Günther Anders
Die
Antiquiertheit
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1980 429 (465) Seiten Bing.Buch Goog.Buch detopia: |
Inhalt Vorwort (9) Einleitung. Die drei industriellen Revolutionen (15) Methodologische Nachgedanken (411-429) Anmerkungen (431-465) Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns. "Dieses Buch von Anders ist, so meine ich, eines der wichtigsten in diesen Jahren — unerläßlich für jeden, der wissen will, in welcher Welt wir leben, und der in dieser Welt über seinen Privatbereich hinaus mitwirken, ja verändernd wirken will. — Aktionen und Programme, die nicht durch das Fegefeuer der Anders'schen Beobachtung gegangen sind, dürften sich vor dem Beginnen schon als überholt erweisen. Philosophie, die von dieser Art Philosophie sich nicht berühren läßt, dürfte sich als Luxus erweisen." (Helmut Gollwitzer) Nach beinahe einem Vierteljahrhundert, in dem sich Günther Anders mehr praktisch und publizistisch gegen die aktuellen Bedrohungen engagierte, hat er den zweiten Band seines philosophischen Hauptwerkes folgen lassen. Sein Hauptthema ist aktueller denn je: die Zerstörung der Humanität und die mögliche physische Selbstauslöschung der Menschheit. Die "Endzeit", das Zeitalter der "Technokratie", ist unwiderruflich angebrochen. Die Technik ist zum Subjekt der Geschichte geworden, der Mensch ist nur noch "mitgeschichtlich". Der bisherige Mensch ist überholt, "antiquiert", der gegenwärtige und auch der zukünftige sind gekennzeichnet durch die Diskrepanz zwischen der noch immer wachsenden Kapazität der Technik und dem Unvermögen der Phantasie, sich die katastrophalen Folgen der Technik vorzustellen. |
Die Antiquiertheit.... 1 des Aussehens (34) 2 des Materialismus (37) 3 der Produkte (38) 4 der Menschenwelt (58) 5 der Masse (79) 6 der Arbeit (91) 7 der Maschinen (110) 8 der philosophischen Anthropologie (128) 9 des Individuums (131) 10 der Ideologien (188) 11 des Konformismus (193) 12 der Grenze (208) 13 der Privatheit (210) 14 des Sterbens (247) 15 der Wirklichkeit (248) 16 der Freiheit (259) 17 der Geschichte (271) 18 der Phantasie (316) 19 der "Richtigen" (334) 20 von Raum und Zeit (335) 21 des Ernstes (355) 22 des "Sinnes" (362) 23 der Verwendung (391) 24 des Nichtkönnens (394) 25 der Bosheit (396) |
Vorwort 1979 des Autors
9-14
Dieser zweite Band der <Antiquiertheit des Menschen> ist, ebenso wie der erste, eine Philosophie der Technik; genauer: eine philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie.
Unter "Technokratie" verstehe ich dabei nicht die Herrschaft von Technokraten (so als wäre es eine Gruppe von Spezialisten, die heute die Politik dominierten), sondern die Tatsache, daß die Welt, in der wir heute leben und die über uns befindet, eine technische ist — was so weit geht, daß wir nicht mehr sagen dürfen, in unserer geschichtlichen Situation gebe es u.a. auch Technik, vielmehr sagen müssen: in dem "Technik" genannten Weltzustand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die Technik ist nun zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir nur noch "mitgeschichtlich" sind.1
Das Buch behandelt nun die Veränderungen, die sowohl die Menschen als Individuen als auch die Menschheit als ganze durch dieses Faktum durchgemacht haben und weiter durchmachen. Diese Veränderungen betreffen alle unsere Aktivitäten und Passivitäten, Arbeit wie Muße, ebenso unsere intersubjektiven Beziehungen, sogar unsere (angeblich apriorischen) Kategorien. Wer heute noch die "Veränderbarkeit des Menschen" proklamiert (wie es Brecht getan hatte), ist eine gestrige Figur, denn wir sind verändert. Und diese Verändertheit des Menschen ist so fundamental, daß, wer heute noch von seinem "Wesen" spricht (wie es z.B. Scheler noch getan hatte), eine vorgestrige Figur ist.
