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T0.  Einleitung (1-20)

5  
Da sie sich als "tausendjährige" Zukunft, also für menschliche Begriffe "ewige" Zukunft, plakatierte, konnte sie den Kritiker sogar als etwas noch Schlimmeres, gewissermaßen als einen "Saboteur der Ewigkeit", damit als ein sakrilegisches unter­menschliches Subjekt hinstellen.

17
Siehe des Verfassers "Über die Nachhut der Geschichte" in "Neue Schweizer Rundschau", Dezember 1954.

19
Dieser Fall der "Nichtidentität mit sich selbst" zeigt ganz deutlich, daß die Tatsache des "Gefälles" Traumata oder neurotische idées fixes nach sich ziehen können. Es wäre durchaus nicht abwegig, heute technologische Gründe für Gemüts­störungen anzunehmen. 

 

T1.  Scham (21-96)

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An die Zahnräder". Aus den "Molussischen Industriehymnen". Deutsch von G. A.

24 
Die Verwerfung des natum esse ist ein Motiv, das immer wieder, namentlich natürlich in Religionen, aufgetreten ist. Stifterfiguren werden des Makels des natum esse gerne entkleidet (Moses). — Den letzten Nachhall der religiösen Verwerfung finden wir in den Reaktionen auf die Deszendenztheorien, also in der Indignation über die Behauptung, wir Menschen seien (aus anderem Seienden) geworden. — Die letzte neuartige Diskreditierung des natum esse stammt aus der bürgerlichen Revolution, namentlich aus der, sie begleitenden, Philosophie. Fichtes "sich setzendes Ich" ist die spekulative Umschreibung des selfmade man, also des Menschen, der nicht geworden, nicht geboren sein will, sondern wünscht, sich als sein eigenes Produkt sich selbst zu verdanken. Diese Diskreditierung des Geborenseins entspringt der Auflehnung gegen die "hohe Geburt" als Quelle von Vorrechten und gegen die niedere als Quelle von Rechtlosigkeiten. In seiner Philosophie hatte freilich der Wunsch, "gemacht" (nämlich selbstgemacht) statt geboren zu sein, keinen technischen Sinn, sondern einen ausschließlich moralisch-politischen: der selbstgemachte Mensch ist der autonome Mensch und der Bürger des selbstgemachten Staates. Das berühmte Fehlen der Naturphilosophie bei Fichte entspringt dieser Abwehr des natum esse: "Der Eigendünkel des Menschen" schreibt Schelling (WW VII, S. 360) "sträubt sich gegen den Ursprung aus dem Grunde". — 

Eine spätere Variante Fichtes ist Heidegger: Denn dessen "Geworfen-sein" protestiert nicht nur gegen das von Gott Geschaffen-sein, also gegen supranaturalen Ursprung, sondern auch gegen das Geworden-sein, also gegen den natürlichen Ursprung. (Siehe des Verfassers "On the Pseudo-Concreteness of Heidegger's Philosophy" in "Philos. & Phenomenol. Research Vol. VIII, Nr. 5, S. 557ff.) Der Begriff war ein Ausweich-Begriff. — Seinen politischen Sinn hat das sich-selbst-Machen (die Verwandlung des "Daseins" in "Existenz") hei ihm allerdings vollständig verloren; es bleibt ein rein solistisdies Unternehmen. Aber daß auch bei ihm (jedenfalls in der Epoche von "Sein und Zeit") die Naturphilosophie genau so fehlt wie bei Fichte, ist kein Zufall: hätte er sie nicht vor der Tür stehen lassen, seine Ableugnung des natum esse wäre undurchführbar gewesen.

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"An die Zahnräder". Aus den "Molussischen Industriehymnen". Deutsch von G. A.

28 
 
Siehe dazu die ausführlichere Scham-Analyse S.65

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  Die Desertion des Bedrohten ins Lager, mindestens ins Wertsystem, des Bedrohenden ist uns heute ja aus der Politik geläufig. Und daß der Bedrohte nicht nur die Urteilsmaßstäbe des Bedrohers, sondern auch dessen Gefühle, übernimmt, und fast stets dazu gebracht werden kann, diese Desertion im Wahn der Freiwilligkeit durchzuführen, haben wir in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten oft genug erlebt. In der Tat ist die mehr oder minder sanfte Erzwingung dieser Freiwilligkeit die konterrevolutionäre Leistung unserer Zeit. — Aber außerhalb des politischen Bereichs ist dieser Vorgang bisher nicht beschrieben worden.—

31  Nichts irreführender als diese "Überwindung" unter die alte Kategorie "Schmuck" zu subsumieren; sie ist geradezu deren Umkehrung : Während Schmuck die Schönheit des lebendigen Leibes zu heben sucht, versucht die Bearbeitung dem Leibe die Schönheit des gemachten Dinges zu verleihen. —

32 1) 
 
Siehe Robert Jungk, "Die Zukunft hat schon begonnen", Kap. II. 
Dem entspricht ein Ausspruch des Leiters des amerikanischen Luftforschungskommandos Thomas Power. — Im Mai 1956 hatte eine H-Bombe bei einem Abwurf den projektierten Zielpunkt um 6 km verfehlt. Aufgefordert, einen Fehler von solchem Ausmaß zu erklären, antwortete Power (laut Reuter): "Wenn man es mit menschlichen Wesen zu tun hat, kann derartiges eben passieren." Der Pilot hatte es nämlich unterlassen, einen bestimmten Hebel zu bedienen. — Man horche in die Antwort gut hinein. Wer ihr nur das alte "Irren ist  menschlich" entnimmt, hört falsch. Sie impliziert weit mehr: nämlich daß, da Irren menschlich ist, das heißt: da der Mensch unverläßlich funktioniert, dessen Verwendung im Zusammenhang mit einem so
perfektionierten Gerät eigentlich unangemessen ist. Primär ist der Mensch hier als Fehlerquelle gesehen.

