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Anmerkungen

Anders, 1980, Antiquiertheit, 35 Seiten 

Vorwort    Einleitung     Methodologische Nachgedanken    Seite 411-429    

 

 

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Vorwort

1)  Diese bisher von keinem Politiker verstandene "kopernikanische Drehung" hatte ich bereits in meiner spezielleren These formuliert, daß es falsch sei, zu behaupten, in unserer politischen Situation gebe es auch Atombomben, richtig allein: die Politik finde innerhalb der atomaren Situation statt. 
Siehe des Verfassers "Endzeit und Zeitenende", S. 204ff.

2)  Siehe des Verfassers "Endzeit und Zeitenende", S. 170 ff

3)  Siehe des Verfassers <Pathologie de la Liberté> in: <Recherches Philosophiques>, Boivin, 1936, S. 40 ff 

4)  Ausgezeichnet ist das Grover Foley in seinem in Vorbereitung befindlichen Bande "Denker des Unterganges" gelungen.

5)  "Der Mann auf der Brücke", München 1959. "Off limits für das Gewissen", Hamburg 1961, "Endzeit und Zeitenende", München 1972.

6)  "Visit beautiful Vietnam", Köln 1968.

7)  Freilich kann ich nicht behaupten, daß ich während der Niederschrift dieser Reflexionen auf einen siegreichen Abschluß des Krieges zu hoffen gewagt habe. Vielmehr rechnete ich diesen Kampf - und meinen äußerst bescheidenen Beitrag zu diesem - zu den - obwohl aussichtslosen, so doch unabweisbaren - Pflichten der Epoche. 

Und auch heute noch stehe ich dem Sieg Nordvietnams und des Vietkong argwöhnisch und ungläubig gegenüber, da er meiner Überzeugung vom bereits errungenen Sieg der Technokratie widerspricht. Unterdessen hat sich dieser Sieg auch wirklich schon als dialektisch entpuppt: denn der angeblich Besiegte hat sich ja auf Grund seiner technokratischen Superiorität seine Niederlage achselzuckend leisten können, seine Übermacht ist durch den Sieg der Vietnamesen nicht im leisesten tangiert worden; während sich die Sieger ihren Sieg nicht haben leisten können, sich von diesem noch immer nicht erholt haben (1978) und wohl bald wieder in die mehr oder minder getarnte Abhängigkeit von ihrem angeblich geschlagenen Gegner geraten könnten. 

Man sieht: auch dieses Buch stellt als Kritik der Technik eine paraphrasierende Ergänzung zur "Antiquiertheit des Menschen" dar, ebenso wie meine im "Blick vom Mond" (München 1970) vorgetragene Verurteilung der Weltraumflüge, Von denen ich nicht deshalb abrückte, weil sie mißglücken könnten, sondern umgekehrt deshalb, weil mir ihr tadelloses Glücken ein entsetzliches Omen zu sein schien, ein Vorzeichen dafür, daß andere kolossale Unternehmungen, z.B. nukleare Bebombungen aus dem Weltraum, ebenso entsetzlich tadellos "glücken" könnten.

 


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Einleitung   

1. Zur heutigen Situation gehört es sogar, daß jede Maschine die Mit-Voraussetzung, damit die Mit-Herstellerin oder Mitinstandhalterin jeder anderen Maschine ist; und daß die Legion der bestehenden Maschinen letzlich dahin tendieren, zu einer einzigen Mega-Maschine zusammenzuwachsen und damit schließlich den "Totalitarismus der Dingwelt" zu begründen. (Siehe den Essay "Die Antiquiertheit der Maschinen", S. 110).

2. In dieser Bemühung um die Aufrechterhaltung der Produktion durch Konsum besteht, mindestens im Kapitalismus, die heutige "Sorge". Und darin bestand sie auch schon vor 50 Jahren, als Heidegger, in dessen "Sein und Zeit" die Wirtschaft ebenso fehlte wie der Hunger oder das Geschlecht, diese Kategorie als düsteres "Existenzial" einführte.

3. Auch diese iteriert wiederum. Denn die Werbefirmen machen für sich selbst genau so Werbung wie für andere Produkte. Siehe S. 160ff.

4. Natürlich läßt man es nicht dabei bewenden, auch nach solchen Produkten wird, oft post productionem, Nachfrage produziert, und zwar im Profitinteresse der Produzenten, die ihre eigenen Interessen betrügerisch als Nationalbedürfnis darstellen. So hat die Lobby der Schwerindustrie in den USA, und nicht nur während des kältesten Krieges (der ebenfalls ihr Produkt war), durch Produktion falscher, die sowjetische Waffenproduktion betreffender, Ziffern ein Sicherheits- und Schutzbedürfnis in der "Freien Welt" produziert, auf Grund dessen nun die wildeste Produktion der monströsesten Waffen und deren Ankauf durch die "Armed Forces" gerechtfertigt und in die Wege geleitet wurde.

5. Das immer wieder als Gegenbeispiel angeführte Giftgas macht da keine Ausnahme, da dieses sich bereits 1918 wegen Gefährdung der eigenen Reihen als unverwendbar herausgestellt hatte.

6. Die Ausnahmen: doping oder Sporttraining oder Schönheitsoperation sind nicht der Rede wert.

7. "Pathologie de la Liberte", 1929. In: "Recherches Philosophiques", Paris 1936.


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8. Kritik der praktischen Vernunft, I. Buch, 8. Hauptstück. Kants Behauptung freilich, daß, wie es an dieser Stelle heißt, "außer dem Menschen alles was man will und worüber man etwas vermag", als Mittel verwendet werden dürfe (eine Behauptung, auf die sich die Ausrotter von Walen und Seehunden berufen könnten), die haben wir niemals unterschreiben können. Diese fürchterliche General-Lizenz, die nichts außer dem Menschen ein Tabu zugesteht und alles andere als für den Menschen geschaffen unterstellt, und das heißt: ihm zur Verfügung stellt, hat es außer im monotheistischen Raum der jüdisch-christlichen Tradition (Gen. I, Kap. 26-28) nirgendwo gegeben, weder in den Systemen der Magien noch in Polytheismen. Sie ist das Manko unserer "abendländischen" Ethik. Allein im Rahmen der anthropozentrischen Tradition, in der die Welt als dem Menschen "Untertan", also als dessen Diener, Gegenstand, Lebensmittel gegolten hatte; und in der der Mensch, obwohl auch "creatura", doch nicht als Stück der Natur, sondern als unbeschränkter Herrscher über alles sonst Geschaffene gegolten hat -nur in diesem Rahmen hatte Naturwissenschaft, damit Technik, damit schließlich Industrialismus, entstehen können. Daß der Mensch Ziel, und die Welt Mittel sei, dieser Anthropozentrismus war der (nur selten durch pantheistische Intermezzos unterbrochene) Generalnenner der europäischen Philosophien und Vulgär-Weltanschauungen, deren zahllose Verschiedenheiten im Vergleich mit dem, was ihnen gemeinsam war, kaum zählen. Heute haben natürlich Naturwissenschaften und Technik, die ohne den theologischen Anthropozentrismus niemals hätten entstehen können, auch bei denjenigen Völkern Fuß gefaßt, die, wie z.B. die Japaner, die theologischen Voraussetzungen für diese nicht mitgebracht hatten. Aber diese Voraussetzungen sind auch im jüdisch-christlichen Kulturkreis längst vergessen. Nunmehr sind die technokratischen Länder nicht durch einen Glauben geeint; umgekehrt verbindet sie der (zwar nur selten ausgesprochene, aber doch ausgeübte) Atheismus, der (trotz der gelegentlichen Glaubensbeteuerungen von Physikern) die Basis der Naturwissenschaften ist. 9. Ein amerikanischer Unternehmer, den ich über diese Entwicklung befragte, replizierte gekränkt und ohne zu ahnen, wie sehr seine als Frage formulierte Antwort derjenigen Kains ähnelte: "Why should I be responsible for the regrettable fact that there are too many workers in the world? Am I their nurse?"

 

10. Ihre Ersetzung durch die (selbst bereits industriell hergestellte) Porno-, Do-it-yourself-und Sportwollust siehe S. 103.

11. Man dürfte annehmen, daß sich solche Schaffner ihrer Rückversetzung auf die Ebene von Geräten (oder, da sie schlechter arbeiten als diese: unter deren Ebene) schämen. Aber einer solchen Scham, die eine Spielart der im ersten Band eingeführten "Prometheischen Scham" wäre, bin ich kaum je begegnet. Möglicherweise gibt es sie gar nicht - was freilich eine zweite Beschämung rechtfertigen würde, da es ja nicht gerade sehr ehrenvoll ist, sich mit der "Verdingung" abzufinden. Denkbar, daß ich mich vor fünfundzwanzig Jahren, als ich die "Prometheische Scham" einführte, verspekuliert habe: nämlich ein Postulat als Tatsache dargestellt und dadurch die Grenze zur "Philosophy Fiction" überschritten habe. Vielleicht muß ich also diese Scham-These revozieren. Nicht revoziere ich hingegen, daß auch dann, wenn Scham dieser Art nicht verspürt werden sollte, das vorliegt, was die englische Sprache "shame" nennt: nämlich eine Schande.

 

 


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Die Antiquiertheit des Aussehens 

1. Es gibt keinen Ausdruck, der (dem akustischen "stumm" entsprechend) das "Sich-nicht-sehen-lassen-Können" bezeichnete. Das Wort "opak" reicht nicht.

2. Ideal ist diese Koinzidenz in Kunstwerken verwirklicht, da in diesen Wesen und Phänomen zusammenfallen, und da sie nicht nur stumm bleiben, sondern nichts als Sprechen sind.

3. Adolph von Menzels vor hundert Jahren gemaltes "Eisenwalzwerk" zeigte zwar die Großartigkeit des schwerindustriellen Betriebs, aber noch nicht die "Unsichtbarkeit" der Maschinen. Sinnvolles taten erst die "maschinistischen" Maler (Leger), die aus der Schule plauderten, nämlich verrieten, daß die von ihnen entworfenen Maschinen oder maschinisierten Menschen nichts mehr verraten, deren Sujet also nicht die Maschinenwelt, sondern deren Stummheit war. Natürlich haben manche Kunstkritiker diese Aussagen über das Nichtssagende der Geräte als Glorifizierung der Maschinenwelt schief gelobt. Ebenso schief war der Tadel derer, die die dargestellte Dehumanisierung, so als wäre diese deren Werk, den Künstlern ankreideten. - Daß diejenigen, die etwas aus der Schule plaudern, für die Existenz des Ausgeplauderten verantwortlich gemacht werden,, ist ja (siehe Psychoanalyse) keine Neuigkeit.

 

Die Antiquiertheit der Produkte 

1. Aus den "Molussischen Industriehymnen" (übersetzt von G. A.).

2. Ich weiß kein anderes Beispiel, das die so oft beteuerte, aber nur so selten aufgewiesene Abhängigkeit des jeweiligen Moralstatus vom jeweiligen Status der Technik mit solcher Konkretheit zeigt wie dieses.

3. "Der Blick vom Mond", S. 156.

4. Freilich ganz unschuldig ist auch die Industrie nicht. Ein gewisses Maß von Verantwortung dafür, daß sie ihr utopisches Traumstadium noch nicht erreicht hat, trägt auch sie selbst. Denn immer wieder passiert es ihr ja (teils aus Versehen, teils, weil sie durch die Qualität der Konkurrenzwaren doch zu einer gewissen dosierten Haltbarkeit ihrer Erzeugnisse gezwungen wird), daß sie ihre Produkte zu haltbar herstellt. Und "zu haltbar" bedeutet: so haltbar, daß der Abstand zwischen dem Produktionstempo, das sie


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sich wünscht oder das sie benötigt, und unserem, selbst unserem rücksichtslosesten Verbrauchstempo für sie zu groß, die Differenz für sie unerträglich wird. - Freilich hat sie dagegen Mittel zur Hand, Korrektive, die derartige Differenzen ausgleichen. Zum Beispiel kann sie es durchsetzen, daß Reparaturen alter Stücke, selbst leichte Reparaturen, teurer zu stehen kommen als die Anschaffung neuer. - Ihre Hauptmethode besteht allerdings im "Sozialzwang". Das heißt: darin, daß sie uns dazu veranlaßt, unsere Eigentumsstücke, auch wenn diese technisch noch aufs beste funktionieren, als "sozial untauglich", als prestigeschädigend, zu verwerfen und fortzuwerfen. Um dem Nachdruck zu verleihen, hat sie ja einen ganzen eigenen Produktionszweig entwickelt: die Reklame, deren Aufgabe darin besteht, aus dem Rohstoff "Angebote" die Fertigware "Gebote" herzustellen, Angebote in Gebote umzumünzen, also diese Gebote auf so eindrucksvo auf so heimtückisch unauffällige und unterschwellige Weise in uns hinei: zuschleusen, daß wir unfähig gemacht sind (psychologisch sowohl als auc moralisch), diesem Druck Widerstand entgegenzusetzen.

5. Diejenigen Tiere, die nur konsumieren, also noch nichts aufspeichern (es sei denn im eigenen Leibe), kennen weder Dauer noch Gegenstand noch Eigentum. Die drei bilden ein kategoriales Syndrom.

