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2  Pffft — !  oder: Das Ende der Großen Atlantischen Blase

Expose 2003 

 

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Seit der dubiosen Machtübernahme der George-W.-Bush-Administration und ihren zahlreichen Beleidigungen der kollektiven Menschheits­vernunft ist es üblich, einen möglichst malerischen Gegensatz zwischen Europa und den USA herauszuarbeiten, wobei auf beiden Seiten des Großen Teiches viel Überflüssiges zusammen­geredet und -geschrieben wurde.

Die dabei übliche Diskurs-Anordnung: ein schnuckeliges, schon etwas schmuddeliges, postheroisches — sagen wir ruhig feiges Europa gegen ein US-Amerika der Macht und der Kampfbereitschaft — sagen wir ruhig der Machtgier. 

Robert Kagan beschreibt uns Europäer als Venusianer und Amerika als marsianisch-martialisch, Danny Cohn-Bendit wiederum nennt die amerikanische Vision (oder was als solche verkauft wird) kapitalistisch-bolsche­wistisch, wegen ihres radikalen Weltveränderungsanspruchs. Und nach den großen Anti-Irakkrieg-Demonstrationen in Europas Städten machte sich ein halbes Dutzend der üblichen Verdächtigen, von Habermas über Eco bis Derrida, in führenden Zeitungen an einem humanistischen Europa-Definitionssoll zu schaffen.

Der Versuch, wahrscheinlich als Eröffnung eines fundamentalen Dialogs auf Augenhöhe gedacht, zerrann im Sande der Unbestimmtheit und Unbestimm­barkeit. Das war logisch. Denn letzten Endes handelte er auch nur mit längst abgelösten Valuten — und so kam nicht viel Erkenntnisgewinn, geschweige denn Tatbereitschaft zustande.

Wesentlich ergiebiger ist es, die Geschicke Europas und Amerikas als europäisch-amerikanische Gesamtgeschichte zu begreifen — ergiebiger und für die Zukunft bedeutsamer als die sorgsame Pflege transatlantischer Eigen­heiten und Ressentiments. 

Erweitern wir also unseren Gesichtswinkel, betrachten und werten wir die Geschichte der letzten fünfhundert Jahre strikt als eine gemeinsame Geschichte Europas und Amerikas; als die Geschichte dessen, was ich als das Great Atlantic Bubble, die Große Atlantische Blase definiere. 

Das Modell hat den Vorteil, daß es sich methodisch in die wahrhaft übergeordnete, die biosphärische Perspektive einfügen läßt, ja daß es überhaupt erst in dieser Perspektive fruchtbar wird, ihre Priorität aufzeigt, zu rascher konkreter Umsetzung nötigt. 

Die üblichen Dialogansätze, die Richtlinien und Tabus des Totalen Marktes respektierend, haben das bisher vermieden; in der Regel wohl auch deshalb, weil die Seelsorge des Totalen Marktes in den letzten Jahrzehnten höchst erfolgreich die Gehirne und Eingeweide von allzu kritischen Denkweisen gereinigt hat.

Präzisieren wir: wahrhaft amerikanische Geschichte hörte vor fünfhundert Jahren auf. Die letzten Amerikaner (in Kanada nennt man sie höflich First Nations) sitzen in elenden Reservaten herum, haben nichts zu tun, trinken zu viel, und ihre Kinder werden durch den Genuß von Paleface-TV endgültig den Wegen der Väter entfremdet. Nein, die heute so genannten Amerikaner (einschließlich der meisten Lateinamerikaner) sind die Kinder und Zöglinge erfolgreicher Europäer, die sich, dank einer einmaligen Glückskonstellation und folgend ihrer eigenen wilden Entschlossenheit, die Erfüllung von Europäerträumen leisten konnten und leisteten.