32 2)
  
Als ,blamables": Jnenn daß es unverschuldet ist, macht (wie wir später sehen werden") einen Defekt nicht weniger beschämend, sondern beschämender. — Siehe S. 68ff.

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Wenn Verf. 1930 in seiner "Weltfremdheit des Menschen" (erschienen 1936 als "Pathologie de la Liberte" in den "Recherches Philosophiques") den Menschen als "unfestgelegt", "indéfini", "nicht zu Ende geschaffen" — kurz: als "freies und undefinierbares Wesen" definierte; als Wesen, das sich nur durch das, was es jeweils aus sich selbst mache, definiere und definieren könne (und Sartre hat ja sein Credo bald sehr ähnlich formuliert) so handelte es sich hier wie dort um einen verspäteten Versuch, die (natürlich auch damals schon bestehende) Tatsache des "Austauschs der Subjekte der Freiheit und Unfreiheit" durch die Überbetonung einer philosophisch-anthropologischen Freiheit in den Hintergrund zu schieben. 

Solche Definitionen scheinen deshalb plausibel, weil in ihnen (wie in fast jeder nichttheologischen Anthropologie) das tierische Dasein als Vergleichsfolie benutzt und dabei "das Tier" (selbst bereits eine ad hoc erfundene Abstraktion) als Gefangener seines Spezies-Schicksals, also als unfrei, vorausgesetzt wird. Die Verifizierung dieser Voraussetzung ersparte man sich, sie galt (nicht zuletzt durch theologische Tradition) als selbstverständlich. — Heute scheint mir die Wahl dieser Folie fragwürdig. Einmal deshalb, weil es philosophisch gewagt ist, für die Definition des Menschen eine Folie zu verwenden, die mit der effektiven Folie des menschlichen Daseins nicht übereinstimmt: schließlich leben wir ja nicht vor der Folie von Bienen, Krabben und Schimpansen, sondern vor der von Glühbirnenfabriken und Rundfunkapparaten. Aber auch naturphilosophisch scheint mir die Konfrontierung "Mensch und Tier" inakzeptabel: die Idee, die Einzelspezies "Mensch" als gleichberechtigtes Pendant den abertausenden und voneinander grenzenlos verschiedenen Tiergattungen und -arten gegenüberzustellen und diese aber-tausende so zu behandeln, als verkörperten sie einen einzigen Typenblock tierischen Daseins, ist einfach anthropozentrischer Größenwahn. Die Fabel von den Ameisen, die auf ihren Hochschulen "Pflanzen, Tiere und Ameisen" unterscheiden, sollte als Warnung vor dieser kosmischen Unbescheidenheit jedem Lehrbuch der "Philosophischen Anthropologie" vorausgehen. — Wählt man statt der Folie "Tierwelt" diejenige, die effektiv Hintergrund des menschlichen Daseins ist: also die vom Menschen gemachte Welt der Produkte, dann verändert sich das Bild "des Menschen" sofort: sein Singular "der" zerfällt; und mit diesem zugleich seine Freiheit. —

35   Ein gewisses bumerang-haftes Element gehört übrigens insofern zu jedem Gerät, als dieses, auf Dienst aus-geschickt, seine Dienstleistung ein-bringen soll. —


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36  "An die Zahnräder". Aus den "Molussischen Industriehymnen". Deutsch von G. A.

37 Vorbild dieses ad hoc gebildeten Ausdrucks ist Jaspers' bekannter Terminus.

38 Auf eigentümliche Weise ähneln die überschwenglichen Anforderungen, die der Mensch hier seinem Leibe zumutet, um ihn den überschwenglichen Aufgaben seiner Geräte gewachsen zu machen, jenen überschwenglichen Anforderungen, die der spekulative Meta-physiker der Vernunft zugemutet hatte: Nicht anders als dort wird auch hier das Faktum der Leistungsgrenze des Menschen ignoriert; auch dieses Mal soll diese Grenze verschoben oder gesprengt werden. Nur daß der Mensch diesmal nicht prätendiert, allwissend ,sicut deus* zu sein, sondern darauf abzielt, gerätgleich, also "sicut gadget", zu werden.

39  Jede heutige Industrie stellt heute diese zwei Arten von Produkten her. Der Fabrikteil, in dem das "zweite Produkt", also das Bedürfnis nach dem ersten Produkt, hergestellt wird, heißt "Publicity Department."

