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  Brief von Nina Strokata 

 en.wikipedia  Nina_Strokata_Karavanska  1926-1998

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Laut der »Chronik der laufenden Ereignisse« Nr. 33 hat sich Nina Strokata zusammen mit anderen gefangenen sowjetukrainischen Frauen an die Lagerorgane gewandt mit der Bitte, das von ihnen erarbeitete Geld einem Fonds für die Opfer der Junta in Chile zu überweisen. Sie bat außerdem, ebenfalls zusammen mit anderen Frauen, um die Erlaubnis, eine Vertreterin der gefangenen Frauen zum Kongreß der Internationalen Föderation Demokratischer Frauen entsenden zu dürfen. Beide Anträge wurden abgelehnt.

Laut der »Chronik der laufenden Ereignisse« Nr. 34 hat Nina Strokata aus Protest gegen die Weigerung der Lagerorgane, ihr ein Gespräch mit der Vertrauensperson L. Tymtschuk zu gewähren, einen Hungerstreik angekündigt. Anfang April 1973 hatte sie sich zusammen mit anderen Gefangenen an die für die Stadt Saransk zuständige Staatsanwaltschaft gewandt, um die Möglichkeit zu erhalten, sich für das Auferstehungsfest Christi vorzubereiten (Beichte und Kommunion). Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin die Lagerorgane angewiesen, die gefangenen Frauen über die Trennung von Kirche und Staat zu unterweisen.

Am 10. Dezember 1974 hatten Nina Strokata und andere gefangene sowjetukrainische Frauen gefordert, ihnen den Status von politischen Gefangenen zuzuerkennen. Dafür wurde Nina Strokata gleich nach ihrer Rückkehr aus Rostow am Don, wohin man sie wegen onkologischer Untersuchungen (Krebsverdacht) gebracht hatte, in den Strafisolator gesteckt.

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An den Generalstaatsanwalt der UdSSR, 
R. Rudenko

Ich bin nicht der Meinung, daß unsere Zeit dem Menschen nur eine einzige Wahl läßt — jemandes Epigone zu sein.

Für mich ist es längst zum Grundsatz geworden, mit denjenigen, die sich im Zustand offizieller Euphorie befinden, keinen Dialog zu beginnen, weil sie jedweden Dialog in einen Monolog umwandeln. Zuweilen zwinge ich mich dazu, meine Gedanken darüber auszudrücken, was den Inhalt der Deformationen ausmacht, die der Gesellschaft, in der ich lebe, eigen sind.

Ich hoffe, daß Sie, Herr Generalstaatsanwalt, den öffentlichen Feierlichkeiten, die das Leben unserer Staatsmänner ausmacht, bereits Ihren Tribut gezollt haben. Lenken Sie sodann Ihre Aufmerksamkeit auf die schlechten Dienste, die aus den vielleicht guten Absichten derjenigen entstehen, die sich vorgenommen haben, uns alle und Sie für den nächsten Gedenktag dieses Jahres vorzubereiten - den 25. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 

Diese Erklärung hatte keinen internationalen und also für die Mitgliedsstaaten der UNO keinen verpflichtenden Vertragscharakter. Deshalb konnte man sie 25 Jahre lang auf verschiedene Weise als politisches Instrument ausnutzen. Doch in diesem Jahr wurden die aus der Allgemeinen Erklärung hervorgegangenen und Ihnen bekannten Verträge ratifiziert. Von dem Zeitpunkt an sind alle I nformationsorgane nur noch von der einen Idee besessen: den Bürgern der UdSSR zu beweisen, daß nicht nur staatliche (das heißt höhere) Interessen bestünden, zu deren Gunsten man die bürgerlichen und politischen Rechte einschränken müsse. Gerade diese Einschränkungen werden als das Wesen der sozialistischen Demokratie hingestellt.

Weder von den Umerziehungskolonien noch von den Dienstzimmern der KGB-Untersuchungsrichter oder den Gerichtssälen gehen Impulse aus, die eine offene Diskussion hervorrufen könnten. Ohne ein einziges meiner »Für« und »Wider« auszudrücken, empfehle ich Ihnen folgendes: Lesen Sie in der Zeitschrift »Nowoje wremja«, Nr. 39 von 1973, die Variationen von J. Reschetow: »Im Namen des Rechts und der Freiheit des Menschen«. Bei der Lektüre beachten Sie bitte die letzten Zeilen der linken Spalte. Dort können Sie lesen: »...im Einvernehmen mit dem Vertrag kann das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt werden...«.

Wenn das Recht, die freie Meinung zu beherrschen, das Wesen einer sozialistischen Demokratie ausmacht, wird jeder im Recht sein, der die Existenz einer solchen Demokratie infrage stellt. Oder ist etwa die Kontrolle der Meinung eine verbreitete, mir aufgrund meiner Isolation unbekannte Auslegung des Art. 62 des Strafkodex der Ukrainischen SSR und der ihm entsprechenden Artikel in den anderen Republiken?

Ohne eine Antwort von Ihnen zu erwarten, kündige ich für den 10. Dezember einen Hungerstreik an als Protest gegen alle Einschränkungen der freien Meinungsäußerung.

10. Dezember 1973,
Nina Antoniwna Strokata

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   Interview mit den Strafgefangenen des Lagers WS 389/35 im Permgebiet 

 

In einigen Ländern haben politische Gefangene immerhin die Möglichkeit, mit Vertretern sogar der ausländischen Presse zusammenzukommen und über alles zu sprechen, was sie gefragt werden. Die sowjetischen politischen Gefangenen haben diese Möglichkeit nicht, sie sind vollständig von der Außenwelt isoliert. Doch trotz strengster Vorkehrungen ist es gelungen, einige Fragen ins Lager Wsechswjatskaja im Uralgebiet zu übermitteln und einige politische Gefangene zu interviewen. Die Gefangenen wurde zu verschiedenen Dingen des Lagerlebens befragt. Die erste Frage betraf den Tatbestand der Isolation selbst, die Mittel ihrer Realisierung und das dabei verfolgte Ziel.

Iwan Switlytschnyj: Die Lagerverwaltung strebt wirklich die größtmögliche Isolation an. Alle unmittelbaren Kontakte mit der Außenwelt sind auf zwei gemeinschaftliche und einen persönlichen Besuch im Jahr beschränkt, wobei nur die allernächsten Angehörigen zugelassen sind. Alle diese Besuche können dem Gefangenen nach Gutdünken der Verwaltung gestrichen werden, und zwar unter einem beliebigen Vorwand. Mir wurden beispielsweise im Jahr 1974 zwei Gemeinschaftsbesuche der Angehörigen gestrichen — einmal deswegen, weil ich auf dem Bett gesessen hatte (das ist in den Regeln nicht vorgesehen), ein zweites Mal wegen einiger Gedichte, die bei mir beschlagnahmt wurden und deren Inhalt irgend jemandem mißfallen hatte. Wenn Gemeinschafts­besuche stattfinden, ist ihre Dauer auf 1-4 Stunden festgesetzt; sie finden immer im Beisein eines Aufsehers statt, der darauf zu achten hat, daß die Gespräche den thematischen Rahmen des Allgemeinbefindens nicht überschreiten, daß politische Fragen und die Bedingungen des Lagerlebens nicht angesprochen werden. Die persönlichen Besuche finden in einem zu diesem Zweck eingerichteten Raum statt, in dem Abhörgeräte installiert sind. Von einem echten mündlichen Informations­austausch kann hierbei nicht die Rede sein. Papier und Bleistift usw. dürfen bei den Besuchen nicht benutzt werden. Wie total die Isolation der politischen Gefangenen ist, zeigt allein die Tatsache, daß selbst den Aufsehern, also besonders ausgesuchten und geschulten Leuten, jegliche Unterhaltung mit den politischen Gefangenen verboten ist, und die leitenden Vertreter der Verwaltung sprechen über genau ausgesuchte Themen.

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Einer genauso strengen Zensur sind auch Briefe unterzogen, die an die Gefangenen gerichtet sind. Dabei macht sich die Zensur in der Regel nicht die Mühe, die Beschlagnahmung von Briefen zu begründen. Es genügt zu erklären, daß ein Brief irgendwelche Absprachen oder Nachrichten enthalte, die nicht die Öffentlichkeit dringen dürften, der Brief im Inhalt verdächtig sei oder eine »Verdrehung der internationalen Wirklichkeit« enthalte. Wie willkürlich dies alles gehandhabt wird, /cigt die Tatsache, daß Briefe von Angehörigen aus den mor-ilowischen Lagern an mich und Kalynez beschlagnahmt wurden: was die mordowische Zensur durchgelassen hatte, hat die Zensur im Ural beschlagnahmt und umgekehrt. Mehr noch — die Zensur ein und des gleichen Lagers kann sich zu verschiede-ncn Zeiten verschieden verhalten. Ende 1973 wurde ein Brief von mir an meine Frau beschlagnahmt. Ich machte damals ein c Infaches Experiment: ich habe noch einmal den gleichen Brief geschrieben und nur die Nachricht von der Beschlagnahmung iles vorherigen Briefes hinzugefügt. Diesen zweiten Brief hat die Zensur durchgelassen. Ich weiß heute noch nicht, was das zu bedeuten hat: diese Briefe wurden entweder von verschiedenen Leuten zensiert, oder das Ganze hing von der Stimmung ein und desselben Menschen ab ... Eher das letztere. Am schlimmsten ist, daß der ganze Briefwechsel von der Willkür der Lagerverwaltung abhängt und man sich im Falle einer Konfiszierung bei niemandem beschweren kann: die konfis-/ierten Briefe werden vernichtet, und es ist unmöglich, die Begründung einer Konfiszierung zu überprüfen.

 

Frage: Was hat diese strenge Isolation hervorgerufen? 

