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26. Das Ende   

 

 

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Seit vielen Monaten sitze ich nun schon in meiner Zelle und warte — warte darauf, daß meine Stunde schlägt. Wahrscheinlich werden sie mich vor Gericht stellen und mich verurteilen, wegen <Mittäterschaft> beim Aufbau der Neuen Ära. Natürlich gibt es keine Möglichkeit, mein Mitwirken in diesem so wichtigen Gesellschaftsexperiment abzustreiten oder zu verleugnen, und ich habe auch gar kein Interesse daran. 

Ich bin ein politischer Gefangener. Es ist gut, daß sie mir gestattet haben, in Ruhe und Frieden zu schreiben; und deshalb konnte ich die Darstellung unserer Arbeit zu Ende führen, die Darstellung der Art und Weise, wie wir eine utopische Gesellschaft in den Tropen, inmitten von Palmen und mit Blick auf die Karibik errichteten.  

Warum, woran sind wir gescheitert? 

Ich weiß es nicht. Ich glaube, daß wir die Bedeutung gewisser politischer Faktoren einfach verkannt haben, das Schachspiel der internationalen Politik zu wenig ernst genommen haben. Es war nicht so, daß wir die Augen fest vor dem verschlossen hätten, was draußen in der Welt vor sich ging, oder daß wir gedacht hätten: <Walden 3> / <Futurum 3> könne im luftleeren Raum existieren. Nein, beileibe nicht. Wir achteten immer sehr darauf, was sich die Welt draußen für ein Bild von unserer wissenschaftlichen Utopie machte. Es gab ungeheuer viel Kritik an uns, und zu unserer Überraschung überwogen eindeutig die negativen Stellungnahmen und Bewertungen. Und schließlich intervenierte eine der Großmächte und machte unserem Walden Drei ein Ende, als unser Experiment doch gerade erst zu existieren begonnen hatte.

Wir wurden keine fünf Jahre alt. Die Zeit reichte nicht mehr dafür aus, eine wissenschaftliche Evaluation — Überprüfung, Kontrolle, Bewertung — unserer Gesellschaft durchzuführen. Niemand kann wirklich sagen, daß wir scheiterten, da man uns nicht ermöglichte, unser Gesellschaftsexperiment zu Ende zu führen. Ein unvollständiges, nicht zu Ende geführtes Experiment kann natürlich nie definitive Ergebnisse zeitigen; es ist nichts weiter als eine ,Pilotstudie'. Meiner Meinung nach haben wir gesiegt. Ich hoffe, daß die Geschichte mir einst recht geben wird.

Wer überfiel uns? 

Es ist eigenartig, daß Martin China ebenso mißtraute wie der UdSSR und den USA. Wir wollten unser eigenes Spiel spielen, unabhängig von anderen, ohne Protektion oder Schutz durch eine Großmacht. Wir wollten ohne Marx und Jesus, ohne Mao und Lenin leben und arbeiten. Die Abschaffung des Militärs war etwas sehr Kühnes gewesen, das uns auch in der Welt viele Sympathien einbrachte, das uns aber auch in eine gefährliche Lage brachte, als wir so zu einer leichten Beute für die Großmächte wurden. Wir waren eine wehrlose, ungeschützte Nation, die an das "Äquivalent der Kriegsmoral", nicht aber an den Krieg glaubte.

Wir hatten unsere Jugend dazu erzogen, den Frieden zu lieben. Wir hoben immer wieder hervor, wie wichtig es sei, keine Kriege mehr zu führen. Modische Ideologien, politische Nuancen, territoriale Kämpfe, das waren doch alles nur Zeichen von Unreife. Wir hatten uns über solche Engstirnigkeiten und Schranken hinweggesetzt. Wir waren ein junges Volk, das vertrauensvoll in die Zukunft blickte und das sich — trotzig und verbissen — dafür entschieden hatte, seinen eigenen Weg zu gehen.

Unser Weg war anders, wir waren weder Kommunisten noch Kapitalisten. Wir hatten eine zentralisierte Wirtschaft, wir legten großen Wert auf die Bildung eines neuen Menschen für eine neue Gesellschaft. Darin glichen wir dem, was die Sozialisten in allen Zeitepochen gewollt hatten. Wir waren der Ansicht, daß man das Individuum respektieren muß, daß ein wichtiges Ziel darin liegt, es glücklich werden zu lassen, daß man ihm das Recht zugestehen muß, sich als menschliches Wesen zu entfalten und zu entwickeln. Darin glichen wir den Demokraten von gestern und heute (zweifellos mehr denen von gestern als denen von heute ...).