 

43  Ich sage: "Roboter"; und ich sage: "Gleichschaltung" — "Roboter" : weil nicht die in "Computing machines" verwirklichten, aus toten Dingen montierten Scheinmenschen die echten Roboter von heute sind, sondern die aus lebenden Menschen hergestellten Geräteteile. — Und: "Gleichschaltung": weil der Vorgang, der hier vorliegt, eine Variante desselben Benehmens darstellt, das wir als "Gleichschaltung mit Herrschaftssystemen" aus der politischen Wirklichkeit kennen. Nur ist die hier behandelte Variante insofern prononcierter, als der Mensch sich hier effektiv zu "verdinglichen" sucht, während der politisch gleichgeschaltete Mensch (selbst der seiner Freiheit restlos beraubte) "Ding" immer nur im metaphorischen Sinne wird. —

44  Keine Redensart hat der Verfasser als Arbeiter in Kalifornien so häufig hören müssen wie die: ,Forget about it\ — In dieser ungeduldigen Aufforderung, nicht mehr zu wissen als man zu wissen hat, klingt stets Ressentiment gegen den ,highbrow* mit, der durch seinen Wissens-Uberschuß und sein zu breites Interesse offensichtlich beweist, daß er etwas Undemokratisches, etwas "Besseres" zu sein oder zu erreichen prätendiert.

45  Unter einem <metaphysisch Konservativen> verstehe ich nicht denjenigen, der sich auf eine existierende Metaphysik beruft; sondern (parallel zum politisch Konservativen) denjenigen, der auf einem angeblichen (metaphysischen) Status der Welt beharrt.


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46  Die "Autarkie des Moralischen" sowohl wie der "Nihilismus" sind beide, wenn auch in verschiedener Akzentuierung, letztlich nur Umschreibungen dieser "metaphysischen Schnittblumenhaftigkeit" des Moralischen. —

51  Bei vielen Stücken würde sich übrigens diese Ersatz-Unsterblichkeit bereits erübrigen, da selbst die Einzelstücke so gut wie unzerstörbar sind. Das gilt z. B. von gewissen Rasierklingen, deren Herstellung von Firmen, die die Patente erworben haben, verhindert wird, weil die effektive Unsterblichkeit dieser Produkte den Tod der Produktion nach sich ziehen würde; weil die Produktion vom Tode der (immer neu anzuschaffenden) Einzelprodukte lebt; also der Sterblichkeit ihrer Exemplare ihre "Ewigkeit" verdankt. —

55  Dieses konformistische Ideal mit den Idealen der "Freiheit" und der "Individualität" (die ja nicht über Bord geworfen sind) in Einklang zu bringen, macht nur dem Logiker Schwierigkeit; in der geschichtlichen Wirklichkeit stören sie einander nicht. Dort wird der Unfreie einfach zum "Freien" ernannt. Da er ja die Freiheit genießt, seine glücklich extrovertierte Laufbahn, auf die er ein Recht hat, zu absolvieren, ohne mit seinen Individualitätsecken anzustoßen, ist nun er der "Freie". "Freiheit" wird also mit "Glätte" und "Regungslosigkeit", "Individualität" dagegen mit "Widerhaken" und "Behinderung" gleichgesetzt. — Im übrigen gibt es keine Gesellschaftsordnung, die sich nicht (im Unterschiede zu theoretischen Systemen) einander widersprechende Ideen leisten könnte. Wenn jede dieser Ideen eine bestimmte für die Ordnung nützliche Funktion ausfüllt, dann ist ihr Nebeneinanderbestehen durch nichts behindert. (Etwa das des ersten Buches der "Genesis" und der Prinzipien der "Genetics".) — Im Gegenteil: als Widerspruchsgeist gilt nur derjenige, der auf solche Widersprüche seinen Finger legt; und sein unhöflicher Wahrheitsfanatismus macht ihn der Intoleranz verdächtig. In der Tat gibt es keinen Widerspruch und keine Inkonsequenz, die nicht durch falsche Berufung auf Toleranz gerechtfertigt werden könnten. —

 

56  Es ist daher auch plausibel, daß in einem Lande, in dem auf Grund seines hohen Industriepotentials die Vorbildlichkeit der Serienprodukte allgemein akzeptiert ist; in dem sich also die Hinfälligkeit des Menschen vor der Folie einer fast ausschließlich aus todlosen Serienprodukten bestehenden Welt abspielt, das Sterben auch auffälliger ist und als unnatürlicher und beschämender gilt als in industriell weniger weit vorgeschrittenen Ländern, in denen die Folie der sterblichen Kreaturen noch nicht abgedeckt ist; und daß dort der Versuch, den Tod zu vertuschen, allgemeiner und vehementer vor sich geht als anderswo. Ich spreche natürlich von den Vereinigten Staaten, die freilich mit ihrer Einstellung zum Tode nur eine Attitüde vorwegnehmen, die vermutlich uns allen bevorsteht. Es ist


