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 Am Scheideweg des Fortschritts  

Rede zur Verleihung des Umweltpreises der Bayern-SPD am 24. Juli 2001 

 

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Rechtzeitig zum Ende des letzten Jahrtausends erschien ein Buch des eminenten Historikers Dan Diner mit dem Titel <Das Jahrhundert verstehen>, mit dem ehrgeizigen Untertitel <Eine universalhistorische Deutung>. Man liest es mit Vergnügen und Gewinn; Diner hat ein feines Gespür für die geographischen wie die ideengeschichtlichen Bruchlinien, und man begreift wohl, warum das 20. Jahrhundert mit Balkankriegen begann und endete: dort zeigten sich und zeigen sich am Klarsten und Unbarmherzigsten die eitrigen Reibungsflächen zwischen demokratischer und ethnischer Selbstbestimmung.

Im übrigen liebt Diner — eigener Auskunft nach — Bilder von bewegter Typik, und so ist sein Buch zunächst und vor allem eine Deutung der ersten Jahrhundert­hälfte. Aber das ist auch seine Schwäche: die zweite Hälfte erschien ihm offensichtlich nach den großen und raschen Umwälzungen der ersten nicht mehr besonders interessant zu sein — und damit verliert Diner leider den Anspruch auf universalhistorische Deutung und Bedeutung.

Vor allem aus einem, alles Andere bagatellisierenden Grund: das ideengeschichtliche Hauptereignis des 20. Jahrhunderts, das im 21. so oder so zu praktischer Politik werden wird, hat er nicht erkannt. Dieses Ereignis ist das Auftauchen der Gattungsfrage im öffentlichen Bewußtsein; also der Frage: Kann die Menschheit ihre Errungenschaften überleben?

*    wiktionary  eminent  besonders     wikipedia  Dan_Diner  *1946 in München  

Das erste große Fragezeichen hinter dem Satz schrieb natürlich die Atombombe. Dem Zeitzeugen fällt es heute schon schwer, sich die kollektive Alptraumspannung zu vergegenwärtigen, die damals, nach Hiroshima und insbesondere dem Bikini-Test der Wasserstoffbombe, in den Köpfen und Gemütern herrschte — es gibt genügend Literatur darüber. Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat das subjektive Bedrohungsgefühl durch Kernwaffen fast aufgehört, was leider ganz unberechtigt ist. 

Zudem haben sich andere Risiken der Menschheit laufend vergrößert und vermehrt, während zunächst, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, ein oberflächliches technisches Triumphgefühl den gegnerischen Parteien des Kalten Krieges durchaus noch gemeinsam war. Die Machbarkeit der zivilisatorischen Zukunft, darum ging es zunächst; und die sah man durchaus gesichert, sobald der Feind vernünftig genug sein würde, seine irrigen Wege dahin aufzugeben, und die Menschheit mit aufgekrempelten Hemdärmeln darangehen könnte, die Widerspenstigkeiten und den Geiz der Natur endgültig zu überwinden.

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Nun, wir wissen, was aus dieser Stimmung wird und geworden ist. Den bunten Heilmittelwerbern auf dem Bildschirm ist auferlegt, nach der triumphalen Anpreisung ihres Angebots den Spruch herunterleiern zu müssen: »Über Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!« Sie tuns hörbar ungern. 

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Aber in den lebenswichtigsten Fragen der Menschheit scheint der Satz noch weniger — nämlich überhaupt nicht — zu gelten. Wer die großen Innovationen der letzten Jahrhunderthälfte verfolgt, wird feststellen, daß am Anfang einer jeden der stumpfsinnigste Optimismus und das gewollte Unwissen über die weiteren Folgen ihrer Einführung standen. 

Dazu einige Beispiele.

Nummer Eins: 

Als DDT, das erste und tödlichste Insektizid erfunden war, fielen Scharen von Sprühern nicht nur über das Innere von Soldatenunterkünften, sondern flächendeckend über Inseln, Flußdeltas und Seengebiete her. In einer illustrierten Zeitung pries man es als unerhörten Fortschritt, daß die Menge des Giftes, die im Gefieder einer einzigen Ente aus einem See in den nächsten transportiert wurde, genüge, um auch dort alles niedere Leben zu töten. Der Endeffekt des Programms sollte die globale Freiheit von Malaria und Tse-Tse-Fliegenfieber sein.