6. Zusatz 1979: Die sogenannten "SALT"-Verhandlungen sind ungeheuer umständliche und aufwendige Blindenkongresse. Durch "SALT II", das gestern hier in Wien mit Backenküssen abgeschlossen wurde, hat sich nicht das Mindeste verändert.

7. Das Prinzip der Konservierung von Konsummitteln ist kein Gegenargument. Denn Güter, die konserviert werden, bleiben trotzdem Mittel, die verbraucht, also vernichtet werden sollen. Davon, daß sie durch "canning" in die Klasse der Gebrauchsgüter aufrücken, also Kollegen von Hose oder Hammer werden, kann gar keine Rede sein. Worauf es ankommt, ist nicht so sehr, an welchem Zeitpunkt ein Produkt konsumiert wird, sondern ob es im Moment der Verwendung auch schon konsumiert wird oder nicht; ob Verwendung und Konsum identisch bleiben oder nicht. Und sie bleiben eben identisch auch bei konservierten Konsumgütern. Die Gleichung: "Verwenden ist Aufbrauchen" ist gewissermaßen mit-konserviert. Und im Augenblicke, da wir den Büchsenöffner ansetzen, springt sie lebendig aus der Dose.

8. Darunter wird hier die Industrie, die Sendungen herstellt, nicht diejenige, die Sende- oder Empfangsgeräte erzeugt, verstanden.

9. Umgekehrt stelle man sich vor - dieser Gedanke liegt, obwohl er surrealistisch und entsetzlich wirken mag, durchaus im Bereich des Möglichen -, in einer total verwüsteten Stadt seien die Lautsprecheranlagen intakt geblieben, und die Sendungen überschwemmten Tag und Nacht die Trümmer-Straßen. Im Unterschiede etwa zu automatisch dort weitergedruckten Büchern, die Simultankonsum nicht erfordern, würden sie, da sie ihre Mission: im Moment der Sendung auch konsumiert zu werden, verfehlen würden, gespenstig bleiben. Und gespenstig in einem ganz neuen Sinne: denn nicht Totes erschiene Lebendigen, sondern Lebendiges Toten.


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Die Antiquiertheit der Menschenwelt

1. Dieser und der diesem folgende Aufsatz "Die Antiquiertheit der Masse" basieren auf Tagebucheintragungen aus Tokio 1958. Geschrieben 1961.

2. Diese Weigerungssituation ist heute allgemein, sie herrscht in konformistischen Gesellschaften nicht weniger als in offen totalitären, wenn sie auch -aber das macht ihr Wesen eben mit aus - nicht gesehen wird. Zum Wesen der Verblendung, die hergestellt wird, gehört eben primär, daß sie selbst nicht erkannt, auf keinen Fall aber als Verblendung erkannt werden darf. Die Aufregung der Amerikaner über das östliche "brain washing" ist eine konformistischen Konsumenten konform gelieferte Aufregung über Herstellung von Konformismus im Gegenlager. Und die Indignation Sowjetrußlands über kapitalistische Meinungsmonopolisierung ist nicht weniger hypokritisch. Die Tabuierungen der Anderen werden zwar gesehen, aber die Erkenntnis, daß man selbst unter analogen Tabus lebt, bleibt immer selbst unbekannt und tabu.

3. Ergänzung dieser Deutung, s. des Verfassers "Faule Arbeit und pausenloser Konsum" in Homo ludens, Januar 1959.

4. Im Frieden (der ja die Fortsetzung des Krieges mit anderen, sogenannten "kalten", Mitteln ist) ist diese Zerstörungslust um nichts weniger wirksam, nur wird sie durch verschiedene Maßnahmen und Umstände verdeckt. In Massenproduktionsländern, z.B. in den Vereinigten Staaten, bleibt sie durch die Tatsache, daß sie der Produktion nutzt, verdeckt, ja durch diese wird sie geradezu in etwas Positives umfunktioniert. Da es nämlich im Interesse der Produktion liegt, soviel wie möglich herzustellen, ist sie gierig darauf, daß ihre Produkte so rasch wie möglich aufgebraucht, also zerstört werden. Dadurch wird im öffentlichen Urteil Schonungslosigkeit, also auch Zerstörungslust, ehrlich gemacht und sogar zur Tugend erhoben. Ja, die Produktion hat geradezu neue Formen der Liquidierung produziert, eingeführt und verbindlich gemacht, um sich in Gang zu halten: Die jedes Jahr neu aufgezwungenen Mode-Diktate sind nichts anderes als Gebote, gewisse Produkte, selbst dann, wenn diese noch "halten", als liquidationsreif abzustoßen.


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5. Tatsächlich ist der Typ des Automationsarbeiters ganz neu. Obwohl einsam wie ein Flickschuster arbeitend, hält er doch niemals ein Produkt, geschweige denn ein eigenes Produkt in seiner Hand, vielmehr beobachtet er nur Signale des ohne ihn ablaufenden Prozesses. Und obwohl unangestrengt dasitzend wie ein Buchschreiber, avanciert er dadurch nicht etwa zum geistigen Arbeiter, sondern lediglich zum Polizisten der Maschine, zu einem Polizisten, dessen Arbeit darin besteht, darauf zu hoffen, nichts und niemanden arretieren zu müssen.

6. "Die Antiquiertheit des Menschen", Bd. I, S. 66ff.

7. Ich spreche hier nicht von Claude Eatherly, der ja nur das go-ahead-Signal gegeben hat.

8. S. 290 ff.

9. Einführung des Begriffes in Band I dieses Werkes, S. 3<>ff. Was mit "imita-tio" oder "kategorialer Angleichung" gemeint ist, kann man sich an der Analogie mit der Musik klar machen: Wer eine Musik spielt, der nimmt die Struktur dieser Musik an; nicht nur im (unter Dacapozwang ablaufenden) Sonatensatz herrscht zyklische Zeit, sondern auch im Sonatenspieler. Das heißt: solange der Musizierende "in Musik" ist, ist deren Gangart seine Gangart, in gewissem Sinne sogar deren Seinsart seine Seinsart. - Entsprechend wird der Gang der Maschine zum Gang des Maschinenbedieners -nur (dieses "Nur" ist freilich entscheidend) daß sich hier der Mensch mit etwas Nichtmenschlichem auf gleiche Weise und im gleichen Grade identifizieren muß wie der Musiker mit der (ihn nicht entmenschenden) Musik.

 

Die Antiquiertheit der Masse

1. "Die Antiquiertheit des Menschen" Bd. I, S. ioiff.

2. Man hat meiner Schilderung des Zeitgenossen nachgesagt, sie sei einseitig, da sie sich auf Konsumsituationen und -akte beschränke, namentlich auf die Rundfunk- und Fernsehsituation. Dieser Vorwurf verfehlt die Pointe meiner Theorie deshalb, weil meine These gerade darauf hinausläuft, daß sich nahezu alle Beschäftigungen des Menschen an Konsumbeschäftigungen entweder angehängt oder gar in solche verwandelt haben. Der während der Arbeit gelutschte Kaugummi oder die während dieser subliminal gehörte Rundfunkmusik verwandeln das Arbeiten in ein Anhängsel oder in eine Variante von Konsum. Nicht mehr gilt heute, daß Konsum zuweilen unser Nichtkonsum-Dasein unterbreche, sondern umgekehrt, daß, und zwar selten, Nichtkonsum-Akte innerhalb unseres Konsum-Kontinuums auftauchen.

3. Diese "echte Polytonalität" hat Ferdinand Kürnberger bereits im ersten Kapitel seines Romans "Der Amerikamüde" geschildert.


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4. Nunmehr ist es den Technikern der akustischen Apparate gelungen, dieses sinnliche Paradox zur letzten Vollkommenheit zu bringen: nämlich durch das Stereophonmachen der Grammophonplatten, tapes und Radiogeräte.

Der Verfasser hat diese technische Entwicklung vorausgesagt in "The Acoustic Stereoskope" (Journal f. Philosophy and Phenomenol. Research 1948).

5. Selbst die Tatsache, daß diejenigen, die in sozialistischen Bewegungen aufgewachsen waren und die dem Wortteil "Sozialismus" in dem Worte "Nationalsozialismus" Glauben schenkten, die Mechanik nicht durchschauten, ist nicht verwunderlich. Denn diese vermeinten eben in den Erlebnissen, die die Monsterversammlungen ihnen vermittelten, die Fortsetzungen ihrer früheren Massenerlebnisse zu erleben. Und nicht nur deren Fortsetzungen, sondern deren äußerste Verwirklichung. Neben dem apotheotischen Ausmaß dessen, was ihnen da geboten wurde, mußten ihre früheren Erlebnisse verblassen.

 

Die Antiquiertheit der Arbeit  

1. In meiner Fabrikarbeiterzeit habe ich da keine Ausnahme dargestellt. Freilich hatte es damals noch kein Fernsehen gegeben, sondern allein das Radio. Aber in dessen Gesellschaft habe auch ich damals gelebt.

2. Wie aus einem anderen Zeitalter klingt uns Marxens Satz "Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung" (des "Aufblühens" des "wahren Reiches der Freiheit"). "Das Kapital" III, Berlin 1953, S. 873.

3. S. ioiff.

4. Das Argument, Sonderband 19, S. 92.

5. Das molussische Theologoumenon, daß die von Gott geschaffene Welt diesem über den Kopf gewachsen sei, entstammt vermutlich ähnlichen Erfahrungen.

6. "Nur eine halbe Stunde am Tag", heißt es im Spiegel vom 21. 11. 1977, "verbringt der Bauer Groth, der jährlich 2000 Schweine schlachtreif mästet (Umsatz: 700000 Mark) in seinem 280000 Mark teuren Stall. Die Arbeitshähne auf- und zuzudrehen. Alles andere läuft von selbst... So lassen sich bei 10 Melkplätzen 80 Kühe in gut einer Stunde abfertigen, bequem und ohne Kraftakte ... Danach geht Groth auf die Pirsch." Nebenbei: daß Herr Groth die Zeit, in der er sein Vieh nicht mehr schlachtreif zu machen braucht, dazu verwendet, andere Tiere abzuschlachten, das ist bemerkenswert.

7. Ich verwende diesen Husserlschen Ausdruck, da er gewöhnlich (schon von Scheler) für konservative Ziele mißbraucht worden ist, nur höchst ungern. Hier aber ist er unvermeidbar.


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8. In ihrer Angst davor, das Zeitalter der freien konkurrierenden Wirtschaft könnte ein Ende nehmen, greifen die Trivialideologen, wie in Österreich z.B. Taus, auf die naivsten philosophischen Schmuck- und Schmockredensarten der frühen Zwanziger Jahre zurück, z.B. auf die "Kreativität", die "Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit", die von ihnen angeblich gewährleistet, durch die Sozialisten dagegen vereitelt, werde. Nichts ist unredlicher als die Unterstellung, daß jemals einem Abhängigen, etwa einem Bauern oder Bankbeamten oder Schweißer die Chance zugestanden worden sei, eine "Persönlichkeit" zu werden oder diese gar zu "entfalten". Noch nicht einmal Hohngelächter erregen solche Feiertagsvokabeln, sondern, und zwar berechtigterweise, stures Unverständnis. Die von "Selbstentfaltung" sprechen, die meinen durchweg die Aufrechterhaltung der "Selbstentfaltung" von Kapital. In der Sowjetunion ist die Konkurrenz künstlich wieder eingeführt worden: Belegschaften, die einen gewissen output in kürzerer Zeit erzeugen als andere, werden als "Helden der Arbeit" glorifiziert. Aber Konkurrenz dieser Art ist keine echte mehr. Was sich in Wahrheit hier abspielt, ist, daß die Belegschaft es mit heraushängender Zunge fertigkriegt, mit der schneller als anderswo eingestellten Maschine Schritt zu halten. Mit dieser rennt sie also um die Wette, nicht mit anderen Belegschaften.

 

Die Antiquiertheit der Maschinen B

1. Reflexionen anläßlich des Netzkollaps in den Vereinigten Staaten 1965.

2. Ich bediene mich des Ausdrucks "totalitär" so selten wie möglich, und zwar deshalb, weil ich ihn für mißbraucht halte, für kaum weniger suspekt als die Sache, die er bezeichnet. Wenn ich ihn hier trotzdem verwende, so, um ihn richtigzustellen, d.h. auf denjenigen Platz zu verweisen, auf dem er zuständig ist.

Bekanntlich wird der Ausdruck fast nur von solchen Theoretikern und Politikern verwendet, die beteuern, Bürger von nicht- oder antitotalitären Staaten zu sein — was zumeist entweder auf Selbstgerechtigkeit oder auf Schmeichelei hinausläuft. In 99 von 100 Fällen gilt der Totalitarismus als eine primär politische Tendenz bzw. als ein primär politisches System. Und das halte ich für unwahr.