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ja bekannt, daß dort die "weit verbreitete Sitte herrscht, die Leichen für die Totenfeier zu schminken, sie also post festum noch einmal in hübsche Fertigwaren zu verwandeln und ihr Totsein abzuleugnen; und daß man dort mit Hilfe verführerischer Reizbilder (im Stile der travel publicity) für die "lovely sites" von Friedhöfen Reklame macht; das heißt also: daß man die Lebenden, die morituros, als "posthum Unsterbliche" anspricht und ihnen einredet, daß sie als Eigentümer ihrer Gräber pensionistengleich die hübsche Gegend täglich würden genießen können. Daß damit, auf wie unartikulierte Art auch immer, eine Preserviertheit des Lebens nach dem Tode (und natürlich eine, die mit religiösen Vorstellungen nichts zu tun hat) unterstellt ist, kann man wohl nicht bestreiten. Das diesem makabren Unsterblichkeitsbetrieb gewidmete Büchlein Evelyn Waughs ist ja auch hier bekannt. —

 

61)  Daß die Ingenieure bei dem Reizwort "brain" nichts anderes als "to feed", also "füttern", assoziieren konnten, scheint mir der Tüpfel auf dem I.

63 Diese Scham ist natürlich keine Spielart der "prometheischen Scham". Im Gegenteil: Für den, der sich in diesem neuen Sinne schämt, besteht die "Schande" gerade in der Existenz der "prometheischen Scham", in der Tatsache, daß es diese gibt. Sie ist also "Scham über Scham", "iterierte Scham"; und als solche vielleicht das erste Korrektiv gegen die "prometheische Scham".

64)  Den philosophischen Romancier könnte es sogar reizen, diese dialektische Entwicklung noch weiter — nunmehr ins vollends Fiktive hinein — auszuspinnen. Er würde nämlich zeigen, daß McArthurs Rache-Aktion grundsätzlich zum Scheitern verurteilt war, daß er sich "totsiegen" mußte, weil er die Erfahrung machen mußte, daß der Machtspruch maschineller Orakel für die Führung von Konzernen genau so unentbehrlich ist wie für die Führung von Kriegen; daß sich McArthur also, im Interesse seiner Rache-Aktion, des Machtspruches jener Kreaturen bedienen mußte, an denen er sich rächen wollte; daß diese also reichlich Gelegenheit fanden, ihn schadenfroh zu verhöhnen und ihm seine Genugtuung zu vergällen. — Der "Dialektik der prometheischen Scham" so weit nachzugehen, ist hier nicht der Ort.

 

66 1)  Da die "Instanz" (namentlich in geschichtlich späten Spielarten von Scham) oft "man selbst" ist, kann die Scham dreifach reflexiv sein: Man schämt sich; man schämt sich seiner selbst; man schämt sich seiner selbst vor sich selbst.

66 2)  Im Augenblick, in dem sich die ursprünglich "negativ intentio-nale" Scheu, statt weiter vor der Instanz zu fliehen, dieser voll Angst und aus Distanz unterwirft oder stellt, also irgendwie zuwendet, wird sie positive religiöse Scheu; also "Scheu" im Sinne der bebenden Verehrung (vor dem "tremendum"). Da der Verehrende, obwohl "da", vor der Instanz ein "Niemand" ist, setzt eben jene "Identitätsstörung" ein, die der Scheu den Charakter der "Scham" verleiht.


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67)  Ich glaube nicht, daß es eine Reflexionsphilosophie (also eine vom Faktum des sich selbst vorfindenden Ich ausgehende Philosophie) geben kann, die nicht entweder Freiheits- oder Unfreiheitsphilosophie; entweder Stolz- oder Schamphilosophie wäre. In den Schamphilosophien scheitert die Identifizierung; in den Stolzphilosophien wird das "Mich" vom "Ich" entweder besetzt oder "konstitutiert" oder einfach abgeleugnet.

68 1)  Siehe d. Verf. "Pathologie de la Liberte", p. 28.

69 2)  Wenn zu Beginn von "Sein und Zeit" das "Dasein" nach seinem "wer?" fragt; und sich, obwohl es sich gerade durch diese Frage zum "Ich" zuspitzt, statt als sich selbst als ein "man" vorfindet, dann entdeckt es sich als ein "Es". In der Tat ist die in "Sein und Zeit" (in der Form einer theoretischen Ontologie) dargestellte Aktion die einer systematischen Scham-Bekämpfung; der Versuch des sich-schämenden Ich, die Schande seines "Es"-Seins zu überwinden und "es selbst" zu werden.

 