Wir glaubten an Wissenschaft in einem weiten Sinn, und zwar nicht nur an die Naturwissenschaft, sondern und ganz besonders an die Wissenschaft, die das Verhalten des Menschen und das der Gesellschaft untersucht und erforscht. Das war eine engagierte Wissenschaft, die in einem ganz bestimmten historischen Augenblick in einer ganz bestimmten Kultur praktisch angewandt wurde. Unser sozialistischer Humanismus, oder humanistischer Sozialismus, war eine Innovation gewesen, eine Art "Dritte Kraft" in der gegenwärtigen Welt.

Aber wir waren eine sehr kleine Gesellschaft, ohne irgendwelche Bedeutung. In der Welt stellten wir nichts dar, höchstens eine etwas romantische, etwas bizarre Alternative. Ansonsten sehr typisch für die Völker spanischen Ursprungs und sehr typisch für die Tropen. Wir hatten eine "perfekte" Gesellschaft errichten und den Großmächten die kalte Schulter zeigen wollen.

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Wie Don Quijote, der auszog, um seinen eigenen Weg zu gehen, begleitet von Protesten und Beschwerden der Leute um ihn herum, die Besonnenheit, Vernunft und den gesunden Menschenverstand repräsentierten, so hatten wir uns auf die Aufgabe gestürzt, auf unsere eigene Weise eine bessere Welt zu erbauen. Vielleicht waren wir auch ein bißchen verrückt gewesen, so wie Don Quijote. Auf jeden Fall würde ich es heute wieder tun, wenn ich noch einmal vor der Wahl stünde. Und zwar ganz genauso, wie ich es schon einmal getan habe.

Ich glaube, die Monate der Einsamkeit in der Zelle haben mich zugleich hart und sensibel werden lassen. Während der ganzen Zeit habe ich mit fast niemandem gesprochen. Man hat mich auch nicht vor Gericht gestellt. Ich wurde gut behandelt, man hat mir erlaubt, zu schreiben, man hat mir akzeptables Essen gegeben und meine Zelle ist nicht zu heiß. Aber ich kann nachts nicht schlafen, weil ich immer daran denke, was wohl aus Martin geworden ist, was mit Mercedes und ihrem Sohn Felipe passierte, weil ich an die vielen Freunde und Mitarbeiter aus der Nationalen Planung denke.

Ganz besonders schmerzt mich das Verhalten von Charles. Ich schenkte ihm mein vollstes Vertrauen und machte ihn zu meinem wichtigsten Mitarbeiter. Er war meine rechte Hand, er hatte Zugang zu allen wichtigen Regierungsunterlagen. Das war mein Fehler. Aus Naivität übers Ohr gehauen.

Ich habe erfahren müssen, daß man im Leben von Feinden umgeben ist, von böswilligen Kritikern, neidischen Menschen, die sich als deine Freunde ausgeben und nur auf eine Gelegenheit warten, um dir schaden zu können; um dich in den Dreck zu stoßen; um ihren Posten zu behalten.

Da mir aber so etwas noch nie passiert war, da mich noch nie meine Freunde oder Mitarbeiter verraten hatten, konnte ich mir auch nicht vorstellen, daß mir so etwas jemals passieren würde. 

Aber es kam der Tag, an dem es schließlich doch passierte.

Ich werde wohl nie erfahren, ob Charles tatsächlich ein richtiger Spion war, der in unser Land geschickt wurde, um Regierungs­geheimnisse auszukundschaften. Möglicherweise ist er einer gewesen. Martin, dieser Paranoiker mit seinen messianischen Phantasien, warnte mich vor Charles. Ich mochte Martin, aber ich mochte auch Charles, und deswegen konnte ich an keinem von beiden zweifeln und auch keine Entscheidung treffen, die nachteilig für eine von beiden Parteien gewesen wäre.

Eines Tages, als Charles sein Büro im Palast verlassen hatte, fand ich bei ihm einige Briefkopien, die er nicht abgeheftet hatte, weil er wohl wegen einer Sitzung in Eile gewesen war. Obwohl Charles mehrere Sekretärinnen hatte, erledigte er einen Teil seiner Arbeit immer selbst, was mir recht merkwürdig vorkam.

