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TEIL I - Wie Amerika heraufbeschworen wurde: 1517-1789
»Der ganze Mensch liegt sozusagen schon in den Windeln seiner Wiege. Ähnliches spielt sich bei den Nationen ab. In den Völkern tritt immer schon das Gepräge ihres Ursprungs zutage ... wären wir imstande, bis zu den Anfängen der Gesellschaft vorzudringen ... ich zweifle nicht daran, dass wir die Hauptursachen der Vorurteile, der vorherrschenden Leidenschaften, kurz alles dessen erkennen könnten, was man als nationale Wesensart bezeichnet.« -- ALEXIS DE TOCQUEVILLE, Über die Demokratie in Amerika (1835)
2 - Ich glaube, also bin ich im Recht: Die Protestanten
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Am Anfang besass das Land noch nicht einmal einen richtigen Namen: Die Neue Welt war ein Platzhalter, eine vorläufige, verallgemeinernde Bezeichnung, wie das Kürzel NewCo, das Gesellschaftsrechtler heutzutage gerne für die frisch gegründeten Firmen ihrer Mandanten nutzen. Für die zukünftigen weißen Bewohner der Neuen Welt war dieses Land ein imaginärer Ort. Amerika begann als Fieberwahn, als Mythos, als schöne Traumvorstellung, kurz: als Fantasie. Im Grunde handelte es sich um allerlei verschiedene Fantasien, die um das Jahr 1600 die Menschen dermaßen zu fesseln vermochten, dass die meisten von ihnen alles zurückließen - Freunde, Familie, Jobs, gesunden Menschenverstand, England, die altbekannte Welt —, um ihre Träume zu verwirklichen oder bei dem Versuch zu sterben. Und es waren viele, die ihr Leben ließen.
Unser Land war das allererste, das je aus dem Nichts erdacht und geschaffen wurde, das erste Land, das erschrieben wurde wie ein episches Gedicht, und wie es der Zufall will, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Shakespeare und Cervantes die moderne Prosa begründeten. Die ersten englischen Bewohner der Neuen Welt betrachteten sich als waghalsige Helden mit Anpackerqualitäten und einem Leben voll aufregender Abenteuer. Sie waren Extremisten, die sich am liebsten selbst inszenierten und für ihre flammenden Überzeugungen, weit hergeholten Hoffnungen, Träume und Fantasien, die sich doch bitte bewahrheiten sollten, alles ihnen bisher Bekannte zurückließen.
Aber spinnen wir Tocquevilles Metapher vom Kapitelanfang ein wenig fort: Wenn die ersten Unternehmungen der Engländer in der Neuen Welt das neugeborene Amerika darstellen, die Wiege der Nation, dann lassen Sie uns doch noch ein wenig weiter zurückgehen und zu ergründen versuchen, wie es dazu kam, dass dieses erstaunliche Kind überhaupt gezeugt wurde.
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Ein frommer, junger Theologieprofessor an einer frisch gegründeten Provinzuniversität südlich von Berlin, ein Mann, der gern alles weiß, ist in manch wesentlicher Hinsicht mit der christlichen Doktrin und deren Umsetzung nicht einverstanden. Besonders ungehalten ist er über die Tatsache, dass der Erzbischof der Region, um die Kosten für die Feierlichkeiten zu seiner Beförderung zum Kardinal zu decken, die ortsansässigen Gläubigen dazu auffordert, für die Vergebung ihrer Sünden (und jener nahestehender Verstorbener) Geld zu zahlen und somit die postmortale Wartezeit im Fegefeuer zu verkürzen beziehungsweise gleich gänzlich zu umgehen.
Zusätzlich zu diesem Obolus werden die Vergebung Suchenden dazu verpflichtet, am Allerheiligentag im Tross durch die Gemeindekirche zu ziehen und die Tausenden dort angesammelten heiligen Reliquien anzubeten, wovon die meisten, wenn nicht sogar alle, Fälschungen waren. Zu erwähnen wären hier etwa ein Strohhalm von der Krippe des Jesuskindleins, Fäden aus dem Stoff, in den das Kind gewickelt war, ein Rest von Marias Muttermilch, ein Barthaar des erwachsenen Jesus, ein Stück Brot vom Letzten Abendmahl und ein Stachel aus der Dornenkrone, die Er bei der Kreuzigung trug. Entsetzt über die Verkaufspraktiken der Kirche, schreibt der junge Theologe eine mehrere Seiten lange leidenschaftliche Kritik, eine Art Prototyp der PowerPoint-Präsentation, und nagelt sie am Vorabend des Allerheiligentages, an Halloween also, an die Kirchentür. Zur Sicherheit schickt er auch noch eine Abschrift seines Papiers an den Erzbischof höchstpersönlich.
Hätte das alles 1447 stattgefunden, wäre die Episode heute allenfalls eine kleine Fußnote der Geschichte.