70 1)  Die übliche Annahme, man schäme sich vor allem, oder gar nur, derjenigen Tat, für die man etwas "könne", stellt die Verhältnisse einfach auf den Kopf. Sie bezeugt jenen maßlosen Freiheitsanspruch, den wir eben erwähnt hatten: denn mit ihr versucht der Mensch, den Schmerz der Unfreiheit (den die Scham darstellt) sich selbst anzueignen; ihn nämlich als "Strafschmerz" auszugeben und zu verwenden. — Wahr ist vielmehr, daß man sich einer Tat deshalb schämt, weil man durch sie in den Augen der Instanz als einer gilt, als der man nicht gelten sollte. — Wie wenig es der faktische Schuldbestand ist, der die Scham erzeugt, ist ja daraus ersichtlich, daß man sich auch dann schämt, wenn man zu Unrecht beschuldigt ist; ja gerade dann. In diesem Falle schämt man sich nicht etwa deshalb, weil einem kränkenderweise diese oder jene Untat zugetraut würde — das wäre viel zu subtil, um wahr zu sein — sondern eben deshalb, weil man in den Augen der Anderen, also gesellschaftlich, der Schuldige effektiv ist. Kurz: Nicht der Schuld schämt man sich; umgekehrt wird das, wessen man sich schämt, oft zur Schuld. "Ich schäme mich — also bin ich schuldig" ist gültiger als: "Ich bin schuldig — also schäme ich mich." Daß es, z. B. unter Diktaturen hunderte Male geschehen ist, daß Taten oder Unterlassungen (sogar solche, die ursprünglich moralischen Motiven entsprungen waren) in demjenigen Moment zu Scham-Motiven vurden, in dem sie vor einer Jury vertreten werden mußten; und daß er Scham-Ausbruch nun nicht nur die Jury von der Tatsache der Schuld überzeugte, sondern auch den Täter selbst, ist ja unbestreitbar. -


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70 2)  siehe § 2, 2. Einwand.

73 Freuds Entdeckung des "Traumas der Geburt" kann philosophisch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Was könnte dem Leben denn einschneidenderes zustoßen, als vom "Grunde" abgerissen zu werden? — Wie maskiert Freuds Sprache auch durch das naturwissenschaftliche Vokabular des Jahrhunderts war, die Gefühle, die er in Blick brachte ("ozeanisches Gefühl", "Todestrieb") waren durchweg metaphysische. Nicht weniger als von diesen beiden gilt das vom Geburtstrauma, mit dem er eben, wie getarnt auch immer, den Schock der Individuation bezeichnete. — Analog zu unserer Frage: "Wer schämt sich" hätte die Frage, die vor diesem Trauma gestellt werden müßte, zu lauten: "Wer ist hier eigentlich schockiert?" Das Individuum selbst? Oder nicht vielmehr, da ja, was schockiert, der Vorgang der Individuation ist, das noch-nicht-individuierte Leben? Ist nicht das Individuum nur der Erbe dieses Schreckens, den es nun als niemals überwundenen Schmerz des Individuum-Seins mit sich durchs Leben schleppt? — Mir scheint, dies war Freuds Ansicht: Denn sein "Todestrieb" ist ja wohl letztlich nichts anderes als die Sehnsucht des Individuums danach, die Qual des Individuum-Seins loszuwerden.

 

75 1) Erste Formulierung dieser Scham-Theorie in: "Pathologie de la Liberte". Dort der Ausdruck "Sprung aus dem Ursprung".

75 2 Diesem Typus von Scham gehört schließlich auch die wohl grundsätzlichste Scham an, die metaphysische: nämlich die Scham des Individuums, als Individuum, als Singulares aus dem. "Grunde" herausgenommen, von diesem "abgefallen" zu sein und statt weiter, wie es sich kosmisch gehörte, dem Grunde anzugehören, als "kosmische Ausnahme" dasein zu müssen. Die Gleichung dieser Scham lautet: Nichtzugehörigkeit = Ungehörigkeit = Ungehorsam. Anaximander und (der Hoelderlinsche) Empedokles sind ihre Kronzeugen. —

In der molussischen Individuationsmetaphysik, die unsere spekulativen Hemmungen noch nicht kannte, heißt es geradezu: "Der Weltgrund schämt sich seiner Individuationen, also der Tatsache, daß er sich, in Form von Individuen, von sich selbst entfernt hat." Und (ähnlich einer berühmten Spinoza-Formel): "Die Scham, unter der das Individuum leidet, ist nur ein Teil der Scham, mit der der "Grund" sich seiner Individuationen schämt." — Das "Es".

 

78) Etwas philosophisch Lächerlicheres als die Beschäftigung mit den sogenannten "Synästhesien", also den angeblich nachträglichen Verbindungen von Qualitäten verschiedener Sinnesgebiete, ist kaum denkbar: wer über diese Phänomene staunt, sollte auch darüber staunen, daß sich Baum-Äste in einem Stamm vereinigen. Nicht wie die Qualitäten "zusammenkommen" ist das philosophische Problem, sondern wie die ursprünglich vor-spezifische Qualität sich in spezifische Sinnesqualitäten verzweigt.

81) Nach Fertigstellung meines Buches finde ich in Walter Benjamins bewunderungswertem Baudelaire-Essay (Schriften I, S. 460ff., Suhrkamp Verlag 1955) im Zusammenhang seiner Diskussion der Kategorie "Aura" eine ausdrückliche Behandlung dieser Gegenseitigkeit der Sichtbarkeit, die das hier Behauptete vorwegnimmt. Dort auch (S. 462) Valerys Bestimmung der Traumwahrnehmung: "Im Traume liegt eine Gleichung vor. Die Dinge, die ich sehe, sehen mich ebensowohl an wie ich sie sehe."

84)  Zu diesem Zwecke an folkloristische Monotonie-Elemente anzuknüpfen, bereitet ihr spezielle Schadenfreude.

