft. 

Der Austausch von Gastgeschenken (und hier kehren wir zu John M. Keynes zurück) findet schließlich in Homers Ilias sogar auf dem Schlachtfeld statt — unverzichtbarer Bestandteil eines komplizierten Netzes feudaler Pflichten und Selbstverpflichtungen. Sogenannte primitive Gesellschaften, die wir heute lieber traditionelle Gesellschaften nennen, sind bekannt für die hohe Komplexität ihrer sozialen Beziehungen; und es ist nicht vermessen anzunehmen, daß der Sinn der Handelschaft in diesen Gesellschaften mindestens ebensosehr die Festigung der örtlichen oder regionalen Bande war wie der unmittelbare Gewinn für die Lebenshaltung.

Das schließt gröbere Formen der Handelschaft natürlich nicht aus. Nicht umsonst war Hermes für die Griechen sowohl der Gott der Diebe wie der Kaufleute. Noch in der Odyssee ist klar, daß die Abenteurer in ihren schwarzschnäbeligen Schiffen zwischen diesen beiden Möglichkeiten der Gewinn-Maximierung keinen grundsätzlichen Unterschied machten. 

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Ob man durch verstohlenen Raub, durch offenen Angriff oder durch süße Schmeichelworte zu seinem Profit kam, war eine Frage der Opportunität und dessen, was man heute mit einem scheußlichen Wort das zwischenmenschliche Klima nennt. Es waren dabei mannigfache Variationen vorstellbar. 

Noch weit in die Geschichte des römischen Altertums hinein betrieben die Karthager Tauschhandel mit den wilden Stämmen der Berber und anderer Nordafrikaner: sie landeten an der Küste, legten die Ware aus, die sie anboten, und zogen sich dann wieder diskret aufs Wasser zurück. Dann erst kamen die Partner aus ihren Verstecken, musterten das Angebot, nahmen, was sie begehrten, legten dafür die Tauschware ab und verschwanden wieder, den Puniern das Einsammeln überlassend. Sicher, das was die Bewohner der Mittelmeerküsten heute lieben, das intensive Basargespräch, kam dabei nicht zustande; aber die Karthager wußten sicher, ob sie dabei auf ihre Rechnung kamen oder nicht.

So haftete der Handelschaft seit dem Morgenrot der Geschichte etwas von Abenteuer, von Ruchlosigkeit, von Lüge und Täuschung an. Ruth Benedikt beschreibt in ihrem Buch PATTERNS OF CULTURE die Kultur der Südseeinsel Dobu, die sich durch äußerstes Mißtrauen aller gegen alle und ein hohes Maß von Verlogenheit auszeichnet. Die Dobuaner sind eingewoben in ein unglaublich weites Handelsnetz im Südpazifik, das auf Ausleger-Kanus von den Bewohnern vieler Inselgruppen befahren wird. In diesem Netz gelten die Dobuaner — Kunststück — als besonders gerissen. Sie selber sind imgrunde davon überzeugt, daß kein vernünftiger Mensch mit ihnen verhandeln würde, wenn sie sich nicht durch magische Mittel selbst überhöhten. Vor der Ausfahrt pflegen sie ihren Körper, nehmen Mittel ein, um den Glanz ihrer Augen zu verstärken, und tun, was sie sonst an Zauberei zur Verfügung haben, um sich attraktiv und unwiderstehlich zu machen. PR nennt man das heute, wie ich höre.

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Aber zurück in die Nüchternheit der Warenwelt! Welches waren die Bedürfnisse etwa der Steinzeitmenschen, welche den Fernhandel schon vor zehntausend Jahren in Bewegung setzten?

Drei Warengruppen sind es, die sich auf den ersten Blick unterscheiden lassen: Gerätschaften, Spezereien und Schmuck.

