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5. Sprung ins Allgemeinere 

Phantom und Matrize, § 25-28 (Ende) 

  "Laß mich scheinen, bis ich werde."  (Mignon)   

 "Laß mich werden, bis ich scheine."  (Schauspielerin V.)

  § 26      § 27      § 28  

§ 25  Fünf Konsequenzen:

Die Welt ist "passend"; Die Welt verschwindet; Die Welt ist postideologisch; Geprägt werden immer nur Geprägte; Das Dasein in dieser Welt ist unfrei  

193-211

Fassen wir die Matrizenleistung noch einmal zusammen. Wie wir gesehen hatten, prägen die Matrizen nach zwei Seiten: 

1. prägen sie die wirklichen Ereignisse: die nun von vornherein als Reproduktionsunterlagen statt­finden, da ihnen soziale Realität erst als reproduzierten zukommt; da sie "wirklich" erst werden als reproduzierte.

Und... 2. prägt dieses Wirkliche nun seinerseits (als <Tochtermatrize>)* die Seelen der Konsumenten. 

Wenn nun die Ereignisse von vornherein geprägt stattfinden; und wenn andererseits der Konsument von vornherein geprägt, also warenreif, bereitsteht, so ergeben sich daraus folgende fünf, für die Schilderung der Epoche entscheidende, Konsequenzen:

I. Die Welt "paßt" dem Menschen; der Mensch der Welt; so wie der Handschuh der Hand, die Hand dem Handschuh; die Hose dem Leib, der Leib der Hose.

Die Bezeichnung heutiger Produkte oder Menschen als "von der Stange gekaufter Konfektionsware" ist ja üblich. Aber unser Vergleich mit Kleidung zielt auf etwas anderes; auf Grundsätzlicheres: nämlich auf die Bestimmung der Gegenstands-Klasse, der die heutige Welt zugehört.

Zum Wesen der Kleidung gehört es nämlich — und dieses Merkmal macht sie zu einer eigenen Klasse — daß sie uns nicht ,gegenübersteht', sondern uns "sitzt"; und zwar so passend, so angegossen, so widerstandslos, daß sie als Gegenstand in der Benutzung nicht mehr gespürt oder erfahren wird. —

Bekanntlich hat Dilthey die Tatsache des <Widerstandes> als Argument für die <Realität der Außenwelt> herangezogen. Da sich das Verhältnis des Menschen zur Welt als Zusammenstoß und als mehr oder minder pausenlose Friktion vollzieht, nicht als neutraler Bezug auf ein Etwas, (das sich, nach Descartes, auch als ein uns weisgemachtes Phantom entpuppen könnte) ist die Betonung des "Widerstandscharakters" der Welt außerordentlich wichtig.

Um so wichtiger, als sich aus dieser Tatsache alle Aktivitäten des Menschen herleiten lassen: nämlich als immer neue Versuche, die Friktion zwischen Welt und Mensch auf ein Mindestmaß zu reduzieren, also eine Welt herzustellen, die dem Menschen besser oder vielleicht sogar schlechthin, mithin kleidartig, "paßt".

Und diesem Ziele scheint man nun so nahe gekommen wie nie zuvor. Jedenfalls ist die Anpassung des Menschen an die Welt und die der Welt an den Menschen nun so vollständig, daß der "Widerstand" der Welt unspürbar geworden ist; daß

 

II. die Welt als Welt verschwindet. — Diese neue Formel macht es nun freilich deutlich, daß selbst unser Hinweis auf die Gegenstandsklasse "Kleid" nur als ein vorläufiger Hinweis dienen kann. Denn gehört es auch zum Wesen der Kleidung, als Gegenstand un-spürbar zu bleiben — effektiv verschwindet sie in der Benutzung ja nicht. Effektiv verschwinden nur die Gegenstände einer einzigen Gegenstandsklasse: die der Genußmittel, die zu keinem anderen Zwecke da sind, als zu dem, vernichtet bzw. absorbiert zu werden: Und dieser Klasse gehört die gesendete Welt nun an. —


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Die Idee einer Welt, die als ganze dieser Klasse zugehört, ist nicht neu. Als materialistische aetas aurea-Phantasie sogar uralt. Ihr Name ist "Schlaraffenland".

Dieses Schlaraffenland ist, wie man sich erinnert, im ganzen eßbar, mit Haut und Haaren, weil sie eben <Haut und Haare>, das heißt: ungenießbare Reste, schon nicht mehr enthält. Und jener letzte ,Widerstand', den die räumliche oder geldliche Distanz der Ware vom Konsumenten gewöhnlich darstellt, ist dort gleichfalls vernichtet, weil sich die Gegenstände, die ,gebratenen Tauben , selbst ,senden', nämlich in die bereits offenen Mäuler hineinfliegen. Da die Stücke dieser Welt keinen anderen Zweck haben als den, einverleibt, verzehrt und assimiliert zu werden, besteht der Daseinsgrund der Schlaraffenwelt ausschließlich darin, ihren Gegenstandscharakter zu verlieren; also nicht als Welt dazusein.

Und damit ist die heutige <gesendete> Welt beschrieben. Wenn diese in unsere Augen oder Ohren hineinfliegt, soll sie als "eingängige" widerstandslos in uns untergehen; unsere, ja sogar <wir selbst> werden.*

 

III. Unsere heutige Welt ist <post-ideologisch>, das heißt: ideologie-unbedürftig. — Womit gesagt ist, daß es sich erübrigt, nachträglich falsche, von der Welt abweichende, Welt-Ansichten, also Ideologien, zu arrangieren, da das Geschehen der Welt selbst sich eben bereits als arrangiertes Schauspiel abspielt. Wo sich die Lüge wahrlügt, ist ausdrückliche Lüge überflüssig.

