Teil 3 Reden
Die Gruppe 47 - ein (fast) persönlicher Rückblick
Füssen, 2. Oktober 1997
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Sie haben mich aus kalendarischem Anlaß ersucht, über die GRUPPE 47 zu sprechen. Da schulde ich Ihnen wohl zunächst Auskunft darüber, in welcher Beziehung ich zu ihr stand und stehe.
Nun, ich bin kein perfekter Zeitzeuge - das wäre ich, wenn ich von der ersten Stunde an dabei gewesen wäre. Doch ich kenne die fabulösen Jahre des Anfangs nur vom Hörensagen - aus den Gesprächen der Veteranen, aus den Medien wie damals alle, die am Thema interessiert waren. Ich stieß erst 1955 dazu - übrigens auf Empfehlung von Wolfgang Hildesheimer; ich kann also nur über gut die Hälfte der Lebensdauer Zeugnis ablegen. Und wenn ich den Gesprächen der Veteranen geglaubt hätte, dann hätte ich tatsächlich nur die dekadente, die schon entfremdete Hälfte ihrer Existenz erlebt. (Schon 1957, also im dritten Jahr meiner Zugehörigkeit, sah Hans Werner Richter eine unheilverkündende Spaltung am Werk, eine Spaltung zwischen den alten Realisten und den jungen Formalisten, und stellte sich selbst die Frage, ob damit die Lebensgrundlage der Gruppe nicht gefährdet sei.)
Nun, ich habe den Veteranen nicht geglaubt, jedenfalls nicht wirklich. Vielleicht aus Gründen der Selbstachtung, vielleicht auch, weil mir das, was ich an und in der Gruppe erlebte, immer interessant, immer vital, immer ergiebig genug erschien, um ihr Lebensrecht zu bestätigen. Und heute bin ich davon überzeugt, daß ich mich damals nicht täuschte. (Richter selbst hörte ja auch nicht auf, die Gruppe einzuberufen, und behielt recht damit.)
Aber wer oder was war nun dieses Fabeltier, dieser Verein, der keiner war, diese Mafia, die keine war, diese literarische Schule, die nur sehr vorsichtig als solche zu bezeichnen ist?
Heuer, im Jubiläumsjahr, wimmelt es von alten, aus dem Fundus der Jahrzehnte hervorgeholten Beinamen und Qualifikationen. Joachim Kaiser zitiert die »Rasselbande«, die, glaube ich, Thomas Mann zum Taufpaten hatte; Reich-Ranicki im SPIEGEL nennt sie eine literarische Modenschau; Willy Winkler im Feuilleton der SÜDDEUTSCHEN spricht von einem Streberverein; Werner Fuld in der WOCHE hingegen inthronisiert sie als einzige wichtige außerparlamentarische Opposition der Adenauerjahre. Vielleicht ist an all diesen Beschreibungen was dran; doch den Nachfahren nützen sie alle nicht viel.
Beginnen wir also lieber von vorn, von den einfachen Daten her.
1947 verboten die Besatzungsmächte, und zwar einträchtig die Russen und Amerikaner, eine Zeitschrift, die sich »Zeitschrift der jungen Generation« nannte und DER RUF hieß. Sie war in den USA als Kriegsgefangenenzeitschrift entstanden und wurde dann unter dem gleichen Namen und mit der fast gleichen Redaktion, zu der schon Hans Werner Richter und Alfred Andersch gehörten, nach München verpflanzt. Sie war freiheitlich-links und von vornherein europäisch orientiert, reichlich selbstbewußt im Ton, was den Besatzungsmächten dann doch unschicklich erschien. (Die offizielle Begründung des Verbots lautete, wenn ich mich nicht irre, auf Nihilismus ...)
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Richter und Andersch beschlossen den Versuch einer neuen Zeitschrift zu unternehmen: einer Revue des Zeitgeistes, mit mehr Nachdruck auf Belletristik, als sie DER RUF gehabt hatte. Als neuer Name war DER SKORPION vorgesehen - man merkt, da sollte wieder etwas Giftiges und Stachliges entstehen.