Im Unterschiede dazu wird hier die These vertreten, daß die Tendenz zum Totalitären zum Wesen der Maschine gehöre und ursprünglich dem Bereiche der Technik entstamme; daß die jeder Maschine als solcher innewohnende Tendenz, die Welt zu überwältigen, die nicht überwältigten Stücke parasitär auszunutzen, mit anderen Maschinen zusammenzuwachsen und mit diesen zusammen als Teile innerhalb einer einzigen Totalmaschine zu funktionieren - daß diese Tendenz die Grundtatsache darstelle; und daß der politische Totalitarismus, wie entsetzlich immer, nur Auswirkung und Variante dieser technologischen Grundtatsache darstelle. Wenn Sprecher von technisch höchst entwickelten Weltmächten seit Jahrzehnten behaupten, dem Prinzip des Totalitären (im Interesse der "freien Welt") Widerstand zu leisten, so läuft, da das Prinzip des Totalitären ein technisches Prinzip ist und als solches von den "Anti-Totalitären" natürlich nicht bekämpft wird und nicht bekämpft werden kann, diese Behauptung auf Irreführung hinaus, im besten Falle auf Einsichtslosigkeit.

3. Entsprechend "sabotierte" ein durch die Zündung vorzeitig gelockerter Steckkontakt den Abschuß der Gemini-6-Rakete am 12. 12. 1965.


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Die Antiquiertheit der philosophischen Anthropologie 

1. Von den damaligen Diskutanten Adorno, Hannah Arendt, Goldstein, Horkheimer, Mannheim, Riezler und Tillich ist keiner mehr am Leben.

2. Zur geschichtlichen Stellung dieses Textes vgl. Wolfgang F. Haug, "Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden", Frankfurt 1966, S. 106-107 und 227-228.

 

Die Antiquiertheit des Individuums 

1. "Der Blick vom Mond", München 1970.

2. Selbst ob diese als echte Phantasten gelten dürfen, ist fraglich. Letztlich wohl auch sie nicht; und zwar deshalb nicht, weil ihnen, da es nun einmal ihr tägliches Geschäft ist, die bereits phantastisch hohen Leistungen von heute noch weiter aufzustocken, gar nichts anderes übrigbleibt, als noch Phantastischeres zustandezubringen. "We poor guys can't help being ge-niusses" (Ausspruch eines Raketen-Ingenieurs).

3. Es liegt auf der Hand, daß, wenn ficta als facta ausgegeben werden können (wie es in der üblichen Science Fiction geschieht), umgekehrt auch facta als ficta getarnt werden könnten, daß man also die Wahrheiten, die man zu verbreiten oder zu verraten wünscht, als literarische Lüge ausgeben könnte. X Warum diese subtile Chance für Verrat bisher in keinem politischen Lager ausgenutzt worden ist, das ist schwer zu erklären. Der einzige, der diese Inversion versucht hat, ist wohl Huxley. Nicht auszudenken, was heutige Swifts, die den dieser literarischen Gattung innewohnenden Möglichkeiten gewachsen wären, aus der Science Fiction machen könnten.

4. Das Wort "Tendenzkunst" wird hier überraschend klingen. Aber nur deshalb, weil wir, mindestens in der "freien Welt" (in totalitären Systemen liegt das Dienstverhältnis von Kunst und Unterhaltung viel offener zutage), daran gewöhnt sind, unter "Tendenzkunst" nur diejenige Kunst zu verstehen, die oppositionelle Tendenzen oder Kritik äußert. Es gibt aber nichts Tendenziöseres als diese Einengung des Tendenzbegriffes.


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Es ist die Tendenz jeder herrschenden Macht, zu verhüten, daß ihre eigenen Tendenzen als "Tendenzen" bezeichnet werden, vielmehr wünscht jede, als der Nullpunkt, als die "normale Realität" zu gelten, sodaß nur, was von diesem Nullpunkt abweicht, als "tendenziös" erscheint. Es würde also ihrem Interesse widersprechen, wenn diejenige Kunst, die mit ihren Tendenzen konform geht, als "tendenziös" bezeichnet würde. Sprecher, die nicht widersprechen, figurieren daher fast niemals als ausdrückliche Jasager, sondern als "reine Künstler"; und was mit den herrschenden Tendenzen übereinstimmt, gilt deshalb nicht als "tendenziös", sondern als "frei". - Nur weil wir uns, gleich ob bewußt oder unbewußt, dieser Sprachregelung fügen, halten wir die Einengung des Begriffs für legitim.

5. Die Taktik, Vorgestrigeres für die Verwirklichung des Übermorgen einzusetzen, ist übrigens allen Machtgruppen gemein. So gibt es z.B. auch nichts musikhistorisch "Vorgestrigeres" als jene Lieder, die für revolutionäre Zwecke verwendet werden, und wenn die musikalischen Konservatoriumsgesetze des 19. Jahrhunderts noch irgendwo konserviert werden, so allein in diesen.

6. Damit ist natürlich kein Freibrief für Konformismus ausgestellt. Erforderlich ist vielmehr, daß sich der Nonkonformist über sich selbst im klaren sei, d.h. darüber, wie weit nicht mitzumachen überhaupt möglich ist; was er mitmachen muß, um als Kritiker leben und Widerstand leisten zu können. Das Problem ist nicht unbekannt: es ist das der "Kollaboration", freilich im breitesten, nicht nur politischen, Sinne.

7. Zuweilen geschieht es sogar, daß die Lockkreaturen selbst uns recht geben und, scheinbar gegen ihr eigenes Interesse, betonen, daß "kein Mensch müssen müsse". "Du brauchst ja nicht", lautet eine an den "zwanglosen Herrn" adressierte Hutreklame, "aber kannst du mich nicht gelegentlich probieren?" - womit diese Sirene bezeugt, wie viel ihr daran liegt, unsere Freiheitsillusion zu nähren und ihre angebliche Sorge um unsere Freiheit zu plakatieren.

8. Ob der Ausdruck "Medialität" (Band I, S. 286) den Anspruch erheben darf, eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe dahingestellt. Auf jeden Fall aber kann er als ein Warnungsschild dienen, das uns davor bewahrt, in die Verwendung der ungültig gewordenen Alternativbegriffe zurückzufallen; oder als ein Hinweis auf den "Ort des Desiderats" d.h.: auf die Stelle, an der die kategoriale Arbeit einzusetzen hätte.

9. Was uns vor dreißig Jahren (1933) entsetzt hatte: die Verknechtung einer Bevölkerung in der Form eines Sich-Erhebens, war in der Tat nur ein ganz besonders spektakuläres und blutrünstiges Beispiel für das Gleichschaltungsgeschehen, das auf unscheinbarere Art in der sich "frei" nennenden konformistischen Welt jeden Tag vor sich geht. Natürlich wird diese Ähnlichkeit mit dem Totalitarismus systematisch verwischt, nein, sogar in einen globalen Gegensatz umgemünzt.


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Aber unser Gleichgeschaltetsein beweisen wir gerade dann, wenn wir uns dazu verführen lassen, dieses Verwischen und dieses Ummünzen mitzumachen und vor dieser Ähnlichkeit die Augen zu verschließen. Kein Tun ist heute unfreier, keines deutlicher gleichgeschaltet als das allgemeine Mitgerede von der "freien Welt". Denn es ist, wie empörend das auch klingen mag, unbestreitbar, daß die power-EIite des Konformismus im Entscheidenden hinter ihren angeblichen Antagonisten, den Diktatoren, nicht zurückbleibt: auch sie kann unsere Aktivitäten als reine "Prozesse", als Teilstücke maschineller Abläufe, einsetzen - und was sie kann, das tut sie auch. Und auch sie kann uns trotzdem pausenlos in der Illusion der Selbständigkeit, der Freiheit und der Aktivität halten - und auch das tut sie. Freilich deshalb, weil sie anderes gar nicht tun kann -womit gesagt ist, daß auch sie* bzw. der Machtapparat, den sie dirigiert, "medial" ist. Denn was dieser tut und uns antut, das tut er auf Grund der Erfordernisse seines Bestandes und Fortbestandes so automatisch, daß auch ihm gegenüber die Suche nach der "Demarkationslinie" zwischen Aktivität und Passivität fragwürdig wird. Vieles scheint dafür zu sprechen, daß wir die Opfer eines Monstrums sind, das selbst das Opfer seines eigenen Bestandes und Fortbestandes ist.

10. S. noff.

11. Der enge Zusammenhang zwischen dem Konformismus und der optischen Wandlosigkeit: der Glasarchitektur, ist evident.

12. Diese Austauschbarkeit ist heute nicht nur allgemein akzeptiert, sie wird sogar in unüberbietbarer Naivität ganz ausdrücklich vorgeführt: im Rundfunk ist ja der oft geradezu irrsinnig wirkende, angeblich der "Dramatisierung" dienende, Brauch eingerissen, Textvorlesungen auf mehrere Stimmen zu verteilen; und zwar so, daß es dabei gleichgültig bleibt, ob Lesestimme A den Satz A und Lesestimme B den Satz B spricht oder umgekehrt - nur mehrere Stimmen müssen es eben sein, damit das tote Schema der Lebendigkeit, also die Illusion des Hin und Her, gesichert bleibe.

13. Da es uns normal scheint, daß Wissenschaften als akademische Theorien zur Welt kommen, um dann vielleicht auch angewandt und vielleicht auch popularisiert zu werden, klingt die Behauptung, daß die raison d'etre der Psychologie in der Erfüllung dieses Auftrages bestehe, unglaubwürdig. Zu Unrecht. Denn historischer Ursprung und heutiger Daseinsgrund sind zweierlei, die Frage: "Woher stammt die Erscheinung X?" muß stets durch die andere: "Auf Grund wovon ist die Erscheinung X noch da?" ergänzt werden. Und mit unserer Behauptung, daß Psychologie heute nur deshalb da sei, weil sie sich als verwendbare Adaptierungshilfe bewährt habe, antworten wir eben auf diese Ergänzungsfrage.

14. Dabei sehe ich ganz davon ab, daß die Psychologen durch die Anerkennung dieser Tatsachen ihren eigenen Gegenstand: die "psyche", verspielen und sich selbst damit "gegenstandslos" machen würden.


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15. Siehe S. 133ff. Daß es sich dabei um Science Fiction-Autoren handelte, das hat, seit wir die Ebene der Grundsätzlichkeit erreicht haben, schon nur noch zweitrangige Bedeutung.

16. Daß sich die Werbung unter dem Druck der Spezialisierung selbst wiederum in eine Sonderbranche, genannt "Public Relations", verwandelt hat, als solche eine ungeheure Rolle spielt und zuweilen sogar, so als wäre sie nur eine ihrer werbebegierigen Kundinnen, für sich selbst wirbt, das widerspricht nicht der Tatsache, daß sie ihrem Wesen nach nichts Spezielles, sondern eine Modalität unserer Welt ist.

17. Anmerkung 1979: Bezog sich damals auf den Kampf Kennedy-Nixon.

18. Dem entspricht, daß jenes Wesen, das im 19. Jahrhundert als so aufregend gegolten hatte: die Prostituierte als Ware, zu einer langweiligen Figur geworden ist. Es gibt nichts Verstaubteres als Theaterstücke, in denen Huren eine Rolle spielen. Da die Ware als Prostituierte, bzw. das Waren-Universum als Prostitutions-Universum zur Herrschaft gelangt ist, hat die Modellfigur den Glanz ihrer Verruchtheit verloren. Sie ist der Fülle der ihr angeähnelten Objekte, also der Universalisierung ihres Prinzips, zum Opfer gefallen.

19. Die Behauptung, die kommunistische Welt sei in gar keinem Sinne "Werbewelt", wäre natürlich auch schief. Umworben ist der Mensch dort aber nicht von den offerierten Produkten oder deren Reizbildern, sondern von den Zielen der Produktionsplanung und von den Bildern derer, die als die Inkarnation dieser Planung gelten.

20. Entsprechendes gilt natürlich von der Zeit totaler Arbeitslosigkeit. In welchem Maße, das hat z.B. die Anfälligkeit der Arbeitslosen für die nationalsozialistische Werbung in den Jahren 32/33 bewiesen. Wenn Ähnliches als Folge der Einführung der Automation in den heutigen USA eintreten würde, wäre das alles andere als erstaunlich.

21. Dazu siehe des Verfassers "Siamo tutti come Eichmann?" Mondo Nuovo, 6.1. 63.

22. Auf uns, die wir den "Verschiebungsmechanismus" und den "Umweg über den Genuß" nun kennen, wirkt es natürlich komisch, daß gerade dieses Wort "Geheimagent", das die Wahrheit ganz enthüllte, Jahrhunderte lang, und sogar gerade von den prominentesten Molussologen, beargwöhnt oder mit dem Aplomb der Borniertheit direkt als "verdorben" bezeichnet wurde. Aber die Chance, den neuen Sinn des Wortes zu begreifen, die blieb den Philologen natürlich verwehrt. Wahrscheinlich stellte diese ihre Beschränktheit wiederum ihre Geheimdienstleistung dar. Denn daß sie durch die Verläßlichkeit und die Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Verständnislosig-keit aufrechterhielten, einen Dienst leisteten, das wurde wiederum ihnen nicht verraten.


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23. "Die zum Töten Angestellten", heißt es in einem molussischen Lehrbuch für Generalstäbler, "sollen das ihnen Aufgetragene hemmungs- und bedenkenlos ausführen. Um das zu tun, dürfen sie die Illusion ihrer Harmlosigkeit nicht einbüßen. Nichts gewährleistet die Aufrechterhaltung dieser Illusion mit solcher Sicherheit wie die Tarnung ihrer Pflichterfüllung als Lust. Die Lust, die wir ihnen schenken, ist also nur eine Form der erforderlichen Beraubung. Die wir genießen lassen, denen verdunkelt sich der Blick auf den Gegenstand ihres Handelns."