86 
Leider gibt es in der Kunstgeschichte keine Sonderstudie über die Rolle des Gesichts in den verschiedenen Epochen. Eine solche Studie würde nämlich zeigen, daß es entsprechende "Gesichtsdegradierungen" auch früher schon gegeben hat; so etwa im Manierismus, der nicht nur alle Gesichter ähnlich, sondern auch (was z. B. in den Fällen Bassano und Greco notorisch ist) viel zu klein zu präsentieren liebte. Aber auch im Barock ist außer im ausdrücklichen Portrait der in ein wild flatterndes Gewandwesen verwandelte Mensch ungleich wichtiger als dessen Gesicht. Ob auch damals das Gesicht dadurch entwertet wurde, daß zwei nicht-individuelle Mächte den Menschen als Opfer in Anspruch nahmen, kann hier nicht untersucht werden. Aber nahe liegt der Verdacht, da die Epoche, um die es sich handelt, zugleich die der aufblühenden Naturwissenschaft und die der Gegenreformation war; und ihre Kunst rücksichtslosesten Realismus mit rücksichtslosestem supranaturalem Überschwang, ständig kollidierend, Verbunden hat. —

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Zum Beispiel hat die Zeit des mit der Maschine konformistisch Arbeitenden mit der (in aller modernen Zeitphilosophie als selbstverständlich unterstellten) irreversibel vorwärtsgehenden Zeit des Subjekts nichts mehr zu tun. Sie ist vielmehr zyklisch, besteht aus kleinsten Zeitstrecken, die mit den immer neu einsetzenden identischen Gerätleistungen ko-extensiv sind; ähnelt also der vom Sekundenzeiger angezeigten Zeit; freilich ohne daß, wie auf der Uhr, die Zahl der Umläufe selbst noch einmal gezählt würde. Nur zu Beginn der Arbeit schwimmen' die Wiederholungen noch im breiteren Strome der vorwärtsgehenden Zeit ,mit'; und nur während dieser Anlaufsfrist sind sie auch langweilig; das heißt: so lange, als der irreversible Zeitstrom seine Kraft noch nicht eingebüßt hat — was aber nach kurzer Zeit stattfindet. — Hat sich die Arbeit dann aber eingespielt, dann scheinen sich die Wiederholungen nicht mehr in Sukzession zu folgen; sie bilden keine Reihe mehr; so wenig etwa wie die Atemzüge des Atmenden (der immer beim Atmen ist, aber niemals weiß, beim wievielten

Atemzuge) noch eine Reihe bilden. Dann verlieren die Wiederholungen auch ihre Langweiligkeit; womit natürlich nicht gesagt ist, daß sie interessant, sondern allein, daß sie zeitlos werden. So zeitlos, daß der mechanisch Arbeitende durch den Arbeitsschluß oft überrascht wird, da er, jedes Zeitmaßstabs beraubt, das Gefühl hat, eben erst begonnen zu haben; ähnlich dem nach traumlosem Schlaf Erwachenden, der oft davon überzeugt ist, sich eben erst hingelegt zu haben. — Wenn man, was seit Kant ja geläufig ist, in der Zeitlichkeit nicht nur einen unter anderen Zügen der Subjektivität sieht, sondern (wie es der Titel von Heideggers Hauptwerk formuliert) deren ausschlaggebenden Charakter, dann darf man wohl die Tatsache, daß Zeit bei Maschinenarbeit ,eingeht', als Symptom für ,das Eingehen' der Subjektivität selbst deuten.

 

T2. Fernsehen (97-213)

 

109 Ein Vorspiel zu dieser nun universell werdenden Sprachverkümmerung haben wir übrigens schon einmal erlebt: nämlich die Verkümmerung der Briefkunst, die 50 Jahre Telephonieren zustande gebracht haben; und zwar so erfolgreich, daß uns Heutigen nun jene Briefe, die durchschnittlich Gebildete vor hundert Jahren einander geschrieben haben, durchweg als Meisterwerke genauer Zuwendung und genauer Mitteilung vorkommen. Was dabei verkümmert ist, ist aber, da der Mensch so artikuliert ist, wie er selbst artikuliert, nicht nur die Subtilität seines Ausdrucks, sondern die des Menschen selbst.

 

110 1)  
Nichts ist heute deplacierter als die weinerliche oder hochmütige Klage des Irrationalisten, unsere Sprache käme der Fülle und Tiefe unseres Erlebens nicht nach. Die Großen der Vergangenheit, mit deren Fülle und Tiefe wir uns wohl kaum messen können, waren ihren Erlebnissen sprachlich durchaus gewachsen; die Macht ihrer Rede reichte bis in die äußersten Bezirke, und die Inkompetenz der Sprache, das Versagen des Sagens, meldeten sie immer erst sehr spät an, immer erst vor dem Allerletzten. Je weniger man freilich zu sagen hat, desto voreiliger macht man aus der Not eine Schwärmerei und aus der Armut einen Reichtum; desto eher protzt man, um damit das Überschwengliche des eigenen Erlebens zu beweisen, mit dem Konkurs der Sprache. Schnell fertig ist die Jugend mit dem Unsäglichen. 