Ibor Kalynez: Für mich ist es offensichtlich, daß dies getan wird, um Tatsachen und Handlungen zu verbergen, die im Widerspruch zu den internationalen rechtlichen und moralischen Normen sowie Bestimmungen der sowjetischen Verfassung stehen. Ich bin zum Beispiel nur wegen meiner literarischen Tätigkeit verurteilt worden, die weder antisowjetischen noch einen mehr oder weniger spürbaren gesellschaftspolitischen Charakter hatte.

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Es ist einfach lächerlich, in meinem »Fall« nach irgendwelchen Militär- oder Staatsgeheimnissen zu suchen. Trotzdem war meine Gerichtsverhandlung geheim, nicht einmal meine nächsten Angehörigen wurden zugelassen, und das ist verständlich: es gibt im Grunde keinen »Fall«, das »ganz besonders gefährliche Staatsverbrechen« besteht nur aus einigen völlig unpolitischen Gedichten, und das hätte sogar die an alles gewöhnte sowjetische Öffentlichkeit verwundert.

Das Material ähnlicher Verfahren versucht man natürlich streng geheimzuhalten, und viele bekommen - in Widerspruch zur herrschenden Rechtslage - nicht einmal eine Kopie der Gerichtsurteile. Es ist klar, daß das nur bei einer maximalen Isolation der Gefangenen möglich ist. Außerdem hält die Lagerverwaltung diese angeblichen »Staatsverbrecher« in unmenschlichen Bedingungen: sie werden auf Hungerrationen gesetzt, der Kälte ausgesetzt, durch schwere körperliche Arbeit erschöpft, ihre Menschenwürde wird unentwegt verletzt. Wenn all diese Dinge an die Öffentlichkeit dringen würden, könnte das alles nicht ungestraft geschehen. Die Behörden sind daran interessiert, die Wahrheit zu verbergen, und dies ist nur bei allerstrengster Isolation der Opfer dieses barbarischen Experiments möglich. Ähnlich wie mein Fall sind die von Wassyl Stus, Jewhen Swerstjuk, Mychajio Ossadtschyj und vielen anderen. Mykola Andrijewytsch Horbal wurde für ein einziges Gedicht »Duma« zu 5 Jahren Lagerhaft und 2 Jahren Verbannung verurteilt.

 

Frage: Was können Sie zur Rechtslage der politischen Gefangenen in der UdSSR sagen?

Iwan Kandyba: Es ist bekannt, daß die Regierung in der UdSSR die Existenz von politischen Gefangenen leugnet und uns verbietet, uns so zu bezeichnen. Diese Tradition reicht noch in das zaristische Rußland hinein, nur wurden die politischen Gefangenen damals »Staatsverbrecher« genannt, heute wurden sie zu »äußerst gefährlichen Staatsverbrechern«. Der Unterschied liegt außerdem darin, daß es heute in der UdSSR viel mehr »besonders gefährliche Staatsverbrecher« gibt als im zaristischen Rußland und daß die Behörden sie heute viel grausamer behandeln. Die Lage der politischen Gefangenen in der UdSSR hat noch eine andere wichtige Besonderheit:

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Geht man davon aus, daß es in der UdSSR wirklich eine Verfassung gibt, die noch dazu das Grundgesetz darstellt, sind die meisten sogenannten politischen Gefangenen ungesetzlich wegen Verfassungsbruchs verurteilt worden, und zwar einzig und allein für den Versuch, die Rechte in Anspruch zu nehmen, ilie die Verfassung garantiert. Genaugenommen ist es wirklich schwer, solche Menschen als Politiker zu bezeichnen. Doch es existiert noch ein Strafkodex, der die Inanspruchnahme der grundlegenden demokratischen Rechte, die in der Verfassung festgelegt sind, als Verbrechen qualifiziert, und die Menschen, die es wagen, die Verfassung in Anspruch zu nehmen, als " besonders gefährliche Staatsverbrecher« verurteilt.

Deshalb beurteilen die politischen Gefangenen sich und ihre l iandlungen verschieden: wer sich auf die Verfassung bezieht, lialt sich in der Regel für unschuldig, wer sich dagegen auf den Strafkodex bezieht, erkennt seine Schuld an. So ist die Lage der politischen Gefangenen in der UdSSR von Anfang an zweiseitig.

 

Lew Jagman: Außerdem herrscht die gleiche Diskrepanz wie zwischen der Papierverfassung und dem realen Straf kodex .»uch zwischen den Thesen der Besserungsarbeitskodex (ITK) und den realen Rechten der politischen Gefangenen. Ich werde versuchen, hierfür einige Beispiele anzuführen: In der Präambel der Grundlagen des Besserungsarbeitskodex (ITK) heißt es, daß die Verbüßung der Strafe keine körperlichen oder moralischen Leiden hervorrufen dürfe.

Aber wie ist dann die häufig angewandte Überführung der politischen Gefangenen in die isolierten Strafzellen (PTK) für eine Dauer von etwa 6 Monaten zu verstehen, wo die berüch-i igte Hungerration 9 gilt? Das ist doch eine wohldurchdachte gesundheitliche Schädigung des Menschen. Sie können sich nicht vorstellen, was es bedeutet, ein halbes Jahr lang nach der herabgesetzten Norm eines Strafgefangenen verpflegt zu werben, wenn laut Behauptung der Lagerärzte (Angestellte des Ministeriums für innere Angelegenheiten /MWD/) schon die normale Lagerverpflegung im Laufe von einigen Jahren unweigerliche Magenerkrankungen hervorruft. Wie kann man von

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einer Vermeidung moralischer Leiden reden, wenn Gläubige gezwungen werden, ihre Bärte zu rasieren und diejenigen, die sich weigern, in Handfesseln rasiert werden? Wenn im Lager keine religiöse Literatur erhältlich ist und die Literatur, die wir handgeschrieben besitzen, bei Durchsuchungen beschlagnahmt wird? Wenn gläubige Juden und Moslems dafür bestraft werden, daß sie in den Unterkünften ihre Kopfbedeckung tragen? Wenn das Begehen von religiösen Riten und Festtagen auf alle möglichen Arten bestraft wird, wenn an Sonntagen gearbeitet werden muß und auf Weigerung Strafe steht?

Die Frage des Briefwechsels ist schon längst in aller Munde. Im Artikel 30 des ITK heißt es, daß Briefe binnen drei Tagen abgeschickt sein müssen, aber die Lagerverwaltung und die Vertreter des KGB meinen, daß wir zufrieden sein sollten, wenn die Briefe überhaupt befördert werden, die Zeitdauer sei nicht einmal der Rede wert. Briefe, die in Litauisch, Lettisch, Estnisch, Armenisch oder in anderen Sprachen geschrieben sind, sind mehrere Monate unterwegs. Im Landesinneren sind Briefe, die in Iwrith, Englisch oder anderen Sprachen geschrieben sind und aus dem Ausland kommen, einige Monate unterwegs, wobei sie meist nach 10-15 Tagen in Moskau sind, dafür dauert es 1V2 bis 2 Monate, bis sie aus Moskau ins Lager kommen. »Wir haben keine Übersetzer«, heißt es bei allen Nachfragen. Warum aber russische Briefe aus dem Ausland auch insgesamt 1V2 Monate brauchen, weshalb Dutzende von Briefen überhaupt verschwinden - auf die Beantwortung dieser Fragen warten wir nun schon jahrelang. Natürlich ist die mythische Behörde 5110 in Moskau, die all unsere Briefe aus dem Ausland passieren, eine Organisation, die nicht einmal von den Verwaltungsorganen der KPdSU kontrolliert wird.

Im ITK heißt es, daß der Strafgefangene unter Berücksichtigung seiner Arbeitsfähigkeit und nach Möglichkeit nach seiner fachlichen Qualifikation arbeiten muß. Doch die Praxis in den Lagern zeigt, daß alles getan wird, damit die Strafgefangenen fachfremd eingesetzt werden und dies zu einer Zeit, da es überall an qualifizierten Arbeitskräften fehlt: Ingenieure arbeiten als Hilfsarbeiter, Ärzte als Heizer, Philologen als Dreher usw.

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Iwan Kandyba: Die nichtrussischen politischen Gefangenen werden in ihren Rechten zusätzlich eingeschränkt. Sie werden in fremde Länder außerhalb ihrer Republiken gebracht, in ein ungewohntes strenges Klima. Sogar von der Besuchserlaubnis, die ihnen gesetzlich zusteht, können ihre Angehörigen oft keinen Gebrauch machen. Darunter leiden nicht nur die politischen Gefangenen selbst, sondern auch ihre Angehörigen; die Familien werden in solchen Fällen zerrüttet. Eben daran sind die Behörden interessiert — sie fördern das bewußt und begründen es dann mit politischen Motiven. Die nichtrussischen politischen Gefangenen werden gezwungen, mit der Verwaltung nur russisch zu verkehren, auch die Absendung und Auslieferung von Briefen wird mit der Begründung zurückgehalten, sie seien nicht russisch geschrieben. Während der Gemeinschaftsbesuche ist es verboten, sich mit den Angehörigen in der Muttersprache zu unterhalten. Die vielfachen Gesuche und Forderungen der Strafgefangenen, in ihre eigene Republik verlegt zu werden, werden stets abgelehnt.

 

Lew Jagman: Es ist bemerkenswert, daß in allen Fällen, in denen das Gesetz der Verwaltung eine Auslegung einräumt, die Verwaltung stets gegen das Interesse der Gefangenen entscheidet. Wenn für die Besuchszeit der sogenannten langen Besuche vom Gesetz ein bis drei Tage und für die kurzen Gemeinschaftsbesuche ein bis zwei Stunden vorgeschrieben sind, gibt es keine Chancen, ein Maximum zu bekommen. Wenn das Gesetz nicht vorsieht, daß während des Tages eine Ruhepause eingelegt werden soll oder man sich an bestimmten Plätzen sonnen kann — verbietet es die Verwaltung. Es ist merkwürdig, daß bisher das Atmen noch nicht verboten ist, im Gesetz wird es nicht erwähnt.