Wenn ich trotz dieser Tatsache nun von dem Portrait, das ich vom gegenwärtigen Menschen zeichne, behaupte, daß es nicht nur den heutigen abbilde, sondern auch den morgigen und übermorgigen treffe, also in gewissem Sinne ein "endgültiges Portrait" sei, so tue ich das nicht aus Anmaßung — im Gegenteil: des Fragmentarischen meines Werks bin ich mir durchaus bewußt —, sondern allein deshalb, weil das Stadium, das ich schildere: eben das der Technokratie, endgültig und irrevokabel ist; weil dieses Stadium nämlich, sofern es nicht (wofür vieles spricht) eines Tages zum "Zeitenende" führen wird, nicht mehr durch ein anderes abgelöst werden kann, sondern stets "Endzeit" 2) sein und bleiben wird.
Und das heißt, daß wir Menschen nun in unserem (neuerworbenen) "Wesen" konstant bleiben werden. Ich sage: "neuerworben", weil diese "Konstanz" natürlich keine unserer menschlichen "Natur" ist, sondern ein künstlicher Zustand, einer, in den wir Menschen uns selbst hineinmanövriert haben — wozu wir freilich nur deshalb imstande waren, weil die Fähigkeit, unsere Welt — nein: nicht nur unsere, sondern die Welt — und uns selbst zu verändern, paradoxerweise zu unserer "Natur" gehört.3
Ich sage: dieser Band ist eine Philosophie der Technik.
Das klingt vielleicht so, als zeigte ich ein System an. Davon kann, wenn man unter "System" einen Rahmen versteht, in dem man nachträglich diejenigen empirischen Fakten unterbringt, die mehr oder minder glatt in ihn hineinpassen, keine Rede sein. Die empirischen Tatsachen sind stets Ausgangspunkt gewesen.
Von jedem der im Folgenden entwickelten Gedankengänge gilt das, was ich schon von denen des ersten Bandes gesagt hatte: daß sie "Gelegenheitsphilosophie" seien; daß ich also stets von bestimmten Erfahrungen ausgegangen bin — sei es von der Erfahrung der Arbeit am laufenden Band, sei es von der in Automationsbetrieben, sei es von denen auf Sportplätzen. In der Tat ist dieser, aller Konstruktion abholde "plein air"-Charakter meines Theoretisierens dessen Charakteristikum, von dem ich wohl hoffen darf, daß es die Vernachlässigung einschlägiger Literatur aufwiegen könne.
Aber trotz des, wenn man will: impressionistischen Charakters dieser Untersuchungen, trotz der Tatsache, daß ich keinen Augenblick lang etwas zu erfinden versucht habe, vielmehr immer nur auf "Funde" aus war, und daß ich keiner meiner Einzelbeobachtungen oder -thesen ein ausgearbeitetes Konstruktionsschema (also ein Schema von Vorurteilen) untergelegt habe, — daß meine Untersuchungen unsystematische seien, würde ich trotzdem nicht behaupten. Ihr durchgängiger Zusammenhang war freilich nicht geplant, er ist vielmehr eine "Systematik apres coup".
Wenn, wie ich behaupte, keine einzige der hier vorgetragenen Thesen auch nur einer einzigen der vielen anderen widerspricht, nein, sogar jede jede andere stützt, so ist das nicht deshalb der Fall, weil ich eine "prästabilisierte Harmonie" vorweggenommen, also die Thesen von vornherein aufeinander abgestimmt hätte.
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Umgekehrt ist mir diese Harmonie erst nachträglich bewußt geworden, nämlich bei der für die Publikation nötigen nochmaligen Durchsicht der zum Teil vor Jahrzehnten und in großen Abständen verfaßten Texte. Die Systematik ist für mich selbst eine (nicht unerfreuliche) Überraschung gewesen, und nur eine solche, apres coup entdeckte, scheint mir rechtmäßig zu sein. Das gilt nicht nur von den in den zwei Bänden der "Antiquiertheit" präsentierten Thesen, sondern von denen in allen meinen Büchern, da diese durchwegs nur Paraphrasierungen des Hauptwerkes sind.
Vermutlich wäre es ein leichtes, aus den Thesen dieser Bücher ein "System" im konventionellen Sinne zu konstruieren,4) aber das betrachte ich nicht als meine Aufgabe, da ich nicht einzusehen vermag, warum Wahrheiten dadurch "wahrer" werden sollten, daß sie in Form eines "Gebäudes" präsentiert werden. Nichtwidersprüchlichkeit genügt durchaus.