Was sich hier abspielt, ist gewissermaßen die Umkehrung dessen, was Marx, als er auf einen post-ideologischen Zustand hoffte, in seiner wahrheits-eschatologischen Spekulation geweissagt hatte: während er damit gerechnet hatte, daß es die verwirklichte Wahrheit sein würde, die der Philosophie (und das bedeutete für ihn eo ipso: der "Ideologie") ihr Ende bereiten würde, hat sich nun umgekehrt die triumphierende Unwahrheit verwirklicht; und was ausdrückliche Ideologie überflüssig gemacht hat, ist die Tatsache, daß unwahre Aussagen über die Welt — "Welt" geworden sind. — 


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Natürlich klingt die Behauptung, daß "Welt" und "Ansicht von Welt", daß Wirkliches und Deutung von Wirklichem nicht mehr zweierlei sein sollen, sehr befremdlich. Aber diese Befremdlichkeit verliert sich sofort, wenn man sie im Zusammenhange mit anderen analogen Zeiterscheinungen sieht. Etwa mit der, daß Brot und Brotschnitte (da das Brot bereits geschnitten verkauft wird) nicht mehr zweierlei sind. So wenig wir das bereits gebackene und geschnittene Brot zuhause noch einmal backen und schneiden können, so wenig können wir das Geschehen, das uns in ideologisch bereits "vorgeschnittenem", in vorgedeutetem und arrangiertem Zustande erreicht, ideologisch noch einmal arrangieren oder deuten; oder von dem, was ab ovo als ,Bild' geschieht, uns zuhause noch einmal "ein Bild machen". Ich sage: wir können es nicht: denn ein solches "zweites Arrangement" ist nicht nur überflüssig; sondern undurchführbar. —

Dieses "Nichtkönnen" ist nun aber eine höchst eigentümliche Art von Unfähigkeit; eine ganz neuartige:

Wenn wir früher unfähig waren, dieses oder jenes Stück Welt aufzufassen oder zu deuten, so deshalb, weil das Objekt sich uns entzog oder uns einen Widerstand entgegensetzte, den wir nicht brechen konnten. Daß hier von solchem Widerstände keine Rede sein kann, haben wir ja gesehen. Aber es ist überraschenderweise gerade diese W' iderstandslosigkeit der gesendeten Welt, die deren Auffassung und Deutung verhindert. Oder vielleicht gar nicht so überraschender Weise: Die glatte Pille, die widerstandlos herunterrutscht, fassen wir nicht auf; wohl aber das Stück Fleisch, das wir erst kauen müssen. Und derart pillen-artig ist die gesendete, "leicht eingängige" Welt. — Oder, in einem anderen Bilde: Da sie sich zu leicht macht (gewissermaßen als eine ,realite trop facile', analoge zu ,femmes faciles ), da sie zu entgegenkommend ist, da sie sich im Augenblick ihres Auftretens auch schon gegeben hat, kommen wir gar nicht dazu, sie eigens zu ,nehmen'; oder gar dazu, um sie und ihren Sinn erst zu werben.


Wir sind post-ideologisch 197

IV. Geprägt werden immer schon Geprägte. — Was von der gesendeten Welt gilt: daß in ihr die gewöhnlich als selbstverständlich unterstellte Zweiheit überholt sei, das gilt auch von uns, den Konsumenten der vorgeprägten Welt. Zu der Konformismus-Situation von heute gehört ja, daß der Mensch der Welt "passe", genau so, wie daß die Welt dem Menschen "passe"; das heißt: die Unterscheidung zwischen einem erst einmal bestehenden tabula rasahaften Zustande des Konsumenten und einem Vorgang, in dem das Weltbild in diese Platte eingedrückt würde, erübrigt sich. Immer ist der Konsument bereits vorverbildet, immer schon vorbildbereit, immer schon matrizenreif; mehr oder minder entspricht er immer schon der Form, die ihm aufgeprägt werden wird. Jede einzelne Seele liegt der Matrize passend auf, gewissermaßen wie ein Tiefrelief einem ihm korrespondierenden Hochrelief; und so wenig der Matrizenstempel die Seele noch eigens "beeindruckt" oder gar in diese einschneidet, weil die Seele auf ihn eben bereits zugeschnitten ist; so wenig hinterläßt die Seele in der Matrize Spuren, da diese eben bereits gespurt ist. —

Das Hin und Her zwischen Mensch und Welt vollzieht sich also als ein zwischen zwei Prägungen sich abspielendes Geschehen, als Bewegung zwischen der matrizengeprägten Wirklichkeit und dem matrizengeprägten Konsumenten; auf höchst gespensterhafte Weise also, da in ihm Gespenster mit (von Gespenstern hergestellten) Gespenstern umgehen. Aber daß das Leben durch diese seine Gespensterhaftigkeit unwirklich würde, kann man trotzdem nicht behaupten. Es ist sogar furchtbar wirklich. Ja, wirklich furchtbar.

 

V. Denn das Dasein in der Welt des post-ideologischen Schlaraffenlandes ist total unfrei.

Wie unbestreitbar es auch sein mag, daß uns heute tausende von Geschehnissen und Weltstücken in Ohr und Auge fliegen, von denen unsere Ahnen ausgeschlossen gewesen waren; ja, daß es uns sogar vergönnt ist, uns auszuwählen, welche Phantome wir uns zufliegen lassen wollen — da wir der Lieferung, ist sie erst einmal da, ausgeliefert sind; da uns die Freiheit, ihr näherzukommen oder ihr gegenüber gar Stellung zu nehmen, geraubt ist, sind wir betrogen. Und zwar auf die gleiche Weise betrogen wie durch jene Grammophonplatten, die uns nicht nur diese oder jene Musik vorspielen, sondern zugleich auch den Applaus und die launischen Zwischenrufe, in denen wir unseren eigenen Applaus und unsere eigenen Zwischenrufe erkennen sollen. 