 

Iwan Kandyba: So bleiben die Worte von der Nichtanwendung körperlicher und moralischer Leiden leeres Geschwätz, und das ganze System der Gefangenenhaltung beruht gerade darauf, daß den politischen Strafgefangenen mit allen möglichen Mitteln und Methoden körperliche und moralische Leiden zugefügt werden, und nur auf diesem Wege sollen die Ziele erreicht werden.

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Frage: Das Ziel aller Strafsysteme ist die Umerziehung. Mit welchen Methoden versucht man, dies in Ihren Verhältnissen zu erreichen?

Slawa Glusman: Die Umerziehung der politischen Gefangenen in den Lagern bedeutet nur eins: ihre moralisch-ästhetische Geisteshaltung in einen Zustand zu bringen, in dem alle Probleme gleichgültig werden außer dem einen - dem Problem des eigenen Wohlergehens. Von einer Aufrichtigkeit veränderter Überzeugungen und entsprechender Handlungen kann keine Rede sein, weil die Praxis der Verwirklichung der Gesetzlichkeit, die »Humanität« der Methoden, Illusionen und viele Ideale raubt. Es ist unmöglich, mit den Erziehungsmethoden, die das Gesetz für das System des MWD festlegt, eine »Besserung« der Strafgefangenen zu erreichen . . . Mehr noch - oft beginnt der politische Gefangene, enttäuscht von seiner früheren sozialen Sympathie und Haltung, in der ideellen, religiösen usw. Sphäre zu suchen, nicht aber im Bereich des offiziellen Dogmas. Die politisch-erzieherische Arbeit im System des MWD schließt Vorträge, politische Schulung, individuelle Gespräche und natürlich das persönliche Vorbild ein. Die unmittelbare Leitung hat der stellvertretende Lagerkommandant für politisch-erzieherische Arbeit. Die konkreten Maßnahmen werden meistens von den Gruppenleitern durchgeführt. Das Niveau dieser Vorträge, Diskussionen, Lektionen ist äußerst niedrig und entspricht der Bildung und Entwicklung der MWD-Offiziere. Deshalb erlauben sich unsere Erzieher nicht selten offen absurde und »ideologisch schädliche« Äußerungen vom Standpunkt des gegebenen Augenblicks und des herrschenden Parteidogmas, die zuweilen sogar unter den Artikel 190 des Strafkodex der RSFSR "fallen. So erklärte mir ein Offizier in einem Gespräch, daß er »Stalin achte und schätze«.

Das Gesetz verpflichtet den Gefangenen nicht, die Vorträge und Lektionen zu besuchen. Doch in der Praxis werden diese Besuche, gelinde ausgedrückt, »stimuliert«. Einer der Gründe, weshalb Josif Meschener in den Strafisolator verlegt wurde, war gerade seine mangelnde Teilnahme am Gruppenleben, seine Weigerung, die Politstunden zu besuchen und bei den Sonntagsschichten mitzumachen. Die ganze Sinnlosigkeit solcher »Erziehungsmethoden« wird offenkundig, wenn man be-

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denkt, daß die meisten politischen Gefangenen höhere Bildung haben und mit der gesellschaftspolitischen und Parteiliteratur bestens vertraut sind. Aber bei weitem nicht alle »Erzieher« lesen die Zeitung.

Wahrscheinlich aus dem gleichen »erzieherischen« Grund verbietet uns das Gesetz das Beziehen aller ausländischen Ausgaben, auch kommunistischer und ganz fachbezogener, die man gewöhnlich über den Unionsvertrieb bestellen kann.

Die ständigen Durchsuchungen, Überprüfungen, Konfiszierungen von Handschriften und anderem stören die systematische Arbeit an Büchern und die schöpferische Tätigkeit. Im politischen Straflager trägt das gedruckte Wort keineswegs zur »Umerziehung« bei.

Dennoch gibt es Präzedenzfälle von »Besserung« politischer Gefangener. Gewöhnlich werden Menschen umerzogen, die ganz zufällig ins Lager geraten sind, die früher weder feste moralische Grundsätze noch festumrissene Überzeugungen hatten, Menschen, denen nicht ein »Fall«, sondern eine »Äußerung« zur Last gelegt wird. Aber auch sie verbergen nicht vor ihren Kameraden, daß der treibende Grund ihrer »Besserung« nicht das Bewußtsein ihrer »verbrecherischen Vergangenheit« oder eine Folge der mit ihnen durchgeführten Erziehungsarbeit ist, sondern einzig und allein das Problem ihres persönlichen Wohlergehens.

Manchmal (sehr selten) stimmt ein politischer Gefangener seiner formellen »Besserung« zu, wenn ihn die zahlreichen Lagermethoden und die schweren auszehrenden Krankheiten zermürbt haben. Es muß dazugesagt werden, daß sich auch die Verwaltung des Formalismus der »Umerziehung« des politischen Gefangenen bewußt ist. In der Freiheit bekommen diese »Umerzogenen« niemals das, was man ihnen versprochen hatte: weder die Möglichkeit einer höheren Schulbildung noch die Zuzugsgenehmigung in die eine oder andere Stadt usw.

 

Zinowij Antonjuk: Einen großen Stellenwert im System der Umerziehung der politischen Gefangenen hat die Arbeit, weil im Arbeitsprozeß die grundlegenden moralischen Eigenschaften des Menschen herausgebildet werden: Kollektivismus, Schaffensfreude, Achtung vor der Arbeit anderer usw. Aber man kann fragen: Wer von meinen Kameraden hat diese moralischen Eigenschaften nicht auch ohne Einmischung der Lagerverwaltung vor 10-20 Jahren und mehr entwickelt?

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Lew Jagman: Ich glaube, das ganze Problem besteht darin, daß das Gesetz nicht zwischen Leuten differenziert, die für kriminelle Delikte verurteilt werden, und Personen, die in den politischen Lagern sitzen, und deshalb ist bei uns die Arbeit aus einem Mittel, das die Umerziehung fördert, zu einer zusätzlichen Strafe geworden.

Was das Verhältnis zur Arbeit angeht, so lassen sich im Lager mehrere Kategorien von Gefangenen unterscheiden: zur ersten gehören Leute, die in der Arbeit aus verschiedenen Gründen eine Möglichkeit suchen, die Zeit totzuschlagen, weil sie nicht fähig oder nicht willens sind, sie anders zu nutzen. Sie arbeiten um der Arbeit willen. Zur zweiten gehören Leute, für die die Arbeit ein zusätzliches Mittel ist, sich bei der Lagerverwaltung einzuschmeicheln und zur dritten schließlich gehören Leute, für die die Arbeit in der Strafkolonie einen wahren Fluch bedeutet, weil sie sie an Beschäftigungen hindert, die sie wirklich interessieren, weil sie körperlich schwer und unqualifiziert, oft sogar sinnlos ist. Die Gefangenen werden oft in gefährlichen Bereichen eingesetzt, so zum Beispiel zur Arbeit mit Polyäthylenlacken beim Polieren von Futteralen im Lager SchCH 385/19 in Mordowien, bei der Reparatur von abgenutzten Filtern eines chemischen Kombinats im Lager WS 389/35 oder beim Einfüllen von Elektroheizkörpern.

Natürlich kann von einem Arbeitsschutz in den Lagern keine Rede sein.

 

Zinowij Antonjuk: Überhaupt hat die Arbeit hinsichtlich der elementaren technischen Normierung wie auch hinsichtlich der materiellen Stimulierung nur ein Ziel: aus jedem ein Maximum herauszupressen und ihm ein Minimum zu zahlen. Sehr gern praktiziert man die zwangsweise Zusammenlegung von Arbeitsschichten (ohne Bezahlung natürlich). Die Dauer der Nachtschicht ist überhaupt nicht geregelt. Es besteht der ständige Zwang, zwei Schichten hintereinander zu arbeiten (ohne jegliche Bezahlung der Überstunden), es gibt keinen verkürzten Arbeitstag in der gesundheitsschädigenden Produktion und

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keine Gegenleistung für Überstunden; besondere Nahrungszulagen (in der Regel Trockenmilch) gibt es nur unregelmäßig und bei weitem nicht für alle, für die sie gedacht sind (sie wurden zu einer Art Ansporn umfunktioniert). Die Einteilung der Arbeitsschichten ist reine Fiktion. Die zweite Schicht hat keine Möglichkeit, sich auszuruhen (die Wohntrakte sind riesig, und alle Schichten sind hier untergebracht). Theoretisch arbeitet die Produktion in zwei Schichten, praktisch jedoch in drei (die zweite Schicht arbeitet zwei Schichten hintereinander). Es gibt keinen gesetzlich festgesetzten Mindestlohn, bezahlt wird nach Akkord. Der Arbeitsnachweis ist reine Fiktion. Er wird am Monatsende für Arbeiten ausgestellt, die die Verwaltung dem einen oder anderen Häftling zuweisen zu müssen meint, und seine Arbeitsleistung wird auf der Grundlage unbekannter Tarife bezahlt, die rein willkürlich sind (dieselbe Arbeitsleistung kann im Laufe eines Monats doppelt so niedrig bezahlt werden — aber immer zuungunsten des Häftlings). Die Tarifeinteilung der Arbeit nach Kategorien hat dieselbe Tendenz: gestern wurde dieselbe Arbeitsleistung nach der Kategorie 4 eingestuft, heute nach der Kategorie 3 und morgen gehört sie schon zur Kategorie 2. Das ist eines der gesetzlichen Mittel, die Produktionsziffern auf Kosten der Strafgefangenen aufzubessern. Arbeitskleidung, Arbeitsschuhe sind in den Händen der Lagerverwaltung ebenfalls zu einem Mittel geworden, die ökonomische Situation zu verbessern.