Die Planer erhielten die Möglichkeit, im Haus einer literarischen Freundin, Frau Schneider-Lengyel, an einem hübschen See in den Bergen (der ja den Füssenern wohlbekannt ist) eine Art vorbereitender Redaktionskonferenz einzuberufen. Man kannte sich oder brachte Freunde mit, von denen man eine gute Meinung hatte, und das waren nicht nur Literaten. (Der Blick auf die Fotos der Gründertage, auf Hemdsärmel und Windjacken und Bundhosen, läßt an alte bündische Zeiten denken.) Man las sich gegenseitig Texte vor, die noch nicht veröffentlicht waren; Texte eben, die man der neuen Zeitschrift anzubieten gedachte. Nach den Vorlesungen erhob sich laute, oft recht rauhe Kritik - da genügte der nach unten gedrehte Daumen, um den hoffnungsvollen Autor verstummen zu machen. Aber der Geist der Zusammenkunft gefiel, und man beschloß, das Treffen zu wiederholen.
Wenn ich hier, als (noch) Nicht-Zeitzeuge, diese Tage von 1947 rekapituliere, so deshalb, weil der Moment und die Absichten von 1947 vieles an Atmosphäre und Brauchtum erklären, was später von den Medien zu einer Art von Kommers-Liturgie hochstilisiert wurde. Nehmen wir uns Einiges davon der Reihe nach vor:
1. Die Gruppe war kein Verein und wurde auch keiner. Sie war und blieb ein Kreis von Freunden und literarischen Genossen. Es gab keine Zugehörigkeit, da es kein Vereinsregister oder dergleichen gab. Wen Hans Werner Richter per Postkarte oder Telefon zum nächsten Treffen einlud, der gehörte für dieses Treffen dazu. Natürlich gab es dennoch so etwas wie einen ständigen Kreis, aber Richter erklärte: »Wer zur GRUPPE 47 gehört, weiß nur ich.«
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2. Die Arbeitsmethode bestand im Vorlesen von literarischen Texten, und zwar von Arbeiten, die noch nicht abgeschlossen und jedenfalls unveröffentlicht waren. Der Autor saß auf einem Stuhl, den man bald den »elektrischen« nannte, auf einem zweiten saß als Moderator Hans Werner Richter. Nach der Vorlesung wurde der Autor einer Sofortkritik unterworfen; der umgedrehte Daumen verschwand als Meinungsäußerung rasch, aber eine rauhe Sache bliebs trotzdem. Möglichkeiten zu eigener Äußerung hatte er nicht.
Dies ist oft als unnötige Grausamkeit gerügt worden, erklärt sich aber sofort, wenn man sich klarmacht, was 1947 die Ausgangslage war: der Autor befand sich sozusagen einem kollektiven Verlagsgremium, später einem kollektiven Lektorat gegenüber, dem man, im Falle der postalischen Einreichung und Ablehnung, ja auch nicht mit rechtfertigenden Erklärungsversuchen kommen kann. Nach der Kritik begab sich der (angenommene oder durchgefallene) Autor bezw. die Autorin stumm auf den Platz im Auditorium zurück.
Eines ist zweifellos richtig: solche Bräuche waren nicht jedermanns Sache; und es ist nicht nachzuweisen, wie viele hochbegabte, aber zu sensible Naturen dergleichen vom ersten oder jedenfalls vom zweiten oder dritten Besuch bei der Gruppe abhielt. Aber es muß betont werden: wessen Text einmal oder auch öfters abgelehnt worden war, der war damit keineswegs aus der Gruppe ausgestoßen. Das Geheimnis des anmutigen Verlierens war eine wichtige Bedingung der Zugehörigkeit. (Ich darf mich rühmen, seit 1955 immer eingeladen worden zu sein, obwohl ich von fünf Malen, wo ich vorlas, viermal mehr oder weniger deutlich durchgefallen bin.)
