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Im Visier der Stasi   Eine Rezension von Tina Kreuzmann   www.berliner-lesezeichen.de  

Ja, es stimmt: Menschen sind vergeßlich. Dies um so mehr, wenn sie sich in Lebenslagen befinden, die bedrohlich sind, angstmachend, ausweglos. So geht es vielen (nicht allen) Bürgern im Osten Deutschlands. Arbeitslosigkeit, steigende Lebenskosten, Sozialabbau — darüber vergißt so mancher, daß es Schlimmeres gab.

Aber "der Prozeß der deutschen Einheit ist noch keineswegs am Ziel angelangt. Wer dabei nur auf die großen Probleme sieht, die noch gelöst werden müssen, sollte immer bedenken: Das sind die Folgen der SED-Diktatur, die nun von uns allen gemeinsam aufgearbeitet werden müssen" — so mahnt Rainer Eppelmann im Vorwort zu einem Büchlein, das an "Die vergessenen Opfer der DDR" erinnern soll.

 

Geschrieben wurde das Buch von zwei Autoren, deren Herkunft (alte Bundesländer) Kompetenz und Engagement garantieren: Dr. Jürgen Aretz (geb. 1946), Tätigkeit im Bereich Menschenrechte/Entwicklungspolitik bei der Deutschen Bischofskonferenz, später im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, heute Leiter des Arbeitsstabes neue Länder im Bundeskanzleramt Bonn; Dr. Wolfgang Stock (geb. 1959), zunächst Nachrichtenredakteur der FAZ, später politischer Korrespondent in Bonn, heute leitender Redakteur der „Berliner Zeitung“ in Berlin.

Ihnen ist es ein echtes Bedürfnis und moralische Selbstverständlichkeit, sich den Opfern zuzuwenden, zumal

"in manchen Medienbeiträgen und Fernseh-Talkshows heute ein Bild von der DDR gezeichnet (wird), das wesentliche Teile der Realität ausklammert oder menschenverachtende Schändlichkeiten ... auf das Fehlverhalten einzelner reduziert. Teile der (west)deutschen Öffentlichkeit sind anscheinend auch jetzt noch nicht bereit oder imstande, Fehleinschätzungen aus der Zeit vor 1990 zu revidieren. Diese beschönigende SED/DDR-Darstellung führt dazu, daß die Opfer des SED-Regimes - und übrigens auch viele Bürgerrechtler - als ewig Gestrige erscheinen, als auf ihr individuelles Schicksal und die Vergangenheit fixierte Psychopathen, als Störer auf dem Weg zur 'inneren' Wiedervereinigung. Aber nicht die Opfer der SED und Bürgerrechtler stören diesen Prozeß, sondern die Verteidiger und subtilen Schönredner des untergegangenen Systems. Daß sie und ihre politischen Vertreter so viel Aufmerksamkeit in den elektronischen Medien finden, ist ein nahezu ebenso großer Skandal wie die Tatsache, daß die Opfer und jene, die in der DDR entscheidend zur Überwindung des Regimes beigetragen haben, von denselben Medien praktisch ignoriert werden.“ (S. 25)

Das mußte mal gesagt werden.

 

Daß wenigstens einmal in der deutschen Geschichte die Opfer nicht die Dummen sind - dafür braucht es leidenschaftliche Kämpfer, investigative Journalisten, aufrechte Politiker. Glücklicherweise hat dieses Land auch sowas. Bei der Präsentation des Buches in Bonn waren sie fast alle da: Gerhard Loewenthal, Ernst Dieter Lueg, Arnold Vaatz, Rainer Eppelmann, Vera Lengsfeld, natürlich die Autoren und Kanzleramtschef Friedrich Bohl, der ganz liebe Grüße vom Kanzler ausrichtete, der selbstverständlich auch ein Herz für die Opfer hat, für die DDR-Opfer. Einige der bekannteren begaben sich vor wenigen Monaten an seine Seite (wie in dem Gesellschaftsspiel: Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir die XY her). Dort geht es ihnen soweit ganz gut.

Von den unbekannteren Opfern hört man selten. Für etliche von ihnen ist das Leben nun endlich freier — aber nicht unbedingt leichter geworden. Diese Situation soll ein Gesetzentwurf verbessern. Danach können in der DDR politisch Verfolgte, die heute ein unterdurchschnittliches Einkommen beziehen, einen monatlichen Zuschuß von 200 bis 300 Mark beziehen. Der Bund will für diese Leistungen jährlich 10 Millionen Mark zur Verfügung stellen. Angehoben werden die Entschädigungen für Haftzeiten. Die Anerkennung gesundheitlicher Haftschäden soll erleichtert werden. Das betrifft zum Beispiel Brigitte Bielke. Ihr „Fall“ wird im vorliegenden Buch geschildert — er ist symptomatisch für den Eskalations­mechanismus.