Beispiel Zwei: 

die erste große Antarktis-Expedition der USA unter Admiral Byrd nach dem Zweiten Weltkrieg hatte den Auftrag, auf dem Südpol-Kontinent nach Uranvorkommen zu prospektieren. Man erwartete unerhörten Bedarf für das Atoms-for-Peace-Progmmm; elektrischer Strom sollte dann so billig werden, daß sich der Einbau von Stromzählern gar nicht mehr rechnen würde.

Beispiel Drei: zumindest in den Köpfen von Planern war der Welthunger spielend besiegbar, wenn man nur die riesigen Wälder Brasiliens erschließen, d.h. abholzen und den sicher sehr fruchtbaren Urwaldboden mit einer dichten Infrastruktur überziehen würde.

Und schließlich: mindestens zwei globale Schübe zum gleichen Zweck der Welternährung wurden in dieser Jahrhunderthälfte wirklich initiiert und wenigstens teilweise durchgeführt: als erster die sogenannte Grüne Revolution, die auf der Entwicklung weniger Hochleistungspflanzen und einem hohen Mechanisierungs- und Chemisierungsgrad basieren sollte.

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Im zweiten Schub stecken wir noch mittendrin: die Übernahme der Weltproduktion an Lebensmitteln durch die Kombination von Gentechnik und Biochemie ist im vollen Gange. Dank der profitablen Anstrengungen von Monsanto und anderer Firmen ist ein immer größerer Prozentsatz von Farmern und Bauern in ein Netz von Paketverträgen eingespannt, das Rundumvernichtung von Unkraut und Schädlingen mit der Monopolisierung von resistentem Saatgut verbindet. Und zweifellos wird demnächst die Massenklonung von Tieren eine ganz neue Sicherheit der Qualitätsversorgung mit Proteinen heraufführen.

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Nun, die Risiken und Nebenwirkungen der meisten dieser Projekte haben wir in der Zwischenzeit kennengelernt.

Ad Eins: DDT, das wohltätige Gift, hat sich in den Nahrungsketten der Biosphäre verankert, hat unendlichen Schaden unter einer noch unbekannten Zahl von Pflanzen- und Tierarten angerichtet, wurde folgerichtig verboten, wird dennoch unter der Hand noch in den Weltgegenden abgesetzt, in denen die Vorgaben und Informationen der Zentralen nicht greifen.

Ad Zwei: Über die Risiken und Nebenwirkungen der Atomindustrie braucht wohl kein Wort verloren zu werden — nach Harrisburg, nach Tschernobyl, nach unzähligen Beispielen von schlampiger Routine; vor jeder Klärung des Entsorgungsproblems, vor jeder halbwegs menschenfreundlichen Regulierung des Uranabbaus, dem alljährlich meist in entlegenen Weltgegenden und unter wehrlosen Traditionsgesellschaften zwanzig- bis vierzigtausend Menschen qualvoll zum Opfer fallen. Der Zynismus der Betreiber und ihrer politischen Stiefelputzer ist nachgerade offensichtlich.

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Ad Drei: Das Abholzen der brasilianischen Urwälder ist im Gange und trotz aller offensichtlichen Folgeschäden kaum verlangsamt. Der Urwaldboden ist allerdings gar nicht fruchtbar, sondern in der Regel roter Laterit: der fiebrige tropische Stoffwechsel fand und findet dicht an der Oberfläche statt. Zudem ist der Regenrhythmus Brasiliens jetzt schon durcheinandergeraten; das Absinken der Wasserreservoire für die gewaltigen Kraftwerke ist die Folge, und etwas stößt den Cariocas von Rio de Janeiro zu, was sie nur vom Hörensagen kannten: Stromknappheit. Und weiter: Fremde werden vor der Einreise in den Staat Manao gewarnt, eine Fülle unbekannter Insekten, ihres Habitats in den himmelhohen Baumkronen beraubt, fällt über Mensch und Tier und Pflanze her, mit bislang völlig unbekannten Konsequenzen.