24. Übrigens wird diese Möglichkeit, Affekt und Affektbewandtnis auseinanderzureißen, von der Unterhaltungsindustrie zuweilen schon als Trick verwendet. Unvergeßlich bleibt mir eine Szene aus einem italienischen Film, die Großaufnahme eines Säuglings, der herzzerreißend an der Leiche seiner Mutter weinte. Dem Gefühl, das ich während der Vorführung hatte: nämlich nie zuvor gewußt zu haben, was es für ein Kind bedeute, seine Mutter zu verlieren, war lange Dauer freilich nicht beschieden, denn bald mußte ich erfahren, wie diese Schreie und Tränen zustandegekommen waren: daß man diese nämlich mit Hilfe von Nadelstichen hervorgebracht hatte. Wie empörend das auch gewesen sein mag, man nenne es nicht beispiellos. Die artifi-zielle Munterkeit, in die Arbeiter mit Hilfe von Arbeitsmusik hineingestoßen werden, ist um nichts weniger empörend. Die zwei Fälle sind Zwillingsfälle, hier wie dort gilt, daß der Affekt und dessen Bewandtnis auseinandergerissen sind, und daß den Akteuren das Recht auf die Synthese versagt bleibt. Diese Synthese findet vielmehr immer an einem dritten Orte statt; einmal in der Seele des erschütterten Filmbesuchers;|das andere Mal im Hauptbuch, das die Produktionssteigerung anzeigt.

25. Anders natürlich, wenn Dienstleistende, im Sinne Epiktets, solche Tarnung selbst durchführen, wenn z.B. ein auf Botengang geschickter Sklave diesen so genießt, als wäre er ein Spaziergang: das stellt einen souveränen Freiheitsakt dar.

26. Beispiel für die Überwindung solchen Kompromisses: Viele jener Autoren, die gestern noch Heimarbeiter gewesen waren, erledigen ihre Arbeit heute bereits als Angestellte an den Schreibmaschinen der Betriebe.

27. Siehe Band I, S. 10. Die lärmende Freude, mit der das Fernsehen als Chance der "Renaissance der Privatheit" von oben gepriesen und von unten begrüßt wurde, klingt noch in aller Ohren.


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Die Antiquiertheit der Ideologien

1. Dies um so weniger, als auch diese nicht mehr "unsere" sind. Vielmehr stehen sie, wie alles Naturale, der Bearbeitung zur Verfügung, auch sie sind längst schon Produkte. Mein Durst nach Coca Cola ist durchaus nicht "meiner", sondern etwas vom Coca Cola-Produzenten in mir Hergestelltes, nicht weniger Fertigware als das Gebräu selbst. Und zwar ein Gerät, dessen Zweck und Leistung darin besteht, den Profitdurst der Produktion zu stillen. Der Dürstende stillt also durch seinen Durst, bzw. durch dessen Stillung, den Durst des Betriebs. Er leistet Auftragsarbeit.

2. Das Wort, das bei Marx ausschließlich die einem falschen Bewußtsein entsprungene Theorie bezeichnet hatte, bezeichnet heute (übrigens auch im sowjetbeeinflußten Teil der Welt) jede Theorie, so daß man dort anstandslos, also ohne sich dadurch lächerlich zu machen, von der eigenen Ideologie sprechen kann.

3. Wo, was heute schon der Fall ist, "falscher Wille" ohne "falsches Bewußtsein" oder sogar "falsche Praxis" ohne "falschen Willen" erzeugt werden kann, da erübrigt sich bereits die Herstellung von "falschem Bewußtsein" bzw. "falschem Willen". Der atomare Knopfdrücker z.B. benötigt keine Theorie oder Weltanschauung mehr, um gegen sein eigenes Interesse zu wollen oder zu handeln - womit natürlich nicht gemeint ist, daß er ein "wahres Bewußtsein" habe, sondern nur, daß er genau so "jenseits von wahr und falsch" steht, wie er "jenseits von gut und böse" steht: also in der totalen Gedankenlosigkeit.

4. In unserer atomaren Situation ist es uns durchaus gelungen, diesen Zustand herzustellen: die Indignation, die man erzeugt, wenn man Menschen auf ihre wahren Wünsche (also auf das, was sie eigentlich wollen müßten) aufmerksam macht, und darauf, daß sie, wenn sie Atomrüstung "mitwollen", ihren eigenen Untergang wollen, ist wahrhaftig eines bessern Anlasses würdig.

 

Die Antiquiertheit des Konformismus

1. Siehe Band I, S. 96ff.

2. Die Verständnislosigkeit der Amerikaner für vergangene geschichtliche Epochen und für außeramerikanische Länder und Mentalitäten hat darin ihren Grund.

3. Die zahllosen gerade in den Vereinigten Staaten erscheinenden, scheinbar Phantasie beweisenden Utopien besagen dagegen nichts. Sie alle sind nur "Verlängerungen" der in der kompletten Welt bereits eingegleisten Wege.

4. Auch die Freiheit des Schlafes ist bereits bedroht. Die Technologen des Subliminalen planen bekanntlich bereits, durch unterschwellige akustische Sendungen den Schlaf zu perforieren und den Menschen während seiner Entspannung mit Angeboten, also "Geboten" zu beliefern.

5. Diese Identität bestätigt sich auch in der Psychopathologie. Kurt Goldsteins Untersuchungen an Gehirnverletzten zeigen z.B., daß die unfrei Gewordenen auch unfähig werden, Konditionalsätze aufzufassen.

6. Auch die so oft gescholtene oder verhöhnte Hypokrisie der USA ist kein Laster im konventionellen Sinne, sondern eine objektive Folge des Belieferungsmechanismus.


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7. Nachbemerkung 1979: Unterdessen hat sich ja der Vorschlag fernsehfreier Tage als undurchführbar erwiesen.

8. Siehe Band I, S.286ff.

9. Es gehört zum Bilde der konformistischen Welt, daß in ihr Individuen nicht mehr sich selbst opfern, sondern nur noch geopfert werden; aber auch, daß diese, da ihr Widerstand bereits gebrochen ist, geopfert werden können. Wer bereit ist, sich von sich aus für etwas Nichtverlangtes, also Nonkonformes, zu opfern, macht sich bereits verdächtig. - Mit diesem Absterben des Opferbegriffes bezeugt diese konformistische Welt ihren Regreß in eine nicht nur vor-heroische, sondern subhumane Phase.

10. Bemerkung 1971. - Unterdessen ist es zur Mode unter Konformisten geworden, sich als non-konformistisch aufzuspielen. Aber dieser Non-Kon-formismus ist ein Massenphänomen, von dem sich auszuschließen einen Grad von Non-Konformismus verlangt, den nur die Wenigsten aufbringen.

11. Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß es in der heutigen öffentlichen Diskussion, z.B. in kulturkritischen Feuilletons, bereits konformistisches Geschwätz über, sogar gegen, Konformismus gibt; ja daß gewisse selbst konformistische Organe im Begriff stehen, die Diskussion des Konformismus zu ihrem feinen Lieblingsthema zu machen. Der Widerspruch ist aber nur scheinbar. Da es im Interesse des Konformismus liegt, allen ihn gefährdenden Themen den Wind aus den Segeln zu nehmen, muß er sich selbst als Thema in die Hand nehmen und die Diskussion seiner Problematik selbst steuern. In der Kulturpolitik ist die Besetzung feindlicher Positionen ebenso wichtig wie deren "Zerstörung".

12. Siehe Band I, S. 2.

13. Siehe das "Plädoyer gegen Kassandra" (Süddeutsche Ztg. 18.1. 58), dessen Autor Horst Krüger leider vergessen hat, daß die große Ahnfrau, deren Namen er, um die heutigen Urenkel lächerlich zu machen, heraufbeschwört, mit allen ihren Untergangswarnungen recht behalten hat. Daß sie also eine echte Prophetin gewesen ist.

 

Die Antiquiertheit der Privatheit 

1. Vorgetragen unter dem Titel "Akustische Nacktheit" in der Lessing-Ge-sellschaft Hannover, Oktober 1958.

2. S. 99 ff.

3. Beziehungsweise die Wohnung wandert uns entgegen: Denn die "Belieferung des Menschen mit Welt" bestätigt sich auch dadurch, daß das Bild der Welt selbst dann noch fortfährt, zu uns zu kommen und uns eigene Bewegung und eigenes "Entgegenkommen" zu ersparen, wenn es in unserem Zuhause bereits angekommen ist.


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4. In der Sendereihe "People are Funny" hat sich deren Erfinder Art Linkletter die ungeheuerliche Kühnheit herausgenommen, die Villa eines Ehepaares, das er unter irgendwelchen Vorspiegelungen auf Ferien geschickt hatte, in deren Abwesenheit abmontieren zu lassen; so daß die Heimkehrer, als sie nun statt vor ihrem Haus vis-ä-vis de rien parkten, sehr begreiflicherweise ihre Fassung verloren und panisch begannen, dem |xr) öv nachzujagen. -Aber das "so daß" ist falsch: Denn der famose TV-Mann hatte sich ja diesen netten Trick nur deshalb ausgedacht, um diese Fassungslosigkeit und diese Gehetztheit herzustellen und um sie seinem Publikum als süße Speise servieren zu können. Der Prozeß entspricht dem der künstlichen Perlenproduktion: Man verwundet das lebendige Wesen, um dessen Wunde zum Genußobjekt zu machen.

5. Die Besuchs-Situation in den Sendungen kann durch die folgenden zwei Überlegungen verdeutlicht werden: 1. Die Situation ist undeutlich: Einerseits bleiben wir Zuschauer zuhause; als faktisch zuhause Sitzende sind offenbar wir die Empfangenden, die Besuchten. - Andererseits aber zeigen sich die "Besucher" gerade in ihrem Zuhause; also scheinen sie die Empfangenden, die Besuchten, bzw. wir die Empfangenen, die Besucher. 2. Die Situation ist phantomhaft: Obwohl sich jeder bei jedem aufzuhalten scheint, hält sich offensichtlich niemand bei irgendwem auf. Vielmehr vollzieht sich der Verkehr ohne gegenseitige Kenntnis der Partner: Während die "ausgelieferten" Personen blind gegen uns, die Zuschauer, bleiben, ist es uns, den belieferten Zuschauern, unmöglich, mit den Ausgelieferten in einen mehr als voyeurhaften Kontakt zu treten.

6. Während in der Welt des magischen Daseins, für das jedes Bild als Stück des abgebildeten oder gar als identisch mit diesem galt, Bilderdiebstahl, zumeist in der Form des Götterdiebstahls, zu den alltäglichen Lokaldelikten gehört hatte, hat er in unserer nach-magischen Welt keine ausschlaggebende Rolle mehr gespielt. Daß dieser Delikt-Typ in unserem Dasein nun wieder auftaucht, scheint zu beweisen, daß uns eine dialektische Entwicklung in ein Stadium zurückgeworfen hat, das überwunden zu haben, den Stolz des rationalistischen Europas mitausgemacht hatte.

7. Vielleicht ist diese Illusion noch dadurch verstärkt, daß wir als Photogra-phierende die Bilder selbst erzeugen. Der Gedanke, daß etwas von uns selbst Erzeugtes zugleich etwas Entwendetes sein könnte, ist ja wirklich höchst befremdlich.


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8. Nachbemerkung 1979. Nicht wer verdächtig ist, wird mechanisch beobachtet und "recorded"; vielmehr gilt, wer sich der Beobachtung zu entziehen sucht, als verdächtig. Denn als verdächtig, um nicht zu sagen: als schuldig, gilt bereits derjenige, der, aus welchen läppischen bürokratischen Gründen immer, "recorded" ist.

9. "Binnentranszendenz" kann in Systemen der diversesten Art nachgewiesen werden. Alle heute als "unbewußt" klassifizierten Vorgänge gehören dazu. — Die meisten leiblichen Prozesse bleiben uns, obwohl sie sich "in uns" abspielen, ungegeben und unerreichbar, mithin "binnentranszendent". Aber "binnentranszendent" bleiben auch dem an Luftreisen, also an das Springen von Punkt zu Punkt gewohnten Zeitgenossen die überflogenen Zwischengebiete; oder dem Musiker die zwischen den diatonischen Schritten liegenden Zwischentöne. — Daß diese Spielart von Transzendenz in der Philosophie niemals behandelt worden ist, hat seinen Grund natürlich in dem theologischen Ursprung des Begriffs.

10. Durchaus möglich, daß der Triumph der transparenten (nämlich Glas-) Architektur, den wir im letzten Jahrhundertviertel miterlebt haben, mit der heutigen Deprivatisierung zusammenhängt.

11. Es ist für den Totalitarismus kennzeichnend, daß er jedes fatum in ein factum, in etwas Getanes (z.B. Judesein in eine boshafte Tat) ummünzt.

12. Diese Ausdrücke verstehe man als terminos technicos.

13. Anmerkung 1978. Die Zahl der auf der Welt existierenden Apparate hat sich seit 1958 vervielfältigt; die Qualität ungeheuer verbessert.