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Der Historiker William Woodruff hat in seinem Werk Impact of Western Man die psychologische Ausgangssituation für die Große Atlantische Blase umfassend beschrieben:

»Vor den Europäern hatte keine Zivilisation Anlaß gehabt, an den systematischen materiellen Fortschritt der Menschheit zu glauben; keine Zivilisation legte so viel Wert auf die Quantität anstelle der Qualität des Lebens; keine Zivilisation strebte so unnachgiebig einem in immer weitere Fernen rückenden Ziel zu; keine Zivilisation versuchte mit solcher Leidenschaft, das Tatsächliche durch das Mögliche zu ersetzen; keine Zivilisation war je so begierig wie die westliche, die Welt nach ihrem Willen zu lenken; keine Zivilisation kannte so wenige Augenblicke des Friedens und der Ruhe.« 

Diese europäische Stimmung, die wir als die Saat der Renaissance zu kennen glauben (oder schon, wie kürzlich Charles Murray meinte, der Hochscholastik), sproßte aber aus einer spätmittelalterlichen Welt innerer und äußerer Verelendung, zumindest Verunsicherung empor. Eine Heimat der Not war Europa immer und immer wieder gewesen; Hunger, Krieg, Seuchen — die apokalyptischen Reiter hatten es nie lang verschont. Seine Staaten waren feudal, das heißt im Vergleich zu den großen östlichen Reichen schlecht organisiert; mit Ausnahme von einigen winzigen Gebilden: Signorien, Städte des Handels und der Manufaktur, dazu ein paar Landstriche am Rand der See. 

»Herbst des Mittelalters«, so hat Huizinga diese Raumzeit in einem epochalen Werk genannt. Und nicht nur die materiellen Bedingungen waren prekär, auch die spirituellen Ressourcen waren zerrüttet. Die Westkirche war durch das Avignon-Exil, das anschließende Schisma und die Angriffe der Armutsbewegungen diskreditiert; kollektive Hysterie tobte sich aus in Geißlerzügen, Hexenwahn und sadistisch inszenierten Hinrichtungen. Die ritterliche Kriegführung (wenn es sie je gegeben hatte) verkam zum Handwerk beutesüchtiger Schnapphähne.

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Wenn die Heere der östlichen Riesenreiche in Abständen über die großen Ebenen einfielen, war Europa schutzlos und verdankte seine wiederholte Rettung innerasiatischem Zwist, welcher die Aufmerksamkeit der Eroberer jeweils von der West-Expansion ablenkte. Und dahinter, im ganz fernen Osten, stand eine Welt, deren Dimensionen und deren Organisationsgrad in Europa kaum erahnt wurden.

Die Umsegelung Afrikas und die Auffindung Amerikas ändern all dies fast über Nacht. Aus ein paar kargen Randstaaten, welche tüchtige Schiffe und überlegene Waffen entwickeln, entsteht die entscheidende Macht der Neuzeit, das große Seereich, das sich mit dem Leviathan als seinem heraldischen Totemtier schmückt. Es hat, wie wir heute sehen, der ganzen Welt sein Herrschaftszeichen aufgedrückt. Das letzte massige Landtier, der letzte Behemoth, der es herausforderte, war das Sowjetsystem; sein Ende markiert, wenn man rein geopolitisch denkt, den endgültigen Triumph der atlantischen Riesenschlange, die längst ihren Laich auch im Pazifik ablegt.

Wir interpretieren diese fünfhundert Jahre als Wirtschaftsgeschichte im weitesten Sinne; das heißt als Geschichte eines Booms, der schon zu Ende geht, und der durch ihn verursachten biosphärischen Regression. Als Erstes ist dabei der Begriff der Finanz-Blase, des großen Bubble genauer zu betrachten: sind seine Symptome auf den fünfhundertjährigen Boom der New Atlantic Economy anwendbar?

Im Wesentlichen ja.

Ein wirtschaftlicher Boom entsteht, wenn eine große bisher ungenutzte Ressource (eine Erfindung, ein Rohstoff, eine Produktionsmethode oder eine neue Energiebasis) auftaucht bezw. angeboten wird, die große Rendite verspricht. Es wird ein Bubble, eine Seifenblase daraus, wenn das Ende des Booms eher als erwartet eintritt — oder wenn das Angebot in zahlreichen Hirnen und Bäuchen der Zeitgenossen

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allzu wirre Habgier entzündete. In der Regel schlägt das Angebot spätestens vom Punkt der Höchstnotierung ab ins Kriminelle um, wenn es nicht von vornherein auf Betrug beruhte.

Die Geschichte dieser gewaltig aufgepumpten Spekulationen, die man heute unter dem Begriff des Bubble zusammenfaßt, begann ja tatsächlich erst in der Neuzeit; drei davon seien als exemplarisch beschrieben.