Ja, und das zentrale Ergebnis der so genannten Grünen Revolution war vor allem in den alten Bauernkulturen verheerend. Sie erforderte hohe Investitionskosten: Wegebauten, Maschinenparks und dergleichen, die jahrhundert- und jahrtausendalten Subsistenzmethoden den Garaus machten. Der Strom der ländlichen Millionen in die neuen Elendsmetropolen setzte ein, und dort entstehen in fast chemischer Folgerichtigkeit die Sprengsätze des 21. Jahrhunderts. Stichwort Chemie: das Hinaufpeitschen der Zuchterträge bei Tier und Pflanze durch Hormon- und Antibiotikagaben hat die Lebenswelt bereits total und irreversibel verseucht. Biologischer Landbau, biologische Viehzucht werden unter solchen Bedingungen zum Hasardspiel.

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Aber damit betreten wir das verminte Gelände der Gegenwart. Die Biotechnologien, die uns mit immer größerem Pathos nahegelegt, aufgedrängt, als der (nach dem offensichtlichen Debakel der atomaren Verheißung) wahrhaft zukunftshaltige Schritt in die Zukunft bekanntgegeben werden, können sich zunächst darauf verlassen, daß niemand so ganz genau weiß, worauf sie eigentlich hinauswollen.

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Neben durchaus edlem Forscherdrang steht saftigster Geschäftssinn auf der Tagesordnung. Doch was immer solche Forschung antreibt: Leute, die Bescheid wissen müssen, nämlich Systemtheoretiker, warnen aufs Entschiedenste. Sie weisen darauf hin, daß man noch nicht einmal alle Haken und Ösen der Computerprogrammierung beherrschen gelernt hat — der meist monokausale, das heißt auf eine einzige Veränderung abzielende Eingriff in das hundertfach kompliziertere Uhrwerk des Lebendigen kann unmöglich ohne schlimmste Risiken und Nebenwirkungen vorgenommen werden. Und wir haben keine Ahnung, woraus diese bestehen.

All diese mißglückten, schiefgelaufenen, makabren Spiele der Großtechnologie sind auf eine schlichte alte Volksweisheit zurückzuführen: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. Man kanns moderner ausdrücken: Überspezialisierung und die daraus resultierende professionelle Borniertheit, dazu Hochmut des Machbarkeitswahns. Und das schaukelt sich zwangsläufig gegenseitig hoch: der Machbarkeitswahn will vorsichtshalber Einiges gar nicht wissen und stellt daher entscheidende Fragen von vornherein nicht — Fragen an die Komplexität der Wirklichkeit. Und in dieser selbstgewählten Ignoranz fühlt er sich dann seiner Sache umso sicherer.

Und doch (es ist eigentlich erstaunlich genug) erhob sich gegen diese Spiele das neue Bewußtsein, das Bewußtsein der Gattungsfrage — zunächst nur von einigen besorgten Wissenschaftlern (den concerned scientists) aufgeworfen, aber dann, ab Mitte der Sechzigerjahre, immer stärker in den Bereich der öffentlichen Diskussion vordringend. Es ereignete sich 1970 die Stockholmer Umweltkonferenz, und es folgte 1972 der Bericht von Donella und Dennis Meadows an den Club of Rome, die berühmten »Grenzen des Wachstums«.

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Wer sich einigen Sinn für historische Proportionen bewahrt hat, konnte damals schon wissen und wußte es auch (ich jedenfalls wußte es), daß damit der sogenannte Kalte Krieg zur Nebensache, wenn nicht zur Farce geworden war. Er hatte die Menschheit eine Menge Nerven und, was wohl unheilvoller ist, ein halbes Jahrhundert Befassung mit Zweitrangigem gekostet; er verschwand wie ein Spuk, und die siegreiche Konfession des Ökonomismus schwur die Menschheit auf das Banner des Totalen Marktes ein: TINA — there is no alternative.