Lew Jagman: Die Lagerverwaltung hat es nicht gerne, wenn wir Parallelen ziehen zwischen ihren Arbeitsmethoden und denen, die von den Nazis angewandt wurden. Aber der Vergleich drängt sich doch auf mit diesem Schleppen von Steinen von einem Ort zum anderen, mit dem manuellen Fräsen von Bolzen im Strafisolator WS 389/35, die eigens aus dem Nachbarlager der Kriminellen herangeschafft werden, wo diese Arbeit Halbautomaten verrichten. Vergleichen Sie die Normen: manuell 70, halbautomatisch 700 Stück. Für Menschen, die im Laufe einiger Monate nur einmal täglich verpflegt werden, ist das nicht gerade eine leichte Arbeit. Ich glaube, daß alles hier Gesagte ausreichend verdeutlicht, daß die Arbeit in den politischen Lagern überhaupt keine erzieherische Rolle spielt, sondern nur noch ein zusätzliches Druckmittel ist, das das Leben des politischen Gefangenen erschwert und seine Gesundheit ruiniert.

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Arje Chnoch: Ja, genau dieser Hauptaufgabe dient der ganze Komplex von Maßnahmen, die die Haftbedingungen des Gefangenen ausmachen. Das halbmilitärische Regime mit den ständigen Überprüfungen und Durchsuchungen tagsüber und nachts, das Aufstellen und Marschieren in Reih und Glied, die Unterbringung in kasernenartigen Unterkünften mit 40 und mehr Personen in einer Sektion, die staatliche Häftlingskleidung und Schuhe, die erniedrigenden Namensschilder, die jeder sich annähen muß, die kalorienarme, eintönige Verpflegung für 43 Kopeken pro Tag usw. Dann die unzähligen Einschränkungen: der Häftling darf nur zwei Briefe im Monat schreiben, er darf zwar unbeschränkt Post von verschiedenen Korrespondenten bekommen, aber die Zensur hat das Recht, die Post zu beschlagnahmen und wendet es auch sehr häufig an. Man darf ein einziges Paket von 5 Kilo Gewicht im Jahr erhalten, für 5 Rubel im Lagerladen Nahrungsmittel sehr begrenzter Auswahl kaufen, aber auch diese Möglichkeit wird dem politischen Gefangenen sehr oft gestrichen. Dem Gefangenen steht eine lange Besuchserlaubnis für 1-3 Tage und zwei kurze von 1-4 Stunden für die nächsten Angehörigen zu, doch es kommt sehr oft vor, daß die Angehörigen nach einer Fahrt von 1000-2000 oder auch 3000 km am Lagertor erfahren, daß die Lagerorgane dem Strafgefangenen die Besuchserlaubnis am Vortag gestrichen haben. Ich glaube, daß eine weitere Aufzählung überflüssig ist. Es ist völlig klar, daß das System der politischen Straflager in der UdSSR in der Praxis nicht die Umerziehung der politischen Gefangenen zum Ziel hat, es ist dieser Aufgabe auch gar nicht gewachsen. Alle Bemühungen der Lagerorgane haben nur ein Ziel: die politischen Gefangenen soweit zu bringen, sich wenigstens äußerlich von ihren Überzeugungen loszusagen. Wenn das nicht gelingt, wird alles getan, um den Menschen physisch zu brechen. Dafür steht der Lagerverwaltung eine ganze Reihe »gesetzlicher« Mittel zur Verfügung (schlechte Ernährung, das Fehlen einer normalen medizinischen Versorgung, Strafisolator, Gefängnis) und auch ungesetzliche Mittel (schwere gesundheitsschädigende Arbeit, physische und psychische Zermürbung mittels ständiger kleinlicher Schikanen).

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Frage: Was können Sie über die Vertreter der Lagerverwaltung sagen?

Lew Jagman: Bei der Beantwortung dieser Frage muß man meiner Meinung nach stets daran denken, daß der Staat seine besten Kader hierher schickt, weil er den politischen Straflagern eine besondere Beachtung schenkt. Also kann man sich vorstellen, wer die Kriminellen »umerzieht«. Um das Bildungsniveau der Lagerverwaltung zu heben, wurde in den letzten Jahren eine bedeutende Verjüngung der Verwaltungskader der politischen Straflager vorgenommen, und heute lassen sich bereits entsprechende Schlußfolgerungen ziehen. Mir scheint, daß der Versuch, mit Hilfe junger Kader die Bedingungen in den politischen Straflagern grundsätzlich zu ändern, aus zwei Gründen gescheitert ist: erstens auf Grund der gleichzeitigen Änderung des Kontingents der politischen Gefangenen; und zweitens: obwohl das Bildungsniveau der neuen Aufseher und Offiziere höher ist als das ihrer Vorgänger, gibt es zwischen ihnen keinen wesentlichen Unterschied. Die alten Aufseher und Offiziere waren vor allem Leute ohne Fachausbildung, die einen Platz gefunden hatten, an dem sie ohne besondere Bemühungen bis zu ihrer Pensionierung leben konnten; und die neuen sind Leute, die aus Trägheit oder auf Grund des Fehlens jeglicher Fähigkeiten ein »leichtes Auskommen« suchen. Beide verbindet das Fehlen jeglicher Ideale, jeglichen Glaubens daran, daß sie eine richtige und notwendige Arbeit tun. Dies kennzeichnet ihr moralisches Gesicht und hat Trunkenheit, Ausschweifungen, Zynismus und völlige Prinzipienlosigkeit zur Folge.

Josif Meschener: Ich glaube, daß ein viel deutlicheres Bild der Verwaltungskader entsteht, wenn man versucht, sie nach den wichtigsten charakteristischen Merkmalen zu ordnen:

1) Die Sadisten. Zu ihnen gehören Leute, die ihre Befriedigung darin finden, politische Gefangene zu verfolgen und zu schikanieren, wobei sie besonders verfeinerte Methoden anwenden. Sie streichen die Besuchserlaubnis, wenn die Angehö-

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rigen schon unterwegs sind, sie verbieten den Empfang einer Paketsendung, wenn sie schon eingetroffen ist, im Sommer verbieten sie den Gefangenen, sich zu sonnen, im Winter nehmen sie ihnen die warme Kleidung weg. Die typischen Vertreter dieser Gruppe sind: Kapitän Babajkin vom Lager SchCH 385/17 in Mordowien, Major Fedorow vom WS 389/36, Kapitän Chromuschin und Leutnant Tschajka von den Lagern 389/ 35 im Permgebiet.

2) Die Zyniker: Sie verstehen alles, sind aber dennoch genauso zu jeder Gemeinheit bereit. Sie haben normalerweise große Erfolge. Beispiele sind: der stellvertretende Minister für Inneres in Mordowien, Oberst Nikolajew, der zu einem politischen Gefangenen gesagt hat: »Wenn man euch gut verpflegt, wird man euch aus dem Lager nicht mehr los!«; der Oberstleutnant Ussow, Leiter des Lagers SchCH 389/19, Major Pime-now, Leiter des Lagers WS 389/35, der während des einmonatigen Hungerstreiks zu den Hungerstreikenden gesagt hat: »Ich kann euch auf den Kopf stellen, ich habe 200 Soldaten außerhalb der Zone«.

3) Leute, die versuchen, ihre Minderwertigkeitskomplexe auf Kosten der politischen Gefangenen zu kompensieren. Sie sind besonders gefährlich, was das Verhalten ihnen gegenüber angeht. Meistens sind es Offiziere, die dienstlich schwer vorankommen, wie Leutnant Bulotschnikow (Leutnant Bulotschnikow formuliert seinen Lebensstil so: »Den Urlaub ohne eigene Frau verbringen, so viele Weiber wie möglich haben, so viel Schnaps wie möglich trinken«) und Leutnant Kusnezow vom Lager WS 389/35, Hauptmann Tyschkin vom Lager SchCH 389/19.

4) Die Dummköpfe und Dummköpfe mit Initiative, eine ziemlich große Gruppe. Hervorragende Beispiele sind der Oberstleutnant Welmakin vom Lager SchCH 389/19, der nur ein einziges Argument kannte - eine Bestrafung; Kitmanow (stellvertretender politischer Leiter im Lager WS 389/35), der 10 Minuten lang das Jüdische Autonome Gebiet auf der Karte suchte und es doch nicht fand; Leutnant Nikolajew aus dem gleichen Lager, der erklärte: »Ich habe in meinem Leben schon viel erreicht: ich bin erst 26 und schon Leutnant«, Kapitän

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Schuraokow (Leiter des Lagers WS 389/36), für den das Wort »Deutscher« ein Schimpfwort ist. Und was ist Leutnant Baj-huschew vom Lager SchCH 385/17 wert, der gesagt hat: »Ich schreibe euch eine Charakteristik, daß sie mir sogar in Israel glauben!«

5) Zur letzten Gruppe gehören die völlig Gleichgültigen. Leute, die nichts aus eigener Initiative tun (weder Gutes noch Schlechtes), typische sowjetische Bürokraten. Mit ihnen kommen wir am besten aus, obwohl sie natürlich alles ausführen, was ihnen auf getragen wird.

Natürlich ist diese ganze Einteilung sehr relativ, man sieht keinen dieser Typen in reiner Gestalt, doch ein Charakterzug ist immer vorherrschend.