Die Welt als Phantom und Matrize  198 

Da uns diese Platten nicht nur die Sache zustellen, sondern auch unsere Reaktion auf die Sache, sind wir durch sie mit uns selbst beliefert.

Was im Falle dieser Grammophonplatten ohne jede Scham geschieht, mag zwar in anderen Sendungen etwas diskreter vor sich gehen; aber der Unterschied ist nur einer der Deutlichkeit; das Gleiche geschieht in jeder Sendung: es gibt kein gesendetes Phantom, dem nicht sein "Sinn", also das, was wir von ihm denken und dabei fühlen sollen, als integrierendes und von ihm nicht mehr ablösbares Element bereits innewohnte; keines, das uns nicht die uns abverlangte Reaktion als Rabatt gleich mitlieferte. — Was wir freilich nicht merken. Und zwar deshalb nicht, weil die tägliche und stündliche Überfütterung mit Phantomen, die als "Welt" auftreten, uns daran hindert, jemals Hunger nach Deutung, nach eigener Deutung, zu verspüren; und weil wir, je mehr wir mit arrangierter Welt vollgestopft werden, diesen Hunger um so gründlicher verlernen.

Aber die Tatsache, daß uns die Unfreiheit selbstverständlich vorkommt, daß wir sie als Unfreiheit überhaupt nicht spüren; oder wenn, dann als sanft und bequem, macht den Zustand um nichts weniger verhängnisvoll. Im Gegenteil: Da der Terror auf Taubenfüßen geht, da er jede Vorstellung eines möglichen anderen Zustandes, jeden Gedanken an Opposition endgültig ausschließt, ist er in gewissem Sinne fataler als jede offene und als solche erkennbare Freiheitsberaubung. —

Wir hatten unserer Untersuchung eine Fabel vorangestellt: die Fabel von dem König, der seinem, gegen seinen Willen durch die Gegend streifenden Sohne Wagen und Pferde schenkte, und dieses Geschenk mit den Worten begleitete: "Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen." Der Sinn dieser Worte war gewesen: "Nun darfst du es nicht mehr." Dessen Folge aber: "Nun kannst du es nicht mehr."

Und dieses Nichtkönnen hätten wir nun also glücklich erreicht. 

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§ 26  Die tragikomische Abwehr: Der Zeitgenosse stellt Widerstände als Genußgegenstände her  

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Wir sagten: Da die Schlaraffenwelt bereits in bearbeiteter Version, in genußfertigem Zustande bei uns eintreffe, seien wir verhindert, sie noch einmal zu bearbeiten.

Aber obwohl bequem, ohne weiteres ertragbar und akzeptabel ist diese Verhinderung nicht. Schließlich sind wir von Natur aus bedürftige Wesen, also konstitutiv auf eine uns passende Welt, auf ein Schlaraffendasein, nicht eingerichtet; vielmehr darauf, unsere Bedürfnisse erst zu stillen; das Mangelnde erst zu erwerben; die unfertigen und widerspenstigen Dinge erst einmal zurechtzu-schneidern, damit sie uns "passen". Nicht nur mit dem Bedürfnis nach Sattsein werden wir geboren, sondern mit dem "zweiten Bedürfnis" nach der Durchführung der Sättigung. Nicht nur ohne Speise zu leben, ist uns unerträglich; sondern auch ohne deren Beschaffung.

Gewöhnlich wissen wir freilich von diesem "zweiten Bedürfnis" nichts. Werden wir aber von dessen Stillung ausgeschlossen; werden wir so befriedigt, daß die Befriedigung des ersten Bedürfnisses nicht mehr das Ergebnis unserer eigenen Tätigkeit ist, dann fühlen wir uns getäuscht, nicht um die "Frucht unserer Arbeit", sondern um die "Arbeit für unsere Frucht"; dann wissen wir nichts mit uns anzufangen, da wir vom Leben erwarten, daß es sich weitgehend als Lebensmittelbeschaffung abspiele — kurz: dann bricht das "zweite Bedürfnis", der "zweite Hunger" aus: nicht Hunger nach Beute, sondern nach Mühsal; nicht nach Brot, sondern nach dessen Beschaffung; nicht nach dem Ziel; sondern nach dem, nun zum Ziel werdenden, Wege.

Daß in "Muße-Klassen", die ihrer Mühen enthoben waren, stets Gier nach Mühe ausgebrochen ist, ist ja bekannt. Aber trophäensüchtig war weder der Fuchsjäger noch der Sonntagsangler; jedenfalls nicht an erster Stelle; sondern'beschaffungs-gierig. Nicht nach Beute jagten sie, sondern nach der Chance, jagen zu dürfen. Und wenn sie Fuchs, Hirsch oder Hecht töteten, so oft nur deshalb, weil sich ohne Zielscheibe der Genuß des Zielens, ohne Beute-Tier der Genuß der Beschaffung eben nicht beschaffen ließ. Das Ziel war die Ausrede für die Mühe und den Weg.


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Diese Situation ist heute nun allgemein geworden. Und zwar dadurch, daß heute (so unglaubhaft das auch klingen mag) jeder, auch jeder Arbeiter, zur "leisure class" gehört. Was nicht falsch verstanden werden darf: denn gemeint ist damit lediglich, daß ihm das, was er zum Leben braucht, fertig zur Verfügung gestellt wird. Selbst der ärmste Baumwollpflücker im Süden kauft ja seine Bohnen in vorgebackenem Zustande, also genußfertig. Ja, gerade er. So wahr es auch heute noch ist, was das Neunzehnte Jahrhundert ausschließlich betont hatte: daß der Arbeitende an der Frucht seiner Arbeit nicht teilnehme; nicht minder wahr ist es heute im Zwanzigsten — und ohne Betonung dieses Pendants bliebe das Bild unseres Jahrhunderts unvollständig — daß er an der Arbeit, die ihm die Genußobjekte (vor allem die Muße-Objekte) ins Haus liefert, gleichfalls nicht teilnimmt. Sein Leben — unser aller Leben — ist doppelt entfremdet: Nicht nur aus Arbeit ohne Frucht besteht es, sondern auch aus Frucht ohne Arbeit. "Um Fische zu essen", heißt es in einem molussischen Spruch, "muß man Hasen jagen; und um Hasen zu essen, auf Fischfang ausziehen. Es ist nicht überliefert, daß irgendeiner, der Hasen gejagt hat, jemals Hasen gegessen hätte."