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Ohne es zu wollen, las ich die Briefkopien, verstand aber nicht viel davon. Sie waren an eine Adresse in Washington gerichtet und besagten eigentlich gar nichts. Möglicherweise waren sie verschlüsselt abgefaßt, aber in jenem Moment schöpfte ich absolut keinen Verdacht. Die Briefe waren so einfach, so banal, daß es mich schon wieder verwunderte; die Sekretärin konnte sie schreiben und ablegen, ohne daß irgendein Geheimnis damit verbunden war. Jedenfalls waren sie nicht ans Pentagon gerichtet. Natürlich nicht! (Aber nach Washington ...) Und der Inhalt so banal und simpel, daß ich ihn nicht verstand ...

Wenn ich sie nur verstanden hätte. Aber ich ließ die Briefe an ihrem Platz und schloß das Privatbüro meines Assistenten ab. Ich sagte ihm nicht, daß ich es während seiner Abwesenheit betreten hatte, und ich änderte auch mein Verhalten ihm gegenüber nicht im mindesten.

Wenige Wochen später kam die Invasion. Auch heute noch fällt es mir schwer, es zu glauben. Flugzeuge kamen und Schiffe, woher, weiß ich nicht, und Soldaten besetzten die Hauptstadt. Es war für sie sehr einfach, weil wir ja kein Militär mehr hatten und wehrlos wie ein kleines Kind waren. Wir hatten eine moralische Stärke, aber wir waren nicht militärisch stark. Die Invasoren forderten das Volk auf, sich gegen die Diktatur des Generals Martin L. Rey zu erheben, was es aber nicht tat. Unser Volk hatte vergessen, daß es — formal gesehen — unter einer Diktatur lebte; in Wirklichkeit tat jeder und konnte jeder tun, was er wollte, und es gab ja auch kein Heer mehr, um die Regierung zu unterstützen oder um irgendwelche subversiven Pläne zu vereiteln. Jedenfalls rebellierte niemand. Niemand unterstützte die Invasoren. Aber es gab auch niemanden, der Widerstand gegen sie leistete.

Auch heute noch, Monate nach diesem Ereignis, fällt es mir schwer, genau zu begreifen, wie sich alles ereignet hat. 

Es gab eine militärische Invasion, das ganze Land wurde besetzt und die Militärdiktatur des Generals M. L. Rey gestürzt. Dieser verteidigte sich, kämpfte allein, floh, und nahm sich wahrscheinlich zuletzt das Leben. Er sprang von der "Brücke der beiden Amerika", dem "Puente de las Americas", ins Meer. Etwas sehr Dramatisches und Aufsehenerregendes, ganz wie es Martins Art entsprach. Obwohl es natürlich auch möglich ist, daß man ihm "nachgeholfen" hat bei diesem Sprung.

Mich nahmen sie fest und schickten mich in diese Zelle, in der ich seit vielen Monaten bin. Ich habe die Zeit gut zum Schreiben genutzt und hoffe nur, daß irgend jemand das lesen wird, was ich geschrieben habe und dann eine gewisse Sympathie aufbringt für unsere gewaltigen Anstrengungen, hier eine perfekte Gesellschaft in den Tropen aufzubauen, mithilfe der Verhaltenswissenschaft, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen jungen Idealisten. Das was ich geschrieben habe, ähnelt einem intimen Tagebuch; vielleicht ist es das im Grunde ja auch.

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Meinen Mitarbeitern wurde erlaubt, das Land zu verlassen. Der größte Teil von ihnen ging nach Mexico und Venezuela, wo man ihnen sofort politisches Asyl angeboten hatte. Was mit Mercedes und ihrem kleinen Sohn geschehen ist, weiß ich nicht.

Der Angreifer-Staat rechtfertigte seine Aktion damit, daß er behauptete, wir hätten das Volk unterdrückt und ihm die menschliche Freiheit geraubt. Wir hätten die Kinder konditioniert, indoktriniert und ihre Köpfe kontrolliert. Man behauptete, wir seien eine "kommunistische" Gesellschaft mitten in den Tropen, ganz in der Nähe von Kuba, in der Mitte des amerikanischen Kontinents... Und das könnte nicht akzeptiert werden. Diese Invasion, diese Situation war jener in der Schweinebucht in Kuba sehr ähnlich. Schon allein deshalb, weil weder im einen noch im anderen Fall sich das Volk erhoben hatte, gegen die "Diktatur", wie es dies nach den Wünschen des Invasoren-Landes hätte tun sollen, um so die Invasion nachträglich zu rechtfertigen ... Aber, wie gesagt, wir hatten kein Militär mehr, wir hatten keine starke Schutzmacht, wir gehörten weder zur sowjetischen noch zur chinesischen Einflußsphäre. Und deshalb mußten wir scheitern.