 

Lew Jagman: Es ist interessant, daß die Vertreter des KGB, die sich für eine Elite halten, in den vielen Gesprächen mit den politischen Gefangenen das niedrige Bildungsniveau der MWD-Leute zugeben und erklären, daß leider keine Pädagogen mit abgeschlossener Hochschulbildung beim MWD arbeiten wollen. Aber ihr eigenes Niveau ist nicht viel höher, und ich glaube, daß der sexuell unausgeglichene Kapitän Krapawitschus hervorragend in die Gruppe der »Dummköpfe mit Initiative« paßt, während Afanasow ein typischer Sadist ist. Und es ist kein Zufall, daß in den Lokalzeitungen des Permgebietes laufend Anzeigen erscheinen, die für den Eintritt in die Kader der Besserungsarbeitslager (ITL) des MWD werben.

Der Beruf des Aufsehers war noch nie beliebt, und diese Tatsachen lassen sich mit keinen schönen Worten verdecken.

 

Frage: Welche Beziehungen bestehen zwischen den Gefangenen und welche zwischen den Gefangenen und der Verwaltung?

Slawa Glusman: In den Lagern leben Menschen verschiedener Nationalität und Religion, verschiedener Bildung und verschiedenen Alters (von 18 Jahren bis 70 und mehr) zusammen. Die unterschiedlichen Bedingungen ihres früheren Lebens in der Freiheit, die unterschiedliche Dauer der Haftzeit, die Beziehung zur eigenen augenblicklichen Situation — all das beeinflußt die zwischenmenschlichen Beziehungen im Lager. Alle Gefangenen lassen sich grundsätzlich in drei Kategorien eintei-

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len: Hilfspolizisten (die im Zweiten Weltkrieg der deutschen Besatzung gedient haben; - Anm. d. Übers.), Kriminelle und politische Gefangene.

1) Die Hilfspolizisten haben an Aktionen gegen Partisanen, Juden und Kommunisten während des Zweiten Weltkrieges teilgenommen. Es sind in der Regel ungebildete, sozial gleichgültige Leute, agressiv-amoralisch, die um jeden Preis das Wohlwollen der Verwaltungsorgane erringen wollen. Die meisten sind Informanten der Verwaltung, sie haben bestimmte Privilegien und versuchen, aktiv dem Kampf der politischen Gefangenen um ihre Rechte Widerstand zu leisten. Wir werden bewußt mit diesen ehemaligen Hilfspolizisten zusammengelegt, das ist eine wichtige Methode der psychologischen Wirkung. Ein Beispiel: Mein Großvater wurde in Babi Jar erschossen, und hier im Lager schläft neben mir ein Mann, der an dieser Aktion teilgenommen hat, etwas weiter einer, der an der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Getto beteiligt war. Einer von ihnen, er stammt aus Weißrußland, hat sehr gute Beziehungen zur Verwaltung und spricht ganz offen von seinem Haß gegen die Juden. Er erklärt, daß er »keinen Unterschied« darin sieht, »ob er den Deutschen oder den Sowjets dient«.

2) Die Kriminellen haben früher ihre Haftzeit in den Zonen für Kriminelle abgesessen und sind dort wegen »politischer« Vergehen zu weiterer Haft verurteilt worden (meist wegen handgeschriebener Flugblätter oder wegen Tätowierungen »antisowjetischen Inhalts«). Die Überführung ins politische Straflager beeinflußt manche dieser Leute positiv, sie entwickeln Interesse für Bücher, für das geistige Leben, sogar für Politik. Manche arbeiten regelmäßig an der eigenen Fortbildung; aber ein Teil von ihnen bleibt seiner Psyche nach »kriminell«. Diese Leute sind in der Regel besonders kommunikationsfreudig. Die Verwaltung bemüht sich, aus ihnen Spitzel zu machen.

3) Die Zusammensetzung der eigentlichen politischen Gefangenen ist sehr vielfältig. Es gibt mindestens drei Kategorien von politischen Gefangenen: Teilnehmer von nationalen Befreiungsbewegungen (Ukrainer, Esten, Letten, Litauer); Leu-

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te, die auf Grund eines »Falls« und solche, die wegen einer »Äußerung« im Lager sind. Die ersten sind alle älter, sie haben überwiegend keine systematische Bildung, haben aber die großartige »Lageruniversität« absolviert. Sie sind Zeugen der stalinistischen Gesetzlosigkeit und Chruschtschowschen »Halbheiten«, Alter, Krankheiten und Erschöpfung haben manche von ihnen gezwungen, sich aus dem aktiven Lagerleben zurückzuziehen. Trotzdem haben sie menschliche Würde. Die Psyche vieler von ihnen ist durch das jahrzehntelange Lagerleben völlig ruiniert, sie werden trotzdem nicht nach Hause entlassen, man »vergibt« ihnen nicht. Es sind die sogenannten »Stariki«, die Alten, die Bewahrer der Lagertradition, der Lagermoral (es gibt auch so etwas). Trotz ihrer Krankheiten und ihres Alters unterstützen sie die jungen Gefangenen im Kampf um ihre Rechte. Sie leben natürlich in nationalen Gruppen zusammen, haben jedoch auch Beziehungen zu den übrigen politischen Gefangenen.

Wegen eines »Falls« sind im Lager vor allem jüngere Gefangene mit einer mittleren Fachausbildung oder einem Hochschulstudium. Sie setzen im Lager ihre Ausbildung fort. Sie widersetzen sich aktiv der gesetzlosen Praxis der Verwaltung und lassen sich gewöhnlich weder umerziehen noch einschüchtern. Manche kommen wegen einer »Äußerung« ins Lager. Gerade in ihnen, in Leuten, die völlig zufällig hier sind, geht der tiefste psychologische Umbruch in beliebiger Richtung vor. (Der Lageralltag zwingt sie, deutlich Stellung zu beziehen). Von zwei politischen Gefangenen, die aus ähnlichen Motiven verurteilt wurden, fand einer, Tschekalin, seinen Platz zwischen den bewußten, in sozialer Hinsicht aktiven politischen Gefangenen, der Gefangene Schutschkow dagegen wurde ein Mitarbeiter der Verwaltung.

Die absolute Ineffektivität der unmittelbaren, von den Gesetzen bestimmten Methoden der »Umerziehung« ist kein Geheimnis. Viel erfolgreicher sind Methoden, die außerhalb des Gesetzes stehen wie z. B. Einschüchterung und Erpressung des Gefangenen und seiner Angehörigen, kleine Zugeständnisse in Form von Paketen, leichtere Arbeit usw. Die Verwaltung bestimmt sehr deutlich ihr Verhalten zu den verschiedenen Kate-

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gorien der Gefangenen: über besonders aktive Gefangene werden Berichte über angebliche Überschreitungen verfaßt. Sie werden oft bestraft, nicht zu leichter Arbeit zugelassen, ihre Besuchserlaubnis wird gestrichen. Die Hilfspolizisten haben nicht nur alle den Gefangenen zustehenden Sonderrechte, sie bekommen auch öfter eine Besuchserlaubnis, dürfen mehr Pakete empfangen, werden bei der geringfügigsten Erkrankung ins Lagerkrankenhaus geschickt, bekommen meist Krankenkost. Das gleiche betrifft die Spitzel, die Mitglieder von Lagerlaienspielgruppen. In die geschlossene Welt des Lagers gelangen in regelmäßigen Abständen falsche Informationen. Sie werden durch die Spitzel verbreitet und haben das eine oder andere taktische Ziel. Manchmal hat so eine Nachricht chauvinistischen Charakter und zielt darauf ab, die Gruppen zu spalten (nach dem Prinzip: divide et impera).

Im allgemeinen kann man sagen, daß ich hier zum ersten Mal Internationalismus nicht nur in Worten, sondern in Taten erlebt habe, vor allem unter denen, die man als »bürgerliche Nationalisten« beschimpft, und dies trotz langjähriger und schon traditioneller Bemühungen des KGB und MWD, die Gefangenen verschiedener Nationalität zu spalten.

 

Frage: Welche Veränderungen beobachten Sie im Kontingent der Gefangenen?

Jewhen Pryschljak: In den Nachkriegsjahren gab es in den Lagern eine große Anzahl politischer Gefangener, deren Kategorie mit »Kriegsverbrecher« bezeichnet werden konnte. Ein Teil von ihnen wurde freigelassen, ein Teil starb, der Rest ist im Lager geblieben. Vertreter dieser Kategorie werden auch heute noch verurteilt und ins Lager gebracht. Das Ziel ist kein Geheimnis, glaube ich. Zu dieser Kategorie der politischen Gefangenen gehörten bis in die 1960er Jahre vor allem die Teilnehmer des bewaffneten ukrainischen Widerstandes, ihre Angehörigen und alle, die den Widerstand materiell und moralisch unterstützt hatten. Das waren in der Mehrzahl junge Leute vom Land, später Handwerker, Arbeiter, dann Studenten und Vertreter der Intelligenz. Genauso war die Zusammensetzung der Gefangenen aus dem Baltikum. Ihre Haftstrafen waren hart, von 10-25 Jahren, viele von ihnen kamen wegen

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der schweren Haftbedingungen in den Konzentrationslagern um. 1957 wurde ein großer Teil von ihnen entlassen, ein Teil kehrte nach dem Ablauf der Haftzeit zurück, und die, die im Lager geblieben sind, haben gesundheitliche Schäden und ein zerstörtes Nervensystem.