Mancher mag hohe Kontinuität entdecken in der Tatsache, daß etwa der Handel mit Pfeilspitzen, Messerklingen und Schabsteinen schon vor zehntausend Jahren auf der Gunst der Standorte und auf dem Prinzip der Arbeitsteilung aufruhte. Ganz offensichtlich gab es Förderstellen von Flint, die zumindest durch ganz Mitteleuropa den Ruf der dort hergestellten Ware sicherten. Die Werkstätten sind archäologisch ebenfalls erschlossen — Abschlagen, zwei Arbeits­gänge von Zurechthauen und schließlich die Politur wurden getrennt, wohl von verschiedenen Arbeitern durchgeführt. Der Ausstoß dieser Werkzeug-Werke muß bedeutend gewesen sein, denn geschickte Hände schaffen ein solches Werkzeug, wie wir von Indianern wissen, in einer halben Stunde.

Bezeichnender für den komplexen Zustand der menschlichen Seele von Anfang an sind die beiden anderen Warengruppen. Zu den Spezereien zählten sowohl Gewürze wie Drogen — darunter vor allem Tabakkräuter verschiedenster Art und Wirkung, aber auch Teekräuter und später Alkohol und Pilze. Der hochstehende kulturelle Umgang mit bewußtseinserweiternden Pharmaka ist vor allem von den indianischen Kulturen bekannt — ebenso die verheerende Wirkung des Alkohols, der in solchen Kulturmustern mit der Wirkung von Flächenbombardierungen einschlagen mußte und muß. Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedarf für Edgar Morins erregende These, daß der Homo sapiens von Anfang an und konstitutionell notwendig der Homo demens, der verrückte Mensch sei — hier ist er sicher gegeben.

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Ganz Ähnliches gilt vom Schmuckbedürfnis. Schöne, teilweise auch bearbeitete Muschelschalen zum Beispiel von den Meeresküsten finden sich tief im Inland, aus Epochen, in denen man zunächst keinerlei Fernhandel vermutete. Dieser Schmuckhandel wird umso intensiver, je mehr sich Eliten oder Herrschafts-Hierarchien herausbildeten. Die Hälfte der Tributauflagen, welche die Azteken den von ihnen unterworfenen Völkern machten, besteht aus Edelsteinen und Prunkfedern, die zum höheren Ruhme der Hauptstadt abzuführen waren.

Aber sprechen wir nicht zu früh von Tributen und anderen Formen der Staatsfinanzierung. Bleiben wir beim urtümlichen Fernhandel selbst. Für die Natur als Ganzes, für das Wirken der Evolution und das ökologische Flußgleichgewicht stellte er noch kein großes Problem dar. Die Händler reisten meist zu Fuß, und die Ware war nicht umfangreich, ihre Herstellung meist unproblematisch, ihr Preis (ob in materieller Vergütung oder in Prestige) unverhältnismäßig hoch. Sicherlich hat dieser Handel einige besonders kostbare Ressourcen zu gefährden begonnen — etwa seltene Vogel- oder Muschelarten. Insgesamt aber war er wohl dazu geeignet, das gefährliche Potential an Zerstörung, das im Homo demens steckt, eher zu neutralisieren als zu verstärken.

Noch wahrscheinlicher wird diese Vermutung, wenn wir die ganzen Zeremonien beobachten, welche von jeher mit Handel und Markt verbunden sind. Nicht umsonst bezeichnet das Wort MESSE sowohl einen zeitweiligen Handelsplatz wie ein Zentralsakrament der Kirche. Kehren wir einen Augenblick zu den Dobuanern oder vielmehr zu den Südsee-Händlern zurück, von denen wir sprachen! Der Handelsring, an dem sie sich alle beteiligten oder beteiligen, ist nicht nur von gewaltiger Größe (er führt im Kreis über mehrere tausend Seemeilen des Pazifiks), sondern auch von einer Raffinesse, die die Intelligenz jedes Börsianers auf eine harte Probe stellen würde. 