Man wird mich fragen, warum ich diesen zweiten Band dem ersten erst heute, nach beinahe einem Vierteljahrhundert, folgen lasse. Diese Frage ist um so berechtigter, als viele der hier vereinigten Essays schon vor 1960, manche sogar schon gedruckt, vorgelegen haben, ich also einen Nachfolgeband längst schon hätte herausbringen können.
Was hatte mich dazu veranlaßt, mein Hauptthema: die Zerstörung der Humanität und die mögliche physische Selbstauslöschung der Menschheit, im Stich zu lassen, meine umfangreichen Konvolute fortzuschieben, nein: deren Existenz geradezu zu vergessen? Welche angenehmeren Themen hatten mich zur Desertion verführt?
Die Antwort darauf lautet: Ich hatte das Hauptthema (obwohl ich der Versuchung, dieses zu verdrängen, oft nur schwer widerstehen konnte) nicht verdrängt, ich hatte keinem anderen Thema den Vortritt gelassen, ich war nicht desertiert.
Wenn mich etwas zum philosophischen Verstummen gebracht hat, so die Einsicht und das Gefühl, daß vis-a-vis der Gefahr des wirklichen Unterganges der Menschheit nicht allein die Beschäftigung mit deren "bloßer Dehumanisierung" ein Luxus war, sondern daß selbst die ausschließliche Beschäftigung mit der Gefahr eines effektiven Untergangs, sofern sie sich auf eine nur philosophisch-theoretische beschränkte, wertlos blieb.
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Vielmehr empfand ich es als unabweisbar, soweit das in meiner Macht stand, wirklich teilzunehmen an dem von Tausenden geführten Kampf gegen die Bedrohung. Wenn ich meinen ersten Band im Stich gelassen habe, so also deshalb, weil ich nicht gewillt war, die in diesem vertretene Sache im Stich zu lassen.
Ein moralisch ebenso dürftiger wie spekulativ großartiger, unterdessen weltberühmt gewordener Philosoph hat mich vor mehr als fünfzig Jahren mit dem ihm eigenen Genuß am Verachten davor gewarnt, "je in die Praxis zu desertieren". Das Wort habe ich nicht vergessen können, schon damals empfand ich diese moralisierende Warnung vor der Moral als tief unredlich. Gleichviel: Genau das habe ich getan. Und warum, das bedarf wohl, da sich, wie man munkelt, "das Moralische von selbst versteht", keiner Rechtfertigung.
Nun, während dieses, vor allem der Praxis gewidmeten Lebensabschnittes sind nun freilich auch Schriften entstanden, und durchaus nicht untheoretische, die aufs allerengste mit den Überlegungen des ersten Bandes zusammenhängen.5) Da ich aber mit diesen Schriften sofortige und weiteste Alarmwirkung zu erzielen hoffte, wäre es unsinnig gewesen, ihre Veröffentlichung jahrelang aufzuschieben, um sie dann einmal später als Teile in den zweiten Band der "Antiquiertheit des Menschen" zu integrieren. Verspätete Warnungen sind albern. Dazu kam, daß sich die Warnschriften eines Stils bedienten, der nicht nur für Berufsphilosophen gemeint war und der in ein rein philosophisches Buch nicht hineingepaßt hätte.
Aber auch nachdem ich das, was ich zur Atomgefahr melden zu können glaubte, gemeldet hatte, blieb mir die sofortige "Heimkehr" in die Philosophie verwehrt. Zum zweitenmal wurde ich "abgelenkt" (wenn man vom Ruf der Pflicht sagen kann, daß er ablenke): Denn in den sechziger Jahren erreichte mich eine andere Aufforderung, eine, die ebenfalls mit den Hauptsorgen der "Antiquiertheit des Menschen" zu tun hatte: nämlich die Aufforderung, am Kampf gegen den Genozid in Vietnam, der ja als maschinell betriebener ein schauerliches Exempel für meine maschinen-philosophischen Thesen war, teilzunehmen.