Nach der endgültigen Niederschlagung des bewaffneten Widerstandes in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kam eine zweite Kategorie politischer Gefangener in die Gefängnisse und Lager. Es waren in der Mehrzahl Leute, die im Sowjetstaat aufgewachsen waren, fast alles Vertreter der Intelligenz und Arbeiter. Sie sahen und fühlten, daß es im Land keine elementaren demokratischen Freiheiten gab, und entschlossen sich, für sie zu kämpfen. Es folgten neue Verhaftungen und Prozesse. 1961 wurde in Lwiw eine Gruppe von 7 Personen (alle mit mittlerer oder höherer Bildung) verurteilt, nur weil sie sich auf einen Artikel der Verfassung beriefen und den Austritt der Ukraine aus dem Verband der UdSSR propagierten (Gruppe Lukjanenko-Kandyba). Im nächsten Jahr wurde eine Gruppe von 20 Personen verurteilt, eine Organisation namens »Ukrainisches Nationalkomitee« mit dem Ziel, Literatur zu drucken und zu verbreiten und die Idee der Unabhängigkeit der Ukraine zu propagieren. Zwei Mitglieder dieser Gruppe wurden zum Tode verurteilt und erschossen, der Rest kam für 5-15 Jahre ins Lager. Etwa 20 Personen wurden 1965 in Lwiw, in Iwano-Frankiwsk, Kiew und anderen Städten der Ukraine verurteilt, weil sie sich für demokratische Freiheiten eingesetzt hatten. 1967 wurde in Iwano-Frankiwsk die Organisation »Ukrainische Nationale Front« verurteilt, die Samisdatliteratur herausgab und verbreitete. Es ist unmöglich, hier alle Prozesse aufzuzählen, aber ein charakteristisches Merkmal dieser Repressionen war die Tatsache, daß es sich hier um Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, also um Intellektuelle im wahrsten Sinne des Wortes handelte.

 

Frage an W. Balachanow: Erzählen Sie bitte, auf welche Weise Sie in die UdSSR zurückgekehrt sind?

Wladimir Balachanow: Ich bin aus rein familiären Gründen in die UdSSR zurückgekehrt, wegen meiner sehr starken Bindung an die Familie, besonders an meine Tochter, die für mich

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das teuerste Wesen auf der Welt ist. Als meine Frau mit unserer Tochter die Schweiz verlassen hatte, hatte ich keine Kraft mehr, meiner Sehnsucht nach der Tochter, der Verzweiflung, daß ich sie niemals wiedersehen würde, (meine Frau - das hing offensichtlich mit ihrer Beziehung zu mir zusammen - wollte von vornherein nicht in der Schweiz bleiben und drängte auf eine Rückkehr) zu widerstehen.

Als ich in die UdSSR zurückkehrte, war mir bewußt, daß ich geradezu dem sicheren Tod entgegenging, wenn keinem physischen, dann einem moralischen Tod - aber ich hatte in diesem Augenblick keine Kraft, dem Verlangen zu widerstehen, bei dem Kind zu sein. Ich muß dazu sagen, daß meine Freunde in der Schweiz alles getan haben, um mir meine schwere seelische Situation in diesem Moment zu erleichtern, doch das hat nicht geholfen. Ich bin den Schweizer Behörden sehr dankbar, sie haben mir völlig freigestellt, in der Schweiz zu bleiben oder in die UdSSR zurückzukehren, sie haben mir das wiederholt erklärt (ich habe das während der Verhöre unterstrichen, sie wußten vom Widerstand meiner Frau, im Ausland zu bleiben und von meiner Bindung an die Familie und an die Tochter). Die Schweizer haben mich, ohne mich einschüchtern zu wollen, gewarnt, daß mir nach einer Rückkehr in die UdSSR eine hohe Gefängnisstrafe und moralische Vernichtung bevorstehen würde und wollten mich davor bewahren. Mein Schicksal ist eine weitere Bestätigung der Unmenschlichkeit und Menschenfeindlichkeit des Sowjetsystems, das ohne Zögern die menschliche Persönlichkeit grausam vernichtet, persönliche Tragödien heraufbeschwört, die dem Menschen Leid bringen. Ich möchte betonen, daß während meiner Zusammenkunft mit dem sowjetischen Botschafter Tschistjakow am 11. Okt. 1972 in Bern er mir in Anwesenheit der Vertreter der Schweizer Behörden erklärt hat, daß am Vorabend, also am 10.10., meine Mutter in Moskau gestorben sei und meine Angehörigen mich bäten, zum Begräbnis zu kommen. Als ich später mit dem Untersuchungsmaterial bekannt wurde, stellte ich fest, daß meine Mutter am 11. Okt. noch lebte und erst einige Tage später starb. Nachdem ich mich bei der sowjetischen Botschaft in Bern gemeldet hatte, wurde mir, um alle möglichen Bedenken hinsichtlich einer

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Rückkehr in die UdSSR zu zerstreuen (dabei hatte ich damals gar keine Bedenken), ein Brief meiner Frau übergeben, der eine dringende Aufforderung zur Rückkehr enthielt. Auch ein Telefongespräch zwischen meiner Frau und dem Botschafter wurde arrangiert, das ich mitanhören konnte. Der sowjetische Konsul versicherte mir, daß ich nach meiner Rückkehr keinerlei Verfolgung ausgesetzt sein würde. Es wurden gewöhnliche, in solchen Fällen übliche Maßnahmen und Regeln getroffen, die mich nicht täuschen konnten, und darüber sprach ich auch mit dem Konsul und sagte ihm, daß ich nicht daran glaubte, daß man mir gegenüber nachsichtig sein werde, und daß ich nur deshalb zurückkehrte, weil ich die Trennung von meiner Familie nicht ertrüge. Nach meinem Eintreffen in Moskau wurde ich gleich vom ersten Tag an ständig beobachtet, ich wurde einige Male zum KGB zitiert, sie verlangten eine schriftliche Erklärung von mir, man drohte mir, »wenn ich etwas verheimlichen sollte, hätte ich mit keinem Erbarmen zu rechnen«. Während dieser Begegnungen verhielt ich mich sehr selbstbewußt, was später, wie mir bekannt wurde, als »dreistes, freches Benehmen« ausgelegt wurde. Am 7. Januar 1973 wurde ich verhaftet und ins Gefängnis von Lefortowo gebracht (ich war am 1.12. 1972 aus der Schweiz nach Moskau gekommen).

 

Frage: Haben Sie die Möglichkeit, Ihre Rechte durchzusetzen und auf welche Weise?

Lew Jagman: Unter den Umständen einer gegenseitigen Absicherung zwischen der Lagerverwaltung und den Aufsichtsbehörden ist es sehr schwierig, die Rechte des politischen Gefangenen durchzusetzen, vor allem deswegen, weil der tatsächliche Herr in den Lagern das KGB ist, das die Tätigkeit der Verwaltung kontrolliert und leitet. Die Entscheidung des KGB-Vertreters ist das Gesetz, nach dem sich der Lagerkommandant und der Staatsanwalt richten. In so einem Fall gibt sich auch keiner die Mühe, das geschriebene Gesetz wenigstens formal zu berücksichtigen. Hierfür gibt es viele Beispiele. Hier nur die aktuellsten: W. Bukowskij wurde in den Strafisolator verlegt, obwohl praktisch keine Überschreitung vorlag, weil der KGB sich entschlossen hatte, ihn ins Gefängnis zu schicken, was der Lagerkommandant, Major Pimenow, ihm in einem

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Gespräch deutlich zu verstehen gegeben hatte. Das gleiche geschieht z. Z. mit Pawlenko, Butman, Meschener. In dieser Situation ist ein Kampf um die Rechte mit Hilfe von Beschwerden und Erklärungen an die höheren Instanzen völlig uneffektiv. Eine Reaktion käme erst, wenn die Rechtlosigkeiten, die sich im Lager abspielen, publik würden. Deswegen ist unsere wichtigste Waffe also die Herstellung von Öffentlichkeit, die die öffentliche Meinung mobilisiert. Von den anderen Methoden, die wir im Kampf um unsere Rechte anwenden, scheint mir der Boykott wichtig, der sich gegen die Vertreter der Verwaltung richtet. Eine große Gruppe von Gefangenen hat sich z. B. ein ganzes Jahr lang geweigert, Kontakt mit dem Leiter der Operativgruppe, Kapitän Chromuschin, aufzunehmen, dessen Brutalität und Antisemitismus bekannt sind. Im Kampf gegen den Chauvinismus und Antisemitismus ist es wirkungsvoll, sich in der Muttersprache an die Vertreter der Verwaltung zu wenden, was keine Gesetzesüberschreitung ist. Das schließt für die Verwaltung die Möglichkeit aus, sich mit den Gefangenen zu verständigen. Gerade zu diesem Zeitpunkt weigern sich viele Gefangene, mit den Vertretern des KGB zu sprechen, weil sie sie beschuldigen, zahlreiche Gesetzlosigkeiten organisiert zu haben. In Fällen, in denen die Verwaltung uns irgendwelche Rechte nicht völlig vorenthält, sondern nur versucht, sie möglichst weitreichend einzuschränken, verzichten wir zum Zeichen des Protestes auch auf die Rechte, die uns als Gnade zugestanden werden. So war es mit dem Briefwechsel, als aus Protest wegen des Verschwindens von 50 % der Korrespondenz, die für uns eintraf, eine Gruppe von Zionisten für ein halbes Jahr darauf verzichtete, Briefe zu schreiben. Zum Zeichen des Protestes gegen ihre gesetzwidrige Verhaftung und Lagereinweisung haben die Zionisten der politischen Straflager der UdSSR sich von der sowjetischen Staatsangehörigkeit losgesagt und verlangen die Staatsangehörigkeit des Staates Israel. Zur Zeit beginnen auch die politischen Gefangenen anderer Nationalitäten, sich von der sowjetischen Staatsangehörigkeit loszusagen, - sie demonstrieren hiermit ihr Verhältnis zu dem, was man mit ihnen macht.

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In der letzten Zeit haben die Gefangenen begonnen, noch ein äußerstes Mittel einzusetzen: die Arbeitsverweigerung. So Mitte Mai 1974, als etwa 30 politische Gefangene des Lagers 389/35 sich weigerten, zur Arbeit zu gehen, womit sie gegen die gesetzwidrige Streichung der Besuchserlaubnis eines ihrer Kameraden protestieren. Das gleiche geschah auch im Lager WS 389/36, wo sich vom 23. 6. an etwa 40 Gefangene weigerten, zur Arbeit zu gehen und die Bestrafung des diensthabenden Offiziers der Kolonie, Milenti, forderten, der den Gefangenen Sapeljak verprügelt hatte.