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Seitdem ist die Erde nicht mehr, was sie vorher war, was sie trotz all der von Dan Diner wahrgenommenen und analysierten Katastrophen bis 1945 noch war: der unbestreitbare und unbestrittene, der auf jeden Fall heimatbietende Kosmos. Keine Tat Gottes, keine kosmische Katastrophe hat diese Wendung bewirkt, sondern zunächst und in allererster Linie unser eigener, kurzsichtiger Opportunismus.

Opportunismus; Beutemacherei; Jagd nach billigen Schnäppchen — wie immer man ihn nennen mag: sein erstes und wichtigstes Kennzeichen ist der auf einen bestimmten Effekt, ein bestimmtes Objekt gerichtete Appetit, ohne Rück- und Seitensicht auf Risiken und Nebenwirkungen. Allein das Wort »Nebenwirkung« ist da schon bezeichnend, da äußerst ichbezogen: in objektiver Wahrheit gibt es nur Wirkungen, von denen uns dann eine einzige intereressiert; alle anderen werden tunlichst weggeblendet; ein passender Ausdruck, denn der logische Effekt ist »Verblendung«.

Im gesellschaftlichen Zusammenhang soll die Verblendung glücklicherweise in der Regel durch den Diskurs, die Debatte, den Konflikt aufgehoben oder doch wenigstens gemildert werden. Deshalb trat und tritt die Verblendung in autoritären und totalitären Systemen regelmäßig viel folgenschwerer auf als in freiheitlichen. (Dies scheint mir das gewichtigste Argument für die Demokratie zu sein.)

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Es ist wiederum verblendet, die hartnäckigen Diskurse, die in freien Gesellschaften immer wieder aufbrechen, für unergiebiger zu halten als die »Effizienz« abgeschotteter Macherzirkel. Es gibt hiezu ein sehr amüsantes Wort von Immanuel Kant, ich zitiere sinngemäß: »Die Taube, die durch die Luft fliegt, ärgert sich vermutlich über den Luftwiderstand.« Will heißen: das Element, das den Fortschritt scheinbar behindert, ist das Element, das ihn in Wahrheit trägt.

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Voraussetzung für den aufklärerischen Erfolg dieses Luftwiderstandes ist zunächst die Möglichkeit der Einsicht in das aufzuklärende Problem. Jahrzehntelang haben wir alle, ob Linke oder Rechte, ob Kritiker oder Freunde der Restauration, keinerlei Widerspruch gegen grundlegende Fehler, ja Verbrechen des sogenannten Fortschritts eingelegt; erstens, weil wir heillosen Respekt vor den sogenannten Experten empfanden, die uns wenn nicht den Himmel auf Erden, so doch das Ende von Not und Angst versprachen; und zweitens, weil wir selbst nicht auf die Risiken und Nebenwirkungen achteten, die wir ohne weiteres und sogar unbefangener als die Spezialisten beurteilen können.

Sprechen wir zunächst über das zentrale Risiko überhaupt: die Natur des Menschen.

Es gibt bekanntlich ein Erfahrungsgesetz, das man Murphy's Law nennt: alles, was schiefgehen kann, geht irgendwann einmal schief. Und dieses Gesetz gilt vor allem für die Psyche des Menschen. Absolute Sicherheit gibt es nicht, weil die Psyche des Menschen eine stete Quelle schöpferischer Unsicherheit ist. Kein Mensch kann voraussehen, daß ein junger Lokomotivführer den ICE einfach in einem Tunnel stehen läßt, aussteigt und nebenan ein Frühstück zu sich nimmt. Kein Mensch kann voraussehen, daß ein Arbeiter und sein Liebchen unter beträchtlicher persönlicher Gefahr radioaktive Stoffe aus einem Hochsicherheitswerk mitgehen lassen, nur um zu beweisen, daß diese Hochsicherheit nichts taugt. 

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Das sind Stories aus dem wirklichen Leben, die beweisen, daß jedes Sicherheitsproblem letzten Endes ein psychologisches ist. Und es gibt imgrunde nichts Lächerlicheres und Grausameres als die famose Formel vom »menschlichen Versagen«, die Großkatastrophen erklären soll. 

Der Mensch ist von Haus aus ein Versager, niemand wußte und weiß das besser als das Christentum. Deshalb gibt es Buße, Verzeihung und Besserung. 