Diese zweite Entfremdung zwischen der Arbeit und ihrer .Frucht' ist das charakteristische Trauma unserer Schlaraffensitua-tion. Kein Wunder also, daß in ihr die Gier nach Mühe ausbricht; das Bedürfnis, zuweilen oder mindestens einmal eine Frucht zu genießen, die man selbst gezogen; ein Ziel zu erreichen, das man selbst erwandert; einen Tisch zu verwenden, den man selbst gezimmert hat; die Gier nach einem Widerstände, und nach der Anstrengung, diesen zu brechen.

Und diese Gier stillt der Zeitgenosse nun. Und zwar auf künstlichste Weise: Nämlich dadurch, daß er, um Widerstände überwinden und deren Überwindung genießen zu können, Widerstände eigens herstellt, bzw. für sich herstellen läßt. Widerstände sind heute zu Produkten geworden.


Das "zweite Bedürfnis" 201

Unbekannt ist dieser Vorgang ja nicht. Weitgehend hatte ja bereits der Sport (der nicht zufällig als Zwillingsbruder der Industrie großwurde) als ein solches Genußmittel gedient. Den unerkletter-baren Gipfel (der uns ja durchaus nicht im Wege stand, im Gegenteil, zu dem wir erst hinreisen mußten), ernannten wir zum Hindernis, um ihn zu überwinden und um die Überwindung genießen zu können.

Ungleich charakteristischer für heute ist aber jener verhältnismäßig junge Hobby, der unter dem Slogan "do it jourself" grassiert:* Millionen verbringen nun nämlich ihre Muße damit sich Steine in den Weg zu legen: sich technische Schwierigkeiten zu bereiten, auf die "facilities" des Zeitalters zum Spaß zu verzichten oder die Dinge, die sie an der nächsten Ecke kaufen könnten, selbst zu basteln. Schon im Jahre 41 war ich in einer Werkstätte angestellt, in der man maschinell als Massenartikel "hand weaving looms", also Handweberahmen, herstellte, die von denjenigen Frauen gekauft wurden, die danach hungerten, am Feierabend endlich einmal den Genuß der schwierigen Arbeit auszukosten. 

Den Männern aber ist jede elektrische Störung im Haus, jede Schraubenlockerung im Wagen willkommen, weil sie ihnen eine bittere Mühe verspricht, die ihren Sonntag versüßen wird. Und nicht zufällig ist der Taschenuhr-Zerleger eine häufige Figur in Witzblättern: Die einzige Methode, die diesem erbarmungswürdigen Sohn unserer Epoche übriggelassen ist, um einmal selbst ein Ding zu machen, besteht eben darin — anderen Rohstoff bietet ihm seine Fertigwarenwelt nicht mehr — ein fertiges Produkt auseinanderzunehmen; und nachdem er so, zur Demolierung verurteilt, "Rohstoff" aus dem fertigen Dinge hergestellt, dieses Ding in zweiter Schöpfung noch einmal herzustellen; wodurch er sich die kleine Freude verschafft, es selber oder mindestens beinahe selber gemacht zu haben. Die Art der Schwierigkeit, die er sich in den Weg legt, ist identisch mit der von Puzzlespielen, denn auf mehr als Zusammensetzen aus fertigen Elementen ä la Hume läuft sein Schöpfungsakt ja auch nicht heraus. Und die Beliebtheit dieser auch von Erwachsenen gespielten Spiele gehört in den gleichen Zusammenhang.


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Vollkommenes Glück erhofft er aber (und er hätte Recht auf dieses Glück, denn was kann er schon für sich selbst, für die unselige Epoche, in die er hineingeboren, und was für die Jämmerlichkeit seiner Rettungsversuche?) — vollkommenes Glück, wenn er am Wochenende im Wagen herausfahren kann, um mit Hilfe irgendeines nagelneuen und "garantiert auf primitivste Weise" Funken schlagenden Gerätes "selbst" Feuer zu machen; um robinsonhaft an diesem Feuer seine auf Trockeneis mitgebrachten .Frankfurter' "selbst" zu rösten; oder um pionierartig sein Zelt "selbst" aufzuschlagen; oder um sogar den Tisch für sein portable Radio aus den vorgebohrten Holzblöcken "selbst" zusammenzuschrauben.

Daß diese Jugendbewegung der Erwachsenen, diese Gier, zwecks Erholung von Belieferung mit Fertigwaren, in eine frühere Produktionsstufe zurückzuspringen (die zu den wenigen tragikomischen Zügen der Epoche gehört und die ein echtes sujet für eine heutige Posse abgeben könnte) erfolglos bleiben muß, hat unsere Schilderung ja schon deutlich genug gemacht. Die Millionen plagen sich nach ihrer Plage ganz umsonst ab. Denn natürlich hat sich die Industrie dieser, durch sie selbst hervorgerufenen, Abwehrbewegung genau so prompt bemächtigt wie jeder anderen Bewegung, die auf Grund neuer Bedürfnisse den Verkauf neuer Produkte in Aussicht stellt. Noch ehe der "do it yourself-Furor" seinen Höhepunkt erreicht hatte, hielten daher die Firmen eigens zu diesem Zwecke als Fertigwaren fabrizierte Werkteile wie "Camping gadgets" und dergleichen bereit: also Stücke, deren paradoxer Zweck darin bestand, den Hobbyisten, die den Drang verspürten, sich selbstbehindernd und selbsttuend auszutoben, diese ihre Tätigkeit so bequem wie möglich zu machen. Und natürlich konnten die über Nacht in Selbsthersteller transformierten Kunden die ihnen tief in den Knochen sitzende Gewohnheit, das als das "Praktischste" Angekündigte, also das Zeit und Mühe am besten Sparende, nicht sofort loswerden: Also kauften sie die für ihre neue Tätigkeit angeblich "praktischsten" Fertigwaren wirklich, wodurch nun natürlich der Genuß ihres selber-Tuns im Nu verspielt war. Denn hokuspokusfidibus stand nun, da alle für ihr selber-Tun bestimmten Werkteile vorfabriziert in ihrer Hand lagen, und da ihr Beitrag auf ein bloßes, aus der Gebrauchsanweisung abzulesendes Baukastenspiel reduziert war, ihr Pionierzelt fix und fertig da.