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Diese höchst einfachen Regeln bestanden, wie erwähnt, zwanzig Jahre lang. In diesen zwanzig Jahren entwickelte sich die Gruppe zu einer zentralen Institution der Bundesrepublik - das soll gar nicht geleugnet werden. Und natürlich veränderte sie sich selbst dabei. Wie schon erwähnt, war dies einigen alten Kameraden gar nicht recht - und Richters Befürchtungen selbst wurden glücklicherweise auch widerlegt - wenigstens zehn Jahre lang.
Nun ist eine Lebensdauer von zwanzig Jahren für eine Schriftsteller-Gruppe tatsächlich eine erstaunlich lange Zeit, und es gibt viele Theorien, welchem Geheimnis sich diese Lebensdauer wohl verdankte. Ganz wird sich das Rätsel nie lösen lassen; aber einige Faktoren lassen sich immerhin herausdröseln, und ich versuche (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) einige zu benennen:
1. Sehr oft wird darauf hingewiesen, daß die Gruppe niemals ein umrissenes literarisches Programm besaß. Sie wurde von »linken Realisten« gegründet (ich verwende den Ausdruck mangels besserer), war aber geschmeidig genug, viele neue Strömungen und Versuche zu integrieren. Die Grenzen nach außen hin waren durch allgemeine literarische Qualitätsmerkmale, aber auch durch einen allgemein antifaschistischen Konsens gezogen. Der war von vornherein gegeben und wurde tatsächlich von Freund und Feind als konstitutiv angesehen.
2. Die Bundesrepublik verfügte nicht über das, was für die großen literarischen Kulturen der Neuzeit charakteristisch war und ist: eine wirkliche Metropole. Die Rolle des neuzeitlichen Paris, des kaiserlichen Wien oder des republikanischen Berlin der Weimarer Zeit war weder durch Hamburg noch durch München, weder durch Frankfurt oder gar durch Bonn zu ersetzen - auch das insulare Westberlin war dazu nicht fähig. Das haben viele Beobachter erkannt, und sie meinten, daß die Gruppe für drei Tage im Jahr diesen Verlust wettgemacht habe; sie war für diese drei Tage Deutschlands Romanisches Cafe, jener berühmte Treffpunkt des Berlin der Weimarer Zeit, wo man sozusagen automatisch alle wichtigen Leute traf - oder doch zu treffen hoffte.
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3. Drei Tage im Jahr: gerade diese Begrenzung war ein zusätzlicher Vorteil. Die meisten Literaten haben empfindliche Nerven, für die längere Zeiträume des Zusammenhockens unerträglich werden können.
4. Der wichtigste Faktor aber war wohl ein einzelner Mensch: Hans Werner Richter. Da ich nach meiner Ankunft in der Gruppe sehr rasch sein persönlicher Freund geworden bin, fällt es mir etwas schwer, ihn objektiv zu beurteilen. Er wurde 1908 geboren; war also im Gründungsjahr schon nicht mehr das, was man einen jungen Dichter nennen kann. Er stammte aus einem Fischerdorf in Pommern, seine Jugend war hart und entbehrungsreich, und er war begabt dafür, sich damit elastisch zurechtzufinden. Kurze Zeit arbeitete er in einem Buchladen, schloß sich den Kommunisten an, wurde flugs wieder aus der Partei ausgestoßen, ging nach Hitlers Machtübernahme für kurze Zeit nach Paris, konnte sich als Emigrant aus finanziellen Gründen (genauer gesagt: wegen steten Hungers) nicht halten und kehrte nach Deutschland in jahrelange vollständige Obskurität zurück. Zu Kriegsbeginn wurde er Soldat, 1944 in Italien gefangengenommen und nach den USA ins Gefangenenlager gebracht, wo er, wie schon erwähnt, zusammen mit Alfred Andersch und Walter Kolbenhoff den ersten RUF gründete. Nach der Rückkehr veröffentlichte er zwei Romane, die sich fast dokumentarisch hart an die Zeit hielten: Die Geschlagenen, eine Chronik des Krieges in Italien und der Kriegsgefangenschaft, und Sie fielen aus Gottes Hand - meines Wissens der einzige Roman, der es unternahm, das Schicksal der Heimatlosen zu beschreiben, die der Zusammenbruch des Dritten Reichs in Deutschland hinterlassen hatte.