 

Iwan Switlytschnyj: Eine besonders wichtige Kampfform der Gefangenen um ihre Rechte ist der Hungerstreik. Die Lagerverwaltung und die politischen Gefangenen beurteilen sie verschieden. »Ihr trefft euch selbst«, sagten manche Offiziere nicht ohne Schadenfreude, als im Mai und Juni dieses Jahres eine große Gruppe politischer Gefangener aus Protest gegen die Willkür der Lagerverwaltung einen einmonatigen Hungerstreik durchführte. Diese Worte sind nur zu wahr, denn ein so langer Hungerstreik stärkt nicht gerade den Organismus der Gefangenen, die durch die Lagerkost ohnehin geschwächt sind. Das wissen auch die Streikenden selbst. Wenn sie trotzdem einen Hungerstreik auf sich nehmen, tun sie das nur, weil die Umstände sie dazu zwingen und die Zahl ihrer Kampfmittel gering ist. Die Beschwerden und Erklärungen an irgendwelche sowjetische Instanzen sind wirklich nicht mehr wert, als das vergeudete Papier und die Tinte. Im besten Fall bekommt der Absender eine lapidare bürokratische Antwort, und manchmal ist er nicht einmal dessen würdig.

Ein Hungerstreik in einem sowjetischen Straflager, über den die Gefangenen nicht einmal ihre Angehörigen informieren können, geschweige denn eine breitere Öffentlichkeit, ein Hungerstreik unter solchen Umständen ist natürlich bei weitem nicht so wirkungsvoll wie in anderen Ländern. Trotzdem bringt er auch hier Ergebnisse, und die Gefangenen entscheiden sich nicht zufällig in regelmäßigen Abständen gerade für dieses Kampfmittel.

Ich bin weniger als ein Jahr im Lager, habe aber schon viermal an einem Hungerstreik teilgenommen. Bisher ist es auf diese Weise zumindest gelungen, die Aufmerksamkeit der

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Aufsichtsinstanzen ein wenig auf die Lage im Lager zu lenken. Nur während und nach einem Hungerstreik kommen die Vertreter höherer Organe ins Lager und versuchen, die Lage an Ort und Stelle zu klären. Weil aber die Zahl der Gemeinheiten von Seiten der Verwaltung immer groß ist, wird wenigstens ein Teil von ihnen beachtet, und es wird versucht, sie zu verhindern.

Ende 1973 wurden mir z. B. wissenschaftliche philologische Aufzeichnungen weggenommen. Mehr als ein halbes Jahr habe ich mich vergeblich bemüht zu klären, was mit ihnen geschehen ist, und ich hielt sie schon für verloren, aber gerade während des Hungerstreiks bekam ich sie wieder. Die Probleme, die den unmittelbaren Anlaß zum Hungerstreik geben, werden grundsätzlich nicht im Interesse der Streikenden gelöst (die Verwaltung kennt in solchen Fällen keine Kompromisse). Wer die Folgen des Hungerstreiks nur danach beurteilt, kommt zu traurigen Schlußfolgerungen. Doch mit dem Hungerstreik läßt sich mehr erreichen. Obwohl nach dem Hungerstreik im Mai-Juni die Verwaltung einzelne persönliche Forderungen nicht erfüllt hat und die Teilnehmer nach dem Hungerstreik auf verschiedene Weise bestraft wurden, hat sich die allgemeine Atmosphäre im Lager verbessert, die Verwaltung wurde mit ihrer Willkür etwas vorsichtiger und hält sich mit vielen Praktiken, die dem Gesetz widersprechen, etwas zurück. Das geschieht natürlich auch deshalb, weil eine so ernste Aktion wie ein Hungerstreik früher oder später auch außerhalb des Lagers bekannt wird und bestimmte Gesellschaftsschichten auf die Regierung einwirken. Obwohl also der Hungerstreik für die Teilnehmer eine schwere und riskante Kampfform ist, gibt es sonst sehr wenige wirkungsvolle Methoden. Man wird ihn auch in Zukunft anwenden müssen. Um so mehr, als die Situation in den Lagern auch in der nächsten Zeit den Hungerstreik notwendig macht.

 

Lew Jagman: Natürlich muß auch die äußerste Kampfform der politischen Gefangenen genannt werden, die allerdings selten angewendet wird. Ich meine den Selbstmord. Diese Kampfform hat nicht nur theoretischen Charakter. Die politischen Straflager haben nicht nur einen Jan Palach. Im Juni dieses Jahres hat der Gefangene Opanassenko während des

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langen Hungerstreiks im Lager WS 389/35 Selbstmord begangen. Ähnliche Absichten hatten auch andere Gefangene, und es ist nicht nur ein Verdienst der Verwaltung, wenn sie nicht realisiert wurden. Obwohl ich ein Gegner einer so extremen Kampfform bin, finde ich trotzdem, daß die Bedingungen in den politischen Straflagern die wirkliche Gefahr neuer Selbstmorde nach sich ziehen, die man nicht verhindern kann, genauso wie dies auch in der Vergangenheit nicht möglich war.

 

Frage: Tut es Ihnen leid, daß Sie das Schicksal ins Lager gebracht hat?

Zinowij Antonjuk: Wenn ich mein Leben vom Anfang der sechziger Jahre beurteile und den Mechanismus der Verwirklichung der sogenannten »Gesetzlichkeit« in bezug auf Andersdenkende beobachte, kann ich nur bedauern, daß ich mich so spät als Staatsbürger gefühlt habe, daß ich mich zu lange mit der Rolle eines Beobachters des soziologischen Prozesses in der Sowjetgesellschaft zufriedengegeben hatte. Viele Seiten der sowjetischen Gesetzlichkeit kannte ich nur vom Hörensagen, deshalb bin ich froh, daß ich die Gelegenheit habe, alles am eigenen Leib zu erfahren. »Wer nicht im Gefängnis war, ist kein Staatsbürger«.

Lew Jagman: Ob ich es bedaure? Sicherlich finde ich es nicht besonders angenehm, daß man mich von meiner Familie getrennt hat, mich der elementarsten Güter des normalen menschlichen Lebens beraubt, mich hinter Stacheldraht gesetzt hat. Sicherlich geht all das nicht spurlos vorüber, es schlägt sich auf den Gesundheitszustand nieder, verändert bis zu einem gewissen Grad den Charakter, bringt ein neues Element in die Weltanschauung. Das sind feste Tatsachen. Ich bin mir aber bewußt, daß die Haft mich persönlich von jener »intellektuellen Verweichlichung« kuriert hat, die Lenin der Intelligenz vorgeworfen hat, und ich bedaure das nicht.

Arje Chnoch: Die langen Jahre, die man fern von der Heimat und seiner Familie verbringen muß, das ist zu bedauern. Doch in vielen anderen Hinsichten bin ich zufrieden: Meine und meiner Freunde Verhaftung und Prozeß waren einer der Faktoren, die die bekannten Änderungen der sowjetischen Politik zur Frage der Auswanderung der Juden herbeigeführt haben. Der Aufenthalt hier hat viel dazu beigetragen, dieses System besser zu verstehen, und wenn ich die UdSSR verlassen hätte, ohne diese Orte kennenzulernen, hätte ich vieles niemals erfahren.

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Ihor Kalynez: Wie jeder Gefangene sehne ich mich nach Freiheit, aber wenn ich heute die bedrückende Lage in der Ukraine nüchtern betrachte, ziehe ich das Lager vor und sage mit dem Dichter Antonytsch: »Ich preise das grausame knorrige Leben«. Es gibt mir Freunde, deren Freundschaft sich täglich in neuen Prüfungen und nicht in der Boheme bestätigt. Ich zitiere wieder ein Gebet von Antonytsch: »Und beten wir zu fernen Sternen, daß sie uns ein großes und leidvolles Leben schenken.«

Iwan Kandyba: Ich bedaure keineswegs, daß ich den Weg beschritten habe, der mich für so lange ins Konzentrationslager gebracht hat. Ich kann die verlorene Freiheit, die ich niemals besessen habe, nicht beklagen. Kann man sich frei fühlen, wenn man sich bewußt ist, daß das Vaterland in Unfreiheit lebt?. Obwohl man hier vielen Schwierigkeiten ausgesetzt ist, fühlea ich mich moralisch besser als damals, als ich formal frei war, j aber nichts zur Freiheit meines Landes beitragen konnte. Je| länger ich unter diesen Bedingungen lebe, um so mehr wird mi»» bewußt, daß ich den richtigen Weg gewählt habe und daß die wirkliche Freiheit und das volle Glück erst eintreten werden wenn mein Vaterland, die Ukraine, befreit wird.

 

Slawa Glusman: Ja. Ich bedaure. Ungeachtet dessen, daß ict auch hier nicht nur meine »Haft« verbüße. In der Freiheil konnte ich aktiver und wirkungsvoller gegen die verbrecherische Krankschreibung gesunder Menschen arbeiten. Ich bir Psychiater, ein Fachmann, und in der UdSSR protestieren aktn gegen die ungerechtfertigte Einweisung die Vertreter verschiedener Berufe, nur nicht die Psychiater. Hier habe ich dieser Möglichkeit nicht. Aber dies ist nur ein objektiver Grund. Mein Freund Leonid Pljuschtsch befindet sich in einer psychiatrischen Spezialklinik des MWD. Diese »Asche Klaas'« gehört zu mir. Meine Fachkenntnisse erweitern sich auch hier. Zum Beispiel habe ich im Lager den Sadismus in »reinster Form« erlebt und dies außerhalb der Klinikmauern! Ich muß mich wenigstens damit trösten.

