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  Teil 6  

Dank- und Preisreden  


1. Dankrede zur Verleihung des Wilhelm-Högner-Preises   am 24. Juni 1997

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Verehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren, liebe Freunde. 

Der Genius loci, der Name des Mannes, nach dem dieser Preis seinen Namen trägt, und meine Dankespflicht, die durchaus eine Dankesneigung genannt werden kann, drängen mich dazu, eines Buches zu gedenken, das mich wie nichts anderes zur persönlichen und bayerisch-patriotischen Sympathie mit Wilhelm Högner verführt hat: sein Erinnerungsbuch FLUCHT VOR HITLER. Ich bitte Sie, zusammen mit mir über einen Passus nachzudenken, der zur Reflexion über deutsche und bayerische Vergangenheit, aber auch zur Analyse unserer Gegenwart und unserer möglichen Zukunft nötigt.

Wilhelm Högner, hartnäckiger und mutiger als die meisten anderen führenden Sozialdemokraten in seiner Lage anno 1933, hat versucht, in der Heimat auszuharren. Nach aufreibenden Wochen der ständigen Flucht, des ständigen Adreßwechsels, der Gefährdung nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner Freunde wird klar, daß auch er den Weg in die Emigration gehen muß — ein Weg, der nun allerdings viel riskanter geworden ist. Seine Freunde bereiten die Flucht zu Fuß, südwärts über die Berge nach Tirol vor. 

Den letzten Frühsommerabend in der Heimat verbringt er einsam auf einem Hochsitz, herausgehoben aus dem Alltag der tierischen Angst und der tierischen Hektik, in einer Landschaft, die er sehr intensiv als die seine kennt und liebt. Dabei fällt sein Blick auf das nahe Anwesen eines Bergbauern, und über dieses Leben, diese Daseinsform beginnt er nun zu sinnieren:

»Der bayerische Bauer liebt die dorfweise Siedlung nicht. Seine Vorfahren bauten ihren Einödhof zwischen gelichtete Wälder. Um ihn herum erstreckt sich nach allen Seiten das nötige Acker- und Wiesenland ... Hier ist der Bauer Alleinherrscher in seinem Reich und lebt die ganze Woche mit Weib, Kindern und Gesinde bei harter Arbeit auf seinem Hof. Nur der Sonntag bringt ihn mit der Welt draußen, mit Kirche und Pfarrer, mit Wirtshaus und Politik in Verbindung. Die Behörden ... sind ihm verhaßt. Er meidet den Umgang mit ihnen ... Diese Bauern sind sich vielleicht nicht bewußt, was Freiheit ist, aber sie leben sie ... Wenn die Deutschen sich jemals wieder auf den Wert der unabhängigen und eigenwüchsigen Persönlichkeit besinnen sollten, werden sie an die knorrige Gestalt des freien Einödbauern anknüpfen müssen ...« 

Nun, wir wissen, daß Wilhelm Högner zwölf Jahre später, nach grimmen Notjahren in der Emigration, nach Bayern zurückgekehrt ist. Und wir wissen, daß er der Vater der bayerischen Nachkriegsverfassung war. Hat er sich, in dieser Funktion und bei dieser Arbeit, an den Hochsitz von 1933, an seine Überlegungen von damals erinnert?

Ich glaube doch. Immerhin erinnere ich mich an informative Tischrunden der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo von geschliffenen Juristen nachsichtig die Bestimmungen glossiert wurden, die den freien Zugang des Bürgers zu Bayerns Naturschätzen, zu seinen Seestränden und Wäldern, zu seinen Pilzen und Beeren verankerten. Gut, das waren Annehmlichkeiten, die damals auch dem durchschnittlichen Münchner oder Nürnberger etwas bedeuteten — mehr sogar vielleicht als den Besitzern von Bauernhöfen. 

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Daß ein Sozialdemokrat damit uralte Rechte, die Rechte der Allmende, erneut im Grundgesetzlichen verankerte, mochte und mag vielleicht Sozialdemokraten aus nördlichen Ballungsgebieten sonderbar erscheinen — auf bayerischer Flur gab es eine solche sozialdemokratische Tradition durchaus. Ich erinnere mich an Gespräche mit einem alten oberbayerischen Bauern, der noch Versammlungen mit Georg von Vollmar erlebt hatte; jede Menge bäuerlichen Volks, so erzählte er mir, sei zu diesen Vollmar-Reden erschienen, obwohl der Redner selbst derb-ironisch zugab, daß ihn die Versammelten wohl trotzdem nicht wählen würden.