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Sehr charakteristisch ist es für ihn, daß er als Autor immer mehr zurücktrat, als sich (nicht zuletzt durch seine Arbeit mit der GRUPPE 47) ein neues hochliterarisches Stilgefühl herausbildete. Doch hat er nicht aufgehört, aus der Erinnerung und aus seinem persönlichen Lebensbereich zu erzählen, in einem knappen, ziemlich unterkühlten Stil, der mehr Beachtung verdiente, als er heute erhält. Sein einmaliges Genie aber war sein Talent als Moderator, Katalysator oder wie man das nennen will, der Gruppe. Dabei zeichneten ihn vor allem zwei Eigenschaften aus: eine sehr bestimmte und selbstsichere Art, mit Menschen, vor allem mit schwierigen Menschen umzugehen, die aber nie in Überheblichkeit umschlug -und (scheinbar paradox) seine fast pedantische Zurückhaltung im eigenen Urteil. Dieses sein Urteil kam oft im persönlichen Gespräch, kam oft in seinen Briefen zum Ausdruck - der Gruppe hat er es nie zugemutet oder aufgedrängt. Dafür brachte er es fertig, Sätze auszusprechen wie etwa: »Es war eine gute Tagung, es wurde viel gelacht.« Rücksichtslos ging er gegen alle Versuche vor, Tagungen der Gruppe zu stören, etwa durch das Eindringen von Nicht-Geladenen oder auch von politischen Spaltungstendenzen. Literarisch, etwa auch in der Frage der Einladungen, ließ er sich durchaus und gerne beraten. Trotz eigener Bedenken wußte er, daß sich die Gruppe (1.) verändern mußte, wollte sie flexibel und, vor allem, kompetent bleiben - und daß (2.) zu dieser Veränderung auch die Professionalisierung der Kritik gehörte.
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Zum ersten Punkt - Flexibilität.
Es lohnt sich, die Liste der Autoren und Autorinnen anzusehen, die den Preis der Gruppe erhielten. Der Preis wurde durch geheime Abstimmung vergeben, Preisgeld ergab sich in wechselnder Höhe und ohne vorherige Absprache (berühmt geworden ist einer der frühen Preise, der mit einer Kiste elektrischer Glühbirnen verbunden war - damals ein höchst willkommenes Wirtschaftsgut). Die erste Verleihung fand 1950 statt, und zwar an Günter Eich. Er war in erster Linie Lyriker und fing als Kriegsgefangener an, äußerst karge Verse zu schreiben - in einer Kargheit, die zu dem so oft mißverstandenen Schlagwort vom »Kahlschlag« führte; aber gerade Eich wurde später zum führenden Vertreter eines phantastischen Realismus und schrieb Hörspiele von hoher Imagination und sprachlicher Poesie.
Ihm folgte 1951 Heinrich Böll, damals noch völlig unbekannt, der mit einer humorvollen kleinen Erzählung vom Schwarzen Schaf debütierte. 1952 und 53 folgten zwei österreichische Damen, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann, beide höchst kunstvoll, ja esoterisch; dann Adrian Morrien, ein Holländer, dann Martin Walser, 1958 Günter Grass, der das Anfangskapitel der Blechtrommel vorlas, 1962 Johannes Bobrowski aus der DDR, dessen kostbare, verschwiegene Naturlyrik beeindruckte, 1965 der Schweizer Peter Bichsel mit listig-vertrackten Texten, und als Letzter 1967 der Kölner Jürgen Becker, der sich auf halb abstrakte Ränder (so sein eigener Titel) des dichterischen Schachbretts begab.
