T4     Start     Weiter 

   Einführung zu Günter Grass 

 »Rede über Deutschland«, 18.11.1992

 

200-203

Mein Auftrag, Günter Grass einem gebildeten hiesigen Publikum vorzustellen, kommt mir ein wenig deplaziert vor — als wollte man den Stadtpfarrer von Sankt Peter beauftragen, einer Versammlung von Theologen Kardinal Ratzinger vorzustellen. 

Nun, mein Freund Grass hat es so gewünscht, und ich werde davon absehen, seine Bedeutung in literarischer Zeit und deutschem sowie internationalem Raum zu erörtern. Viel eher sollte es wohl darum gehen, ihm, Günter Grass, den genius loci* etwas näher zu bringen. Dies soll (nach zwei persönlichen Reminiszenzen*) durch vier illustrative Federzeichnungen geschehen.

Die erste Reminiszenz: wie wir uns kennenlernten. Es war 1956, glaube ich, in dem alten und damals noch ziemlich vergammelten Jagdschloß Bebenhausen. Er und ich waren Erstlinge in der Gruppe 47, er und ich lasen Texte vor, mit denen sich das schöpferische Publikum nicht so recht befreunden konnte — mit anderen Worten: wir fielen beide durch. So etwas verbindet, und beim Rotwein am Katzentisch kam es zum brüderlichen Du. Vielleicht war ich also in diesem gehobenen Kreise Grassens erster Duzfreund — man erlaube mir jedenfalls, mir das einzubilden. 

wikipedia  Genius_loci     wikipedia  Reminiszenz  

Die zweite persönliche Reminiszenz: Berlin, in der Mitte der Sechzigerjahre. In der bekannten Niedstraße 13 saßen an der Wand entlang auf Polstermöbeln Politiker und Literaten. Ich kann mich an Fritz Erler erinnern, an Karl Schiller, und natürlich an Willy Brandt und Egon Bahr. Das Licht in dem karg möblierten Raum war spärlich, aber kantenreich vom Dunkel abgesetzt — ein Chiaroscuro, das an besonders tiefe alte Meister erinnerte. Was wir alles besprachen, weiß ich natürlich nicht mehr — und für die Erinnerung ist das wohl kaum erheblich. Es war, so oder so, die Mitte jener Zeit, in der (um Schiller zu zitieren) der Sänger mit dem König ging und beide auf der Menschheit Höhen wandelten. Ich nehme an, daß wir uns damals wohl zu viele Hoffnungen machten ...

Aber genug von der Ersten Person, Singular und Plural und hinübergesprungen zum genius loci, zu der Frage: wie steht Bayern, wie steht München zu Günter Grass?

Erste Federzeichnung: das stattliche Gasthaus zum »Schwarzen Adler« in Großholzleute, an der Grenze von altbayrischem Bergland und Allgäu. Hier erhielt, wie erinnerlich, Günter Grass den Preis der »Gruppe 47« für das unveröffentlichte Eröffnungskapitel der BLECHTROMMEL. Daß ich dabei war, freut mich natürlich, und so machte ich Jahre später, als ich mit Freunden den Gasthof im Auto passierte, die Bemerkung, daß hier wohl eine Gedenktafel fällig sei — ein Memorial für den Tag und den Ort, an dem die deutsche Literatur (und nicht nur diese) einen entscheidenden Schritt vorwärts tat. 

Trocken entgegnete mir ein Begleiter, der Wirt werde sich das verbitten. Denn zum (wenn auch ahnungslosen) Förderer von Grassens Ruhm geworden zu sein, habe ihm geschäftlich außerordentlich geschadet — ein guter Teil des heimischen Stammpublikums wollte nichts mehr wissen von einem Wirt, der Gastgeber dieses roten Schweinskram-Schreibers gewesen sei.

201


Illustration Zwei (ein Cartoon im Stil von Daumier oder noch besser Hogarth): Anläßlich eines Wahlkampfes schrieb Günter Grass ein trocken-witziges, aber natürlich auch modernes Gedicht, das in der Empfehlung endete: »Ich rat euch, Es-Pe-De zu wählen!« Unser unvergessener verblichener Landesvater nahm dies zum Anlaß, viele hundert Wahlkampf-Minuten in Bierzelten und Wirtshaussälen darauf zu verwenden, sich zusammen mit seinem animierten Publikum über das Gedicht lustig zu machen. 

