Alexis de Tocqueville

Über die Demokratie in Amerika

(1840)

Begründung der vergleichenden Politikwissenschaft

 400 Seiten - 1840 -  DNB.Buch

wikipedia.Autor  *1805 in Nordfrankreich bis 1859 (53)

DNB.Autor  (240)

 

detopia:  

Ökobuch    Amerikabuch 

Sterbejahr   T.htm    1800-Zeittafel 

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Wolf.Koschnick   Dubos   Blin 

 

 

 

 

 

 

 

 

von Honore Daumier

 

 

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15 Tage Wildnis  2013 

15 Tage Wildnis 2014 

 


 

Tocqueville - Zitat bei Mumford, 1970, S. 729

»Ich suche die neuen Formen zu entdecken, in denen der Despotismus in der Welt auftreten wird, inmitten einer Masse von Menschen, die alle gleichberechtigt und gleichartig sind und unablässig danach streben, sich die kleinen, erbärmlichen Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Leben ausmachen ...

Über diesem Menschengeschlecht steht eine gewaltige Schutzmacht, die für die Genüsse der Menschen sorgt und über ihr Schicksal wacht. Diese Macht ist absolut, exakt, ordentlich, vorsorglich und milde. Sie könnte wie die Autorität eines Vaters sein, wenn sie, gleich jener, das Ziel verfolgte, junge Menschen auf das Erwachsensein vorzubereiten; aber sie trachtet im Gegenteil danach, sie permanent im Zustand der Kindheit zu halten; sie ist durchaus damit zufrieden, daß die Menschen ihr Leben genießen, vorausgesetzt, sie denken an nichts anderes als an Genuß.

Solch eine Regierung arbeitet gerne für das Glück der Menschen, doch will sie der alleinige Urheber und Herr dieses Glückes sein; sie sorgt für die Sicherheit der Menschen, vermehrt die lebensnotwendigen Güter, vermittelt ihnen Vergnügungen, regelt ihre wichtigsten Angelegenheiten, leitet ihre Wirtschaft, ordnet die Erbfolge und teilt die Hinterlassenschaften auf. Was bleibt noch, außer den Menschen alle Mühe des Denkens und alle Lebenssorgen zu ersparen? ...

Nachdem sie jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft in ihren mächtigen Griff bekommen und nach ihrem Willen umgeformt hat, streckt die oberste Macht ihren Arm nach der ganzen Gemeinschaft aus. Sie überzieht die Gesellschaft mit einem engmaschigen Netz komplizierter, einheitlicher Regeln, durch das auch die originellsten Denker und die energischsten Charaktere nicht hindurchkommen, um sich über die Masse zu erheben. Der Wille der Menschen wird nicht gebrochen, sondern aufgeweicht, gebeugt und gelenkt; selten werden die Menschen von der Macht zum Handeln gezwungen, doch ständig vom Handeln abgehalten ...

Ich war immer der Meinung, daß eine Knechtschaft von der ordentlichen, ruhigen und freundlichen Art, wie ich sie eben beschrieben habe, viel leichter, als man gewöhnlich annimmt, mit manchen äußerlichen Freiheitsformen verbunden werden kann und daß sie sogar unter den Fittichen der Volkssouveränität entstehen könnte.«

Zitat bei Mumford, 1970, S. 729

 


 

aus wikipedia

 

 

Über die Demokratie in Amerika

(1835/1840)

De la démocratie en Amérique beschreibt unter anderem die Demokratie im Zusammenhang der politischen Gesellschaft[10].

Das Buch erhielt 1836 den Prix Montyon der Académie française, deren Mitglied Tocqueville 1841 wurde, und wird heute noch an den Universitäten behandelt.

In seiner Analyse der amerikanischen Demokratie arbeitete er die Ursachen für die Art und Weise des Funktionierens der Demokratie in den USA heraus.