Schweizer, DDR-Autor, zwei Österreicherinnen, ein Holländer: man sieht, daß in der Gruppe nur in Kategorien des deutschen Spachraums, nicht in momentanen politischen Grenzen gedacht wurde. Das brachte Kritik von den Betonköpfen der jeweils herrschenden Farbe auf beiden Seiten der trennenden Elbe ein, die ja - erinnern wir uns - die massivste ideologische Grenze Europas war.
Wichtiger ist etwas anderes an dieser Liste: sie weist Autorinnen und Autoren der verschiedensten Stilmittel und Richtungen auf, und zwar zu dem Zeitpunkt, wo diese Richtungen jeweils führend wurden. Natürlich ging das nicht ohne Kopfschütteln innerhalb der Gruppe ab, wir sprachen davon, und fast nie war das Votum so eindeutig wie bei der Blechtrommel.
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Trotzdem verblüfft, wenn man zurückblickt, die relative Instinktsicherheit des Urteils, gefällt aufgrund eines reinen Vorlese-Eindrucks von Texten, die oft genug äußerste Aufmerksamkeit beanspruchten. (Oft war die Aufmerksamkeit schon rein akustisch nötig - Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger zum Beispiel pflegten ihre Verse und Sätze zu flüstern ...) Aufs Ganze gesehen war die Gruppe doch eine recht intelligente literarische Redaktion.
Natürlich gab es auch massive Fehlurteile, etwa bei Paul Celan, der einmal kam und nie wieder - seine Todesfuge kam für die Meisten doch zu verfrüht. Doch einige Fehlurteile stehen wohl jeder Redaktion zu ...
Nun zum zweiten Punkt, zur Professionalisierung der Kritik. Sie ging Hand in Hand mit der wachsenden Anerkennung der Gruppe durch die Öffentlichkeit. Die fünf oder sechs Namen, die da wichtig wurden, sind noch heute in ihrem Handwerk prominent (und nicht nur im Literarischen Quartett). Für den Geschmack vieler Autoren, vor allem der Veteranen, benahmen sie sich zu autoritär - das Grollen darüber war innerhalb der Gruppe chronisch, und manchmal, ich gestehe es, war der Kritiker-Zauber auch kaum auszuhalten. Dennoch: diese Profis kamen gerade rechtzeitig zum Beginn der zweiten Dekade, um weit über die Gruppe hinausgreifende Maßstäbe der literarischen Geschmacksbildung zu setzen.
Es ist reizvoll, diese Entwicklung anhand der gegnerischen Äußerungen zu studieren, die es in Massen gab.
Hier muß Eines festgehalten werden: eine STUNDE NULL für die deutsche Literatur nach 1945 hat es nicht gegeben. Es gab die sogenannte Innere Emigration, es gab eine Art von gepflegter Innigkeit, es gab akademisch-literarische Geschmackspäpste, denen es trotz bedenklichster politischer Vergangenheiten nicht einfiel, den Mund zu halten, und die sich auf allgemeine innere Erschütterungen von hohem Niveau und geringer Genauigkeit spezialisierten.
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Die Gruppe wurde also anfangs von rechts angegriffen (die politische Ortsbestimmung ist durchaus wichtig), vom Establishment her - als eine Bande von Lausbuben, eine Rasselbande eben, die keine Ahnung von den großen Regeln der Literaturgeschichte seit Homer, keine Ehrfurcht vor den wirklichen Gipfeln der Dichtung hatte. Später dann, als die Gruppe mächtiger wurde, also etwa ab 1955, warf man ihr Unfehlbarkeitswahn und Monopolgelüste vor, was umso gefährlicher schien, als nach wie vor der Verdacht auf Linksterrorismus und Kulturzerstörung bestand. Ein rechter Politiker von Rang wagte sogar den dämlichen Vergleich mit der NS-Reichsschrifttumskammer ...