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Denn dieser Handelsring wird zweimal im Jahr gefahren, und zwar im Uhrzeiger- wie im entgegengesetzten Sinn. Die Währung des einen Rings, vielmehr der einen Fahrtrichtung, besteht in Schnüren von Kauri-Muscheln, mit denen bezahlt wird; die Währung der Gegenrichtung sind besonders große und schöne Muscheln, von denen jede einzelne einen Namen trägt. Ihr Erwerb, womöglich in Rivalität mit anderen Handelspartnern, ist sozusagen die Seele des Geschäfts; alles andere, die getauschten oder erworbenen Waren wie auch die sozusagen stromaufwärts anreisenden Kauri-Muscheln, sind zwar für den Außen-Beobachter der reale Grund für die erschöpfenden Fahrten, fallen aber für die Teilnehmer sozusagen am Rande an. Dabei kommen Abschlüsse und Verabredungen zustande, die nicht nur von ferne an die Termin- und Futures-Geschäfte heutiger Börsenplätze erinnern. Und der Dobuaner oder Trobriander, der es fertiggebracht hat, sich auf Kredit den Vorgriff auf eine kostbare Namensmuschel zu sichern, gilt den Seinen als Held und Vorbild.

In diesen Zusammenhang gehört auch die offensichtliche Wollust, mit der in südlichen Ländern Verkaufsgespräche betrieben werden. Der stumme Nordmann, der dort einfach den geforderten Preis auf den Tisch blättert, wird verachtet, der Verkauf an ihn als Enttäuschung empfunden.

Der archaische Fernhandel oder Regionalmarkt hat also erst in zweiter Linie mit der Bewegung von Gütermassen zu tun. Er zieht (zunächst) kompakte Kostbarkeiten oder Lebensnotwendigkeiten vor, in unseren Breiten wurde die wichtigste davon das Salz. Und das Salz als Umschlagware wurde zur wichtigsten Finanzquelle der Fürsten und Stände. Aber davon später.

Der ökologisch entscheidende Umschwung oder Durchbruch kam wohl mit der Seefahrt. In erdgeschichtlicher Sekundenschnelle veränderte sich nicht nur das Volumen dessen, was man transportieren konnte; vor allem der Bau der Schiffe wurde zur Pandorabüchse der Zerstörung.

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Schon im klassischen Altertum wurde etwa von der Puniern oder den Athenern die Wachstumsspirale in Gang gesetzt, deren Endergebnis, deren causa finalis die Verkarstung weiter Landstriche des Mittelmeers war. Plato bezeugt bereits die Verwüstung von Attika; die dalmatinische, die Küsten des Peloponnes, die des tyrrhenischen Meeres folgten.

Beteiligt waren zunächst die Griechen, später die Römer, dann die Venezianer und andere Seehandelsrepubliken. Zuletzt aber traf es das imperiale Spanien — die Historiker nehmen mit gutem Grund an, daß die Riesen-Anstrengung für die Armada, welche die großen Kahlschläge erforderte, ein für allemal das klimatische und wirtschaftliche Rückgrat der iberischen Halbinsel gebrochen hat.

Um diese Zeit stiegen aber auch die modernen Industrien mit ihrem enormen Bedarf an Grundstoffen und Energie empor. Und das veränderte den Charakter des Marktes endgültig.

Kürzlich wurde ich darauf aufmerksam gemacht, daß Adam Smith sein entscheidendes Buch »The Wealth of Nations — Der Wohlstand der Nationen« betitelt hat. Und der Titel ist durchaus programmatisch. Die Unsichtbare Hand, die er postuliert, und die den Ehrgeiz und die Gier der Unternehmer drängt, mit ihren Produkten auf den Markt zu gehen, ist zunächst durchaus eine nationale Hand. Denn keinem Unternehmer, der rechnen kann, würde es nach Adam Smith einfallen, seine Manufaktur, seine Werft, seine Schmelzhütte außerhalb der Landesgrenzen anzulegen. Der Transport entweder über langwierige Landstraßen oder über trügerische Meere in wenig geräumigen Schiffen würde entweder die Produktion selbst oder ihre Verbringung auf die Märkte mit so hohen Kosten belasten, daß der Rivale, der im Lande blieb und sich und die Seinen mehr oder weniger redlich nährte, auf jeden Fall einen Konkurrenzvorteil besitzen würde. 