Brigitte Bielke, 1946 geboren, Kindheit auf dem Dorf, Abschluß 10. Klasse der Polytechnische Oberschule, landwirtschaftliche Fachschule, später Diplom-Agraringenieurin an der Universität Rostock. „Auch ihr politischer Weg verlief unauffällig und durchaus staatskonform“ stellen die Autoren fest. Parteimitglied wurde sie aus Überzeugung. Sie heiratet einen Offizier der Volksmarine, hat zwei Söhne, arbeitet im "Rat für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft" Stralsund. Dort eckt sie durch kritische Fragen und Hinweise an (u.a. fordert sie vom Parteisekretär, sich mehr mit den Alltagssorgen der Menschen zu befassen als immer nur allgemeine politische Phrasen zu verkünden).

Sie geht als Produktionsleiterin in eine LPG. Konfrontiert mit dem DDR-üblichen Widerspruch zwischen zentralen Planauflagen und den realen Bedingungen, landet sie mit ihrer Kritik daran wieder bei den 150prozentigen Genossen, derentwegen sie die Stelle gewechselt hatte. Um der Klüngelwirtschaft zu entgehen, zieht sie nun um. Aber die Einstellungszusage wird zurückgezogen, als ihre Beurteilung vorliegt. Brigitte Bielke klagt dagegen — und gewinnt den Prozeß in 2. Instanz. Dann — inzwischen hat sie das Diplom — bewirbt sie sich erfolgreich als Berufsschullehrerin. Die Arbeit macht ihr Spaß "und die berufliche Freiheit sei viel größer gewesen, als es heute oft behauptet werde“. Trotzdem muß ihr Frust über die Umgangs­methoden gewachsen sein.

Der Entschluß, die DDR zu verlassen, entsteht, als sie erlebt, wie eine Bekannte wegen der Beziehung zu einem Schweden schikaniert wird. Mit kritischen Eingaben zu Alltagsfragen versucht sie „sozialistische Demokratie“ ernstzunehmen — erreicht nichts, und da reicht es ihr. Schließlich, es ist Juni 1986, geht sie demonstrativ nicht zur Wahl — und wird zur Unperson. An ihrer Schule lehnt sie die geforderte Stellungnahme ab und erklärt ihren Parteiaustritt. Fristlose Entlassung und (in Ignorierung ihres Austritts) Ausschluß aus der SED folgen. Sie klagt gegen die Entlassung — und zieht die Klage wieder zurück. Zu massiv sind die Einschüchterungen. Arbeit findet sie nicht mehr.

1987 stellen sie und ihr älterer Sohn einen Ausreiseantrag. Am 31. Juli 1988 hat Brigitte Bielke „Westbesuch“. Ihnen gibt sie Unterlagen mit, die bei der Ausreisekontrolle gefunden werden. Später ergeben die Stasi-Akten, daß Brigitte Bielke seit Jahren in ihrem Haus abgehört wurde. Am Abend des 31. Juli, gegen 22.30, dringen 12 Personen bei den Bielkes ein, durchsuchen das Haus, trennen die Familie (die Söhne sind 20 und 15 (!) Jahre alt) und bringen sie nach Halle, in den „Roten Ochsen“, der MfS-Zentrale. Entsprechend einer seit 1986 bestehenden Vorgabe beginnt nun das „Ermittlungsverfahren mit Haft“.

Ist der Vorgang bis hierher noch mit einiger Gutwilligkeit als politisch dumm, ignorant, kleinkariert zu bezeichnen, so beginnt ab diesem Zeitpunkt ein durch und durch menschenverachtender und von diffusen Feindverdächtigungen geprägter Umgang, den Brigitte Bielke in einem Haftbericht ausführlich schildert. Bericht und Auszüge aus den Stasi-Akten dokumentieren (wie in allen aufgeführten Fällen) die unerhörte Anmaßung des MfS, über gut und böse, Recht und Unrecht zu entscheiden. Erschreckend das Maß an Verkommenheit, wenn es darum geht, den angeblichen Gegner — wie Brigitte Bielke — kleinzukriegen. Wer es bis dato nicht war, der wurde es nun tatsächlich. Am 9. Mai 1989 erhalten Brigitte Bielke und ihr älterer Sohn die Ausbürgerungs­urkunden. Am 10. Mai reisen sie aus. Nach allem, was sie erlebt haben, kann es nur noch besser werden.