Zuerst der Tulpenwahn, die so genannte Tulpomanie 1637 in Holland. Nicht nur in den Finanzzentren, sondern bis weit in die Märkte und Dörfer hinaus entstanden Börsen für den Handel mit den kostbaren Zwiebeln; es wurden Preise im fünfstelligen Guldenbereich gefordert und bezahlt — bis das nervöse Abstoßen einsetzte und die mythische Ware wieder in hübsche Blumen zurückverwandelte. Eine heilsame Lektion und eine menschliche Katastrophe: Zahlreiche Vermögen, auch solche der gerade aufsteigenden kleinen Leute, waren ruiniert.

Der zweite Boom dieser Art, die 1720 in England gestartete »Südseeblase« (South Sea Bubble), hatte nichts mit dem Pazifik, sondern mit dem Südatlantik, d.h. Südamerika, zu tun und war wohl von vornherein auf Betrug angelegt. Seine Initiatoren versprachen fabelhafte Geschäfte dortselbst, wobei sie großzügig darüber hinweggingen, daß alles längst spanisch und portugiesisch beherrscht war. Die Blase platzte bald, die Investoren konnten sich nur noch über sich selbst wundern.

Umfangreicher und historisch bedeutsamer: die Transaktionen des Schotten John Law im Dienste der französischen Monarchie, die 1717 begannen. Law scheint kein Scharlatan gewesen zu sein; seine Vorstellungen waren kühn, aber durchaus ableitbar aus der Logik der Finanzwirtschaft. Zum Desaster wurden sie durch die Gier und Torheit vor allem der Aristokraten, die einfach nicht genug bekommen konnten und blindlings Aktien kauften, deren Marktnotie-

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rung ins Schwindelerregende (und Schwindelhafte) stieg. (Damals entstand das französische Wort millionaire.) Kriminell wurde die Sache, als Law die neuen Kredite fiktiv durch die zu erwartende Ausbeutung von Louisiana deckte. Als die Blase platzte, war der Sündenbock natürlich John Law selber, aber die stete finanzielle Malaise des französischen Ancien Regime wurde zur steten Katastrophe, die dann 1789 zur Einberufung der Generalstände führte.

Man sieht: alle drei Bubbles waren aufs Engste mit den überseeischen Entdeckungen verbunden; waren sozusagen Derivate des gewaltigen Angebots, das fast sofort 149z einsetzte, und das ein Muster für sämtliche folgenden abgab bis zum großen Crash von 1929 und zur Verwitterung der New Economy um die letzte Jahrtausendwende.

1492: Da sticht ein halbverrückter Genuese, der die zuverlässigen Karten der Portugiesen ignoriert und sozusagen hintenherum in Cipango Gold für die Befreiung des Heiligen Grabes einsammeln will, die alten Himmelskreise auf — und aus der See steigt ein kontinentaler gedeckter Tisch für jeden möglichen Appetit. Sofort beginnt die Bull-Saison, die Haie schießen heran, die New Atlantic Economy ist geboren.

Gewiß, der neue Kontinent bot auch neue, unerhörte Freiheit, bot hundert Wege aus der Unmündigkeit, und im Spiel und Widerspiel der Geister ging mehr und mehr davon in den Diskurs und in die Praxis der Gesellschaft auf beiden Seiten des Atlantik ein. Noch schneller aber (und das sollte die Praxis bis heute bestimmen) entdeckte der Homo sapiens europaeus seine Jugend wieder — seine uralten Talente als Beutemacher und Landräuber und Völkermörder. Was der Stand der Dinge, was der Stand der Gesittung in Europa schon nicht mehr erlaubte, ja, was er allmählich als todsündig und sinnwidrig erkannte, das entfaltete sich nun aufs neue in prachtvoller Unbekümmertheit.

Die neue atlantische Ökonomie begann, wie bekannt,

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mit Massenmord, Versklavung und altmodischer Plünderung, unter dem mystischen Glanz, ja der mystischen Verblendung des Goldes. Das Gold der Azteken; das Gold der Inkas; der unwiderstehliche Köder des Dorado, der Mythos des über und über mit Gold verkleideten Herrschers irgendwo im weitesten Westen, legte jede wirksame zivilisatorische Schranke nieder. Wenige Jahre nach Columbus, bei Cortes und Pizarro und Alvarado und den anderen unglaublichen Conquistadoren, redete kein Mensch mehr vom Heiligen Grab: unterstützt von blankem Stahl und den mächtigsten vorstellbaren Alliierten, nämlich den Mikroben aus den schmutzigen Städten und Dörfern Eurasiens, leiteten sie als Pioniere den wahrscheinlich umfassendsten Biozid der Geschichte ein.