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Sie hatten nichts mehr zu tun. Das vacuum umgab sie von neuem. Und es war ein wahrer Segen, daß sie ihr Radio bei sich hatten, und daß sieihrePhantome wie eh und je wieder zu sich zitieren konnten. - Wenn das nicht "Dialektik" ist, dann weiß ich nicht, was das Wort bedeutet.

 

In den gleichen Zusammenhang gehört die schon seit längerem bestehende Bewegung für "Creative Self-Expression", z.B. für "schöpferisches Malen" oder "schöpferisches Schreiben"* eine Bewegung, die Tausende dazu ermutigt, nach der Arbeit oder am Sonntag oder im hohen Alter (wenn man für einen Job ohnehin nicht mehr in Betracht kommt, gleichviel: "life begins at seventy") selbst etwas zuwege zu bringen; also sich so zu beschäftigen, daß nun endlich einmal "Arbeit" und "Frucht der Arbeit" einen sichtbaren Zusamenhang bilden. — 

Natürlich ist auch diese Bewegung eine Gegenmaßnahme gegen die pausenlose Belieferung mit fertigen Produkten, namentlich mit fertig gedeuteten Weltbildern; auch sie ein Versuch, ein ganz klein wenig tröstliche Mühe in die Hoffnungslosigkeit des Schlaraffendaseins einzuschmuggeln. Aber auch sie ist natürlich zum Tode verurteilt. Davon, daß die Jünger dieser Bewegung, die teils aus Langeweile, teils aus hygienischen Gründen, teils einfach deshalb, weil es als ein <must> gilt, plötzlich "schöpferisch" geworden sind, gar kein Werk haben können, auf das es ihnen ankommt; daß es ihnen vielmehr einzig am Herzen liegt, eines auszudrücken, davon will ich gar nicht sprechen. 

Entscheidend ist, daß das "schöpferisch-Sein" in Massen-, ja Fernkursen über den Rundfunk gelehrt wird ("how to get creative"); also auch die Elemente der Schöpferischkeit vor-fabriziert ins Haus geliefert werden. Kurz, diese Tragi-Komödie unterscheidet sich in nichts von der des Kunst-Robinsons. Auch sie ist eine, mit allem Fertigwaren-Luxus der Neuzeit unternommene Exkursion des antiquierten Menschen in eine antiquierte Produktions- und Daseinsstufe; eine Exkursion, die natürlich, da Art und Stil der Reise dem Reiseziel widersprechen, niemals ankommen kann. — 

  


§ 27  Noch einmal:  Das Wirkliche als Abbildung seiner Abbildungen —  Die Metamorphose der Schauspielerin V. in eine Reproduktion ihrer Reproduktion 

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Die befremdlichste Behauptung unserer ganzen Untersuchung war wohl die Schlußthese gewesen, daß sich heute das Wirkliche bereits in Hinblick auf seine Reproduktionen, ja diesen zuliebe, abspiele; daß es seinen Abbildungen entgegenkommen müsse, da diesen eben die massivere soziale Realität zukomme, und daß es damit zur Abbildung seiner Abbildungen werde.

Um zu zeigen, daß es sich bei dieser Behauptung nicht um ein theoretisches Paradox handele, schließe ich mit der Schilderung eines ganz konkreten Vorfalls. Daß dieser Fall: die Metamorphose der Schauspielerin V. in eine Reproduktion ihrer Reproduktion, nicht aus dem Beispielskreis Radio oder Fernsehen stammt, sondern aus dem des Film-Betriebs, macht keinen wesentlichen Unterschied mehr aus. Schon in unseren letzten Paragraphen hatten wir ja unseren Beispielhorizont immer wieder durchbrochen; und zwar absichtlich: weil es nämlich irreführend gewesen wäre, die Kategorien "Phantom" und "Matrize", auf die allein es uns ja ankommt, als Monopol-Kategorien von Radio und Fernsehen, von denen wir sie ursprünglich abgelesen hatten, zu betrachten. Der Anwendungsbereich dieser Kategorien ist sehr viel breiter; die Geltung unserer Ergebnisse sehr viel allgemeiner, als wir es zu Beginn der Spezialuntersuchung vorausgesehen hatten.

Ich zitiere aus meinem Kalifornischen Tagebuch.

 

1941

"Als der Produzent M. vor einem halben Jahr V.s Probeaufnahmen gesehen hatte, hatte er gemeint: ,Erst einmal, meine Liebe, werd mir more photogenic. Dann werden wir sehen.' Womit er meinte: ehe du unsere Phantome nicht erfolgreicher als Matrizen deines wirklichen Aussehens verwendet hast, ehe du dich nicht nach deren Vorbild umgeprägt hast, kommst du als zu betrachtendes Phantom nicht in Betracht.