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de  

 


 

Aus des lieben Erichs dreckigen Kellern   
4. Januar 2003    Rezensent: cwkoerner  aus Hürth, Nordrhein-Westfalen

Zunächst: Ich bin im Westen aufgewachsen und habe als Zehnjähriger die Wende im Fernsehen gesehen, war also nicht direkt betroffen. Was bleibt da als Bild der DDR? Das war anscheinend ein netter sozialistischer Versuch, so schlimm war es da ja wohl nicht - ok, man musste auf seinen Trabbi 12 Jahre lang warten. Ok, es gab die Mauer und die Stasi gab's auch. Aber wenn in den neuen Bundesländern wieder fröhlich der Ostalgie gefrönt wird und der MDR auch nichts anderes sendet, war es ja wohl wirklich kein allzu schlimmes Regime. 

Dieses Buch zeigt - mit originalen Stasi-Akten zu den einzelnen Fällen belegt -, dass man bei einem solchen DDR-Bild doch so einiges ausspart und dass es die Freiheit des Andersdenkenden damals "drüben" nicht gab. Am besten liest man bei diesem Buch zuerst die letzten Seiten. Dort stehen Auszüge des StGB der DDR, nämlich die Paragraphen zu Tatbeständen wie "Staatsfeindliche Hetze" oder "Zusammenrottung". (Und das ausführliche Abkürzungsverzeichnis) Als ich mir dann die Berichte der Betroffenen durchlas, wurde mir klar, worin der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat (auch mit allen seinen Unzulänglichkeiten) und einem Ideologie- und Überwachungsstaat wie der DDR liegt. 

Repression gegen jene, die nicht "auf Linie" sind; Überwachung der einmal "Auffälligen"; willkürliche Festnahmen und entwürdigende "Untersuchungsmethoden"; Gerichtsverfahren, bei denen das Urteil vorher feststeht. Man muss schon ziemlich gefühlsarm sein, um hier nicht herauslesen zu können, welche Wirkungen diese Behandlung auf jene hatte, die nun "Staatsfeinde" und "Verbrecher" waren. In den für Normalsichtige gut leserlichen Stasi-Akten wird deutlich, wie technokratisch die Repression abgewickelt wurde und welcher immense Aufwand von Staats wegen getrieben wurde, um Individuen zu bespitzeln. Ein gutes und notwendiges Buch, das jedem Lehrer (etwa ab Klasse 8/9) für den Schulunterricht empfohlen sei.

DDR-Geschichte, wie sie wirklich war 
12. Februar 2000   Rezensent aus Hamburg
Wer sich nicht dem SED-Regime unterordnete, mußte mit Repressionen bis hin zu Gefängnis aus politischen Gründen rechnen: Christen und Pazifisten, Ausreisewillige und sozialistische Kritiker - dieses Buch bringt erschütternde Beispiele, wie "ganz normale" Menschen in der DDR ins GEfängnis geworfen wurden, nur weil sie ihre verbrieften Menschenrechte wahrnehmen wollten.

Ein Buch gegen das Vergessen   
12. Februar 2000   Rezensent aus Berlin
Stasi, mutiger Widerstand gegen eine Diktatur, Kirche: Ein packendes Thema gut beschrieben an einem erschütterndem Beispiel: der Selbstverbrennung des DDR-Pfarrers Oskar Brüsewitz 1976. Seine Tat wurde zur Initialzündung der Wende 1989. Sehr empfehlenswert.

 

Oberflächlich 
10. Januar 2000     Rezensent aus Hamburg   
Schade, hier wurde die Möglichkeit verspielt, Schicksale so zu schildern, dass sie dem Leser wirklich ans Herz gehen und die ihm die Schrecken verständlich vor Augen führen.

Das Buch plätschert sehr an der Oberfläche, die Original-Stasi-Akten bestehen aus ziemlich unleserlichen Kopien, die - auch nur bei einigen Berichten - den jeweiligen Schilderungen einfach "hinten angehängt" sind. Hier vermisse ich die Einarbeitung in die Berichte, für "Unkundige" die Erklärung von Abkürzungen.

Die Berichte selber: Es werden permanent Wiederholungen geschrieben. In jedem Bericht wird die Bedeutung des Zuchthauses Brandenburg erklärt. Allerdings in einem Halbsatz der Qualität "wo Politische mit Schwerverbrechern zusammengelegt wurden". Dies erinnert eher an einen Schulaufsatz als an eine fundierte Darstellung der Ereignisse der damaligen Zeit.

Es fehlt die Liebe zum Detail und die Autoren schaffen es nicht, dem Leser zu vermitteln, dass ihnen dieses Buch wirklich war. Nach der Hälfte hab ich das Buch enttäuscht beiseite gelegt. 