 

Sollte einmal wieder jemand eine ideale Gesellschaft errichten wollen, so sollte er tunlichst die politischen Schwierigkeiten, denen wir begegneten, mit berück­sichtigen. Niemals ist ein Land allein im Panorama der Welt, und es geht nicht an, mit aller Welt verfeindet zu sein, unseren Weg zu beschreiten und eine Gesellschaft zu planen, und dabei die Interessen der Großmächte völlig aus dem Spiel zu lassen.

Wenn man es sich recht überlegt, ist es wohl sehr unwahrscheinlich, daß niemals wieder ein Land es unternehmen wird, eine ideale Gesellschaft zu konstruieren. Aber das werden dann sicher keine Pazifisten sein wie wir, und sie werden auch nicht so etwas Einfaches und Natürliches suchen, wie wir es wollten. Eine pazifistische Gesellschaft, die die Natur liebt und das ökologische Gleichgewicht achtet, ist nur eine allzuleichte Beute für diejenigen, die absolut keine Pazifisten sind, nichts für die Natur übrig haben und sich einen Dreck für die Ökologie interessieren.

Wenn ich an all das denke, habe ich einen süßsauren Geschmack im Munde. Wir hatten die Gelegenheit, die größten Träume der Menschheit Wirklichkeit werden zu lassen. Wir schafften es, die altbekannten Übel der menschlichen Gattung zu beseitigen. Wir suchten das, was uns mit den anderen Menschen eint, nicht das, was uns von ihnen trennt. Wir gaben jedermann Brot, ein Dach über den Kopf, Arbeit und die Chance, auf seine Art zu lieben. Wir verlangten nur, jeder möge die Rechte der anderen und die Natur respektieren.

Wo werden Mercedes und Felipe jetzt sein? Was werden die Invasoren jetzt mit diesem Land tun? 

Vermutlich wird es wieder zum traditionellen kapitalistischen System zurückkehren. Es wird wieder Elend und Arbeitslosigkeit, Konkurrenzdenken, Haß und Neid unter den Menschen geben. Die Kinder werden wieder an Krankheiten sterben, die man heilen könnte, weil ihre Eltern nicht die exorbitanten Preise für Medikamente oder medizinische Dienstleistungen zahlen können. Der Kalender wird wieder der alte sein, mit den altbekannten Monaten. Niemand wird mehr einmal im Jahr Zeit haben, um in Ruhe über sein Leben oder seine Arbeit nachzudenken. Alle werden viel zu sehr mit Kaufen und Verkaufen, Konsumieren und Wegwerfen beschäftigt sein, mit der Vergiftung der Umwelt und der Zerstörung der Natur.

Weshalb sind wir gescheitert? — Ich kann nur hoffen, daß uns die Geschichte eines Tages Gerechtigkeit widerfahren läßt. Daß man uns eines Tages objektiv "evaluiert". — Wo mögen Mercedes und Felipe sein?

 

 

An einem sonnigen Morgen sang der Frühling,
und als ich das Haus ohne dich sah, weinte mein ganzer Körper ...
Du ließest mich auf dem Weg zurück, du hast meine Hoffnung mitgenommen
Als der Weizen in der Erde meiner Seele golden war.
Du bist das Lied meiner Kindheit, die Klage meiner Gitarre,
und über das Meer, das dich bewacht,
bringe ich dir Rosen aus Frankreich
und die Wehklage meiner Gitarre ...

Una mariana de sol la primavera cantaba / y al ver la casa sin ti, todo mi cuerpo lloraba... / Me dejaste en el camino, te llevaste mi esperanza / cu-ando mäs rubio era el trigo, en la tierra de mi alma... / Eres mi canciön de infancia, el llanto de mi guitarra / y sobre el mär que te guarda / te traigo rosas de Francia / y el llanto de mi guitarra...

 

 

"Professor González", sagte eine Stimme mit deutlichem ausländischem Akzent, während es an meine Zellentür pochte. 
"Ja. Ich bin fertig, ich komme gleich mit."

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#

Ende 

 

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