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V. war zwar immer sehr stolz auf ihr durchaus einmaliges Aussehen gewesen, aber ihre Gier nach der Phantom-Karriere stellte sich als ungleich vehementer heraus. Unter Aufbietung der letzten finanziellen Reserven ihrer längst vergessenen Familie und ihrer seit langem schon verleumdeten Ex-Freunde, unter Hintansetzung^ jeder Lebensfreude, mit asketischster Ausschließlichkeit machte sie sich damals also an ihre Umpräge-Arbeit. Und zwar nahm sie — denn allein kann das niemand — die Hilfe all jener kunstgewerblichen Spezialisten (sie bilden hier eine ganze Berufsgruppe) in Anspruch, die den wirklichen Menschen als ein schlechtes und verbesserungsbedürftiges Material, das Phantom dagegen als das Gesollte betrachten; also all jener, die aus der Differenz zwischen Wirklichkeit und Phantom ihr täglich Brot machen, und die ihr Geschäft auf der tollen Gier jener, die sich, wie V., diese Differenz fortoperieren zu lassen wünschen, aufgebaut haben. 

V. begann also, vom Schönheitssalon zum Masseur, vom Masseur zum Schönheitssalon zu laufen; lieferte sich Reduktionsanstalten und Augenwinkel­falten­spezialisten aus, selbst Chirurgen ans Messer — zu ihrem Verderben, wie ich schwor, und zu deren Gedeih; ließ sich von außen und innen, von vorne und von hinten bearbeiten; schlief nach der Uhr im Schweiße ihres Angesichts Pflichtstunden, einmal in dieser, einmal in jener Lage; wog, statt es sich schmecken zu lassen, Salatblätter ab; lächelte, statt mir, dem Spiegel zu; statt aus Vergnügen aus Pflicht — kurz: so schwer hatte sie ihr Lebtag noch nicht gearbeitet; und daß die Initiationsriten, die die Jungfrauen der Weddas zu absolvieren hatten, grausamer gewesen sind als die, denen V. sich zwecks feierlicher Aufnahme in die Phantomwelt zu unterziehen hatte, ist mir zweifelhaft. 

Kein Wunder, daß sie bald nervös wurde, um nicht zu sagen unausstehlich, daß sie, so als hätte sie bereits die Privilegien eines Phantoms, sich an der Mitwelt zu rächen begann, uns eigentlich bereits als Luft behandelte, wenn auch als Luft, die ein- und auszuatmen sie jedes Recht hatte. Nachdem sie dieses Leben ein halbes Jahr geführt und ihren alten Adam oder ihre alte Eva so hatte bearbeiten lassen, bis von dieser wirklich nichts mehr da war; und als nun in ungeahntem Glänze der neue Mensch: das Phantom, aus ihr aufgestiegen war — die Epiphanie trat etwa vor vierzehn Tagen ein — da machte sie sich nun also zum zweiten Male auf den Weg zu ihrem Phantomhändler. 


206

Daß sie es war, die da loszog, ist freilich keine ganz genaue Aussage. Mit ihrem neuen Haar, ihrer neuen Nase, ihrer neuen Figur, ihrem neuen Gang, ihrem neuen Lächeln (oder vielmehr mit altem, längst gesehenen Haar, mit überall gesehener Nase, mit überall gesehenem Lächeln) war sie eine Fertigware, ein unbestimmter Artikel, eine völlig andere; "alle anderen".*  

"Um so besser", behauptete sie, und sie hatte wohl recht. Denn daß, wie sie nun nach ihrer zweiten Probeaufnahme erzählte, der Phantomhändler sie nicht wiedererkannt habe, sei ihr sofort als günstiges Vorzeichen vorgekommen und habe (wenn dieser Ausdruck hier noch am Platz ist) ihr "Selbstbewußtsein" bei der Prüfung enorm gehoben. — Und heute, nach vierzehn Tagen, siehe da, heute ist es nun also so weit, die Nachricht ist da, das Unwahrscheinliche ist geschehen, die neue Probe als o. k. akzeptiert, der Traum ihres Lebens erfüllt, und die Erfüllung wird ihr kontraktlich bestätigt werden. In andern Worten: Sie ist zum Range einer Matrize für Matrizen aufgestiegen, darf als Matrize jener Filmbilder dienen, die ihrerseits wieder als Matrizen unseres Geschmacks dienen werden. — Natürlich behauptet sie, wahnsinnig glücklich darüber zu sein. Ich weiß nicht recht. 

Die Umpräge-Prozedur hat sie so ernstlich beschädigt, daß es mir schwer fällt, zu behaupten, sie sei es, die glücklich sei. Die andere, die neue, die ist es vielleicht; aber die kenne ich nicht, und die kann mir gestohlen bleiben. Und da nur die noch existiert, da das Mädchen, das auf der Straße neben mir geht, sich bereits so bewegt wie das auf dem akzeptierten Probebild, und so wie man es auf den künftigen von ihr erwartet; da sie also schon heute zum Abbild ihres Bildes, zur Reproduktion ihrer künftigen Reproduktionen geworden ist, ist sie verschwunden; und das endgültige Goodbye, das sie, wenn auch noch nicht ausgesprochen, so doch schon vollzogen hat, ist vermutlich eine Frage von Tagen."

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  § 28   Nicht der Betrachter, der Betrachtete ist beträchtlich  

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Obwohl, wie gesagt, diese Metamorphose nicht in unser ursprüngliches Beispielsgebiet hineingehört, ist sie doch, da sie die Anerkennung des Primats des Bildes vor dem Wirklichen als lebendiges Handlungsmotiv, und die Verwandlung in ein Matrizenbild als einen Lebensvorgang vorführt, besonders lehrreich. Die in unterer Untersuchung vertretene These, daß Bildsein heute als "seiender" gelte als Sein, wird durch den Fall vollends deutlich; weshalb wir weiter bei ihm verweilen.