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Und so beruhte denn der Reichtum der frühen Kolonialmächte noch lange auf dem Import von möglichst kostbarer, das heißt möglichst teurer Ware pro Raumeinheit: Gold, Gewürze, Edelsteine, Luxusstoffe, kurz all das, was in einen Schiffsbauch gestopft oder auf einen Kamelrücken geschnallt guten Gewinn brachte — selbst dann, wenn die eine oder andere Ladung den Stürmen, den Piraten oder den Landräubern zum Opfer fiel.

Für die eigene, die neue Produktion, die man Sekundärproduktion nennt, galt aber noch lang das Axiom, daß räumliche Nähe zu den Grundstoffen (vor allem zu Kohle und Stahl) einen unüberwindlichen Konkurrenz­vorteil darstellt. So entstanden die Fabriken der englischen Midlands, die Werften in Liverpool und am Clyde, später das große Ruhr-Revier in Deutschland.

Was dabei der Natur zustieß, wissen wir alle. Bis in unser Jahrhundert hinein blieb dies jedoch örtlicher Wundbefall, wenn sich der Schorf und der Eiter auch immer weiter ausbreiteten. Doch erst im zweiten Drittel unseres Säkulums offenbarte sich eine ganz neue Logik: die Logik des Weltmarktes — und damit der Weltverwüstung insgesamt.

Sicher, auch die großen Industrienationen des 19. und anhebenden 20. Jahrhunderts wollten ihn, träumten von ihm, sahen in ihm die eigentliche Erfüllung des Industriezeitalters. Die Ungleichheiten des Reichtums auf dem Globus, die Rückständigkeiten von so vielen Weltgegenden, die Stockungen in der Allokation von Energieträgern und Rohstoffen — all das empfindet der Große Industrielle Traum als letzte Hindernisse auf dem Weg zum Einen, zum Großen Weltmarkt.

In der Praxis wird dieser Weg beschleunigt durch die Veränderung der Rangfolgen in der Produktion. Denn was heute das gute Geld bringt, sind nicht mehr die massiven Grundindustrien von gestern, mit ihren riesigen Gruben, Hütten, Walzstraßen und Maschinensälen. Das High-Tech-Zeitalter, das elektronische Zeitalter oder wie immer man das nennen mag, ist angebrochen. 

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Nähe zu günstigen Rohstoffvorkommen spielt nun so gut wie keine Rolle mehr — Siemens in München oder Erlangen, Sony in Yokohama können sich das Nötige per Luftfracht verschaffen, wenn's denn sein muß. Mit dem Wohlstand, den die erste industrielle Revolution geschaffen hat; mit dem Organisations­vorsprung, den die euro-atlantische Welt seit dem Mittelalter genießt, geht es noch so lange in Ordnung, als die hohen Lohnkosten durch noch höhere Qualifikation der Werktätigen ausgeglichen oder überboten werden.

Aber natürlich ist das kein statischer, sondern ein höchst kinetischer Prozeß. Neben den G7-Nationen, die teilweise (wie England und, bis zu einem gewissen Grad, auch die USA, Deutschland und Frankreich) bereits mit dem Müll weiter Invalidenlandschaften zu kämpfen haben, wachsen eine Menge kleiner Tiger heran: — neben den vieren in Asien (Korea, Singapur, Taiwan und Hongkong) nun auch die aus dem realsozialistischen Käfig entlassenen flinken und hochqualifizierten Katzen vor der Haustür: Tschechien, Ungarn, Polen, Slowenien.