Aber im technischen Bereich gibt es das eben nicht, da gelten unerbittlich die thermodynamischen, die Schwerkraft- und Trägheitsgesetze. Und für die gesamte Biosphäre gelten die thermodynamischen ebenso — und vor allem die Entropiegesetze. Weder die einen noch die anderen sind durch salvierende Formeln, durch Ablaßkrämerei zu lindern oder zu verbiegen. Wer also Menschen, die allesamt zum Versagen neigen, in eine Technologie einspannt, in der sich jedes Schiefgehen zur Kontinentalkatastrophe auswachsen kann, legt es von vornherein auf kollektiven Selbstmord an. Das ist, bei aller gebotenen Reserve vor reiner Maschinenstürmerei, der Maßstab, nach dem wir uns zu richten hätten, wenn es uns mit unserem Nachhaltigkeitsgerede ernst wäre.

Der Fortschritt steht also am Scheideweg: keine Maschinenstürmerei ist angesagt, vielmehr das Erfinden neuer Maschinen, mehr: einer neuen technisch-sozialen Philosophie und Ethik.

Sie muß auf der Einsicht beruhen, daß die Ökonomie, wie Hermann Scheer sagt, ein Unterfall der Ökologie ist. Unser Tun und Lassen ist in das Netz ihrer Synergien hineingewoben.

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Es geht nicht ohne Seiten-, ohne Rückwärts- und Vorwärtsblicke, mit anderen Worten: die Scheuklappen müssen fallen, die Verblendung muß aufhören. Und solange man sich die Risiken und Nebenwirkungen nicht genügend bewußtmachen kann, hat man einen vorsichtigen Schritt vor den anderen zu tun.

Vor allem aber: der Fortschritt hat fehlerfreundlich stattzufinden. Techniken, die überhaupt kein Risiko bergen, gibt es nicht — wir sprachen davon. Es gehörte zu den Ursünden der Atomtechniker, daß sie uns genau das vorzumachen versuchten: die zehn-, die zwanzig-, die hundertfache Absicherung. Und für jedermann, der etwas von Logik versteht, war evident, daß sie sich nach Harrisburg um 180 Grad drehten und wieder die gute alte Formel von Versuch und Irrtum, von trial and error verkauften.

Nun sind Versuch und Irrtum bewährte Schritte im Fortschritt — aber sie mögen bitte in Dimensionen stattfinden, in denen der Irrtum nicht einen halben Weltuntergang bedeutet. Halten wir uns an das schöne Diktum eines Vaters des neuen kritschen Bewußtseins, des Deutschbriten Ernst Friedrich Schumacher: small is beautiful. 

Amory Lovins, ein amerikanischer Pionier der sanften Energiepfade, hat uns klargemacht oder klarzumachen versucht: wenn ein Elefant als Arbeitstier ausfällt, bedarf es eines anderen Elefanten, um ihn zu ersetzen. Wenn seine Arbeit von zwanzig Eseln geleistet wird und einer davon umkippt, kann er durch einen einzigen ersetzt werden — wenn dies überhaupt notwendig sein sollte. Mit anderen Worten: die Fallhöhe, die Resistenz gegen unvorhergesehene Widrigkeiten vermindert sich drastisch, wenn man mit kleinen Einheiten operiert.

Und solch vielfältige Kleinheit impliziert augenblicklich einen anderen Vorteil: den der Dezentralität.

Denn so viel steht fest: der Drang in immer größere politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Einheiten ist, vom Standpunkt der Evolution gesehen, absolut gefährlich und kontraproduktiv. 

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Moralisch führt er zu einer Fragmentierung, die todbringende Zustände am Ende der Verantwortungskette gar nicht mehr wahrnimmt; und über die möglichen Domino-Effekte wirtschaftlicher Zusammenbrüche informieren uns die Medien in schöner Regelmäßigkeit. Jede große Reform, jede Konversion zu einer nachhaltigen Zukunft hat wesentlich mehr Chancen, wenn sie lokal zu überschauen und zu festigen ist.