14. Geschrieben im Jahre 1957. Unterdessen haben sich die "Wanzen" natürlich noch weiterentwickelt.

15. Näheres siehe im nächsten Paragraphen über "Schamlosigkeit".

16. Hätte man ihm die Pathos-Chance gegeben, er hätte ausgerufen: "Die Freiheit ist in Gefahr! O nein, nicht nur meine, nicht nur die Freiheit des Verkaufs! Sondern auch die des Käufers, sein ehrlich erworbenes Geld so zu verwenden, wie es ihm beliebt! Und sind wir nicht alle Käufer und Verkäufer? Also ist unser aller Freiheit in Gefahr!" Und er hätte sich als Erwecker der Nation gefühlt.

17. "The truth about Wire Tapping" by H. E. M. Bernhard and Harry M. Kean. In: "Pageant", August 55.

18. Siehe: "Wired for Sound" by William L. Roper, "Frontier" 57.

19. Man beachte, mit welcher Selbstverständlichkeit hier Konformismus und Gesundheit gleichgesetzt werden. Diese Gleichsetzung ähnelt strukturell der nationalsozialistischen: Auch im Nationalsozialismus wurde ja politische Gleichschaltung und Zugehörigkeit zur gesunden Rasse identifiziert.

20. Die Mehrzahl der folgenden Beispiele entnehme ich demjenigen Gebiet, das seit eh und je als die Heimstätte der Tabus und damit der Scham gewesen war: dem Sexualgebiet. Es ist plausibel, daß Scham, wenn sie selbst dort abstirbt, anderswo abzusterben erst recht keine Scham hat.

21. Am kompetentesten durch Herbert Marcuse in "Eros and Civilization", The Beacon Press 1955, S. 238 ff.


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22. Übrigens gilt das nicht nur vom sanften Totalitarismus. Denn das Verhältnis zwischen "Schamlosigkeit" und "Unverschämtheit", das wir behaupten, ist, strukturell gesehen, nicht neu. Es entspricht einem Verhältnis, das uns aus offen totalitären Diktaturen geläufig ist: nämlich dem Verhältnis von Terror und voluptas contritionis. Bekanntlich hat es ja in den politischen Prozessen Sowjetrußlands immer Angeklagte gegeben (darunter völlig "unschuldige"), auf die Pressionen auszuüben, sich als überflüssig erwies; und zwar deshalb, weil die Angeklagten die Arbeit selbst übernahmen, weil sie sich selbst bezichtigten, und das sogar mit Gier und Wollust.

Zu behaupten, daß es sich bei diesen "Konfessionen" um etwas Mysteriöses gehandelt habe, ist ebenso töricht, wie dieses Benehmen medikamentös zu erklären. Dieses erklärt sich vielmehr daraus, daß die Angeklagten schon immer, also schon vor dem Prozeß, einfach auf Grund ihres langjährigen oder lebenslänglichen Parteifunktionär-Daseins deprivatisiert waren; und das so gründlich, daß sie, obwohl sie nunmehr dazu bestimmt waren, dem Terrorsystem zum Opfer zu fallen, doch noch als positive Stücke des Systems funktionierten, dieses also automatisch mitstützten. "Mysteriös" scheint ihr Benehmen allein dann, wenn man von der falschen Unterstellung ausgeht, daß die Angeklagten sich als Individuen selbst bezichtigt hätten. Gerade das aber war nicht der Fall. Vielmehr agierten sie noch immer als Teile des Terrors selbst.

23. Diese Ausdrücke verwende ich in einem Sinne, der viel breiter ist als der gebräuchliche.

 

Die Antiquiertheit der Wirklichkeit 

1. Unter dem Titel "Maschinelle Infantilisierung" vorgetragen in der Berliner Komödie am 20. November 1960.

 

Die Antiquiertheit der Freiheit 

1. Band 1, S. 102.

2. Nachbemerkung Juni 1979: Wenn die fernsehende Menschheit auf die tatsächliche Massierung einer wirklichen Masse beim Papstbesuch in Polen fassungslos (teils entsetzt, teils enthusiasmiert) reagiert hat, so weil sie bereits daran gewöhnt ist, daß Massenhaftigkeit zur bloßen Qualität ihrer selbst (der Masseneremiten) geworden ist.

In der Tat ist ja der Schrecken über die Masse als Menschenquantum (statt als- bloßer Menschqualität) nicht von einer wirklichen Masse erlebt worden, sondern wiederum von Millionen von einsam oder zweisam vor ihren Bildschirmen sitzenden Konsumenten.


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3. Daß es in der Kultur die größte Buntheit gibt, beweist nichts dagegen. Denn es gehört zum Wesen der sanften Diktatur, daß sie Felder für Nichtkonformes beläßt, Ventilprovinzen. - Freilich auch, daß sie bestimmt, welche Felder als "Ventile" frei bleiben dürfen. In Gedichten darf man mehr sagen als in Leitartikeln, um so mehr, als die Zahl der Gedichteleser nicht der Rede wert ist.

4. Das ging bekanntlich so weit, daß sie sogar ihren christlichen Glauben dadurch legitim und glaubhaft zu machen suchten, daß sie ihn in eine "Christian Science" verwandelten.

5. Wenn die Formulierung paradox klingt, so weil die Situation selbst paradox ist: weil nämlich mit "Wissen" derjenige Glaube bezeichnet wird, der nicht wissen soll, daß er nur Glaube ist.

6. Siehe S. 201.

7. Aber nicht weniger gilt, daß dieses Geheimterrorsystem seine zivile Hülle von einem Tage zum anderen fallen lassen wird und den Harnisch, den es unter dieser trägt, offen zeigen wird, wenn es das für opportun hält.

8. Es gibt neue Experimente - ob sie sich bewähren werden oder nicht, darüber sind die Meinungen noch geteilt, aber das Prinzip entscheidet - mit sogenannter "subliminarer" Bearbeitung des Menschen. Das heißt: Man beeinflußt, Leibnizisch gesprochen, mit "petites perceptions", mit unterschwelligen Reizen, von denen man erwartet, daß sie, obwohl nicht apper-zipiert, doch wirksam sein werden. Zum Beispiel mit Kauf-Imperativen, die zwischen die Bilder eines Films eingeschoben, dem Auge des Zuschauers nur so kurz dargeboten werden, daß dieser sich von ihnen keine Rechenschaft ablegt (nachher aber, so hofft man, wie unter posthypnotischem Zwang, die gebotene Ware kaufen wird). Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese oder ähnliche Methoden, wenn sie sich bewähren sollten, von der Politik übernommen werden. - "Geistesgeschichtlich" ist diese Barbarei besonders interessant: Das Subliminare, das wie gesagt eine (im Zusammenhang mit dem Begriff des "Differentials" konzipierte) Idee von Leibniz gewesen war, ging als Begriff des "Unbewußten" in Freud ein; Freud wurde (aus Gründen, die hier nicht interessieren) in Amerika zum Allgemeinbesitz. Dann stieß man auf der Jagd nach locos minoris resisten-tiae des Käufers auf sein Unbewußtes und nahm es sofort in Arbeit. Dies ist der Gang der Geistesgeschichte. Das Leibnizische Erbe ist also als psycho-technischer Trick des Massenbetrugs zu Ehren gekommen. Wahrhaftig, kein Philosoph kann voraussehen, als Diener welcher morgiger Herren er schließlich Unsterblichkeit gewinnen wird.


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Die Antiquiertheit der Geschichte I 

1. Der Begriff stammt von Marx und Engels. Beide unterschieden "ungeschichtliche" von "geschichtlichen" Völkern. Als "ungeschichtlich" betrachteten sie wohl vor allem agrikulturelle Völker, wie denn Marx das Landleben einmal "idiotisch" nannte. Polen, das ja wiederholt das Opfer "geschichtlicher Mächte" gewesen war, hat er eine eigene Geschichte nicht zugestanden.

2. Wie befremdlich diese Behauptung auch klingen mag, sie ist noch ganz harmlos im Vergleich mit der spektakulären These Plotins, daß es noch nicht einmal die Zeit immer gegeben habe. (Enn. 45, 98ff.)

3. Gegen diesen Trend der Weltgeschichte werden jene Völker, die heute erst, das 19. Jahrhundert nachholend, ihre nationale Identität zu erkämpfen versuchen, nicht aufkommen. Die arabischen und zionistischen Nationalbewegungen z.B. sind, weltgeschichtlich gesehen, absurde Anachronismen.

4. Brecht hat mit seiner Frage, von wem die Pyramiden erbaut worden seien, auf diese Unerwähntheit, damit Ungeschichtlichkeit, der Sklaven hingewiesen und durch seinen Hinweis versucht, diese nachträglich, nach 6000 Jahren zum ersten Male in das ihnen gebührende Licht der Geschichte zu rücken und dadurch, um einen Rilkeschen Ausdruck zu verwenden, zu "retten" - wovon sie freilich nicht das Geringste mehr gehabt haben.

5. Schon Zola hat ihre (nicht mit Unsittlichkeit zu verwechselnde) Sittelosig-keit, z. B. in "Germinal", meisterhaft dargestellt - was um so bewundernswerter ist, als die Schilderung einer solchen "Leere" einer lebenden Gruppe ungleich schwieriger ist als die einer in einem positiven Sittesystem funktionierenden Gruppe. ^^^^

6. Wahrscheinlich gilt das sogar von dem Proletariat; «wcÄ seiner "Machtergreifung", also in der Sowjetunion, da es ja in Wirklichkeit nicht die herrschende Klasse ist.

7. Im Zweiten Weltkrieg war die Situation anders: der Krieg gegen Hitler war wohl (mindestens auch) einer im Interesse des Proletariats.

8. Ob es um die Kinder der Bourgeoisie in dieser Hinsicht viel besser bestellt ist, darf man bezweifeln.

9. Die auf Inhalte, die ihn eigentlich nichts angehen, gerichtete Wißbegierde des Wissenschaftlers ist freilich eine Ausnahme, die nicht unterschätzt werden darf, nein der sogar philosophisch-anthropologische Bedeutung zukommt. In der Tat ist der Mensch das einzige animal, das Objekte "angeht", die es "nichts angehen"; das einzige, das nicht "beschränkt" ist, das gerne "fremdgeht", von "Transzendieren" zu schweigen. Mit seinem in der "Kritik der Urteilskraft" eingeführten Begriff der "Interesselosigkeit" hat Kant bereits in diese Richtung gewiesen.


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10. Darum waren und sind alle Gedächtnistests mit sinnlosen Silben, Zahlenkonglomeraten und dgl. völlig sinnlos, sie sagen über das Gedächtnis der Versuchspersonen garnichts aus (um so mehr freilich über die Unintelligenz der Testpsychologen). Sinnloses (z.B. Kursbücher) auswendig wissen nur gestörte Kinder. Die bezuglose Neugierde ist nur ganz selten "Altgierde", also curiositas, die auf Gewesenes aus ist. Die in der heutigen populären Sachbuch-Literatur herrschende "Archäologie-Welle" widerspricht dieser These nicht. Denn die Gegenstände dieses Interesses sind Substitute, das Interesse entspringt fast ausschließlich der Angst vor der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit. An deren Stelle setzt man uralte Fremdvergangenheit. t)ie Bilder der Auschwitzmörder werden verdrängt, in die so entstehende Lücke schiebt man die Bilder der Etrusker oder Hittiten.

11. Deren letzter Vertreter war der professionelle Hoff er Ernst Bloch gewesen, der sich durch kein Auschwitz und kein Hiroshima einschüchtern oder enttäuschen ließ.

12. Auf der Platte eines Seminartisches einer deutschen Uni fand man folgenden Vers eingeschnitten:

PRINZIP VERZWEIFLUNG ODER EINMAL ETWAS ANDERS
ernst bloch spricht:
"wir sind noch nicht."
ernster als bloch
wäre: "gerad' noch."
anders wär:
"nicht mehr."

13. Siehe des Verfassers "Endzeit und Zeitenende", S. 170ff.

14. Die Do-it-yourself-Bewegung, der Vegetarismus, die Nacktkultur und was es an Maschinenstürmereien und Rousseauismen des kleinen Mannes noch geben mag, sind nur die Eskapaden, die die Regel bestätigen. Im übrigen sind sie ohne maschinelle Hilfsmittel gar nicht durchführbar: Zum Nudi-stenstrand fliegt man, und die Rohgemüse zersaftet man elektrisch.

15. Siehe des Verfassers Fabel "Das Ende", in: "Der Blick vom Mond", München 1968.

16. Siehe des Verfassers Fabel "Die Kanne", in: "Der Blick vom Mond", München 1968. ___________^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^

17. Auschwitz, wo man Hunderttausende als bloße Behälter von Haaren und Goldzähnen einstufte und die Behälter vernichtetefum sich der Inhalte zu bemächtigen, kann man als die Probebühne für diese "reine Menschenvernichtung" (in der Tat wird die Neutronenbombe ja als "saubere Waffe" empfohlen) betrachten.


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18. Das ungeheure Anschwellen der Konservenindustrie, die ja nicht Obsoleszenz, sondern Ewigkeit, mindestens Dauerhaftigkeit, zu planen und zu erzeugen scheint, widerspricht nicht unserer These. Auch die Konserve benützen wir ja nur ein einziges Mal, auch sie verbrauchen wir ja durch Gebrauch. Davon, daß wir die "canned peaches" oder Gänseleber "schonen", davon kann also keine Rede sein. Was wir tatsächlich gewinnen, ist die nahezu freie Bestimmung des Zeitpunktes, an dem wir sie durch Gebrauch verbrauchen.