Dieser Verdacht wurde schwächer um i960 und schwand endgültig, als die Gruppe 1964 in Schweden tagte. Da wurde sie sozusagen offiziös, wurde von der Stadt Stockholm und vom Ministerpräsidenten empfangen, und das führte, wenn auch erst nach weitläufigem Rück- und Hinterfragen, zwangsläufig zum Empfang in der bundesrepublikanischen Vertretung.
Nun wurde natürlich der Weg frei für die, welche die Gruppe von »links« angriffen- als undemokratischen autoritären Club, als unsensible Karriere-Maschine für die Unsensiblen, und, zuletzt in der Kulturrevolution seit 1967, als sie zur Zielscheibe des Studentenprotests wurde, als Elfenbeinturm der reinen Kulturschreibe.
Die Geschichte verdient erzählt zu werden. Die letzte offizielle Tagung der Gruppe fand 1967 in der Pulvermühle, einem Gasthaus am fränkischen Flüßchen Wiesent statt. Da drang eine Gruppe von Studenten gegen uns vor, um uns als blutarme Ästheten zu entlarven und unsere Solidarität im Kampf gegen das Zeitungshaus Springer einzufordern. Der Anführer war der Schar voraus, kam in einem stattlichen lilafarbenen Kabriolett, überflattert vom roten Fahnentuch, über die Brücke des Flusses. Ich stand neben Richter an der
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Tür des Saalbaus, in dem wir tagten, und sah sie kommen. Hans wandte sich an mich mit der Frage: »Sag mal, welchen Wagen fährt der?« - »Einen Jaguar«, antwortete ich. -»Ich«, sagte Richter, »fahre einen Volkswagen.« Sprachs, drehte sich um und ging in den Saal. Die Sache dieser Studenten war für ihn erledigt.
Waren alle oder einige dieser Kritiken berechtigt? Waren sie verständlich? Ich glaube schon. Ich glaube, daß sie hilfreich bei dem Versuch sein können, die Konturen der GRUPPE 47 etwas genauer zu bestimmen - allerdings nicht in dem negativen Sinne, den die Kritiker meinten. Erlauben Sie mir deshalb, diese Konturen auch aus meiner Sicht zu beleuchten.
1947 entstand dieser Kreis aus Freunden, deren Lebensund Bildungsweg (mit wenigen Ausnahmen) durch Hitler und den Krieg wenn nicht zerstört, so doch aufs schlimmste verstümmelt war. Noch in der Weimarer Zeit war die literarische Welt bestimmt (und zwar links wie rechts) durch die große deutsche Bildungstradition des 19. Jahrhunderts. Sie umfaßte so weit auseinanderliegende Genies und Talente wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Walter Benjamin, Robert Musil, Hermann Broch und so fort - mindestens achtzig Prozent von ihnen wurden durch das Dritte Reich zu Emigranten oder verstummten fast ganz in der inneren Emigration, soweit sie ehrlich war. Die gemeinsame Bildungstradition hatte auch zwischen erbitterten Feinden den Stil und das geistige Klima der Auseinandersetzung bestimmt. (Man denke nur an die berühmte Polemik zwischen Heinrich und Thomas Mann mitten im Ersten Weltkrieg!) Die große europäische Bildungsliga, in der man sich die Bälle zuspielte, funktionierte noch.
1933 riß diese Kontinuität ab. Und diejenigen unter den Bildungsverwaltern, die nach 1947 gerade dieses Erbe gegen die Gruppe ausspielten, waren außerstande, sie wiederherzustellen.