Was die Spanier und Portugiesen, nach ihnen die Holländer und Franzosen und Engländer, da wiederbelebten, war die gute alte Beutegier, der heißhungrige Marsch des Opportunismus, mit dem schon die Urindianer die Großwildbestände Amerikas vor Jahrzehntausenden ausgerottet hatten (die vielzitierte ökologische Weisheit der Nachkommen entstand in späteren, viel kargeren Zeiten).

Entscheidender als der spanische Wahnsinnsanfall, der schon ein gutes Jahrhundert später in den Niedergang führte, wurde die Gier des Nordens. Um 1780 schätzte der Chronist Hector de Crevecoeur die Dauer der vollständigen Durchdringung Nordamerikas von Küste zu Küste auf acht Generationen, in Wahrheit dauerte es nicht halb so lang. Gold- und Büffelräusche, der unerbittliche Pflug der Settier, aber noch mehr die Millionenspekulation der Banken und Eisenbahnmagnaten lieferten Treibsatz um Treibsatz für das, was nun zum Stichwort der Moderne wurde: für immer mehr Tempo und immer mehr Profit.

Pubertäre europäische Träume (die Gold- und Silberfixierung der Wikinger, aber auch der Landhunger ungezählter Bauergenerationen, der Hunger einer wachsenden techni-

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sehen Klasse nach den Schätzen der Berge und den fossilen Brennstoffen) entzündeten den Hunger, der sich rücksichtslos durch Felsen und Wälder und Savannen und indianisches Fleisch bohrte, der Aas, Abfall, Abraum wie Gischt nach allen Seiten versprühte und keine Zeit damit verlor, Verwüstung ein wenig aufzuräumen oder gar zu vermeiden. In nackter Wirtschaftssprache: keine externen Kosten durften die Rendite schmälern.

Aber nun ist es die Eigenart der atlantischen fünfhundert Jahre, daß gleichzeitig (und natürlich kausal verbunden) die bisher intensivste und letztlich erfolgreichste Suche nach der politischen Freiheit stattfand. Der Kampf um die Möglichkeiten realexistierender Republik begann im Grunde schon auf den Schiffen der puritanischen Auswanderer, wo sie einander ihre Covenants, ihre Gesellschaftsverträge zuschwuren, aber auch in den Städten Hollands, in den Kantonen der Schweiz — und vor allem in den Köpfen der großen Aufklärer diesseits wie jenseits des Ozeans. Bis ins 20. Jahrhundert hinein stand die Doppelgestalt der Freiheit (politische Emanzipation und wirtschaftliche Expansion) als die Große Zukunft fest, wurde zum Banner der USA wie zum Selbstverständnis der europäischen artikulierenden Klasse. Ja sogar die einsetzenden Oppositionsbewegungen hatten gemeinsame Wurzeln und gemeinsame Anliegen, bis zur internationalen Arbeiterbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die gerade in Amerika ihre heroischsten Momente erlebte — man denke an das Hay Market-Massaker in Chicago.

Was der amerikanische Kontinent dazu lieferte, war schiere Größe — Größe der Savannen und Gebirge, Größe der Seen und Wälder, und sogar die meisten Tierarten, Wild, Fische und Vögel, wuchsen größer als ihre europäischen Vettern. Europa lieferte die Waffen (wie schon gesagt, als wirksamste die Mikroben), lieferte hauptsächlich in britischem Kapital den nötigen Treibstoff für Expansi-

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on und Akkumulation bis tief ins 19. Jahrhundert hinein, stiftete und produzierte technischen Fortschritt zusammen mit den Bastlern der Neuen Welt — lieferte aber vor allem die Ressource Mensch, jeweils angepaßt an die Bedürfnisse der Unternehmer und der Märkte, von den Pelzjägern über die Farmarbeiter der Prärie bis zu den Sweatshops von New York und den Industrielandschaften an Susquehanna und Missouri. Und an den amerikanischen wie an den europäischen Hochschulen las man Homer und Sophokles, Cicero und Vergil, aber nicht nur dort. Es wird von einem neuenglischen Hufschmied des frühen 19. Jahrhunderts berichtet, der zwischen den Kundenabfertigungen seinen Ofenrohr-Zylinder abnahm, in den er ein lateinisches Buch geklemmt hatte, und jede Pause zur Weiterbildung nützte.