19. Das hat die sonderbare Tatsache zur Folge, daß gerade in den sozialistischen Staaten jenes "Schonen" der Alltagsgegenstände, von dem ich vorhin gesagt hatte, daß es bei uns bereits ausgestorben sei, noch nicht unmodern geworden ist; daß sich also gerade dort noch, wie jeder Reisende verblüfft feststellt, die Attitüden unserer Urgroßväter erhalten haben.

20. Umgekehrt haben die Vietnamesen die ungeheuren Metallmassen, die in Form von Bomben auf ihr Land niederregneten, als Rohstoff für ihre eigene kleine Industrie verwandt, also den Feind zugleich als Gratislieferanten benutzt. Pt<y~£ ftsf~i-

21. Freilich kann der Versuch, solche Bedürfnisse zu erzeugen, auch fehlschlagen. Wir haben es vor einigen Jahren miterlebt, wie die Millionen von Fernsehern, die durch die Vietnamkriegs-Sendungen eigentlich für diesen hatten gewonnen werden sollen, programmwidrig reagiert haben, und zwar nicht etwa nur mit Indifferenz, sondern mit Abscheu und Empörung. In der Tat hätte die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung ohne die tägliche Offerierung der Kriegsereignisse durch das Fernsehen niemals die politische Stoßkraft gewinnen können, die sie tatsächlich gewonnen hat. Diese Erfahrung widerspricht meiner im ersten Bande entwickelten Charakterisierung des Fernsehens. Die in Television gesehenen Vietnam-Greuel erreichten die Zuschauer offenbar nicht nur als "Phantome". Meine damalige Analyse bedarf einer Revision.

22. Nach dieser Darstellung der Zerstörung als Zieles der Produktion muß die Einschätzung der Neutronenbombe revidiert werden. Offenbar ist diese, die Produktewelt schonende, Waffe für unsere heutige Situation gar nicht so charakteristisch, wie es gewöhnlich angenommen wird: vielleicht sogar geradezu ein Irrweg - was ihre Erfindung und ihren eventuellen Einsatz natürlich um nichts besser macht. Es würde mich aber durchaus nicht überraschen, wenn übermorgen die "negative Neutronenbombe" erfunden werden würde, deren Auswahlprinzip dem der heutigen Neutronenbombe entgegengesetzt wäre: die also - was viel besser dem Interesse der Industrie dienen würde - ausschließlich Produkte vernichten und auf die Liquidierung von Menschen keinen sonderlichen Wert legen würde. Schon heute kann ich die "humanistische" Rechtfertigung dieser Erfindung hören. - ^^^^^^

23. "Endzeit und Zeitenende" S. 183.


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24. Jawohl, wir dürfen ihn einen "Halbgott" nennen, und das nicht nur aus dem formellen Grunde, weil ihm zugleich menschliche Gestalt und übermenschliche Kraft zukommt, sondern aus dem spezielleren Grunde, weil er das Pendant des wichtigsten Halbgottes der Antike ist: nämlich des Prometheus: weil er als Prometheus von heute das uns aus der Hand gesunkene Feuer (angeblich) wieder zurückgebracht hat. - Die Klassifizierung ist auch deshalb rechtmäßig, weil er, wie fast jeder etwas auf sich haltende Gott oder Heros, als Ausgewachsener zur Welt gekommen, und seit damals überhaupt nicht gealtert ist. Soweit man heute "ewig" sein kann, ist Superman das -das heißt: er wird uns, solange unser technisches Zeitalter und damit die Menschheit und die Welt überhaupt bestehen werden, begleiten.

25. Auch das hat Superman mit allen mythischen Figuren gemein, daß sein Erfinder (im Unterschied zu allen Bildern seit dem ij. Jahrhundert) anonym bleibt. Selbst wenn dessen Name eruiert werden könnte (was vermutlich möglich wäre, da er den von ihm erfundenen Gott - keinem Gotte vor ihm ist diese Ehre erwiesen worden - durch eine Copyright-Nummer geschützt hat): für die Millionen seiner Bewunderer und Anhänger blieb der Name des Erfinders irrelevant, da sie die Figur als eine betrachten, die es schon seit ihrer frühen Kindheit, nein, wohl seit eh und je, gegeben hat.

26. "Endzeit und Zeitenende" S. 155.

27. Außer wohl in der kommunistischen Welt - für diese ist der amerikanische Gott, der politisch immer sehr systemfreundlich gewesen war und während des kalten Krieges keine Hand vor den Mund, bzw. vor die Sprechblase genommen hatte, natürlich politisch untragbar. Ob es in der stark anschwellenden (und zum Teil sehr geistvollen) sowjetrussischen und polnischen Science-Fiction-Literatur eine Pendant-Figur zu Superman, also eine Figur der menschgewordenen Technik gibt, ist mir unbekannt.

28. Nicht nur im zeitlichen Sinne.

29. Sogar die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus ist ja, soweit es möglich war, diskret durchgeführt worden. Aber daß sie überhaupt hat durchgeführt werden können, daß normale Zeitgenossen, Leute wie meine Nachbarn, gewissenhaft Millionen ihresgleichen hatten umbringen können, diese Tatsache bliebe, wenn unsere Imperative nicht anerkannt wären, schlechthin unbegreiflich.

30. Freilich scheint das "epochale Ereignis" MyLai schon heute, nur drei Jahre nach dem Höhepunkt der globalen Publizität des Falles, vergessen, das heißt: verdrängt, sogar in tiefere Tiefen verdrängt zu sein, als das 25 Jahre zurückliegende Auschwitz. Im übrigen hatte es natürlich schon vorher zahllose MyLais gegeben, und vermutlich haben sich auch nach dem berühmten Fall noch zahllose weitere abgespielt. - Daß gerade der eine Fall solche Publizität erreicht hat, ist reiner Zufall gewesen.

31. Freilich handelt es sich dabei nicht um einen echten Imperativ, sondern um eine Lizenz, um eine Anrechtsanmeldung.

32. Natürlich suchte man die Schuld ausschließlich einem "little fish", eben dem genannten Calley, anzuhängen. Aber selbst wenn man so fair gewesen wäre, die Verantwortung auch in höheren Rängen zu suchen und diesen zuzuweisen, die wirkliche, die "technologische", Bewandtnis des Falles wäre damit nicht erhellt worden.


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Die Antiquiertheit der Geschichte II 

1. Auch die kolossalen Hochhäuser im Konditorstil, die man vor dreißig Jahren in die Hauptstädte des Ostblocks hineingepatzt hatte, und die zwar (denn Architektur ist Schicksal) noch lange werden stehen müssen, aber die doch auch dort schon als Zeugen (namentlich der aufgedrängten Sowjetmacht) behandelt werden, die man nicht mehr gerne vorzeigt, die also auch dort schon der Vergangenheit anzugehören versuchen - auch diese Bauten waren primär nicht als Werbe-Objekte gemeint. Ihre Gestik war nicht so sehr die der Verlockung, als die der Einschüchterung. Selbst die erbärmlichen Ornamente, die diesen gigantischen Eisbomben angekitscht wurden, dienten nicht der Attraktion, sondern nur der Machtprotzerei. Sie gleichen jenen Medaillen, mit denen sich Stalin (der sie sich selbst verliehen hatte) gerne photographieren, oder, um die "Kultur" vollzumachen, abpinseln ließ.

2. Auch bei uns beginnt übrigens die Kategorie "modern", die erst sehr spät im 19. Jahrhundert aufgetaucht ist (bei Nietzsche klingt sie noch modern) und nur wenige Jahrzehnte lang "modern" gewesen war, unmodern zu werden. Sartres direkt nach Kriegsende für seine Zeitschrift verwendeter Titel "Temps Modernes" war damals schon ebenso unmodern wie Chaplins Filmtitel "Modern Times". An die Stelle des unmodern gewordenen Wortes "modern" ist das weniger anspruchsvolle "neu" getreten. Der Sozialismus hofft nicht auf einen "moderneren", sondern auf einen "neuen" Menschen. Das Unmodernwerden des Begriffes "modern" begann bereits vor einem halben Jahrhundert, Beispiele: "Neue Sachlichkeit", "nouvelle vague", "new look".

3. Über die unerwachsene Reaktion darauf: die "Blue Jeans" und deren Prinzip: "Nur Getragenes, nein Abgetragenes, ist up to date', siehe S. 283 ff.

4. Auf dieses Ressentiment spekulierte der Nationalsozialismus, der die Moderne dort, wo sie vergleichsweise unwichtig war: also in der Kunst (nicht in der Technik), der Volkswut preisgab.

5. Dieser machte freilich zwecks Irreführung das ganze Volk zur Elite - für die er eine Folie der Nicht-Elite, des "Ungeziefers", brauchte. Als Folie sind Millionen Sklaven und Juden liquidiert worden. Dazu siehe des Verfassers "Besuch im Hades", München 1979, S. 212.

6. Siehe S. 279.


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Die Antiquiertheit der Geschichte III 

1. Die Berufung auf Freud als Autorität stellt, da dieser die Anerkennung und Einhaltung von Tabus als Voraussetzung der Zivilisation bejaht hat, ein kolossales Mißverständnis dar.

2. Manche Werbebilder versprechen den Berufsvoyeurs, die den Schritt in den wahren Konsum aus finanziellen oder sexualpathologischen Gründen nicht tun können, die also ewig im Provisorium des bloßen Schauens verharren, Bilder, durch die sie auf ihre Art auf ihre Kosten kommen werden. Ich denke da z.B. an die vor Pornokinos ausgestellten Lockphotos (die sogenannten "stills"), die gewissermaßen Bilder der "wirklichen Bilder", der "pictures" oder die Wegweiser zu diesen sind (die nun ihrerseits wieder durch "commercial spots", also durch Reizbilder von anderen Waren oder für andere Waren durchsetzt sind). - Sowohl in den Augen der Produzenten als auch in denen der Kunden gilt das bloße Anschauen der "pictures" als deren eigentlicher Konsum. Die "stills", selbst Bilder, werben also für Bilder. - Daß sich die "Iteration der Abbildung", die Plato bereits, freilich mit völlig anderen Absichten, formuliert hatte (gemalte Bilder der Welt seien eidola von eidola), heute wiederholt, ist höchst merkwürdig. (Dazu siehe die philosophische Glosse "Die Antiquiertheit des Materialismus") - Vor kurzem habe ich in einer Ausstellung "Geschichte des Plakats" Werbebilder aus den Zwanziger Jahren gesehen, die (da die propagierten Produkte unterdessen ausgestorben waren) kein Wozu mehr hatten und sich dadurch in Kunstwerke verwandelt hatten. Viele Bilder religiösen Inhalts entsprechen heute diesen Plakaten.

3. Ich kann mich noch daran erinnern, daß in den ersten Jahren nach der bolschewistischen Revolution in reaktionären Blättern Europas und der USA diese mit "Weibergemeinschaft" identifiziert wurde. "Gruppensex" ist ganz woanders zur Sitte geworden.

4. Siehe oben: "Die Antiquiertheit des Aussehens", S. 37ff.

5. Daß es den Nationalsozialisten so viel besser gelungen ist als den russischen Machthabern, Werbeveranstaltungen durchzuführen, hat seinen Grund darin, daß jene bereits auf die Werbe- und Ausstellungstechniken des Kapitalismus zurückgreifen konnten; und weil sie nicht erst durch Degeneration ihrer Prinzipien, sondern prinzipiell und ab ovo, Betrüger waren. Von den überwältigenden Massenexhibitionen des Ufafilms "Metropolis" zu den Riefenstahlschen der Nürnberger Parteitage war es nur ein sehr kleiner Schritt - was Fritz Lang, der Regisseur des bombastischen Ufa-Films, den ich im Jahre~ 1940 auf die frappierende Ähnlichkeit aufmerksam machte, stumm nickend zugegeben hat.


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Die Antiquiertheit der Phantasie 

1. Zuerst veröffentlicht in "Die Sammlung", März 1955.

 

20  Die Antiquiertheit von Raum und Zeit

1. Zuerst veröffentlicht in Scheidewege, Jg. 1972, Heft 3.

2. Darin liegt die relative Wahrheit der Heideggerschen Koordination von Zeit und Sorge. Freilich hat Heidegger das wirkliche Bedürfnis des Menschen unterschlagen und in die höchst undurchsichtige "Sorge" umgemünzt, also an die Stelle der Koordinierung Bedürfnis-Zeit die Koordinierung Sorge-Zeit gesetzt - was er wohl nicht nur deshalb getan hat, weil es seinem ontologischen, dem Menschen eine Sonderstellung garantierenden Ansatz widersprochen hätte, wenn er den Menschen als etwas Ontisches dargestellt hätte, als ein Stück Welt unter anderen, als eines, das, um zu sein, die Einverleibung oder Gegenwart anderer Stücke Welt benötigt; sondern vor allem wohl deshalb, weil dieses Zugeständnis ihn in eine gefährliche Nachbarschaft zum Materialismus gebracht hätte. (Dazu siehe des Verfassers: "On the Pseudo-Concreteness of Heideggers Philosophy", in: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. III, S. 337ff.).