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Die jungen Kriegsheimkehrer ohne akademischen Abschluß, die Unteroffiziere und Gefreiten, die gewesenen Jung-Kommunisten und -Sozialisten, aber auch die Dissidenten, die (wie Hans Werner Richter, Walter Kolbenhoff, aber auch Willy Brandt) als noch nicht Zwanzigjährige aus Hitlerdeutschland geflohen waren. Sie wurden und waren zwangsläufig Autodidakten, zumindest in ihrer Mehrheit. Anfangs gab es durchaus Versuche, mit den Emigranten, vor allem den zurückgekehrten, Kontakt aufzunehmen (ich erinnere mich etwa an Hermann Kesten); die Versuche blieben aber fast alle stecken. Ein unbefangenerer Umgang gelang erst in der zweiten Dekade, als verehrungswürdige Linke wie Ernst Bloch und Hans Mayer als gerngesehene Gäste bei den Tagungen erschienen.
Und er konnte nur gelingen, weil es der Gruppe selbst gelungen war, ihre eigene Kontur und ihren eigenen Bildungshorizont zu finden. Es war eine Kultur, die in deutschen Landen von Literaten wohl noch nie entwickelt worden war. Aus den bereits erwähnten rauhbauzigen Anfängen erwuchs das, was ich als die Atmosphäre eines Clubs bezeichnen würde.
Nun ist der Club eine westeuropäische Erfindung - und vieles an der Gruppe erinnert tatsächlich an britische oder holländische Club-Gewohnheiten: er kann Menschen vieler, ja gegensätzlicher Anschauungen und Stile vereinen, wenn ein oft schwer beschreibbarer Grundkonsens vorhanden ist. Aus ihm entwickelt sich dann die eigene Bezugswelt, was bis zum Snobismus gehen kann. Der Club lebt von der Sympathie der Mitglieder untereinander - eine Sympathie, die Instrument in der Verwestlichung des deutschen politischen und gesellschaftlichen Lebens [ist]. Und eben hier ist vom politischen Einfluß der Gruppe zu sprechen.
Zunächst und vor allem: Es gab im Lauf der Jahrzehnte zahlreiche Proteste und Resolutionen, viele Appelle an die Öffentlichkeit, sogar Adressen an übernationale Instan-
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zen wie die UN. Sie waren aber alle von Einzelnen mit ihrer einzelnen Unterschrift versehen - Mehrheitsabstimmungen über Manifestationen »der GRUPPE 47« gab es nicht. Sicher, fast alle diese Äußerungen entstanden aus einer nonkonformistischen Gesinnung, die man damals den »heimatlosen Linken« zuschrieb. Das führte natürlich zu Vorwürfen der Linkslastigkeit, von direkter und indirekter Unterstützung staatszersetzender Kräfte, später aber auch zu indirekter und direkter Unterstützung der linken parlamentarischen Oppositon. Wie wirksam war das alles? Hat es Entscheidendes zur Veränderung der Verhältnisse beigetragen? Taten dies die zahlreichen politischen Vereinigungen wie der Grünwalder Kreis zur Bekämpfung faschistischen Gedankenguts, der Republikanische Club, das Komitee gegen Atomrüstung und andere Formationen, die immer eine beträchtliche Schnittmenge mit dem Personal des Clubs, des Netzwerks 47 aufwiesen?
Auf den ersten Blick scheinen die Erfolge gering; kaum ein Anliegen der Gruppe wurde im öffentlichen Raum konkret wirksam, selbst bekämpfte Nazi-Verlage hielten sich zäh mithilfe bewährter rechtslastiger Juristerei. Ob die beiden Sammelbroschüren für die SPD 1961 und 1965, ob die großen Reden von Günter Grass und das Berliner Wahlkontor für Willy Brandt auch nur ein Prozent zusätzlicher Stimmen einbrachten - niemand vermag es zu sagen. Und die meisten Anlässe von Aktionen und Resolutionen sind so gut wie vergessen.
Wäre es also gerecht, von historischer Wirkungslosigkeit der Gruppe zu sprechen?