Freilich kann man auch hier keine genaue Grenzlinie zwischen Theorie und Praxis ziehen; auch aus dieser Aktivität ist nämlich ein Buch abgefallen, das ein Stück "Kritik der Technik" darstellte: nämlich von dem Idiom handelte, das die mörderische Technokratie der USA entwickelte und verwendete, um ihre Verwüstungs- und Völkermord-Akte teils zu tarnen, teils zu rechtfertigen.6)
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Auch von diesen Texten gilt, was von den "Antiatom"-Publikationen galt: sie waren, obwohl durchaus nicht unphilosophisch (denn nicht zu philosophieren ist eine schwer erfüllbare Aufgabe), so eng an ihren geschichtlichen Anlaß und Augenblick gebunden, daß es nicht erlaubt gewesen wäre, sie aufs Eis zu legen, um sie später, als Teil des zweiten Bandes, einer nur akademischen Leserschaft vorzulegen.7)
Man versteht nun, warum ich die vorhin gestellte Frage, warum ich aus den philosophischen Überlegungen der "Antiquiertheit" in die Praxis desertiert sei, als Frage nicht anerkennen und deshalb auch nicht beantworten kann. Berechtigt wäre umgekehrt die Frage, warum ich — was ich in diesem Bande ja tue — in die philosophische Theorie "zurückdesertiert" sei. Die Antwort auf diese Frage ist banal: für Praxis bin ich nun zu alt.
Ein Vergnügen ist eine solche "Rückdesertion" natürlich nicht.
Wenn man, wie der Schreiber dieser Zeilen, seit nahezu fünfzig Jahren ein "engagierter" Schriftsteller gewesen ist, dann ist der Zwang, angesichts der alten, noch nicht behobenen, nein: von den meisten noch nicht einmal verstandenen Gefahren und angesichts der neuen, von der Menschheit noch nicht einmal ad notam genommenen Bedrohungen die Hände in den Schoß zu legen oder die Zeit im besten Falle zum Niederschreiben von Theorien zu verwenden, schwer erträglich.
Inaktivität ist ungleich anstrengender als die anstrengendste Aktivität. Aufgaben aufgeben zu müssen eine beinahe zu schwere Aufgabe. Verführungen zu widerstehen, um Pflichten zu erfüllen, ungleich leichter erlernbar, als den Verführungen durch die Pflichten Widerstand zu leisten.
Kein Wunder, daß mir nun, da ich wieder als reiner Theoretiker über dem zweiten Bande der "Antiquiertheit des Menschen" sitze und den notwendigen Kampf gegen Kernreaktoren, Aufbereitungsanlagen und die Erzeugung von Neutronenbomben und dergleichen Jüngeren überlassen muß, das Intervall, das mich von der Niederschrift des ersten Bandes trennt, nicht als zu lang vorkommt, sondern als zu kurz. Und meine Wiederaufnahme des Theoriefadens nicht als zu spät, sondern als zu früh. "Heute schon!" klage ich also. Nicht, wie es in der ersten Zeile dieses Vorworts geheißen hatte: "Erst heute".
Bei der letzten Durchsicht der nachstehenden Aufsätze, die ja in weitem zeitlichen Abstände von einander und ohne geplanten Zusammenhang entstanden sind, ist mir ein Defekt aufgefallen, dessen ich mir beim Schreiben nicht so deutlich bewußt gewesen war: daß sie nämlich durchweg Variationen über ein einziges Thema: das der Diskrepanz der Kapazität unserer verschiedenen Vermögen, sind.
Diese nachträgliche Entdeckung meiner "Monothematik" beunruhigt mich jedoch nicht. Nicht nur deshalb nicht, weil ich glaube, daß meine Variationen, im Beethovenschen Sinne, wirkliche "Veränderungen" sind, das heißt: daß jede von ihnen das Thema in neuem Lichte zeigt oder unter neuem Schatten verbirgt; sondern vor allem deshalb, weil man, wie schon Heidegger betont hat, dieses "Manko" allen Denkern der Vergangenheit vorwerfen kann, auch den bedeutendsten, mit denen mich zu vergleichen mir nicht im Traume einfällt.
Was zählt, ist, ob die vielen Abwandlungen der idee fixe etwas sichtbar machen. Darüber zu befinden, ist nicht Sache des Autors.
Schließen möchte ich mit der Anweisung Max Webers: "Das Wichtigste steht natürlich in den Anmerkungen."
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Juni 1979, Günther Anders
Anders-1980