3. Siehe dazu Band 1, S. 292.

4. Band i,S. 98ff.

5. Überflüssig, zu betonen, daß das "Andere" nicht als "Nicht-ich" auf Fichtesche Manier "gesetzt" wird. Vielmehr ist es durch die Tatsache des Bedürfnisses immer schon vorausgesetzt, denn der Hunger weiß von der Möglichkeit der Hungerstillung, also vom Dasein des Anderen; der Hunger beweist das Brot, die Lunge die Luft, der Durst die Mutterbrust. Der Gedanke, daß der von der Mutter in die Welt gesetzte Säugling die Mutter als Nicht-ich "setze", wäre absurd.

6. Vermutlich gelten unsere Analysen nur für Wesen, die die Raumbewegung kennen bzw. benötigen. Grob gesprochen also nur für Tiere, nicht dagegen für Pflanzen, die in gewissem Sinne ein Schlaraffendasein mit allen dessen Vor- und Nachteilen führen, da sie dasjenige, was sie benötigen, ihre "desi-derata", sofern sie diese finden, dort finden, wo sie sich aufhalten; diese also gegenwärtig haben; freilich wenn sie diese dort nicht haben, zugrunde gehen. Oder die (etwa bei Befruchtung) auf anderes: Wind oder Insekten, angewiesen sind.


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21   Die Antiquiertheit des Ernstes 

1.  Zuerst veröffentlicht in Merkur, April 1969.

2.  Diese Behauptung hat unterdessen (März 1969), drei Monate nach der Niederschrift, durch die weitere dialektische Entwicklung der Situation ihre hundertprozentige Wahrheit eingebüßt. Am 27. Februar 1969 hat nämlich das "Establishment" den ersten Versuch unternommen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, also ebenfalls mit Happenings zu arbeiten - was am Tage der Ankunft Nixons in Rom geschehen ist. Die römische Polizei hat die gegen den Aufenthalt des amerikanischen Präsidenten protestierenden Studenten mit rotem Wasser bespritzt, so daß nun diese wie Blutende aussahen und, da sie nicht recht wußten, ob sie wirklich bluteten oder nicht, ihre Orientierung verloren. - Daß Studenten, denen wirkliche Waffen nicht zur Verfügung stehen (denn die obsoleten Pflastersteine können beim heutigen Stand der Waffenproduktion als Waffen nicht klassifiziert werden) aus Verzweiflung "Spielen" als Methode verwenden, ist verständlich. Moralisch deprimierend ist es aber, daß die Polizei mitspielt. Während die Studenten deshalb spielen, weil sie über ernste Waffen nicht, verfügen und mehr, mindestens im Augenblick, nicht leisten können, spielt die Polizei deshalb, weil sie sich das leisten kann, nämlich genau weiß, daß sie im Notfall immer auf richtige Waffen zurückgreifen kann.

 

Die Antiquiertheit des Sinnes 

1. Siehe des Verfassers "Endzeit und Zeitenende", S. 158 ff.

2. Ich vermeide das zur Scheidemünze gewordene Wort "Entfremdung". Und zwar deshalb, weil es in den Ohren derer, die auch nur ein Minimum an Sprachgespür haben, genau das Gegenteil dessen anzeigt, was es sagen will: analog zu "Enteisung" oder "Entschuldigung" scheint es ja auszusagen, daß etwas seiner Fremdheit entkleidet werde. Daß der Ausdruck sich so lange hat halten können, nein, heute inflationär geworden ist, ist unbegreiflich. Oder leider begreiflich.

3. Wie paradox es auch klingen mag, als vollends sinnlos empfinden wir uns dann, wenn wir arbeitslos, also von der sinnlosen Arbeit ausgeschlossen sind. Denn dann wissen wir ja sogar nicht mehr, was wir tun sollen, nicht nur nicht,5wie in der guten alten Zeit der Beschäftigung, was wir tun. In der Tat scheint aus der Arbeitslosen-Perspektive die Zeit des Arbeitens, des (was Sinnloses immer) Arbeiten-Dürfens als sinnvoll. Aber damit greifen wir vor.


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4. Eng damit zusammen hängt das Sinnlosigkeitserlebnis, das dann einsetzt, wenn ein loyaler Bürger des "Mittel-Universums" auf Stücke, zumeist der Natur, stößt, die offensichtlich für nichts "Mittel" sind. "What is it good for?" stöhnte frustriert mein Nachbar, als wir die polare Eiswüste überflogen. (Siehe "Die Antiquiertheit von Raum und Zeit", in diesem Band S. 335 ff.) Die Tatsache, daß es etwas gab, was nicht "für etwas" da war, die fand er nicht nur unerträglich, sondern unmoralisch. Sie schien ihm Verschwendung.

5. Auch ich bewundere die Kraft und Tapferkeit, mit der Frankl das Grauen der Konzentrationslagerjahre durchgehalten hat. Aber das kann nicht bedeuten, daß wir die aus den Erfahrungen gezogenen theoretischen Konsequenzen für tabu halten dürfen oder gar müssen.

6. Brot und Sinn stehen für uns alleine dann im Vordergrunde, wenn sie nicht da sind. Diesem höchst wichtigen "Primat des Negativen" für das Bewußtsein können wir hier nicht nachgehen. Sinn ist "sinnvoll" und erlebbar allein in seiner Negation. Der Satte ist sich seines Nicht-Hunger-habens nicht so bewußt, wie der Hungrige sich seines Hungers bewußt ist. Sattsein nagt nicht. Analog: der glückliche Mensch ist sich seines "Sinns" nicht so bewußt, wie der Unglückliche sich seiner Sinnleere bewußt ist. Unsere Großmütter, denen eine Handvoll von Kindern an den Rocksäumen hingen, hatten nicht nur keine Zeit dafür, nach dem Sinn ihres Lebens zu suchen, sie wären auch gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß es einen solchen haben sollte. Hunger und Krankheit fürchteten sie, aber nicht Sinnleere. Die ist Luxus.

7. Alle diese Hobbies bleiben grundsätzlich - das ist ihre raison d'etre - hinter dem technologischen Stand der heute üblichen Arbeit zurück, sie sind gewissermaßen absichtlich rustikal. Denn bei der Ausübung der Hobbies sollen wir ja - das ist deren Sinn - dasjenige genießen dürfen, was uns in der "seriösen", der wirklichen, Tagesarbeit mißgönnt bleibt: nämlich das Eidos unseres Tuns vor uns zu sehen und zu verwirklichen.

8. Siehe meine Analyse des Fernsehens im 1. Band, S. 97 ff.

9. Siehe in diesem Band S. 131. - Zuerst veröffentlicht in Merkur, März 1963.

10. Auch die freilich wähnen nur, das spontan zu tun,, denn ohne mafiahafte Organisationen, die ihnen Mittel zuspielen und die sie manipulieren, gäbe es auch die dritte Gruppe nicht.

11. Unter diesem Gefühl, das ein wichtiges Kapitel in der (von mir vor 25 Jahren vergebens als Desiderat angemeldeten) "Geschichte der Gefühle" zu spielen hätte (siehe Band 1, S. 311 ff.), haben nicht etwa nur kleine lar-moyante Romantiker gelitten, sondern Männer von der Größe und Verschiedenheit wie Byron und Heine (von Schopenhauer zu schweigen). Keine Frage: dieser Affekt stellte die erste Manifestierung des Gegengefühls gegen die damals in Philosophie, Naturwissenschaft und Technik aufblühende Progreß-Euphorie dar.


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12. Aus dem Dresdener Revolutionär Wagner wurde der Komponist des Tristan, dieser hatte seine politische Indignation in Sehnsucht verwandelt, und zwar in eine grundsätzlich unerfüllbare, die (eben da sie unerfüllbar blieb) so ungeheuer anschwoll, daß sie die Sehnsucht der ganzen Welt darzustellen schien. Und dieser ungeheueren, unerfüllbaren Sehnsucht gewann er (da sie eben nur Lust auf... also endlos, und nicht Lust an ... also zeitlich limitiert war) so unendliche Süße ab, daß selbst wir, die total desillusionierten und den Mechanismus der Falschmünzerei längst schon durchschauenden Ururenkel noch heute, 125 Jahre später, gegen sie nicht gefeit sind.

13. Auch sie verleihen ihrer Qual musikalischen Ausdruck. Denn in der Rockmusik (auch früher schon im Jazz) imitieren sie ja den tosenden Lärm und den gegen den Humanrhythmus verstoßenden synkopischen Dingrhythmus der Maschinen, um sich orgiastisch mit diesem zu identifizieren.

14. Schon im Jahre 1959 habe ich dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly von der ihm in einem Veterans Hospital aufgezwungenen Einnahme von Chemikalien gegen seine politischen und moralischen Skrupel abgeraten. - Was dem Kranken befohlen wird, das wird dem Gesunden erlaubt. Aber im Zeitalter des "Sanften Terrors" ist solches Erlauben immer schon eine Art von Nahelegen (siehe des Verfassers "Off limits für das Gewissen", 1960 passim).

1 j. Zusätzlicher Grund dafür, daß sie statt vom Dasein der Leiden vom Dasein als Leiden ausgehen, ist die Tatsache, daß sie in der Mehrzahl der Bourgeoisie entstammen, für die physische Leiden keine vordergründige Rolle spielt, bei der weder der Magen noch der Sex verhungert. Wo bei ihnen physisches Leiden auftritt, ist dieses vielmehr immer die Folge der Sinnleere-Krankheit: der Wozu-Frage entfliehend, greifen sie zu Drogen, durch die sie dann verkommen oder wirklich umkommen. Die heutigen Lumpenproletarier, wie man sie etwa in New Yorker oder Berliner U-Bahnhöfen beobachten kann, entstammen so wenig dem Proletariat wie die Terroristen. Man sollte den Terminus "Lumpenbourgeoisie" einführen.

16. Diese bleibt übrigens, trotz ihrer (in der Weltgeschichte erstmaligen) totalen De-Tabuisierung, aufs sonderbarste unpersönlich und liebefern. Die Partner sind austauschbar wie Pillen, was in Suchanzeigen nach anderen Paaren mit trockener Offenheit zugegeben wird. - Aber da kein Orgasmus so lange anhält wie ein Drogentrip, kann kein Partner mit Drogen konkurrieren.

17. Jawohl: trivial. Denn die Sektengründer sind durchweg Viertelgebildete, die Mystik ist zu einem Mittelstandsphänomen heruntergekommen, und die Anhänger der Sekten sind, nicht obwohl, sondern weil sie Sektenblättchen lesen, Analphabeten.


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18. Ehe ich in meine eigentlichen Überlegungen einsteige, schicke ich etwas Grundsätzliches über den Sinn des Wortes "Sinn" voraus. Man macht es sich nämlich gewöhnlich nicht klar, daß das Wort in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird, daß die zwei Bedeutungen aber nicht voneinander unterschieden werden, und man sich dadurch in den unauflösbarsten Unsinn verstrickt. Die Klärung des Begriffs hat eine weit mehr als linguistische Bedeutung. - i. Man spricht davon, daß Etwas (a), z.B. ein Teil, einen Sinn habe für ein Anderes (A), z.B. ein Ganzes. Und 2. daß ein Etwas (A), z.B. ein Ganzes, der Sinn eines anderen Etwas (a), z.B. eines Teiles, sei. Offensichtlich sind die zwei Verwendungen des einen Wortes verschieden. Genauer: sie stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander. Damit meine ich, daß wenn ein Etwas (a) für ein anderes Etwas (A) einen Sinn hat, dies A der Sinn von a ist. Beispiel: eine Taste hat einen Sinn für das Klavier (und wäre ohne dieses ein sinnloser Gegenstand, ein kafkaeskes Odradek). Das Klavier ist deren Sinn. Der Teil hat Sinn fürs Ganze; dieses ist dessen Sinn.

19. Nur Hegel hat, Kontingentes apriorisierend, die tollkühne Frage nach dem Sinn der ägyptischen oder der römischen Zivilisation gestellt, das heißt: nach der Rolle, die diese Zivilisation in der zur Entwicklung des Weltgeistes hochgejubelten Menschengeschichte gespielt haben. Und sogar geglaubt, diese Fragen beantwortet zu haben.

20. Heidegger, der als letzter nach dem Sinn des Menschen gefragt hat - denn er hat ja diesem die ontologisch abenteuerlich unbescheidene Rolle eines "Hirten des Seins" zugesprochen, ist auch noch ein Enkel des alttestamentarischen Anthropozentrismus. - Seine These, ein Jahrhundert nach dem "Origin of Species", stellt die äußerste Spitze von Antinaturalismus dar, die es in der nicht-religiösen Philosophie von heute gibt. Offenbar gehört der Mensch, wenn er ontologischer "Hirt" ist, nicht zur Herde des Seienden, das heißt: nicht zur Natur. Das ist freilich nur harmlos und metaphysisch komisch. Gefährlich dagegen und furchtbar ist die letztlich ebenfalls auf Genesis I beruhende "Metaphysik des Industrialismus", die dem Menschen den "Sinn" zuerteilt, "Ausbeuter des Seienden" zu sein und den Sinn des Seienden darin sieht, Rohstoff für den Menschen zu sein.

21. Die unsichere, oft plötzlich ins Dilettantisch-Theologische umkippende Reaktion mancher Naturwissenschaftler auf die durch die Quantentheorie verursachte "Kausalitätskrise" können wir hier nur erwähnen.