Es wäre nicht nur ungerecht, sondern höchst albern. Zunächst ist festzustellen: sie war auf ganz konkrete Weise an der formellen Weiterentwicklung der deutschen Literatur, vor allem der Prosa beteiligt. Wenn heute jede zweite jugendliche Autorin oder Autor so gut schreibt wie die bekannteren Namen der Gruppe (freilich nur im rein formel-
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len Sinn), hängt dies zweifellos mit der jahrzehntelangen unerbittlichen Kritikarbeit der Gruppe zusammen. Schon wenn dies nur Literaturverhinderung, die Verhütung von zuviel bedrucktem Papier, gewesen wäre (man kennt die Mär von dem ehrgeizigen Zahnarztsohn, den sein Vater zum Vorlesen in die Gruppe schickte und weitere finanzielle Unterstützung vom kritischen Resultat abhängig machte, und der nach erfolgtem Durchfall ernüchert ins Studium der väterlichen Branche zurückkehrte, wo er vermutlich heute fünfmal mehr reinholt), so wäre allein dies schon ein großer Verdienst. Aber natürlich ging die Wirkung weit darüber hinaus.
Und im politischen Bereich? Die einzelnen Erfolge und Mißerfolge des Netzwerks, des Clubs oder wie man das nennen mag, sind nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, daß die formlose Linke, die sogenannte »heimatlose«, sich eine Wirkform verschaffte, die gemeinhin der Rechten, und zwar der mächtigen Rechten, vorbehalten ist - eben die Wirkform des informellen Clubs. Das gab ihr einen unbeschreiblichen Vorteil, den die Linke in Deutschland gemeinhin nie hatte oder wahrnahm: die Abwesenheit von Angstschweiß, die unerschrockene offensive Präsenz. Dies erklärt zum Einen die fürchterliche Aufregung der Rechten, die sich eine solche freche Usurpation ihrer eigenen, für die Macht so nützlichen Umgangsformen einfach nicht vorstellen konnte - und zum Anderen die Mißverständnisse mit der erwachenden jungen Linken, die sich richtige Gesinnung in solcher Organisationstracht ebenfalls nicht vorstellen konnte. Ich schlage vor, daß man sich die entsprechenden Dokumente, Original-Äußerungen wie die entsprechenden Reaktionen danach, noch einmal unter diesem Gesichtspunkt vornimmt - und man wird merken, daß man damit einen Schlüssel gefunden hat, der wirklich aufschließt.
Kommen wir zum guten Ende.
1967 fand wirklich die letzte offizielle Tagung statt, 1968 wurde eine neue in Prag vorbereitet, die bekannte realsozialistische Bruderhilfe kam dazwischen, und so hatte Richter ein wundervolles Argument dafür, nicht mehr einzuladen - außer zu Geburtstagen und anderen speziellen Anlässen, die jeweils nur einige der alten Freunde betrafen.
Aber als in Prag die samtene Revolution stattgefunden hatte, riefen Etliche, darunter auch ich, Hans Werner Richter an und erinnerten ihn, daß er sozusagen im Wort war. Und so gelang 1990 eine wunderhübsche letzte Tagung im böhmischen Schloß Dobfis, das jahrzehntelang das repräsentative Nest des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands, einer Laien- und Lakaienspielgruppe des Regimes gewesen war. Die Tagung gelang nicht zuletzt durch die Mithilfe unseres Kollegen im Hradschin, Vaclav Havel, der die ganzen Jahrzehnte über aus Grundsatz keinen Fuß in dieses Schloß gesetzt hatte.
Wir, unsere Tagung, hatten das Schloß sozusagen moralisch wieder betretbar gemacht, und der Kollege Präsident erschien denn auch am Samstag prompt zum Abschiedsbuffet. Ich weiß aber auch, was dieses böhmische Tagungs-Märchen für meinen Freund Hans Werner bedeutete, dessen Gesundheit schon nicht mehr die beste war, der aber buchstäblich von Stunde zu Stunde auflebte und zur alten, natürlich-autoritativen Form zurückfand. Mit solchem Gedenken darf ich diesen fast persönlichen Rückblick schließen.
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