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Iwan Switlytschnyj: Der Übergang von der »Freiheit« in die »Unfreiheit« war für mich nicht so einschneidend wie bei vielen anderen. Lange Jahre vor der Verhaftung habe ich keine Arbeit bekommen, die meiner Fachausbildung entsprochen hätte. Meine literarischen Arbeiten, die keinerlei antisowjetische Tendenzen enthielten, wurden nur deshalb nicht gedruckt, weil der Name des Autors in offiziellen Kreisen verfemt war, kurz gesagt, auch vor der Verhaftung stand ich außerhalb des Geset-/es. In diesem Sinne habe ich mit der Verhaftung nicht viel verloren. Natürlich ist es schwer, lange Jahre die Frau, die Mutter, nahe Freunde und Angehörige nicht zu sehen, mit denen ich früher Freude und Leid geteilt habe. Außerdem waren der eigentliche Inhalt meines Lebens philologische Arbeiten (und gar nicht die »Politik«). Hier im Lager gibt es für diese Arbeit nicht die elementarsten Bedingungen. Alle diese Verluste sind für mich unersetzbar. Die Verhaftung, der Prozeß und die damit verbundenen Prüfungen haben einige naive Illusionen zerstört, haben moralische Grundsätze herausgebildet, und diese Schule war viel umfassender als die der Studierstube. Ich habe einige Freunde verloren, die die schweren Prüfungen nicht bestanden haben, dafür ist die Freundschaft mit anderen erstarkt, und außerdem habe ich Freunde gewonnen, von denen ich früher nur träumen konnte. Zudem kann ich als Literat hier im Straflager verschiedene Charaktere beobachten, unwahrscheinliche menschliche Schicksale kennenlernen, denen ich in meinem ganzen Leben sonst nie begegnet wäre. Deshalb fällt es mir schwer zu sagen, ob ich mehr verloren oder gewonnen habe oder umgekehrt: auf alle Fälle beklage ich mein Schicksal nicht und beneide viele meiner Freunde in der Freiheit nicht.

 

Wladimir Balachanow: Ich bedaure nicht. Schon als ich die Schweiz verließ, war ich mir dessen bewußt, daß meine Unfreiheit unausweichlich war. Doch bevor ich ins Lager kam, hatte ich nie an die Möglichkeit eines aktiven Kampfes gedacht, denn die Bedingungen der strengen Isolation, das Fehlen jeglicher Erfahrung und die Unkenntnis der Lebensbedingungen im Lager gaben mir keine Möglichkeit, den Kampf allein aufzuneh-

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men oder mich darauf einzustellen. Ich habe mich von den Fesseln befreit, die mich früher zurückhielten, von der Angst, materielle Güter zu verlieren, mich der Verfolgung auszusetzen, der Angst vor Prüfungen, Schmerz und Leiden. Das, was ich durchmachen mußte, hat mir sogar die Angst vor Folter und Tod genommen. Zur Zeit fühle ich eine Zufriedenheit und große Befriedigung, weil ich ehrlich vor mir selbst sein kann, vor meinen Ansichten, Grundsätzen, Überzeugungen, die ich im Laufe von fast 20 Jahren verheimlichen mußte, und denen ich oft zuwiderleben und handeln mußte. Ich halte diese Schicksalswendung für glücklich, weil sie mir die Möglichkeit gegeben hat, für meine Grundsätze und Ideale zu kämpfen, obwohl ich schwere Prüfungen durchmachen mußte.

 

Bagrat Schachwerdjan: Ich wußte, was für ein Schicksal mich erwartet, aber ohne Opfer gibt es keine Freiheit! Für einen echten Patrioten ist der Kampf um die Unabhängigkeit seines Vaterlandes - Glück, Ehre und Inhalt des Lebens. Kampf bis zum endgültigen Sieg! Das ist unsere Devise. Die Form unseres Kampfes ist friedlich und ehrlich, obwohl auf der Gegenseite Grausamkeit und Despotie stehen. Man kann uns physisch vernichten, aber man kann uns nicht besiegen! Obwohl ich es im Konzentrationslager schwer habe, es ist schwer, sich mit Unterdrückung, mit einem harten Regime abzufinden, das die Menschenwürde mißachtet, sage ich mich von meinen Idealen und Zielen nicht los. Obwohl es mir gesundheitlich schlecht geht (ich bin herz- und magenkrank), geben mir Willenskraft und Standhaftigkeit, Seelenruhe, Hoffnung und Zuversicht die nötige Kraft. Im Lager habe ich Menschen kennengelernt und gesehen, die für 25 Jahre und mehr einsitzen, junge Patrioten demokratischer Ausrichtung. Das ist für mich wie eine Lebensuniversität. Menschen von zehn verschiedenen Nationalitäten. Die Ukrainer für eine unabhängige Ukraine, die baltischen Völker, deren einzige Schuld darin liegt, daß sie ihr Vaterland lieben, Juden, die in Israel, in ihrem eigenen Land leben wollen, junge Menschen verschiedener Nationalität, die sich für die demokratische Umformung der Gesellschaft einsetzen. Ihre Schuld liegt einzig und allein darin, daß sie frei und würdig leben wollen.

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Ich liebe das Leben und die Freiheit. Ich will ein freies demokratisches Armenien. Ich bin nicht schuld daran, daß ich geboren wurde und so bin wie ich bin. Ich verstehe nicht, wie Staatsmänner, Politiker und Vertreter der Öffentlichkeit behaupten können, daß Repressionen gegen Patrioten und Demokraten, ihre Verhaftung und Einsperrung in psychiatrische Kliniken, in Gefängnisse und Konzentrationslager eine innere Angelegenheit der UdSSR sei. Wir, die politischen Gefangenen, erkennen das als unwürdigen Handel mit dem Gewissen.

Es ist eine Lüge und ein Betrug, daß ein Tyrann freundschaftlich und friedlich mit der Demokratie leben kann. Ist denn das immer noch nicht klar geworden? Freiheit den politischen Gefangenen in der UdSSR! Freiheit den politischen Gefangenen in der ganzen Welt!

 

Frage: Glauben Sie an eine Amnestie für politische Gefangene?

Slawa Glusman: Nein, ich glaube nicht daran. Weil die Geschichte leider niemanden etwas lehrt.

Ihor Kalynez: Nein, weil sich dann die Gesellschaft vor der erdrückenden Angst befreien würde. Und das wäre eine Katastrophe - auf alle Fälle eine Katastrophe für das KGB.

Iwan Switlytschnyj: Nein, ich glaube nicht daran, obwohl die Zahl der eigentlichen politischen Gefangenen in der UdSSR verhältnismäßig gering ist und eine allgemeine Amnestie für die Regierung ungefährlich wäre. Obwohl die Regierung ein ziemliches Kapital daraus schlagen könnte, wenn sie eine solche Amnestie erlassen würde. Ich habe mich daran gewöhnt, daß die Machtausübenden nicht nur keinen gesunden Menschenverstand walten lassen. Sogar das eigene Interesse kommt ihnen nur schwer und sehr spät zum Bewußtsein, deshalb glaube ich an keine Amnestie für politische Gefangene. Es sei denn, daß die sowjetische Staatsführung durch ein Zusammentreffen der Umstände dazu gezwungen wäre, um ihr Interesse zu wahren.

Arje Chnoch: Ich glaube, das hängt völlig vom Druck der öffentlichen Weltmeinung auf die sowjetische Regierung ab. Eine Bestätigung dessen scheint mir zu sein, daß in der Sowjetunion viel eher Menschen wegen antisowjetischer Tätigkeit

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gerichtlich belangt und zu langen Haftstrafen verurteilt werden, die im Westen unbekannt sind. Weil es von hier aus schwer ist, das Ausmaß der Aktivitäten für eine Amnestie der politischen Gefangenen in der UdSSR zu überblicken, kann ich keine genaue Antwort auf diese Frage geben.

Lew Jagman: Theoretisch ja, praktisch nein. Weshalb ja? Ich glaube, daß vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes, wenn man die heutige Lage betrachtet, eine Amnestie viel mehr Vorteile als Schaden bringen könnte. Weshalb nein? Erstens, weil es gewisse sehr einflußreiche Kreise gibt, die daran interessiert sind, den jetzigen herrschenden Zustand zu erhalten, weil er ihre Positionen im Staat stärkt, in dem es seit seiner Existenz noch niemals eine Amnestie für politische Gefangene gegeben hat. Es ist nicht nur schwierig, sich zu diesem Schritt zu entschließen, sondern sogar ihn überhaupt vorzuschlagen.

Bagrat Schachwerdjan: Ja, wenn die fortschrittliche Menschheit die Kampagne zur Befreiung der politischen Gefangenen in breiter und intensiver Front führen würde. Nein, wenn der Westen die Ideen der Freiheit und Demokratie verrät.

 

Frage: Was möchten Sie dem noch hinzufügen?

Lew Jagman: Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß die Frage der freien Ausreise aus der UdSSR nur auf Grund der öffentlichen Weltmeinung ins Gespräch gekommen ist, die durch die Massenverhaftungen der Zionisten und die darauffolgenden Prozesse in den Jahren 1970-71 hervorgerufen wurden. Nur dank der Proteste im Westen ist es gelungen, die sowjetische Regierung dazu zu bewegen, in irgendeinem Maße das Recht der Staatsbürger der UdSSR auf freie Ausreise zu respektieren. Bis heute haben Tausende von Juden der UdSSR von diesem Recht Gebrauch gemacht, und nicht nur Juden. Deshalb muß man sich einprägen, daß wir den Kampf nur dann fortsetzen können, wenn die Aufmerksamkeit der Meinung der gesamten Weltöffent­lichkeit dauernd auf uns gerichtet sein wird.

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