Warum war sich Vollmar da so sicher? Rechnete er mit der Allmacht des katholischen Klerus, der damals und bis in die Achtzigerjahre hinein nicht bereit war, dem Humanismus der Sozialdemokraten die Ehre der Gleich­berechtigung in politicis zuzugestehen? Rechnete er mit der bäuerlichen Versessenheit aufs Eigentum, mit der tiefen Verwurzelung des Imperativs »'s Sach' z'amm'halten!«, der ebenfalls noch bis heute das Mißtrauen gegen die möglichen Enteigner nährt?

Ich glaube, daß das alles dazu beitrug und beiträgt, die Sache, für die Högner stand, dem bayerischen Konservativismus verdächtig zu machen; ich glaube aber auch, daß darunter noch eine tiefere Polarität, ein tieferer Antagonismus aufzuspüren ist, der heute, an der Pforte eines neuen Jahrtausends, zu einer nicht nur für Bayerns Zukunft, sondern für die Europas und der Welt zur tödlichen Bedrohung werden kann.

Bäuerliche Kulturen - und Bayerns Kultur war immer intensiv bäuerlich - sind Überlebenskulturen. Sie sind an eine zyklische Welterfahrung gebunden. Auch wenn sie irgendwann vor tausend oder fünfzehnhundert Jahren christlich geworden sind, halten sie an diesem zyklischen Grundgefühl fest. 

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Durch Jahrhunderte bewirkte dies eine Kontinuität der Erbfolge und Stolz auf diese Erbfolge, der mit bewußter Verantwortung für Kinder und Enkel verbunden war; eben mit einer Verantwortung, die Dinge so zu erhalten, wie man sie kannte. Fast immer, wenn sich Bauern in Europa erhoben (und sie taten es meist nur, wenn ihre Lage wirklich unerträglich war), machten sie alte Rechte, alte Gemeinfreiheit zum Kampfprogramm. Ihre Welt war, ohne daß sie dies groß reflektierten, jene Welt, die der britische Konservative Edmund Burke als das »Bündnis der Toten, der Lebenden und der Ungeborenen« definierte.

Wir sind durch unsere Geschichte daran gewöhnt worden, in solchem Kontinuitätsgefühl das Wesen jeglicher Frömmigkeit zu sehen. In Wahrheit aber ist christliche, genauer: spätjüdisch-christliche Frömmigkeit ganz anders programmiert. Sie ist messianisch-eschatologisch gestimmt; will heißen, sie richtet ihre Intensität auf kommendes Heil, auf kommende Erlösung aus. Sie hält sich nicht an Zyklen der Wiederkehr, sondern an den historischen Moment der Befreiung, den Exodus aus dem Sklavenhaus: sei es das Sklavenhaus des Pharao, sei es die Todesfalle des starren Gesetzes — oder sei es, ergänzen wir vorgreifend, das Sklavenhaus des Kapitalismus.

Diese Befreiung geht jeweils einher mit dem »Letzten Gefecht«; mit dem Untergang der Unterdrückerarmee im Roten Meer, mit dem Ringen des Lebens-Fürsten mit dem Tode, wie er in der Osterliturgie der Kirche beschrieben ist: mors et vita duello / conflixere mirando, Tod und Leben maßen sich in wundersamem Zweikampf — und es siegt, logischerweise, der Gott in der Feuersäule, der Fürst des Lebens, der unerbittliche Schritt des historischen Materialismus, der das Leben in Milch und Honig, der das Neue Jerusalem, der die klassenlose Gesellschaft heraufführt oder heraufführen wird: »Siehe, ich mache alles neu!« (Apk 21,5)

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Nun, genau das will der archetypische bayerische Mensch nicht: daß alles neu gemacht wird. Nicht ohne historische Gründe traut er den Weltverbesserern nicht über den Weg. Und er ist damit nicht allein auf der Welt. Seine Parteilichkeit für das gute Alte wird ihm dadurch erleichtert, daß sich das Eschatologische, der Sehnsuchtsruf nach dem Reich, das da kommen soll, von allen herkömmlichen religiösen Wurzeln gelöst hat und das Endreich hier auf Erden anstrebt, während es den Himmel, wie Heine sang, den Spatzen überläßt. Eine kuriose Überkreuz-Entwicklung fürwahr! 