Und was das Allerneueste, die High-Tech-Elektronik betrifft: schon lassen deutsche Verleger die Disketten, welche an die Stelle von Manuskripten getreten sind, nach Jamaica fliegen und dort von fleißigen kaffeebraunen Fingern druckfertig einrichten — mit der übernächsten Abendmaschine kehren sie nach München oder Frankfurt zurück. Und die größte Software-Stadt der Welt ist heute Bangalore in Indien: dort werkeln Tausende von hochintelligenten jungen Spezialisten, welche sich bei einem Sechstel der hier üblichen Gehälter königlich entlohnt dünken.

So enthüllen sich eine Reihe von Widersprüchen, die sich aus dem Konzept des Weltmarktes ergeben, gleichzeitig.

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Den ersten können wir am Schicksal der ehemaligen DDR aufs eindringlichste ablesen. Solange sie der westlichste Vorposten des sogenannten Ostblocks war, behauptete sie sich als industrielle und technische Vormacht eben dieses Blocks, war innerhalb des COMECON-Marktes. In dem Augenblick aber, wo die Schranken fielen, hatte sie gegen den G7-Markt oder wie immer man das nennen mag, keine Chance mehr. Und die Produktivität des Westens war so hoch, daß der neue Markt bis zur Oder spielend mitversorgt werden konnte — vorausgesetzt, man sorgt durch Transfer-Milliarden für die Kaufkraft der dortigen Konsumenten.

Was dabei draufging und draufgeht, sind Arbeitsplätze. Nichts und niemand wird eine industrielle Maschine, insbesondere eine High-Tech-Maschine, dazu bewegen können, Arbeitsplätze auf Kosten ihrer Konkurrenzfähigkeit zu schaffen; und diese Konkurrenzfähigkeit muß sich umso härter bewähren, je offener die Märkte der Welt sind. Die offenkundige Unmoral dieses Zustands (steigende Gewinne bei sinkender Beschäftigtenzahl) verkraften die Herren in den Chefetagen mit einem Achselzucken: Peanuts.

Man fragt sich nur, wohin die ganze Reise gehen soll. Denn ein weiterer, auf die Dauer noch tödlicherer Widerspruch tritt hinzu. Es ist deutlich zu beobachten, daß die längst überfälligen Forderungen nach ökologischem Umbau der Industriegesellschaft (wahrscheinlich ein Paradox, aber das läßt sich diskutieren ...) umso schwerer durchzusetzen sind, je weiter die Markträume werden. Brüssel zwingt die fortschrittlichen Europäer (zu denen Deutschland erst hinter den Skandinaviern gehört) auf ein elenderes Niveau herab, und die Dinosaurier hierzulande nützen das weidlich aus, indem sie sich mit Händen und Füßen und Heuchelei gegen sogenannte Alleingänge sträuben. Und der Weltmarkt? Es ist bereits zu erfahren, daß europäische Auto-Hersteller unter den Fittichen des GATT-Abkommens gegen die strengen kalifornischen Auflagen klagen, weil diese zur Wettbewerbsverzerrung führten.

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Mit anderen Worten: der Weltmarkt ist, alles in allem, das miserabelste Instrument zur Sanierung der Welt-Ökologie überhaupt. Er wird nicht nur die Reste lokaler Ökonomien, die Reste ihres Zeremoniells und ihrer jeweils speziellen Befriedigungen zerstören; er wird unübersteigbare Hindernisse (oder fast unübersteigbare) in den Weg jedes nur denkbaren ökopolitischen Fortschritts legen.

Ohne eine radikale Bestandsaufnahme unserer Weltsituation wird es also nicht gehen. Und diese Bestandsaufnahme darf keinen, aber auch keinen der Begriffe verschonen, mit denen heute so fraglos hantiert wird.

Lassen Sie mich, ohne mich gleich zu lynchen, als erstes einen bereits erwähnten Tabubegriff ansprechen:

Arbeitsplätze.