Die wirkliche Not und Verlegenheit von heute besteht nicht darin, daß wir unsere angebliche Fülle und Tiefe "zerreden könnten"; umgekehrt darin, daß wir unsere Fülle, sofern wir solche haben, zum Zerrinnen, und unsere Tiefe zum Versanden bringen könnten, weil wir, als mit Sprache Belieferte, begonnen haben, das Sprechen zu verlernen.

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Die Vorstellung von "Elfenbeintürmen", die sich der Mensch errichte, und in die er sich zurückziehe, um der Wirklichkeit nicht ins Augf, zu blicken, ist durch und durch veraltet. Der Bau der Türme wird längst von der Wirklichkeit selbst durchgeführt; sie ist deren Unternehmerin und Wirtin. Nicht als Flüchtlinge vor ihr sitzen wir


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also in den Türmen, sondern als von ihr einquartierte Zwangsmieter. Wenn sie uns aber in ihnen einquartiert, so nicht etwa, damit wir uns nun einer phantastischen, völlig anderen Bildwelt zuwenden, sondern damit wir in ihrem Bilde leben. Freilich nicht in ihrem wahren Bilde, sondern in demjenigen falschen, von dem sie, aus wirklichem Interesse, wünscht, daß wir es für "sie selbst" halten. Sie schließt uns also ein, um uns dadurch, daß sie sich uns scheinbar zeigt, von sich abzulenken. Aber diese Ablenkung führt sie natürlich in höchst realistischer Absicht durch, nämlich in der, uns durch ihr falsches Bild wirklich zu prägen, uns also so zu bearbeiten, daß nun unsere menschliche Wirklichkeit für sie optimal verwendbar werde. Diejenigen, die ihr dabei Widerstand leisten, nennt sie "introvertiert", ihre gefügigen Opfer "extravertiert".

110 3 
Der Gedanke der "zu uns kommenden Welt" ist uns bereits derart geläufig geworden, daß wir, was immer uns über unseren tellurischen Weg läuft, für Besucher halten: gestern martialische Untertassen, heute Übermenschen vom Sirius.

113 Die klassische Formulierung der Welt als "Gabe" findet sich in der Schöpfungsgeschichte, die die Welt als für den Menschen geschaffen einführt. — Daß die modernen Idealismen nach-koper-nikanisch sind, ist kein Zufall: in gewissem Sinne stellen sie alle Versuche dar, dieses biblische "Für uns", das sich mit dem vor-koper-nikanischen Weltbild vertragen hatte, mit dem nach-kopernikanischen aber nicht konkordierte, doch noch zu retten; also einen heimlichen Geo- bzw. Anthropozentrismus in einem dezentralisierten Universum durchzuhalten.

114 l Siehe des Verfassers "Une Interpretation de l'Aposteriori" in "Recherches Philosophiques", Paris 1934.

114 2 Es ist wohl kaum zufällig, daß dieses "zur Welt kommen" im gleichen Augenblick und im gleichen Kulturraum abstirbt, in dem das Trauma des physischen Zur-Welt-kommens gleichfalls durch technische Mittel abgeschafft werden soll.

115 Auch Fernseh-Apparate werden nun ja in Autos eingebaut. So z. B. seit Dezember 54 in die Cadillacs von General Motors.

116 1) Da die Vorsilbe "ent" (wie in "enthüllen" oder "entnecken") privativ ist, sollte auch "entfremden" eigentlich nicht "fremdmachen" bedeuten, sondern umgekehrt "des Fremden berauben". Dem Terminus diese, dem eingeführten Sprachgebrauch widersprechende, Bedeutung zurückgeben zu wollen, wäre vergeblich. Wir ersetzen daher von nun an den doppeldeutigen Ausdruck durch den unmißverständlichen "verfremden", den Brecht zur Bezeichnung bestimmter Bühneneffekte eingeführt hat.