Es bedurfte eines Geistes wie Ernst Bloch und einer neuen, umwälzenden Wende der Theologie, um die uralten Verkehrtheiten wenigstens auszuleuchten, wenn schon nicht ganz zu beseitigen.

Aber seien wir gerecht: bayerische Sozialdemokraten haben von utopischer Weltverbesserung ohnehin nie viel gehalten. Längst ehe der radikale Revisionismus in Godesberg zur offiziellen Lehre wurde, war er durch Vollmar in den berühmten Münchener Eldorado-Reden vorformuliert — unter Kennern brauche ich nicht auf die Krache mit der Zentral-Partei einzugehen, die das zur Folge hatte. (Immerhin — Bebels Diktum über die Süd-Genossen ist zu kostbar, um hier nicht wiederholt zu werden: »Man wandelt nicht ungestraft unter Maßkrügen ...«)

Aber selbstverständlich konnte kein Linker, selbst der entschlossenste Revisionist nicht, von der grundsätzlichen Prämisse abgehen, welche jede Linke charakterisiert: von der Prämisse der Verbesserungsbedürftigkeit der Verhältnisse, von der Notwendigkeit zukunftsgerichteter Entwürfe. Jeder Linke, jedes linke Lebensgefühl (um es vage zu umschreiben) mußte so auf die unbewegliche Masse der spießigen Verhocktheit stoßen, zu der der Konservativismus leider in unseren (und nicht nur in unseren) Landen verkommen ist. 

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Immer und immer wieder muß sich der Linke den Verdacht anhören, gegen den sich schon Tucholsky wütend wehrte: den Verdacht nämlich, daß er letzten Endes doch ein vaterlandsloser Geselle sei, daß er die Heimat, ihre Erde und ihre Menschen, nicht wirklich oder doch jedenfalls wesentlich weniger liebe als der gestandene Herr und die etablierte Dame rechts von der Mitte. (Vor einigen Jahrzehnten, als in den Parlamenten noch nicht so verdruckst dahergeredet wurde wie heute, hörte ich am Radio diesen Vorwurf in einer Bundestagsdebatte; Baron von Guttenberg schoß ihn, wieder nur als Verdacht, gegen Herbert Wehner ab.)

Nun, wenn es je wahre Heimatliebe, echte Verbundenheit mit ihrem Glanz und ihrer Schönheit gab, dann war sie Wilhelm Högner zu eigen. Unmittelbar nach seiner Bergbauern-Meditation, immer noch als Abschiedsgast auf dem Hochstand, bricht es tieftraurig und bitter aus ihm hervor: 

»Es war einer der schönsten Abende seit meiner Jugendzeit. Ich war in Wald und Feld aufgewachsen. Zum letzten Mal umfaßte ich in überströmender Liebe meine bayerische Heimat, an der ich mit allen Fasern meines Herzens hing ... Keine Macht der Welt konnte mir die Erinnerung an die deutschen Märchenwälder entreißen ... Wie kam dieser finstere, haßerfüllte Massenbändiger dazu, mir das Recht auf meine Heimat zu nehmen ...?« 

Die Antwort hätte Högner allerdings leicht erraten können, nach den hochintelligenten und beißenden Analysen des Nazismus, die er im Berliner Reichstag geleistet hatte. Aber Hitler ist Asche, und dennoch blieb und bleibt das alte Vorurteil, der alte Verdacht minderer Verbundenheit mit der Heimat — insbesondere in Bayern, wo eine Art weißblauer Mobutismus es fertiggebracht hat, die authenticité bavaroise gänzlich partei-authentisch zu definieren.

In Wahrheit haben sich, je näher das Ende des Jahrhunderts heranrückt, die Verhältnisse gänzlich umgekehrt. Sie haben sich deshalb umgekehrt, weil zwischen den Sprachregelungen des realexistierenden Konservativismus und dem Burke'schen Ideal eines »Bündnisses der Toten, der Lebenden und der Ungeborenen« eine immer weitere Kluft aufreißt.