Er zeigt die Gefahren demokratischen Regierens, die zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ führen könne, und er beschreibt, wie die amerikanische Verfassung und ihr Verfassungsleben dieser Gefahr durch Dezentralisation und aktive Teilnahme der Bürger entgegenwirkten (Band 1).

Im zweiten Band des Werkes macht er dann noch eine weitere Gefahr aus, die für ihn der Demokratie inhärent ist: die Allgewalt der Regierung, die die Bürger der Eigeninitiative beraubt, sie schrittweise des selbständigen Handelns entwöhnt und sie so zu unmündigen Privatleuten degradiert, die sich nur um ihre wirtschaftlichen Probleme kümmern.

Auch hier zeigt er, wie die amerikanische Demokratie dieser Gefahr begegnete: durch Dezentralisation, durch die Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz und durch eine Beeinflussung der dominierenden Verhaltensstandards durch das Christentum.

 

Über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit

Die wichtigen Institutionen der amerikanischen Union haben nach Tocqueville allesamt neben ihrer problemlösenden Leistung noch eine zweite, gleichsam ungewollte Nebenwirkung: Sie erziehen die neuen Generationen der Amerikaner zu dem Bürgersinn, der in den jungen USA der 1830er Jahre vorherrscht. Sie erhalten die mœurs (Sitten), Verantwortungsgefühl, Eigeninitiative, Ordnungssinn, Bereitschaft, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen, Kenntnisse demokratischer Praxis sowie einen öffentlichen politischen Bereich, in den die Kirchen nicht direkt intervenieren: All dies gehört zu den US-amerikanischen Selbstverständlichkeiten. Diese Selbstverständlichkeiten, ursprünglich meist ein Erbe der puritanischen Gründer, werden durch das gesamte politische und gesellschaftliche Leben, durch die Einrichtungen besonders der lokalen Politik, zur zweiten Natur der Nordamerikaner gemacht. Dies beschreibt Tocqueville nicht ohne den Hintergedanken, dass Frankreich und andere europäische Nationen an diesem Teil des amerikanischen Beispiels lernen können. So könnten sie vielleicht demokratische Sitten entwickeln. Das letzte Kapitel dieses ersten Bandes der Démocratie en Amérique untersucht die Hauptursachen dafür, dass sich die demokratische Republik in Nordamerika erhält und stabil ist. Das wichtigste Ergebnis seiner Überlegungen formuliert Tocqueville in der Überschrift eines Unterkapitels: „Die Gesetze tragen mehr zur Erhaltung der demokratischen Republik in den Vereinigten Staaten bei als die geographischen Umstände und die mœurs noch mehr als die Gesetze.“ Mit anderen Worten: Die mœurs sind für die Stabilität der amerikanischen Union wichtiger als die geschriebene Verfassung, und sie sind auch wichtiger als die besondere geopolitische Lage der USA. In einer Fußnote zum ersten Absatz des so überschriebenen Unterkapitels erinnert Tocqueville seinen Leser an die in einem vorangegangenen Kapitel gegebene Beschreibung dessen, was er mit mœurs bezeichnet. Dort steht:

„Ich verstehe hier den Ausdruck mœurs in dem Sinne, den die Alten dem Wort mores gaben; ich wende ihn also nicht nur auf die eigentlichen Sitten an, die man liebgewonnene Gewohnheiten nennen könnte, sondern auf die verschiedenen Begriffe, die die Menschen besitzen, die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten, und auf die Gesamtheit der Ideen, welche die liebgewonnenen Gewohnheiten bilden.“

Die mœurs oder Sitten und Gewohnheiten beschreiben also den gesamten Kosmos der Denk-, Verhaltens-, Debattier- und Interpretationsweisen einer Gesellschaft; ihre Art, die öffentlichen, wirtschaftlichen und privaten Angelegenheiten zu beschreiben, ihre Symbole und Gemeinplätze, ihre Werte und die sich aus diesen ergebende Praxis menschlichen und bürgerlichen Verhaltens und Handelns.

Der zweite Band von De la démocratie en Amérique von 1840 befasst sich intensiver mit den Grundlagen von Staat und Politik.