Natürlich entwickelte auch Nordamerika seine eigenen Traditionen und Mythen wie jede europäische Region. Es ist bezeichnend, was da jeweils nachhaltig wurde und blieb. Die europäische Aufklärung munitionierte ihre Rebellion gegen den religiös sanktionierten politischen Unterdrückungszustand mit dem Ideal und Idol des »Edlen Wilden«, der sich dann zum Millionengeschäft der Jugendschmöker entwickeln sollte; im Aufstieg des medialen Zeitalters wurde er schließlich vom klassischen Western-Helden überstrahlt.

Dieser Westernheld ist ein Musterbeispiel erfolgreicher Regression. Er ist der Mann außerhalb sozialer Kontrolle, Herr aller seiner Entschlüsse, die er im Raum absoluter Gefahr zu fällen hat. Kurz, er ist die Wiederauflage des Nordkriegers, der Held der Prosa-Sagas des 10. Jahrhunderts. Und so klingen auch seine Dialoge isländisch, wenn es echte Western-Dialoge und nicht die Produkte hereingeschmeckter italienischer Drehbuchschreiber sind: »Wird ein heißer Herbst, schätze ich.«

Hier nun, in dieser Freiheit außerhalb jeder bisherigen Konvention, sehen patriotische Amerikaner, etwa der stockkonservative Kolumnist Charles Krauthammer, gerade den

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glorreichen Sinn der amerikanischen Geschichte. Was soll schon sein mit den paar umgebrachten Indianern, die das vorher untereinander genau so gründlich besorgt haben? Jedes große Wer der Geschichte, ja jedes große Vermögen sei nun einmal auf Verbrechen gegründet — die Hauptsache sei, was sich daraus entwickelt habe. Aus dem Samen dieser blutigen Freiheit sei schließlich der Freiheitsbaum Amerikas gewachsen (und Krauthammer bezieht die spanischen Conquistadoren ausdrücklich mit ein).

Nun, ganz so einfach wars nicht. Die Doppelgestalt der politischen und wirtschaftlichen Freiheit wies früh genug ihre Spalten, Risse, ja Sprengsätze auf; und sie waren von Anfang an sichtbar. Es lohnt sich, einige von ihnen näher anzusehen.

Der erste, vielleicht der idealistischste Versuch, den reißenden Strom der habgierigen Freiheitshelden zu stauen oder in moralisch annehmbare Kanäle zu lenken, waren die Nuevas Leyes, die neuen Gesetze Karls V.; er erließ sie 1542 unter dem unmittelbaren Eindruck der Gräuelberichte des großen Bartolome de Las Casas. Sie dekretierten die Gleichberechtigung der indianischen Untertanen, verboten brutale Arbeitsausbeutung und errichteten Verwaltungsstellen der Krone, die ausdrucklich ayudamientos genannt wurden, d.h. Hilfsbehörden für die Eingeborenen. Als der erste grimme Richter der Krone in Peru eintraf, um den Gesetzen Gehorsam zu verschaffen, jagten die reichgewordenen Conquistadoren Botenreiter zu ihren Genossen ins Land hinaus: »Unsere Freiheiten sind in Gefahr!« (Die Nuevas Leyes blieben im wesentlichen Papier.)

Shays Rebellion: der Mann war Offizier des Unabhängigkeitskrieges im 18. Jahrhundert, und es ging ihm um das Los seiner neuenglischen Kampfgefährten, die nach der Rückkehr in die Heimat mit ihrem wertlosen Sold in Continental-Banknoten die Grundschulden auf ihre kleinen Anwesen nicht ablösen konnten. Die Rebellen stürmten

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deshalb die Ämter und vernichteten die Hypotheken-Unterlagen. Der schon etablierten nordamerikanischen Bourgeoisie jagte die Rebellion gehörigen Schreck ein, außerplanmäßig berief man die Notabein zum Verfassungskongreß nach Philadelphia ein, wo man die Verfassung, um etliche zentralisierende und eigentumbeschützende Paragraphen bereichert, in ihrer heutigen Form verabschiedete.