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Kehren wir, um dies zu illustrieren, zu Högners Bergbauern zurück. Schließen wir eine durchaus realistische Möglichkeit aus — die Möglichkeit nämlich, daß er seinen Hof aufgegeben hat und in die Lohnarbeit abgewandert ist, weil ihm die Plackerei zuviel wurde, oder weil er keine Frau gefunden hat, die sie mitmacht. Gesinde jedenfalls oder Ehhalten — das sind Wörter aus einer fernen Sage. Da der Bauer nicht wie zu Högners Zeiten mit zwölf oder fünfzehn Kühen zurechtkommen kann, sondern mindestens sechzig dazu braucht, muß er Pachtland zumieten. Da er von freien Marktpreisen seiner Milch oder seiner Kälber auch nicht leben könnte, ist er auf ständige staatliche oder europäische Unterstützung angewiesen, deren Formen sich heimtückischerweise alle Nase lang ändern, hinauf oder hinunter in der Lebensqualität, aber meist hinunter. Um auf dem Laufenden zu bleiben, muß er sich im Rundfunk die Landwirtschafts-Nachrichten oder die Diskussionsrunden mit Bürokraten regionalen, nationalen und übernationalen Ranges anhören, deren Sprache von der wachsenden Natur, vom Rauschen der Bergwälder wüstenweit entfernt ist. 

Ja, die Wälder: von seinem Vater und Großvater hat er etliche Hektar Bauernwald übernommen, aber die Holzpreise sind im Keller, eine wirklich nachhaltige Bewirtschaftung ist ohne Pferd oder Muli ausgeschlossen, er wird seine Fichten, soweit sie nicht atmosphäregeschädigt sind, vielleicht an einen Unternehmer zum Ausschlachten verpachten — der bayerische Staat, so hört er, machts demnächst genauso. Und das Erbe? Der Erbhof? Der Auftrag der Ahnen? Volksmusik von vorgestern.

Nein, der fliehende Sozialdemokrat von 1933 würde den Hof wohl noch als Gebäulichkeit wiedererkennen — aber sonst hat sich alles gründlich verändert. Eine Kultur ist gestorben, die in unseren Landen etliche Jahrhunderte, viel-

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leicht ein Jahrtausend voll Hunger und Seuchen, voll barbarischer Kriege, voll landesherrlicher und feudaler Arroganz und Knechtung überstanden hat — den vollreifen Kapitalismus übersteht sie nicht. Darin sind sich die Kapitalisten wie ihre Gegner einig. Auch die Konservativen, die sich längst mit dem Kapitalismus arrangiert haben. Und mit den Beeren und Pilzen ist das so eine Sache: sie sind ziemlich schwer-metallverseucht und radioaktiv verstrahlt, man läßt besser die Pfoten davon, Verfassungsrecht hin oder her.

 

Mit anderen Worten: es waren nicht die Utopisten, welche die Welt gründlich verändert haben. Es waren nicht die Sozialisierer, welche die Idee des bäuerlichen Erbes zum Verschwinden brachten. Es waren nicht die linken Spinner, welche den Wald und das Bodenleben ruinierten. Es waren vielmehr die Politik und die Gesellschaft des »Weiter so«, die Strategie des pragmatischen Weiterwurstelns, die Ablehnung jedes durchdachten Wechsels nach der Devise »Keine Experimente«, welche die Lebenswelt von Jahrtausenden fast schon völlig beseitigt haben und im Begriff sind, das auch noch global zu erledigen. 

Wer heute Heimat sagt, der denkt ans Heimatmuseum, sieht Wagenräder an der Rauhputzmauer und Schubkarren voller Geranien, assoziiert vielleicht noch Heimatabende mit Ziehharmonika und säuischer Conference. Die Heimat, die sinnliche Heimat von gestern und vorgestern ist unter Klarsichtfolie ausgestellt, und es waren auch nicht die Marxisten, die dafür gesorgt haben, daß die tadellos restaurierten Rokokokirchen und die dazugehörigen Pfarrhöfe meist leer sind. 

Und wo heute die Sozialschädlinge, die vaterlandslosen Gesellen zu suchen sind, weiß jeder Zeitungsleser, der gelegentlich in den Wirtschaftsteil guckt: sie sind unter jenen ein oder zwei Prozent zu finden, die im Polareis ihrer mehrstelligen Millionenvermögen sitzen. Der geringste Angriff auf ihren Besitzstand (eine etwas höhere Erbschaftssteuer oder die Aussicht auf eine Sonderabgabe, um den Staat vor dem Bankrott zu bewahren) wird ihre Milliarden blitzschnell in Liechtenstein oder auf den Kaiman-Inseln verschwinden lassen.