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Doch weil der junge Prediger, der ehrwürdige Doktor Martin Luther, mit seinen Thesen im Jahr 1517 an die Öffentlichkeit ging, als die Ära des mechanischen Buchdrucks schon etwa seit einem halben Jahrhundert eingeläutet war, änderte sein Manifest alles. Die 95 Thesen wurden augenblicklich gedruckt, aus dem Lateinischen in die regionalen Sprachen übersetzt, in ganz Europa verbreitet und ohne Unterlass nachgedruckt. Der Protestantismus war geboren, als organisierte Alternative zum christlichen Religionsmonopol der römisch-katholischen Kirche.
Nachdem der neue christliche Glaube sich formiert hatte, ermöglichte ihm die Druckerpresse eine schnelle Verbreitung. Luthers Hauptvorwurf war, dass die Kirche faule VIP-Pässe für die Fahrt ins Himmelreich verhökert habe. »Lug und Trug predigen diejenigen«, so schreibt er in einer seiner Thesen, »die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt.«
Wenige Jahrzehnte später hatte sich die Sache ohnehin erledigt, denn der Vatikan verabschiedete sich vom Ablasshandel. Doch Luther hatte noch zwei wichtigere, wesentlich revolutionärere Ideen, die sowohl für seine Religion als auch für die Geburt Amerikas zur Grundlage werden sollten.
Luther war nämlich davon überzeugt, dass es für die Männer des Klerus keinen privilegierten Zugang zu Gott oder zu Jesus oder zur Wahrheit gab. Seiner Meinung nach stand alles, was ein Christ wissen musste, in der Bibel. So konnte und sollte jeder einzelne Gläubige die Heilige Schrift für sich selbst lesen und deuten. Jeder Gläubige, behaupteten die Protestanten, war nun ein Priester.
Zu jedem früheren Zeitpunkt wäre diese Haltung eine Donquichotterie gewesen, ein zum Scheitern verurteilter Traum. Gemäß einer vom Vatikan über lange Zeit praktizierten Regel war der Besitz von Bibeln nur Priestern erlaubt, was vor allem für Übersetzungen aus dem Lateinischen in lebende Sprachen galt. Es war ein Leichtes, diese Regel durchzusetzen, denn Bibeln waren äußerst rar und kostspielig.
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Um 1450, als Johannes Gutenberg das erste Buch — eine lateinische Bibel — druckte, existierten in ganz Europa nur insgesamt 30.000 Bücher, somit wäre etwa auf alle 2500 Menschen ein Buch gekommen. Als Luther 1517, also nur 60 Jahre später, die Reformation ins Rollen brachte, waren bereits 20 Millionen Bücher gedruckt worden, und die meisten davon waren Bibeln. In den ersten hundert Jahren nach dem Druck der ersten englischsprachigen Bibeln verdreifachte sich in England die Alphabetisierungsrate. Millionen Christen konnten nun Luthers selbst gezimmertes Christentum in die Tat umsetzen. Die Kirche und ihre Priesterelite wurden dabei links liegen gelassen.
Sollte diese Innovation wirklich alles bisher Dagewesene von Grund auf verändern?
Allerdings, denn keine andere Technologie im Jahrtausend zwischen der Erfindung des Schießpulvers und der Dampfmaschine stellte einen solchen Bruch dar wie die Entwicklung der Druckerpresse. Und der Protestantismus war das erste daraus entstehende flächendeckende Kulturphänomen.
Neben der Übertragung religiöser Macht auf gewöhnliche Menschen - wodurch sich die Freiheit des Einzelnen maßgeblich erweiterte - bestand Luthers zweite große Idee darin, dass der Glaube an die in der Bibel erzählten übernatürlichen Begebenheiten, insbesondere die Geschichten über Jesus, die einzige Voraussetzung dafür sei, ein guter Christ zu sein. Den Aufstieg in den Himmel konnte man sich also nicht durch gute Taten verdienen. Es zählte allein das, woran man glaubte. (Und legt man den frühen Protestantismus streng aus, war selbst das keine garantierte Eintrittskarte.)
Diese ursprüngliche Forderung der Protestanten scheint ein Sieg der Vernunft, schließlich vermochten Geld oder das Bestaunen von (gefälschten) Reliquien keine einzige Seele in den Himmel zu befördern. Doch tatsächlich ist sie lediglich gerechter und logischer, nicht unbedingt vernünftiger. Es ist, als stritte man sich darüber, ob die Müllerstochter aus Rumpelstilzchen bei einer falschen Aussprache des Zwergennamens freizulassen gewesen wäre oder nicht. Die Uneinigkeiten, die Protestanten und Katholiken entzweiten, drehten sich im Kern um die Regeln des Übernatürlichen innerhalb ihres gemeinsamen Fantasiekonstruktes.
Wie dem auch sei, aus der neuen protestantischen Religion bildete sich im Laufe des 16. Jahrhunderts eine uramerikanische Gesinnung heraus: Millionen von gewöhnlichen Leuten beschlossen, dass jeder das Recht habe, für sich zu entscheiden, was wahr oder falsch war, egal was irgendwelche hochtrabenden Experten dazu sagten. Und obendrein waren sie davon überzeugt, dass ein leidenschaftlicher, für Wunder offener Glaube der Schlüssel zu allem sei.
Der Grundstein für Fantasyland war gelegt.
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