Thomas Jefferson: es ist kaum bekannt, daß er eine umfassende Ergänzung dieser Verfassung plante. Ihr Angelpunkt war eine politische Einheit, die er die hundreds, also die >Hundertschaften<, nannte. Diesen Kleingruppen wollte er ein Höchstmaß an politischer Kompetenz verleihen. Noch auf dem Totenbett soll er gestanden haben, daß es ihn zutiefst schmerzte, diesen Schritt zur wirklichen Demokratie nicht mehr verwirklichen zu können.

Eine wahrhaft abenteuerliche Vision: US-Amerika als ein Bienenhaus aus Tausenden von Waben, die man sich als möglichst autarke politische und soziale Einheiten, als oi-koi, Großhaushalte im griechisch-antiken Sinne vorzustellen hätte.

Übergehen wir die zahllosen Turbulenzen und Strömungen, die auf die atlantische Gesellschaft einwirkten und einwirken; erinnern wir uns an zwei Warnungen, die von US-amerikanischen Präsidenten ausgesprochen wurden: Abraham Lincolns düstere Vision von der Überwältigung der Republik durch das Big Business, und Eisenhowers Rede von den Gefahren des »militärisch-industriellen Komplexes«.

Die Mahnungen konnten nicht mehr viel ändern. Der Impact of Western Man, die Tiefenprägung der Welt durch die atlantische Zivilisation hat stattgefunden, und nach der Statistik von Charles Murray stammen aus diesen 500 atlantischen Jahren 97 Prozent aller registrierten wissenschaftlichen Leistungen weltweit. (Chinesen und Inder haben wohl nicht sehr viele ihrer Errungenschaften aufgeschrieben —

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gleichviel.) Diese Zivilisation ist eingemündet in einen totalen Markt, eine totale Indienststellung der Wissenschaft als Magd der Produktion, eine Reduktion jeder politischen Struktur zur Wach- und Schließgesellschaft der Ökonomie.

Das gilt für beide Ufer des Großen Teichs. Das Weltmuster des Imperiums bezieht nicht nur uns Europäer, sondern immer mehr Kulturen ein, globalisiert den schäumenden Verschleiß der Ressourcen und die Zwanghaftigkeit quantitativen Wachstums.

Mit ihren Werkzeugen und ihrer Rolle in zwei Weltkriegen überholten die USA endgültig und schufen jenen American tvay oflife, in dem sich die Spirale von Bedürfnis und Angebot wirklich aus der alten Schwerkraft von Furcht und Not zu lösen schien. Die Große Atlantische Blase ist die endgültige Antwort, ist, um eine landläufige Parole aufzunehmen, das Ende der Geschichte. Was Europa noch an alten Flicken in seinem Kulturmuster von der Neuen Welt unterschied, wurde durch die jungen Götter, die 1944 aus dem Meer stiegen, endgültig angeglichen. Das gesellschaftliche, wirtschaftliche, ästhetische Design, das die USA ursprünglich aus Europa mitbrachten und in neue Massen-Dimensionen übersetzten, wurde nun in Gegenrichtung übernommen — bis zum Punkt absoluter Unvernunft. (Daß etwa ein vollgepacktes Areal wie Deutschland zum Mekka des motorisierten Individualverkehrs werden konnte, ist dafür ein verrückter Beleg.)

Was die Bewußtseinsgeschichte der Menschheit angeht, waren die fünfhundert Jahre des Bubble eine schlimme Regression. Sie läßt sich in einem Satz zusammenfassen: man brauchte nichts wirklich Neues zu lernen. Das Tischlein-deck-dich, das aus dem Ozean stieg, gab ihr scheinbar ihre Jugend zurück; die Jugend der Völkerwanderungen und Landnahmen vom Cro-Magnon-Menschen an, und man hatte Macht, mehr Macht denn je. (Macht ist bekanntlich die Einbildung, nichts mehr lernen zu müssen.)