Überprüfen wir diese These anhand der wichtigsten notwendigen Konversion, der der Energie! Sie ruht, soll sie Erfolg haben, auf drei Säulen: Substitution, Effizienzrevolution, Suffizienzrevolution. 

Erstens: Substitution. 

Die fossil-nukleare Primärenergie hat so rasch wie möglich einer Basis regenerativer Energieträger zu weichen. Diese sind entweder direkt von der Sonne geliefert (Wärmekollektoren, Photovoltaik) oder von ihrer Einwirkung auf die Biosphäre erbracht: Wind, Wasserkraft, Biomasse. Bis zu einem gewissen Grade ist auch Geothermik dazuzurechnen.

Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet, ich empfehle deshalb das grundlegende Buch Solare Weltwirtschaft meines Freundes Hermann Scheer. Was sofort einsichtig ist: Solarenergie wird im Wesentlichen lokal eingesammelt, und je schneller sie den Löwenanteil unserer Energiebedürfnisse übernimmt, desto rascher wird die Notwendigkeit schwinden, ferne Areale zu zentralen Interessengebieten der euroatlantischen Mächte zu erklären und sie zum Ziel eventueller Out-of-Area-Einsätze, damit zum Brutherd immer größerer Konflikte zu machen. Und ihr Prinzip, das regenerative Prinzip, wird möglichst rasch auch auf Stoffströme angewandt werden müssen.

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Zweitens: Effizienzrevolution. 

Es ist klar, was damit gemeint ist: die Leistung, die man aus der Primärenergiemenge herausholt, kann durch technische Verfeinerung verdoppelt, ja vervielfacht werden — siehe Sparbirnen, siehe die ständige Senkung der für den Betrieb von Waschmaschinen, Eisschränken, PCs notwendigen Watt oder Kilowatt. Darüberhinaus kann die Effizienz auch durch neu entdeckte oder ertüftelte Synergien gesteigert werden — wenn man etwa die Abwärme der Computer in einem Büro für Heizzwecke nutzt, oder den Warmwasserboiler im Keller durch ein Kleinkraftwerk, einen Generator ersetzt, der nicht nur die notwendige Wärme, sondern auch noch Strom liefert.

Gewiß, Steigerung der Effizienz ist ein historischer Prozeß, der bei uns spätestens seit dem Mittelalter läuft. Der Kachelofen etwa bedeutete eine Vervielfachung der Wärme-Energie, die im zu beheizenden Raum ankommt, verglichen mit dem offenen Kamin. Was die Geschichte jedoch auch lehrt, ist die Tatsache, daß fast jede bedeutende Effizienzsteigerung sofort durch das Hinaufschrauben der Bedürfnisse neutralisiert worden ist. Der alte Jute im germanischen Norden verbrauchte etwas mehr Primärenergie, um sich halbwegs an seinem Mittenherd unterm offenen Rauchabzug warmzuhalten, als wir — aber um unserem Anspruch an Komfort zu genügen, würden wir bei gleicher primitiver Technik mindestens sechsmal so viel verheizen.

Nun haben solar ausgestattete Privathaushalte, die seit zehn Jahren ihren Gesamtverbrauch an Energie statistisch erfassen oder erfassen ließen, etwas sehr Interessantes festgestellt. Ihr Verbrauch an Solarenergie stieg langsam in dem Maße an, wie sie PV-Module oder Kollektorfläche zubauten — aber der Hauptgrund für die drastische Abnahme des Öl- oder Gas- oder Kohlebedarfs war der Rückgang ihres gesamten Energieverbrauchs! 

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Mit anderen Worten: bewußte Befassung mit der Energieproblematik steigert Wissen, Kompetenz und Verantwortungsgefühl im Umgang mit dem Energieproblem überhaupt. Und das gehört wenigstens teilweise schon zur dritten Säule der Konversion, zur 

Drittens: Suffizienzrevolution. 

Diese wird, das ist mir klar, auf die stärksten persönlichen Widerstände treffen. Sie besteht in nichts anderem als der schlichten Frage: Brauche ich diese oder jene Energiedienstleistung überhaupt? Befreit sie mich wirklich, oder ist sie nicht vielmehr ein Hindernis der wahren Emanzipation von der persönlichen Unmündigkeit?