 

V.s Gier nach Bildwerdung einfach mit den Worten .Eitelkeit' oder .Ruhmsucht' abzufertigen, wäre zu einfach. Eitelkeit und Ruhmsucht: die Sucht danach, in anderer Leute Munde und Auge bu »ein; und die Hoffnung darauf, durch dieses bei-Anderen-Sein mehr oder überhaupt erst zu sein — erklären ja nichts; sind ja vielmehr selbst Probleme, und zwar sehr undurchsichtige. —

Wie abertausend Andere war V. in einer Welt aufgewachsen, in der nur Phantome ('pictures') als erheblich angesehen worden waren, und die Phantom-Industrie (nicht zu Unrecht) als eine sensationell reelle Industrie gegolten hatte. Von dieser Welt, von der Matrizenkraft dieser Phantome und von deren Prestige, war sie geprägt worden. Innerhalb dieser Welt von Bildern zwar irgendwie zu "sein"; aber eben als Nicht-Bild, als Nicht-Vorbild, war für sie von früh auf eine Marter gewesen und bald zur Ursache eines nicht endenden Minderwertigkeits- und Nichtigkeitsgefühls geworden. 

Man mache sich die Ätiologie dieses Minderwertigkeitsgefühls klar, denn sie ist in der Geschichte erstmalig; und (auch wenn sie von der Individualpsychologie, die von nichts als Minderwertigkeitsgefühlen handelt, noch nicht entdeckt ist) deren heute entscheidende Spielart: Denn nicht aus Mitmenschen besteht heute die Vorbild-Welt, die den Unsicheren einschüchtert, sondern aus Mensch-Phantomen und sogar aus Dingen.*


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Nicht vor der bedrohlichen Folie ihrer Eltern oder Geschwister, ihrer Nebenbuhlerinnen in der Schule oder am Strande, hatte V. sich als inferior gefühlt, sondern vor der Folie reproduzierter Bilder. Und nicht Zeichen einer mangelnden 'gesellschaftlichen' Adaptiertheit war ihre Neurose gewesen, sondern — schon in der Einleitung hatten wir auf einen analogen Fall hingewiesen — Symptom einer mangelnden technischen Adaptiertheit an die Bildwelt. 

Auf ähnliche Weise, wie es für einen Bürger eine Qual gewesen sein mag, als anonymer und 'nicht zählender' Nicht-Aristokrat in einer ausschließlich aristokratischen Welt zu leben, war es für sie unerträglich, innerhalb der Welt der vorbildlichen Phantome zu leben.* Ständig litt sie unter dem Gefühl, eine quantite négligeable, wenn nicht sogar ein Nichts zu sein; unter der Angst davor, eines schönen Tages (sofern sie ihren Aufstieg, ihre Phantomwerdung nicht durchsetzte) feststellen zu müssen, niemals dagewesen zu sein — kurz: sie litt unter fehlendem ontologischen Prestige. Wenn sie also ihren Berufskampf, ihren Kampf um Phantom­werdung, aufnahm, so um seiender, um überhaupt erst seiend zu werden. In Umkehrung der Mignon-Zeile "Laß mich scheinen, bis ich werde", hätte sie sagen dürfen: "Laß mich werden, bis ich scheine". Um als scheinende sein zu dürfen.

Deutlicher als sie selbst es mit zwei drei hingeworfenen Wortbrocken tat, können wir ihre Gier nach Sein durch Schein gar nicht formulieren:

Tagebuch

"Kaum war ihr die Selbstverwandlung geglückt, als sie (mit einer Verachtung gegen ihr früheres Leben, die bewies, auf wie hoher ontologischer Sprosse sie nun arriviert zu sein glaubte) ausrief: "Mein Gott, was war ich vorher schon gewesen!" — Was sie meinte, war natürlich: ein Nichts; und zwar ein Nichts deshalb, weil sie früher eben 'nur gewesen', 'nur dagewesen' war; immer nur als sie selbst, immer nur in der Einzahl, und immer nur dort, wo sie gerade existiert hatte.

Weil sie, negativ ausgedrückt, als nicht-Bearbeitetes und nicht-Reproduziertes nicht dafür in Betracht gekommen war, betrachtet zu werden; weil sie keine Verifizierung für ihr Sein gefunden hatte; weil es keinen Konsumenten gegeben hatte, der den Empfang ihres Daseins quittiert; keine Vielzahl von


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Konsumenten, die, von ihr geprägt, en masse ihr Dasein bestätigt hätten. Kurz: sie war kein Vorbild gewesen, keine Massen­ware, kein "Was"; sondern letztlich nur ein anonymer "Wer". Und innerhalb der Welt, von der sie umgeben war, hatte sie ja recht damit: gemessen am Seinsrang eines "Was" ist eben in der Hollywood-Welt, wer nur ein "Wer" ist, ein Nichts und nicht "da".

 

In diese Worte gekleidet hatte V. das natürlich nicht. Aber in ihren Ohren wären diese Argumente eben ,truisms' gewesen: Trivialitäten, die eigens zu formulieren, sich erübrigt. Und wenn man als Axiom der Wirtschaftsontologie akzeptiert, daß "Unverarbeitetes nicht ist" bzw. daß "Realität erst durch Reproduktion erzeugt wird" .verstehen sie sich ja wirklich von selbst. Was V. getan hatte, war in der Tat nichts als die Anwendung dieser Axiome gewesen, deren Wahrheit zu beargwöhnen sie keine Ursache hatte, da diese in ihrer Welt unbedingt gegolten, und da sie reibungslos funktioniert hatten.