Die mœurs bleiben der Hauptgegenstand der Untersuchungen Tocquevilles: So wie der erste Band die Wirkung des dezentralisierten Vereinswesens, der lokalen Politik in den Gemeinden, der Geschworenengerichte, der föderalen Aufteilung der USA und anderer äußerer Faktoren auf den Bürgersinn der Amerikaner der 1830er Jahre untersucht und feststellt, in welch starkem Maße die Einrichtungen der amerikanischen Verfassung den Gründungsgedanken der USA lebendig erhalten, untersucht der zweite Band auch die problematischeren mœurs der Demokratie.

Er beschreibt insbesondere das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Tocqueville sieht darin keine Prinzipien von gleicher Wichtigkeit, sondern spricht sich deutlich für den Vorrang der Freiheit aus. Die in einem aufgeklärten Staat entstehende formale Gleichheit der Bürger hat nach Tocqueville verschiedene Auswirkungen. Zuallererst schaffen der Wegfall ständischer Ordnungen und die Rechtsgleichheit aller Bürger jenen Raum, den ein freiheitliches Individuum überhaupt benötige. Der Wegfall von Autoritäten und die Unabhängigkeit der Menschen begründen jene Freiheitsliebe, die demokratische Gesellschaften und ihre Institutionen auszeichnet. In einer daraus entstehenden Anarchie sehen die Kritiker die größte Gefahr einer demokratischen Ordnung. Tocqueville widerspricht dem nicht, sieht darin aber nicht das Hauptproblem des Gleichheitsprinzips. Vielmehr fürchtet er in seiner Ausgangsthese des vierten Teils des zweiten Bandes eine schleichende Beeinträchtigung des Freiraums der Bürger. „Die Gleichheit löst nämlich zwei Tendenzen aus: die eine führt die Menschen geradewegs zur Freiheit und kann sie auch plötzlich in die Anarchie treiben; die andere leitet sie auf längerem, verschwiegenerem, aber sicherem Wege in die Knechtschaft.“ Während sich ein demokratischer Staat gegen die Anarchie zu schützen weiß, ist die Abwehr des Verlusts individuellen Freiraums durch Gleichmacherei schwieriger, da diese sowohl den Neigungen der Masse der Bürger entspreche als auch dem Staat gelegen komme.

Für Tocqueville führt das Prinzip der Gleichheit tendenziell zu einem starken, zentralistisch organisierten Staat, gegen den sich das Individuum nicht mehr wehren kann. Daraus entstehe eine grenzenlose „Volksgewalt“. Die Repräsentanten dieser Macht werden sich ihrer Gewalt allmählich bewusst und fördern diese Position aus Eigeninteresse. Die Regierenden können schließlich „alle Vorgänge und alle Menschen verwalten“. Für Tocqueville entsteht dadurch ein Transfer von Verantwortlichkeiten. Unter „Regieren“ verstehen die Führer dieser Staaten nicht mehr nur die Regentschaft des gesamten Volkes, sondern auch die Verantwortlichkeit für das Wohlergehen jedes Einzelnen. Sie sehen ihre Aufgabe nun auch darin, den Bürger „zu leiten und zu beraten, ja ihn notfalls gegen seinen Willen glücklich zu machen“. Umgekehrt übertragen die Einzelnen immer mehr ihre Selbstverantwortung auf die staatliche Gewalt. Letztlich befürchtet Tocqueville ein Abrutschen in die Unfreiheit, wenn die Gleichheit zum einzigen großen Ziel wird.