Der Knackpunkt der gemeinsamen Heiterkeit war dabei gar nicht die politische Empfehlung am Ende, sondern die Eigenart moderner Dichtung an sich, die schwierigen und sprunghaften Verknüpfungen, die Verschwiegenheiten zwischen den Bildern — kurz, all das, was man spätestens seit Ezra Pound unter zeitgemäßer Dichtkunst versteht, und was auch vierzig Jahre nach 1945 noch immer die Wut und den Hohn des Philisters provoziert.

Ich behaupte, daß, beispielsweise, Herr Le Pen in Frankreich so eine Wahlkampfwaffe nicht verwenden würde. Nicht, weil sein Charakter besser wäre als der des unvergessenen Landesvaters (das ist er ganz bestimmt nicht), sondern weil er einfach als political animal wüßte, daß das in Frankreich ein Rohrkrepierer wäre. Der Stoffwechsel zwischen Literatur, Politik und Gesellschaft verläuft dort entschieden anders als in hiesigen Wirtshäusern und in hiesigen limbischen Gehirnen.

Ein Schicksal, das wir als deutsche Schriftsteller, insbesondere in Bayern, tragen müssen ...

Nun zur vorletzten Information und Illustration, sie betrifft diesmal München im engeren Sinne. Am 21. Februar 1919 fanden hier drei politische Morde statt. Ein Graf Tony Arco tötete den Revolutionsführer Kurt Eisner, und kurz darauf, unter dem Eindruck der Nachricht, ein hiesiger Soldatenrat Alois Lindner die Abgeordneten Osel und Jahreis im bayrischen Landtag.

Die Ermittlungen der bayrischen Justiz gingen von vornherein davon aus, daß die Tat Arcos die eines Einzeltäters war (was nicht stimmte) und die des Lindner Ausfluß einer roten Verschwörung zur Machtübernahme (was noch weniger stimmte). 

Unschwer wird man erkennen, daß damit für den Rest des Jahrhunderts der Tenor deutscher Rechtspflege in politicis bestimmt war — von den farcenhaften Prozessen gegen Arco und Hitler, den Modalitäten des Strafvollzugs im milden Landsberg und (im Gegensatz dazu) im Proto-KZ Niederschönenfeld, wie es Mühsam, Toller und andere erlebt haben, über Ossietzky etcetera hinweg in die Nachkriegszeit, in den höchst sonderbaren Umgang mit den Robenmördern der Nazi-Ära, in die pflegliche Behandlung der Wehrsportgruppe Hoffmann und die Pauschal-Denunziation der linken Sympathisantensümpfe, in die klägliche Beweislage so vieler RAF-Prozesse bis heute und die entspannte Atmosphäre von Ausländer-Totschlagsprozessen in den neuen Bundesländern. 

Ja, da können wir Bayern, da kann vor allem München ein historisches Copyright beanspruchen — was natürlich nicht bedeutet, daß andere deutsche Landschaften nicht freudig dieses Beispiel nachahmten und nachahmen.

Als letzte Pointe zum heutigen Thema und zum genius loci wollte ich noch erwähnen, daß unsere Stadt ja auch die Herren Gerhard Frey und Franz Schönhuber beherbergt. Aber während ich an diesen Exempeln schrieb, fand in Nürnberg ein Parteitag der CSU statt, auf dem unter der wohlwollenden Sonne der Parteileitung Gefühle zum Ausländerproblem ausgeatmet wurden, die sich überhaupt nicht vom Mundgeruch der genannten Herren unterscheiden.

So gebe ich die Spezifizierung und Personalisierung zugunsten einer so allgemeinen Stimmung auf und rufe meinem Freund Günter Grass einfach zu: willkommen in der Hauptstadt der Bewegung!

202-203

 #  

 

www.detopia.de      ^^^^