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Mit anderen Worten: der alte bayerische Gesellschaftsvertrag funktioniert nicht mehr. Noch ist die Substanz des Volkes vital genug, uns einen gewissen Lebensvorsprung vor anderen Gauen des Vaterlands zu sichern; aber das moderne Industriesystem, dem alles Nichtökonomische nur mehr als Kulturbetrieb angegliedert ist (einschließlich der Kirchen und der hochgeschätzten ästhetischen Seite des Bauerntums), hat sich nicht nur unserer Bauern angenommen, hat nicht nur italienische und kroatische und anatolische Bauernethik durch seinen Wolf gedreht, sondern wird sich auch der afrikanischen Hackbauern, der mexikanischen Campesinos, der chinesischen Dörfler ebenso liebevoll annehmen. 

Verantwortung für künftige Generationen? Nachhaltigkeit? Nicht unser Bier. Nicht unser Sliwowitz. Nicht unser Coke.

Dies, genau dies ist die Stelle, wo Högners Meditation von 1933 in unsere Wirklichkeit übersetzt werden müßte. Die unabhängige und eigenwüchsige Persönlichkeit des Einödbauern: wer sie bewahren beziehungsweise wiederherstellen wollte, müßte das Profitdenken frontal angreifen, müßte dem Konsumismus in all seinen Formen beizukommen versuchen, bis in die kommerziellen Kanäle des Fernsehens hinein. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen — und vor allem, vor allem erfordert es gänzlich neue politische und gesellschaftliche Allianzen.

Ich spreche hier nicht vordergründig von einer rotgrünen Partei-Allianz. Die kann und muß, wie leider das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, im Hickhack des laufenden Kompromisses enden, wenn die gesellschaftlichen Bündnisse nicht funktionieren, wenn man die todesgefährliche Lage der Welt mit den Hausmitteln von gestern und vorgestern kurieren will. Das erfordert Weitblick, das erfordert Kühnheit — und das erfordert vor allem die Fähigkeit, den Ernst und die Dringlichkeit des Anliegens den Menschen zu vermitteln. 

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Wenn man sie allerdings zu schlappen Konsumenten reduziert und die eigene Strategie auf reine Taktik herunterbringt, die sich zwischen ebendiesem Konsumismus, den Sonntagsumfragen der Medien und den eisernen Todesgesetzen der internationalen Finanz austariert, kommt man nie an die Kraft der Völker heran — eine Kraft, die, wie wir tausendfach erlebt haben, zum massenhaften Lebensopfer bereit ist, solange ein solches Opfer nur geeignet erscheint, Sinn in die Sinnlosigkeit der Welt zu bringen.

Aber (und damit komme ich zu einem schlußendlichen ceterum censeo) dazu bedürfte es auch der tatkräftigen Unterstützung der artikulierenden Klassen — das heißt der Träger der Aufklärung. Diese aber haben, seit ihnen ein Lieblingsprojekt, der Marxismus, durch die faktische Entwicklung versaut wurde, außer Simulationen, Simulacra, esoterischen Codes kaum mehr Brauchbares für die Zukunft der Menschheit hervorgebracht. (Als gewesener Vorsitzender des Schriftstellerverbands und Präsident des westdeutschen P.E.N. spreche ich aus leidvoller Erfahrung.) 

Ihre prekäre Situation als Parasiten der Produktions- und Konsumgesellschaft legt ihnen, ehe sie sich mit so etwas Vulgärem wie Lebensgrundlagen befassen, die Flucht in die Virtualität nahe — mit anderen Worten, in so etwas wie den intellektuellen Cyberspace. 

Die letzte große Gelegenheit, Schillers schwungvollen Imperativ zu konkretisieren —

es soll der Sänger mit dem König gehn, 
sie wandern beide auf der Menschheit Höhn

war die Ära Brandt. Es gelang für eine kurze Zeit, das zu besetzen, was der kluge Kurt Biedenkopf die »semantischen Höhen« nannte; aber das hielt nicht vor, weil die Glocken, auf deren fernen Klang man zerstreut lauschte, längst woanders hängen. Das Gestühl, in dem sie hängen, hat einen trockenen, aber präzisen Namen: die GATTUNGSFRAGE. Konkret lautet sie:

Ist die Menschheit fähig, ihre Errungenschaften zu überleben?

Und im Gegensatz zum üblichen Partygewäsch, im Gegensatz zu den veralteten Optimismen und Pessimismen der artikulierenden Klasse behaupte ich, daß in dieser Frage eine ungeheure Chance steckt: die Chance, herauszufinden,

wie das alles wirklich gemeint war.

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