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116 2)  Schrifttum und Journalismus, die sich der ursprünglich revolutionären Vokabel bemächtigt haben, verwenden heute diese nun mit solchem Gusto und solcher Geläufigkeit, daß sie dadurch dem im Ausdruck angeprangerten Vorgang den Schein von Familiarität verleihen und ihn seiner Befremdlichkeit entkleiden. Daß das Phänomen vor hundert Jahren im Zusammenhang mit Arbeit, Ware, Freiheit und Eigentum, also im revolutionären Sinne, eingeführt wurde, ist ihm nicht mehr anzusehen. Der Ausdruck ist nicht nur salonreif geworden, sondern geradezu zur Ausweiskarte für Avantgardismus, und es gibt keinen Interpreten moderner Kunst, der nicht, soferne er etwas auf sich hält, diese Karte jederzeit bei sich trüge. — Gleich, ob beabsichtigt oder nicht, der Effekt dieser geläufigen Verwendung der Vokabel bestand darin, der Verfremdung ihren moralisch-skandalisierenden Stachel zu nehmen, sie also (in sprachlich angemessener Verwendung des Wortes) zu ent-fremden. Was du erwirbst von deinen Feinden, besetz es, um sie zu enterben. — Dieser Verharmlosungsvorgang hat die folgenden Wurzeln: 1. Jene deutsche Soziologie der späten Zwanzigerjahre (Karl Mannheim), deren Leistung darin bestand, Einzelvokabeln aus dem Marxismus herauszubrechen, um sie in andere Zusammenhänge oder in die Alltagssprache einzumontieren und dadurch zu entschärfen. In den frühen Dreißiger jähren wanderte diese Soziologie nach Frankreich, in den späten Dreißigern nach den Vereinigten Staaten. — 2. Den Surrealismus, der, vorübergehend mit dem Kommunismus verbündet, sich mit hegelisierenden Vokabelfetzen zu drapieren liebte. — Diejenigen, die sich des Ausdrucks heute bedienen, tun das freilich bereits arglos, denn sie reden bereits den Nachredenden der Dreißiger jähre nach, und manche von ihnen wären baß erstaunt, zu erfahren, wem sie ihre Leib- und Magenvokabel ursprünglich verdanken. — Selbst diese flüchtige Besinnung auf die heutige Verwendung des Ausdrucks "Entfremdung" zeigt also den in entgegengesetzter Richtung arbeitenden Verwandlungsvorgang: die Pseudofamiliarisierung und Intimisierung. Dieser Vorgang ist aber nicht etwa identisch mit den bekannten der Schabionisierung von Wörtern. Was er angreift, um es scheinvertraut zu machen, beschränkt sich nicht auf Termini. Seine Beute ist vielmehr die Welt, und zwar alles in der Welt; ihr Anspruch ist nicht weniger universal als der der Verfremdung: so wie dieser sich an alles Vertraute und Vertrauliche heranmacht, um es midashaft in Unvertrautes, Kaltes, Dingliches und öffentliches umzumünzen, so bemächtigt sich die Scheinfamiliarisierung alles Fernen und Fremden, um es in ein Schein-Heimisches zu verwandeln.

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Ehe wir Beispiele bringen, betonen wir prophylaktisch, daß, was wir "Verbiederung" nennen, wenn zuweilen die Grenze zwischen den beiden auch verwischt sein mag, nicht etwa mit "Popularisierung" zusammenfällt, da die Verbiederung ihren Gegenstand grundsätzlich respektlos behandelt und aus der Beschädigung und Benachteiligung des Konsumenten ihren Vorteil zieht, während es zur rechten Popularisierung wie zu aller rechten Belehrung gehört, daß sie nicht nur den Lehrgegenstand, sondern auch Respekt vor diesem vermittelt.

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 Auf einer TV-Ausstellung hatte ich die fragwürdige Chance, einen Schauspieler, der im Nebenraum einen Sketch spielte, und gleichzeitig dessen sieben TV-Projektionen zu sehen und zu hören. Bemerkenswert war dabei 1., daß der Schauspieler sich fürs Auge zwar in sieben identische Brüder aufspaltete, aber nur eine einzige, durch die zwei Räume schallende, unauf gespaltene Stimme hatte. 2. daß die —> Bilder natürlicher wirkten als das Original, da dieses, gerade um den Reproduktionen Natürlichkeit zu verleihen, sich hatte arrangieren müssen. Und 3. (und das war mehr als bemerkenswert, nämlich erschreckend), daß die siebenfache Verkörperung des Schauspielers schon nicht mehr erschreckte: mit solcher Selbstverständlichkeit erwarten wir bereits nur noch Serienprodukte.

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 Ereignisse von unterschwelliger Relevanz, und finden sie selbst in unserem eigenen Leibe statt, sind nicht "gegenwärtig", sondern nur simultan; und das nicht etwa deshalb, weil sie nicht bewußt "gegeben" wären; vielmehr sind sie deshalb nicht "gegeben", weil sie irrelevant sind.

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 Wenn es berechtigt ist, im Tumor eine Krankheit sui generis zu sehen: nämlich denjenigen Zustand, in dem die Zentralkraft des Organismus nicht mehr in der Lage ist, alle Zellen in Botmäßigkeit zu halten, so daß diese nun verselbständigt zu wuchern beginnen, dann ist die hier behandelte Verselbständigung der Einzelfunktionen das psychische Analogon zum Tumor.

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 Siehe dazu Becketts^ "En attendant Godot", in dem der Verfasser seine Figuren abwechselnd Schuhe an- oder ausziehen läßt, um den Händen irgend etwas zu tun zu geben.

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Zugleich steht im Hintergrunde der "passiven Simultanspielerei", freilich völlig entstellt, das Arbeitsideal der Maximalleistung und des Oekonomie-Prinzips. Auf die Muße übertragen, bedeutet das: Im Schweiß seines Angesichtes versucht man, soviel Muße wie möglich auf einmal zu leisten; alles, was "fun" ist, zugleich: Kreuzworträtsel und gum und Rundfunkmusik etc. Und zwar, weil man sonst Muße vergeuden würde.

147  Diese betrügerische Aufreizung von Erregungen und die Arrangierung von, sich ins Leere ergießenden, Ersatzbefriedigungen, erinnert an einen, in einem ganz anderen Sektor des heutigen Lebens selbstverständlichen, Usus; das Prinzip, das den zwei so disparaten Arrangements zugrundeliegt, ist identisch: Bekanntlich ist es heute üblich, Zuchtstiere, statt sie den Kühen zuzuführen, sog. "dummies", also Attrappen, bespringen zu lassen. Das Wort "Attrappe" kommt von "at-


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