 

Die Grenzen der Gleichheit und das Ende des Mitleids

Henning Ritter stößt in seiner Untersuchung über das Mitleid auf Tocquevilles Gleichheitsvorstellungen und stellt fest, dass das demokratische Empfinden an der in Amerika fortbestehenden Sklaverei außer Kraft gesetzt sei. Tocqueville nehme nämlich wahr, dass der gleiche Mensch, der voll Mitgefühl für seine Mitmenschen sei, gefühllos gegenüber ihren Leiden wird, sobald diese nicht zu seinesgleichen gehören. Insofern stelle die Sklaverei die Enklave einer vergangenen Gesellschaftsordnung dar, nämlich der aristokratischen.[11]

Was für die Sklaven gilt, trifft noch mehr auf den an den Indianern vollzogenen Völkermord zu, in dem Tocqueville nach Domenico Losurdo sich „gewissermaßen (…) einen göttlichen Plan“ vollziehen sieht, wie er später im so genannten Manifest Destiny Ausdruck finde. Denn Tocqueville gibt den Indianern Mitschuld an ihrem Untergang, zumal sie keine Besitztitel an dem von ihnen bewohnten Land vorlegen konnten. Nach John Locke, dem Tocqueville hier folgt, kann nur das zum Eigentum werden, was zur Nutzung bearbeitet wird. Insofern spricht Tocqueville gleich zu Anfang des Buches von einer „Wüste“, die die Indianer bewohnen, wie er das Land der Indianer an gleicher Stelle später als „leere Wiege“ bezeichnet:

„Obwohl das ausgedehnte Land von zahlreichen Stämmen Eingeborener bewohnt war, kann man mit Recht behaupten, dass es zum Zeitpunkt seiner Entdeckung nichts als eine Wüste war. Die Indianer wohnten dort, aber sie besaßen es nicht, weil sich der Mensch nur mit der Landwirtschaft den Boden aneignet und die Ureinwohner Nordamerikas von den Jagderzeugnissen lebten. Ihre unerbittlichen Vorurteile, ihre unzähmbaren Leidenschaften, ihre Laster und mehr vielleicht noch ihre wilde Kraft händigten sie einer unvermeidbaren Zerstörung aus. Der Ruin dieser Bevölkerung begann an dem Tag, an dem die Europäer an ihren Küsten landeten, er ging unermüdlich voran und ist heute fast vollendet.“[12]

Tocqueville fand mit seinem Buch über die Demokratie in Amerika in seinem argentinischen Zeitgenossen Domingo Faustino Sarmiento einen seiner stärksten Bewunderer, so dass dieser sich in seinem Werk Barbarei und Zivilisation: Das Leben des Facundo Quiroga von 1845 ausdrücklich auf ihn beruft. Für Sarmiento hätte es nämlich eines Tocqueville und seiner im Amerika-Buch angewandten Methode bedurft, um die argentinische Republik und ihre angestrebte Entwicklung angemessen zu beschreiben.[13]

In dieser Bewunderung kommt zum Ausdruck, was Tocqueville in der Analyse von Domenico Losurdo zum Vertreter einer „Demokratie für das Herrenvolk“ macht, als der sich Sarmiento unverhohlen zu erkennen gibt, da er für Argentinien anstatt der indigenen Bevölkerung ausschließlich Europäer als Siedler wünscht.[14] Denn für Sarmiento als Leser Tocquevilles stand fest, dass die indianische Bevölkerung Argentiniens gegenüber den europäischen Ansprüchen so wenig eine Zukunft haben würde wie die nordamerikanischen Indianer.

 


 

"Die christlichen Völker scheinen mir heute ein erschreckendes Schauspiel zu bieten. Die Bewegung, die sie davonträgt, ist schon zu stark, als daß man sie aufhalten könnte, doch sie ist noch nicht so reißend, daß man darüber verzweifeln müßte, sie zu lenken.

Die christlichen Völker halten ihr Schicksal in ihren Händen, aber bald wird es ihnen entgleiten...

Aber daran denken wir kaum. Von einem rasch fließenden Strom dahingetrieben, heften wir den Blick hartnäckig auf einige Trümmer, die man noch am Ufer wahrnimmt, während die Strömung uns mit sich führt und rücklings dem Abgrund zuträgt."

Alexis de Tocqueville
zitiert nach Gruhl 1992, S. 349

 

 

 

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