Man identifiziert das gemeinhin mit Verzicht. Das Wort ist tabubeladen in unserer Kultur, ich ziehe deshalb das Wort »Training« vor, und Sportstraining hieß auf Altgriechisch öööööööö, also Askese. So gewendet, verliert der Begriff des Verzichts jede Note der Verkümmerung und Peinlichkeit. Er erinnert uns daran, daß wir, im Gegensatz zu jeder anderen bekannten Hochkultur, Verzichtstraining als Übung der Emanzipation weggedrängt und sie zwecks Sensationsverbrauch in den Hochleistungssport abgedrängt haben. Es sei daran erinnert, daß Bildung im Hochsinn nach ,wie vor nur durch Hochleistung erwerbbar ist — und da fällt notgedrungen ein gutes Stück Konsumentenglück in den Keller.

Unser Abscheu vor dieser Askese, diesem Verzichttraining hin zur Freiheit enthüllt, genau betrachtet, eines der merkwürdigsten Paradoxe unserer Gegenwart. Während uns im politischen Raum ein Maximum an Mitbestimmung, die Unantastbarkeit unserer Menschenwürde und das Prinzip der Volkssouveränität heilig ist, lassen wir uns vom totalen Markt in geradezu obszöner Weise gängeln. 

Wir lassen uns, wie ein Dissident ausgerechnet hat, etwa dreitausendmal am Tag in irgendeiner Form anmachen, irgendetwas zu kaufen. 

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Wir erlauben es, daß wir mitten im spannendsten Spielfilm von einer doofen Schauspielerfamilie zum Erwerb einer Markenpizza überredet werden sollen. 

Wir lassen uns eine e.on-Reklame mit Frau Ferres und Arnold Schwarzenegger gefallen, die von bewußter Fehlinformation nur so strotzt. 

Kurz, wir erdulden weitgehend unbewußt eine laufende Infantilisierung unseres Konsumbewußtseins, die im krassen Gegensatz zu den hehren Idealen der Demokratie steht. 

Dagegen sollten wir uns trainieren, so ist die Suffizienzrevolution gemeint.

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Stellen wir zum Schluß noch einmal die logische Abfolge der Notwendigkeiten her!

— Der Zustand der Biosphäre, so viel ist klar, duldet keine Fortsetzung des bisherigen zivilisatorischen Kurses.

— Sämtliche Mechanismen der Finanz- und Industriegesellschaft sind darauf versessen, ihn fortzusetzen.

Der Zug rast dem Abgrund entgegen, und jede Revolte dagegen ist nur der Griff nach der Notbremse. 

(Die Notbremse versuchen auch die Demonstranten in Seattle, in Göteborg und Genua zu erreichen — sie sind sich nur nicht ganz einig, wo sie zu finden ist.)

Eines der finstersten Probleme, die damit verbunden sind, ist unsere Energiewirtschaft — ihre Primärbasis, ihre Verkaufstechniken, die damit verbundenen Macht- und Inkassomöglichkeiten.

Neben vielem Anderem, was geschehen muß, ist die Große Energie-Konversion die Zentral- und Schlüsselaufgabe nicht so sehr der Wirtschafts-, sondern der Gesellschaftspolitik.

Richtig angepackt, ist sie nicht nur das Hauptinstrument zur Entschärfung der biosphärischen Bedrohung, nicht nur ein segensreiches Mittel zur Minderung der Fallhöhe unserer Zivilisation, sondern eine unerhörte Chance zu ihrer konkreten Demokratisierung und zur Demontage ihres zur Zeit gefährlichsten Feindes: des Totalen Markts.

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Nun, was ich bisher weiß über die Preisträger, die heute geehrt werden sollen, läßt mich aufs Entschiedenste hoffen, daß ihr Beitrag zur Zukunft den Erfordernissen der Großen Konversion entspricht. 

In dieser fast sicheren Sicherheit darf ich sie beglückwünschen und hoffen, daß ihr Einfallsreichtum und ihre lustvolle Anstrengung möglichst bald Früchte für eine Zukunft unserer Kinder und Enkel in Nachhaltigkeit erbringen wird.

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