Es gibt einen sarkastischen Satz des Irokesenschriftstellers Vine Deloria: »Before the White Man came, we Americans lived in a State of permanent unemployment«. Sinngemäß übersetzt, würde der Satz lauten: Ehe der Weiße Mann kam, gab es in Amerika überhaupt keine Arbeitsplätze. Was diese Indianer hatten, war eine (meist sehr kompetente) Idee, wie sich ihr Lebensunterhalt beschaffen ließ. Arbeitsplätze, die von sogenannten Arbeitgebern abhängig sind, wären ihnen wohl unvorstellbar gewesen. Dagegen haben wir uns an eine Kultur gewöhnt, gewöhnen müssen, in der das notwendigste Lebens-Mittel unmittelbar von der Herstellung von Waren oder der Herstellung von Infrastruktur irgendeiner Art abhängt. 

Reiche Gesellschaften wie die unseren können sich daneben und darüberhinaus noch einen sogenannten kulturellen Sektor leisten, der im Falle des Abschwungs dann auch als erster drankommt: die Berufe also, beziehungsweise die Menschen, die noch am meisten mit unseren Vorfahren in Lascaux und Altamira zu tun haben, sitzen dieser Produktionsgesellschaft als Parasiten zweiten oder dritten Grades auf. (Der Vortragende zählt zu ihnen.)

Die zweite Tabu-Figur, um die es hier, an diesem Wochenende, geht, ist die Gestalt des öffentlichen Finanzgebarens. Mit schlichteren Worten gesagt: wo nimmt die Obrigkeit, wo nimmt der Staat das Geld her, das er zur Wahrnehmung seiner Aufgaben braucht, und wie setzt sich dieser Tribut zusammen?

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Meine entscheidende Lektion in Steuerpolitik erhielt ich von einem fränkischen Standesherrn, der uns sein Schloß zeigte. In einem der Zimmer hing ein sehr alter und sehr kostbarer venezianischer Spiegel. Mit dem fröhlichen Zynismus, den solche Edle für die eigene Familiengeschichte hegen, wies der Hausherr auf den Spiegel und sprach: »Das ist ein sehr kostbares Stück. Wissen Sie, unweit von hier lief eine stark frequentierte süd-nördliche Handelsstraße mit einem sehr praktischen Hohlweg auf unserm Territorium. Da wurde wohl dieser Mautzoll vereinbart.«

Das war es, das ist es: der Inkassopunkt für den Wegzoll, den Tribut an die Macht. Ein Hohlweg, eine Salzbrücke — und die möglichst unvermeidlich. Die so situiert, daß ein Umweg zur Vermeidung des Wegzolls das Ganze nur verteuert.

Der Wegzoll, der unsere öffentliche Hand in steigendem Maße finanziert, wird in einer unvermeidlichen Passage eingehoben: der Passage durch die Lohnstreifen der Gehaltsempfänger. Das Verfahren ist reinlich, sehr berechenbar, bedarf eines Minimums an Überwachung. Die Umsatzsteuern sowie die Einkommensteuer für Selbständige und Körperschaften sind demgegenüber nicht nur sehr kompliziert, sondern auch sehr vermeidbar. Der Umfang der jährlichen Steuerhinterziehung durch die Privilegierten (und das sind wir Freien allemal) würde leicht genügen, um die Verschuldung der öffentlichen Hände abzutragen; aber der Staat lebt (wohl mit Recht) in hündischer Angst vor dem Gekränktsein der Reichen, die dann einfach querfeldein in günstigere Landschaften verschwinden würden. 

Und so nimmt man lieber Anleihen auf — die Leute, die sie kaufen, erhalten dafür erfreuliche Zinsen, mit anderen Worten, der Steuerzahler (und das heißt in erster Linie der Lohnsteuerzahler) finanziert laufend das Reicherwerden der Reichen; jener Reichen, die schon aufheulen vor Wut und Schmerz, wenn auch nur ein Bruchteil ihrer Steuerschuld für Kapitaleinnahmen an der Quelle erhoben wird.