22. Die Tatsache, daß wir heute radikal sowohl das AUerallgemeinste auf seinen Sinn hin befragen (mit Schelling und Heidegger: "Warum ist Seiendes und nicht vielmehr nichts?"), als auch das Allerpartikularste ("Wozu bin ich eigentlich da?"), macht es deutlich, daß wir beides, und damit alles, als kontingent, mithin als negativ, empfinden: als Tatsachen, die der Rechtfertigung bedürfen, ebenso bedürfen, wie in den Augen Leibnizens oder Voltaires Naturkatastrophen einer Rechtfertigung bedurft hatten. -


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Die klassischen Antworten (Plotins) sowohl wie die modernen (Leibnizens) sind beide auf die niemals ganz redlich klingende Beteuerung hinausgelaufen, daß keine Welt, die nicht auch Schlechtes enthielte, Bestand haben würde, daß das Böse die Hefe sei, ohne die der Teig nichts tauge; daß es stets, mit Goethes Faust, "das Gute tue"; daß die Böses enthaltende Welt die beste aller möglichen Welten sei; schließlich daß die Freiheit zum Bösen der Preis für die (positive) Freiheit des Menschen sei.

Ohne diese Antworttradition hätte es niemals zu Hegels "Sinn" und "Negativität" so eigentümlich vereinigendem Optimismus kommen können. Seine Philosophie ist die Krönung einer Tradition der Unredlichkeit gewesen. 23. Tun wir das nicht, dann läuft der Gedanke so: Wenn es etwas Letztes gäbe, in dem ein Vorletztes seinen "Sinn" sähe, dann dürfte von diesem Letzten nicht mehr ausgesagt werden, daß es einen Sinn "habe", da es ja Sinn nur "wäre" - was immer die tiefsinnig klingende Floskel "Sinn sein" bedeuten möge. Tatsächlich hat niemand außer Hegel nach dem "Sinn des Ganzen" gefragt oder gar wie dieser die Tollkühnheit oder die metaphysische Naivität besessen, die Frage angeblich zu beantworten. Aber dessen Antwort "Die Selbstverwirklichung des Geistes" ist gegen die Iterationsfrage natürlich auch nicht gefeit. Die Frage, welchen Sinn diese Selbstverwirklichung denn haben solle, und für was, ist ebenso berechtigt, wie sie unbeantwort-bar ist. Gott gegenüber hat man die Frage, welchen "Sinn" er habe, niemals gestellt. Eben deshalb niemals, weil es nichts Höheres mehr gäbe, für das er Sinn haben könnte. (Was nicht verhindert hat, daß es zahllose Drugstore-Bücher mit dem schamlosen Titel "The meaning of God" gibt.)

 

Die Antiquiertheit der Bosheit 

1. Siehe in diesem Band "Die Antiquiertheit der Maschinen", S. 110.

2. Mir ist übrigens keine einzige, über feierliche Trivialitäten hinausgehende, Stellungnahme religiöser Organisationen bekannt. Nicht anders als das soziale Problem werden sie auch das Problem Technik ein Jahrhundert zu spät "entdecken", um dann nichtsdestotrotz darüber ex cathedra zu predigen. Das Problem des Überlebens ist zu ernst, als daß man es den Spezialisten für Ewiges Leben überlassen dürfte.

3. Über die Erschaffung von Neuem durch den Menschen siehe S. 22.

4. Siehe des Verfassers "Endzeit und Zeitenende", Motto.

5. Siehe des Verfassers "Schrift an der Wand", S. 272.

6. Vergil, Aeneis III604.

7. "Endzeit und Zeitenende", S. 2ioff.


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Methodologische Nachgedanken    Seite 411-429    

 

1)  Das gilt auch schon - aber darauf können wir hier nicht eingehen - naturphilosophisch. In der Tat ist es unmöglich, die Welt (wie wir es im Unterschied zu den Griechen tun) als zwar unendliche, aber doch als eine, gar als ein System zu denken. Ebenso unmöglich ist es, die Welt (wie wir es seit Hegel tun) als Prozeß, und trotzdem als Ganzes, gar als wohlgeordnetes Ganzes, also als "Kosmos" zu meinen. - Ganz abgesehen davon, daß dieser Prozeß - das ist unbeurteilbar - vielleicht ein Desintegrationsprozeß sein könnte; was bedeuten würde, daß wir dem "Ganzen" nicht mehr den gleichen "Seinsgrad" zusprechen dürften wie den particularia, in die das "Ganze" vielleicht zerfällt; und daß die Einzelwissenschaften "wahrer" wären als die Philosophie.

2)  Neben dieser Messianisierung von Preußen war Heideggers Ja zum NS-Regime ein ephemerer Opportunismus.

3)  Wenn man der Genealogie des Systems nachgehen würde, dann würde man wohl auf einen politischen Ursprung stoßen. (I) Das erste System war vermutlich der in sich geschlossene, hierarchisch geordnete, gesetzmäßig funktionierende Stadtstaat. Angesichts dieses wurde die Kategorie wohl gestiftet. (II) Aber aus der Politik sprang der Begriff nicht direkt in die Philosophie über, da es diese als Tätigkeit, geschweige denn als "Fach" sui generis erst spät, und durchaus nicht überall, gegeben hat. Vielmehr diente das Bild des Staats erst einmal als Paradigma für das Planetensystem; in diesem endlichen System - ich betone: "endlich", ein System des Unendlichen ist eine contradictio in adjecto - stellte man Ganzheit, Gesetz und Harmonie fest. 

Daß selbst wir noch von "Natur-Gesetze«" sprechen, so als gäbe es in der Natur etwas Herrschendes, und ein Verhältnis von Befehl und Gehorsam, ist kein Zufall. Gleichviel, zum System von Doktrinen kam es allein deshalb, weil deren Gegenstand: der Himmel mit dessen Zentrum "Sonne", als "System" verstanden, oder, wie man glaubte: erkannt war. Dann (III) reichte die Astronomie (bzw. Astrologie) den Begriff an die Philosophie weiter, sofern man von "Weiterreichen" reden darf oder zu reden braucht, da es unmöglich ist, eine Grenzlinie zwischen Astronomie und philosophischer Kosmologie zu ziehen. Jedenfalls stiftete die Kosmologie das Modell des endlichen, geordneten, in sich stimmigen Kosmos. Die Abbildung dieses Modells ist das, was wir auch heute noch ein "philosophisches System" nennen. Sonderbarerweise hat sich diese Form von Philosophie - und damit machen wir einen weiteren Schritt (IV) - auch dann noch erhalten, als der politische und der astronomische Ursprung der Philosophie bereits unwirksam geworden war. Und sonderbarerweise auch dann noch, als das Universum ausdrücklich nicht mehr als endlich, sondern als unendlich, also nicht


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mehr als "Kosmos", sondern eben als "Universum" gemeint war. Wenn sich aber das Modell "System" trotz äußerster Veränderungen der philosophischen Inhalte im Abendland erhalten hat, so deshalb (V), weil "Welt" in der jüdisch-christlichen Überlieferung nicht nur als harmonisches Endliches, sondern als geplante Schöpfung, und die Geschichte nicht als Zyklos, geschweige denn als waberndes Sich-verändern verstanden wurde. "System" waren Welt und Geschichte nun also deshalb, weil diese von Gott geplant waren und sogar - was ja dem Begriff sehr entgegenkam - als ein zeitlich begrenztes Geschehen. Und wenn Philosophien "systematisch" blieben, so deshalb, weil die Philosophen Gottes Planung "nach-dachten" -dieses Wortspiel kommt bei Hegel bekanntlich vor. Ob freilich das System im Planen und Verwirklichen der Welt (also in etwas "Geistigem") oder in der geplanten und verwirklichten Welt bestand, das blieb zweideutig, da ja nichts als so seiend anerkannt wurde, wie der Planer, also Gott. - 

Bis sich (VI) der Gottesbegriff zum bloßen "Prinzip" verdünnte, von dem, wie gesagt, nicht mehr ausgemacht werden konnte, ob es ein Prinzip des Seienden darstellte oder ein Prinzip (oder Prinzipien) des Geistes - diese, von der Theologie geerbte Zweideutigkeit ist von Hegel noch einmal ausdrücklich durch die Identifizierung von Geist und Wirklichkeit besiegelt worden. Aber der Systemgedanke hielt sich auch dann noch, als der Hegeische Geistbegriff zugrundegegangen war. Denn nun (VII) wurde die Welt als kolossales Abbild der von Menschen entworfenen, konstruierten und kontrollierten Systeme, der wirklich optimal geschlossenen Systeme, in denen jedes Systemstück jedes andere mitbedingt und von jedem anderen mitbedingt wird: der Maschinen. Daß die Welt als geschlossenes Kausalitätssystem trotz ihrer Unendlichkeit galt, ist höchst merkwürdig. - Bis (VIII) der Anspruch der Kausalität auf Allgemeingültigkeit in eine Krise geriet. Ob auch nach dieser Krise der Systemgedanke noch aufrechterhalten werden kann, oder ob dieser durch diese Krise sein endgültiges Ende erreicht hat, das zu beurteilen, entzieht sich meiner Kompetenz.

 

4)  Welch tiefe Kluft zwischen der vorigen Generation und der unseren! Mein Vater hatte noch das unselige Wort "Psychotechnik" geprägt, wenn er auch nicht wie seine Kollegen damit prahlte, entdeckt zu haben, daß die Seele technisch bearbeitet werden könne. Wir dagegen meinen, wenn wir von "Technikpsychologie" sprechen, die Untersuchung und die Kritik des Einflusses, den die bestehende Technik auf den Menschen ausübt.

5)  Das gilt selbst von den zwei angeblich total abstrakten Wissenschaften der formalen Logik und der Arithmetik. Die formale Logik setzt nicht nur voraus, daß es soetwas gebe wie Denken, sondern auch, daß es etwas gebe, von dem etwas ausgesagt werden kann. In einem - sit venia verbo - "akosmischen Raum" wäre es nicht nur nicht möglich, sondern nicht sinnvoll, ein Urteil zu fällen. Was aber Arithmetik betrifft, so setzt diese eine pluralistische Welt voraus, eine, zu deren Wesen es gehört, daß sie in Mehreres, d.h.: Abzählbares zerfällt. Logik enthält unausgesprochene Ontologie. - In einer eleatischen Seinskugel gäbe es keine Arithmetik. Zu behaupten, daß die "noemata" der Arithmetik ohne jede, diese meinende, noesis "dawären", und ihre Sätze, auch wenn sie niemals gedacht werden könnten, "gelten" würden, ist ein Nonsens, dem der frühe Husserl häufig sehr nahe gekommen ist.


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6)  Die einzige rühmliche Ausnahme war die Berufung 1959 an die Berliner "Freie Universität", die ich nicht angenommen habe. => Seite 418 (§ 2) 

7)  Eine solche These gab es in Molussien, wo es sowohl bedeutete, "daß das Seiende sich zusammennehme", wie auch, daß es "sich schäme".

8)  Daß gegen diese Ausdruckslosigkeit, die offenbar als frustrierende Insuffizienz empfunden wird, Protest laut wird, ist wahrhaftig begreiflich. Schon vor der Jahrhundertwende hat, wie ich in einer umfangreichen Studie im Jahre 1951 nachgewiesen habe, der Jugendstil einen solchen Protest gegen die Ausdruckslosigkeit der Welt dargestellt und sich verzweifelt darum bemüht, die ausdruckslosen Objekte in reine Ausdrucksträger zu verwandeln. Die unbegreiflicherweise oft "unbegreiflich" genannte Renaissance dieses Stils, die etwa um 1950 einsetzte, entsprang der gleichen Frustration.

9) Auch diese Tatsache ist von den Künsten "positiviert" und zum Gegenstande ihrer Produktion gemacht worden. Seit etwa 1960 gibt es bildende Künstler, die nicht nur Gegenstandsloses darstellen, sondern die sogar bewandtnislose Gegenstande herstellen: namentlich bewandtnislose Maschinen konstruieren, die, da ihnen genau so wenig anzusehen ist, wozu sie dasind, wie richtigen Maschinen, genau so wie diese aussehen; aber nun nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich ohne jede Bewandtnis funktionieren. Diese irrsinnigen Maschinen (wie Kunstwerke, nein: als Kunstwerke in Galerien ausgestellt) symbolisieren die Unerkennbarkeit der wirklichen Maschinen. Und dadurch sagen sie tatsächlich etwas Wesentliches über unsere heutige Welt aus. - Analoges gibt es seit einem Vierteljahrhundert auch in der Musik.

10)  Es gibt einige Ausnahmen. So sieht, wer etwas Phantasie besitzt, den Autos an, daß diese ihre Fahrer in (im Vergleich mit Buspassagieren) skrupellose, wettrennsüchtige Wesen verwandeln, in Wesen, die für den Appell zur Solidarität taub werden werden. Es gibt wohl kein Ding, das der Arbeiterbewegung einen so unrevidierbaren Schaden zugefügt hat wie das Auto.

11)  Die einzige Ausnahme bildet die sogar schon in die Welt der cartoons eingedrungene Beschäftigung mit der Gen-Manipulation.

12)  Siehe S. 335 ff

13)  Siehe Bd. 1, S. 188 ff

14) Siehe des Verfassers "Der Blick vom Mond" S. 82 ff

15)  Siehe in diesem Band "Der sanfte Terror", S. 131

 

 

 

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