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Aber die Große Blase ist angepiekst, der Höhepunkt des Booms überschritten, obwohl das weder das American Enterprise Institute noch der BDI begriffen haben — von ihren politischen Putzkolonnen ganz zu schweigen. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Vielleicht fand die erste entscheidende Abweichung schon 1898 statt, als die USA sich zur Annexion Hawaiis und der Philippinen entschlossen, also zur altmodischen Kolonialmacht wurden, so wie die Briten, von denen sie sich im Streben nach Freiheit getrennt hatten. Es gab prominente Denker damals in den USA, die sich eben deshalb gegen diese Kapitalerhöhung des Atlantischen Booms wandten; für sie verriet Amerika dadurch sein historisches Wesen und seine Vorbild-Bedeutung für die Freiheit der Völker. Aber der Imperialismus stand damals in voller Blüte, die Nation konnte vor Kraft kaum laufen, und so siegte wieder einmal der alte, mörderische Opportunismus. (Er sollte bis in unsere Tage vor allem im lateinamerikanischen Hinterhof funktionieren.)

Wichtiger und endgültiger wurde ein ideeller Aspekt: das Auftauchen der einzigen wirklich originellen Perspektive des 20. Jahrhunderts, der biosphärischen.

Sie entstand zunächst in Amerika durch die Gruppe der concerned scientists, aber auch durch Menschen aus der Tradition der großen Waldgänger und der unmittelbaren Demokratie. Der Vietnam-Protest trug diese Perspektive in die Masse der dissidenten Akademiker. In Europa dauerte es einige Jahre, bis die Linke ihr Mißtrauen gegen diese scheinbare Restauration alter Menschenbilder überwand, schließlich hing man noch an der Anbetung der entfesselten Produktivkräfte, die der Realsozialismus mit dem Kapitalismus teilte. Aber nach dem Schritt über die Hemmschwelle entstand das europäische, speziell das deutsche Ökopax-Bewußtsein und prägte das Profil der neuen sozialen Bewegungen — wieder war der atlantische Wechselkontakt hergestellt.

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In den USA begriff die Plutokratie sofort die grundsätzliche Gefahr, die von dieser neuen Perspektive für sie ausging: denn sie war schlüssig, sie war unausweichlich, sie stellte die Logik des Booms und damit die historische Richtung der letzten 500 Jahre absolut in Frage, ebenso wie die bisherigen Schlagworte fast aller Fraktionen der politischen Klasse.

Daß prompt der Gegenangriff erfolgte, war gleichfalls unausweichlich. Ronald Reagan wurde aufgebaut, Carters Auftragsarbeit GLOBAL 2000 verschwand in der hintersten Schublade, und das große Geld stampfte kapitalistische Denkküchen wie das American Enterprise Institute serienweise aus dem imperialen Humus, während die neue Offensive von GATT, WTO, IWF und Weltbank Armen wie Reichen die Spielregeln der Deregulierung, d.h. die jüngste Logik des Großen Bubble aufzwang.

Selbstverständlich war auch diese Offensive keine rein US-amerikanische; europäische Topfirmen wurden transnational und waren durchaus bereit und in der Lage, mitzuspielen, die Betriebswirtschaftslehre wurde im Sinne einer gottlosen neokonservativen Theologie standardisiert, und die europäischen Fakultäten und Wirtschaftsjournalisten sprachen ihre Stichworte nach.

So war der Gegenangriff des Geldes über die Maßen erfolgreich. Einer jener Siege war errungen, wie sie die Heiligen Büros der Macht immer wieder erringen — oder doch zu erringen glauben: die erfolgreiche Beseitigung einer neuen Dimension der Wirklichkeits-Erkenntnis durch ein System kollektiver Verblendung.

In den USA und überall sonst in der Welt des Leviathan stiegen die großen Vermögen zu bisher unbekannten Höhen auf, und heute wird man vergebens in irgendeiner politischen Talkshow, ob in Berlin oder Los Angeles, nach dem Diskurs über soziales Wohlbefinden, geschweige denn über die biologischen, thermodynamischen und Entropie-Gesetze suchen, um welche kein nachhaltiger Zukunftsentwurf herumkommt.

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Nachhaltige Zukunft: das erst ist die Gabelung, an der sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Wege Europas und der USA zu scheiden beginnen. Dem amerikanischen Machtkomplex ist die Welt des fünfhundertjährigen Booms zum selbstverständlichen Weltgeist geworden; und der daraus resultierende way of life wird von der Mehrheit wohl noch akzeptiert. Unter dem Banner der Globalisierung und mit aller Medienmacht wird er der Menschheit als Problemlösung angeboten: Ende der Geschichte.