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Es ist deshalb nur logisch, daß sich hierzulande das Verhältnis der niedrigsten zu den höchsten Einkommen in wenigen Jahrzehnten von 1:30 in 1:60 verwandelt hat — eine wahrhaft christliche Szenerie.

Die Absurdität unseres Steuersystems (und alle untergehenden Reiche, vom alten Rom bis zum Ancien Régime Frankreichs, zeichneten sich durch absurde Steuersysteme aus) erhellt vollends aus einem weiteren Aspekt: seiner absolut zerstörerischen Wirkung auf das ökologische Flußgleichgewicht. Löhne werden hoch besteuert, Energieverbrauch wird üppig belohnt — man kann Automatisierungen abschreiben, der Verbrennungsmotor zu Lande und in der Luft wird offen oder versteckt subventioniert, man kriecht vor den Energiekonzernen im Staub und verzichtet seit Jahrzehnten auf ihre angemessene Besteuerung — all das beschleunigt den Raubbau an den Ressourcen und vergiftet die Lebenswelt mehr und mehr. Hier handelt es sich, wie Martin Jänicke schon vor Jahrzehnten festgestellt hat, schlicht und einfach um Staatsversagen.

Je länger eine grundsätzliche Änderung dieses Systems hinausgezögert wird, desto größer und schwerer werden die Härten sein, die eine notwendige Umkehr begleiten. Und die wichtigste Weiche, die wir sofort stellen können, ist zweifellos die Steuer, mit der wir uns an diesem Wochenende beschäftigen: die Ökosteuer.

Der Name besagt zunächst nicht viel — weil er zu viel besagt. Es gibt viele Systeme ökologisch sinnvoller Besteuerung. Ernsthafte Menschen lehnen sie ab, weil sie zu wirksam werden könnte — das heißt, daß die Wirtschaft zu früh und zu energisch den ökologischen Umbau betreiben könnte. Nun, auch dies ist absurd. Stellen wir zunächst einfach fest, welche Wirkungen aus einer sinnvoll gestalteten Ökosteuer erwachsen sollten: 

Alle diese anzustrebenden Wirkungen werden wir wohl an diesem Wochenende diskutieren. Zusammenfassen ließen sie sich unter dem Motto: brechen wir das Monopol des Ökonomismus, das längst zu einem politischen, kulturellen, ja zu einem Bewußtseins­monopol geworden ist! Sollte uns dies gelingen, dann könnte es auch gelingen, den Markt, vielmehr die Märkte zu retten — so paradox das zunächst auch klingt; nämlich die Märkte zu retten als kulturelle Gesamtgestalt, von Zeremonie, Prunk und dramatischem Dialog ebenso bestimmt und gestaltet wie vom puren Gewinnstreben.

Ich möchte mit einer bekannten ZEN-Geschichte schließen — der Geschichte vom verlorenen Ochsen. 

In dieser Geschichte macht sich ein tief bekümmerter Landwirt auf, seinen verlorenen Ochsen zu suchen; geheimnisvolle Spuren deuten sich an, sie führen zu einer beleuchteten Hütte auf einem Hügel. Dort — daran läßt die Geschichte keinen Zweifel — findet der Landmann seine Gewißheit, erlebt sein satori, seine innere Erleuchtung: der Ochse ist auf einmal völlig unwesentlich. Und dann, im letzten Bild, kehrt der Heilige (denn zu dem ist der Landmann geworden) bergabwärts in die Stadt, auf den Markt zurück — listig lächelnd, offensichtlich etwas angeheitert, die Schnapskalebasse hat er an einen Stock gebunden, den er auf der Schulter trägt. 

Er ist einer wie alle, der Heilige, bereit wiederum für den Markt, aber alles ist völlig anders. Hat er seinen Verlust vergessen? Welchen Verlust — so wird der Heilige zurückfragen. Er ist aus dem Reich der angstvollen Knappheit ins Reich der Fülle übergegangen. 

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