Daß ich ihren Ausruf: "Was war ich vorher schon gewesen!" nicht unerwidert ließ, sie vielmehr stichelte, weil sie .eigentliches Dasein' erst in demjenigen Augenblick gewonnen zu haben glaubte, in dem sie sich ent-eignet, also ihres eigenen Selbst beraubt hatte, war gewiß nicht ganz fair gegen ihre Arbeitsleistung:  Wer es, wie sie, im Schweiße des Angesichts endlich zuwege gebracht hat, ein "Was" zu sein statt ein "Wer", für den muß natürlich derjenige, der sich noch immer als bloßer "Wer" herumtreibt und sich sogar etwas darauf zugutehält, als ein lächerlicher Wicht dastehen. Und als den verspottete sie mich nun. "Du mit deinem Selbst!" höhnte sie nämlich zurück. "Wer fragt danach schon?" Da sie mit ihrer letzten Redensart die Nachfrage zum Maßstab des Wertes und zum Kriterium des Seins machte, stopfte sie mir den Mund. —


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Ich sagte: sie habe sich in der Bilderwelt gefühlt wie ein Bürger in einer ausschließlich feudalen Welt; als 'Luft'; als 'niemand'. Und wirklich bietet sich, wenn ich mir den neuen Stil ihres Auftretens: ihre Gestik, ihren Stimmfall, ihren Schritt zurückzurufen »i versuche, kein anderer Vergleich an als der mit dem Snob, der seine Zugehörigkeit zum Adel durchgesetzt hat und diese nun übertreibt. Daß das griechische Wort für 'adlig', XXX [griech.], von der griechischen Stammsilbe für "Sein" abgeleitet, denjenigen bezeichnet, der als 'seiend' zählt, dessen Seins-Grad höher ist als der der Anderen, ist ja kein Zufall. Und höher als der der Anderen war V.s Seins-Grad nun also, da sie als bearbeitetes Produkt, als prospektives Vorbild zahlloser Kopien, als Massenware, da war, während sie vorher, in ihrer blamablen Vorzeit, als unbearbeiteter Rohstoff und als unseliger Singular nur der dunklen Tiefe, nur der armseligen Plebs der Konsumenten zugehört hatte.

Daß es ihr Aufstieg in den Rang der Massenware gewesen war, was ihr den Adel verschaffte, klingt natürlich befremdlich. Masse und Adel widersprechen einander. Aber ob wir formulieren: "Ihr Aufstieg in die Matrizenwelt", in der sie Vorbild wird; oder: "Der in die Bilderwelt"; oder "Der in die Welt der Massenware", läuft auf eines heraus. Denn nur Vorbilder werden eben Bilder; und Bilder werden sie eben durch ihre massenhafte Vervielfältigung.*

Im übrigen hat die Ranghöhe der Massenprodukte noch eine andere Wurzel: Ein beträchtlicher Teil heutiger Waren ist ja nicht eigentlich unsertwegen da; vielmehr sind wir dazu da, um als Käufer und Konsumenten deren Weiterproduktion zu sichern. Wenn aber unser Konsumbedürfnis (und in dessen Gefolge unser Lebensstil) zu dem Zwecke geschaffen, mindestens mitgeprägt, wird, damit die Waren abgesetzt werden, dann sind wir ja nur Mittel: und als Mittel sind wir den Zwecken ontologisch unterlegen. Wer es aber, wie V., durchsetzt, sich aus dieser dunklen Tiefe in jene lichten Höhen aufzuschwingen, in denen er, statt von Konsumgütern zu leben, selbst als Konsumgut in Betracht kommt, der wird nun 'beträchtlich', der gehört nun einer anderen Seinsart an.

Dieses in-Betracht-Kommen, das Beträchtlichwerden, war ja in V.s Falle besonders plausibel, weil sie nun, als Teil der Picture Industry, zu etwas geworden war, was wirklich betrachtet werden sollte. —

Tagebuch 

"Da sie nun also dafür in Betracht kommt, betrachtet zu werden, kann sie einen Wicht wie mich, der im besten Falle, aber selbst das selten genug, als Phantom-Konsument in Frage kommt, natürlich nicht mehr anerkennen. Die Verbindung mit einem Wirklichen ist für ein Phantom eben eine glatte Mesalliance, die einer Ware mit einem Konsumenten einfach <unmöglich>. Um Gesellschaft zu finden, wird sich V. daher nun wohl unter ihresgleichen: unter Phantomen, umsehen müssen; oder nicht <müssen>, denn der Kreis der Phantome ist ja eine (zwar allen sichtbare, aber niemandem erreichbare) Welt für sich; und in ihr wird sie ja nun automatisch aufgenommen werden. Kein Zweifel, daß sie dort jemanden finden wird, "etwas" finden wird, was gleichfalls ein <was> ist; etwas, das, ihr gleich, ausschließlich für das allgemeine Betrachtetwerden lebt, eine gleichfalls larvenhaft fühlende Brust, mit der sie nun ein Warenherz und eine Warenseele sein kann und der nun als <beträchtlicher> match für sie gelten wird."

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Wenn in solchen Fällen einfach formale Intelligenz entschiede, wäre V. durchaus nicht unfähig gewesen, zu verstehen, was ich meinte: denn an Intelligenz fehlt es ihr nicht. Aber Verstehen hängt nicht nur von Verstand ab, sondern von dem Stand, den man einnimmt. Der Adelsstand, dem sie nun zugehörte, verbot ihr nun, derartiges noch zu verstehen: wenn es 'beyond her' war, so nicht, weil es 'above her' gewesen wäre, sondern umgekehrt, weil es 'below her' war; das heißt: weil sie bereits zu weit oben war, als daß sie mich noch hätte verstehen dürfen.  

Deshalb wäre es auch unfair gewesen, ihr schlechten Willen vorzuwerfen oder ihr zu zürnen. Nicht sie war es ja, die agierte; sie tat nur 'mit'. Und es wäre geradezu Anmaßung gewesen, wäre sie gegen den Strom geschwommen, hätte sie die Unterstellung abgelehnt, die alle Welt Umkreis als Selbstverständlichkeit anerkannte: Daß, Ware zu werden, eine Beförderung; und als Ware genossen zu werden, einen Seinsbeweis darstelle. 

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 Ende 

von <Phantom und Matrize>

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