Rational begründbar ist da natürlich überhaupt nichts, und Tiefenschichten im amerikanischen Wesen wissen das auch und suchen nach Ausgängen. Alles drängt in solchem Zwiespalt auf die Lösung von außen und oben, auf eine altmodisch-messianische Eschatologie. Diese bringt einerseits die merkwürdigsten christlichen Erweckungs-Sekten voran, führt andererseits in der Politik zum Manichäismus, zum übergangslosen Kontrast von Gut und Böse, der zwanghaft auf Armageddon, die Endschlacht in orientalischer Wüste zutreibt. Bis dahin gilt es den alten Optimismus zu bewahren, ja zu verstärken: Komm, du lichtes Reich auf dem Berge!

Europa sieht, vielmehr fühlt das anders. Zwar will es vom Fortschrittszwang des Atlantic Bubble so schnell auch nicht loskommen, seine Global Players sind keinen Deut selbstloser als die amerikanischen, der Maybach ist ein ebenso schädlicher überflüssiger Protzschlitten wie der Cadillac, und unsere herrschende Wirtschaftstheologie so gut wie ihre politischen Diener gebärden sich um kein Iota intelligenter als die in Übersee. Das Boom-Ethos darf auf keinen Fall entthront werden — auch in Europa nicht. Die völlig falschen Reformansätze der Agenda 2010 sind dafür ein gutes Beispiel.

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Was wir Europäer uns allerdings zugelegt haben, ist ein gewisser Ablaßhandel, der die Gewissen beruhigen soll. Kyoto-Protokoll, der internationale Gerichtshof etcetera: immerhin, wir sind mühsam in die Zukunft unterwegs oder glauben es wenigstens. Und daß der US-amerikanische Machtkomplex da nicht mitspielt, ist ja auch, gestehen wirs ein, ein guter Grund für leicht schadenfreudige Genugtuung: wir Venusianer sind immerhin ein wenig weiser ...

Natürlich sind wir nicht annähernd weise genug. Ob wir zwanzig bis vierzig Energiesklaven pro Kopf beschäftigen statt, wie die Amerikaner, achzig bis hundertzwanzig, ist kaum zukunftsrelevant. Zynisch gesprochen: fünf oder fünfzig Meter Wassertiefe macht für einen Nichtschwimmer keinen Unterschied.

Ein anderer Unterschied ist immerhin bemerkenswert: der demographische. Die USA haben einen Geburtenüberschuß, sind im Durchschnitt wesentlich jünger als wir. Mit anderen Worten: wir Europäer spüren, daß wir Kindern und Enkeln wenig Erfreuliches zu bieten haben, und verhalten uns entsprechend; schon deshalb, weil unsere säkularisierten Gemüter mit einer primitiv-messianischen Triumph-Erwartung, die kollektiven Glaubensakten entspringt, nicht viel anfangen können.

So oder so, ob Armageddon oder Schwarzer Freitag: die Zeit des Great Bubble ist zu Ende. Sie hat (vielleicht) der atlantischen Menschheit fünfhundert Jahre Gnadenfrist verschafft — aber gerade dadurch hat sie es verhindert, daß fünfhundert Jahre früher ernsthaft und konstruktiv über die Zukunft nachgedacht wurde.

Was könnte Europa tun, um sich wirklich, nicht nur mit verbalem Florettgefuchtel, aus einer lebensgefährlichen Allianz zu lösen? Solange es auf dem geltenden Design des Wirtschaftens und der Sozialisierung durch den Totalen Markt beharrt: NICHTS.

Es wird weiterhin als vielleicht unwilliger, aber letzten Endes braver Soldat Schwejk hertrotten hinter den Todesmaschinen der planetarischen Interessen­wahrung, wird weitermarschieren in die Armageddon-Wüste hinein, bis alles in Scherben fällt — einschließlich der Lebensgrundlagen.

Was es gälte: einen Zivilisationsentwurf zu finden, der wirklich universalisierbar ist, und die dafür notwendigen, durchaus nicht immer erfreulichen Schritte einzuleiten.

Das könnte und müßte aber wiederum in atlantischer, wenn möglich in globaler Gemeinschaft geschehen. Amerika hält dafür mindestens ebensoviele Ideen und Ressourcen wie Europa bereit, wenn es ihm gelingt, das Joch der Plutokratie abzuschütteln. 

Und so rufen wir unseren amerikanischen Freunden zu: Good luck ! 

Pffft. 

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Ende

 

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