 


 

"Ich fühle mich zehn Jahre jünger"

Eine Odyssee mit Ende in Heidelberg

 

Zehn Jahre verbrachte er hinter Gittern. Und doch hat Bodo Strehlow weder einen Menschen totgeschlagen, noch Banktresore leergeräumt; er wollte frei sein und sich den Traum seines Lebens erfüllen: Das Physikstudium. Die DDR-Funktionäre sahen das allerdings anders.

http://www.ruprecht.uni-hd.de/ausgaben/57/ru05.htm

"Der Strehlow ist noch im Keller", berichtet mir ein junger Mann, der sich als Informatikstudent und Aushilfe des kleinen Neuenheimer Computer-Consulting-Unternehmens entpuppt. Er führt mich in Bodo Strehlows Büro, wo ich, umgeben von Computern in Einzelteilen, auf den "Chef" des Ein-Mann-Betriebes warte. Nüchterne Sachlichkeit regiert die Atmosphäre des Zimmers der riesigen Jugendstil-Villa; an den Wänden nichts Persönliches, nur Werbeplakate neuer Pentium-Prozessoren, eine in der Tiefe des Raumes verschwindende Zimmerpalme, nichts was dem Besucher auch nur ein Fünkchen Privates verraten könnte.

Ein hochgewachsener Mittvierziger betritt das Büro. Strehlows Gedanken sind anderswo, das bemerke ich schon beim Handschlag. Er nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz und fragt mich, was ich wissen möchte. Je tiefer wir uns in den nächsten zwei Stunden, die er mir Rede und Antwort stand, in seine Biographie begeben, desto sinnloser scheint mir meine allzu übliche Neugier. Hier geht es nicht nur um einen Menschen, der unter dem Eingesperrtsein in der DDR gelitten hat, sondern um ein ganzes Leben, dem zehn der besten Jahre gestohlen wurden.

Fluchtversuch über die Ostsee

Der Fluchtversuch, den der junge Bodo Strehlow am 4. August 1979 unternahm und der ihn für eine Dekade unseres Jahrhunderts in die Isolationshaft nach Bautzen brachte, liest sich wie eine dieser Hollywood-Räuberpistolen, deren Bleigehalt den Status als Kassenrenner sichert.

Nach dem Abitur 1975 stand für Strehlow der Wehrdienst an. Als er erfuhr, daß der Physik-Studienplatz nur erreichbar war, indem er sich für den verlängerten, vierjährigen Dienst entschied, sah er darin die einzige Möglichkeit, seinen Traum zu realisieren. Ohne Einfluß auf diese Entscheidung wurde er zur Marine nach Stralsund abkommandiert. Nach der Ausbildung versah er seinen Dienst auf einem Aufklärer der DDR-Flotte, dessen Aufgabe es war, Republikflüchtlinge aufzugreifen. Aufgrund regimekritischer Aussagen, die er auf dem Schiff gemacht hatte, erfuhr Strehlow 1979, daß er trotz des fast vollständig abgeleisteten Dienstes keinen Studienplatz erhalten sollte. Daher reifte in ihm der endgültige Entschluß, seine Position als Teil einer Schiffsbesatzung, die fast täglich Berührung mit bundesdeutschen Gewässern hatte, zur Flucht zu nutzen. Am 4. August 1979, die Besatzung war aus Urlaubsgründen von 21 auf ungefähr 15 Mitglieder geschrumpft, schloß Bodo Strehlow während der Nachtwache die gesamte, schlafende Besatzung seines Schiffes mit zwei Vorhängeschlössern unter Deck ein. Anschließend startete er die Dieselmotoren, um das Schiff in westdeutsche Hoheitsgewässer zu manövrieren, welche der Aufklärer, so hatte es Strehlow berechnet, innerhalb von 20 Minuten erreichen sollte. Seine Kameraden wurden vom Lärm der Maschine geweckt. Sie zündeten jedoch eine Handgranate und gelangten so an Deck. Mit einer weiteren Granate zielten sie auf Strehlow, der bei diesem Angriff schwer verletzt wurde und unter den Folgen noch heute erheblich leidet.

Isolationshaft in Bautzen

Obwohl sich der Aufklärer bereits in bundesdeutschen Gewässern befunden hatte, erhielt Strehlow keinerlei Hilfe eines in der Nähe patrouillierenden Schiffes des Bundesgrenzschutzes. Für den 24jährigen entscheiden diese Stunden sein ganzes Leben. Verhaftung, Prozeß, lebenslange Haft, während der er nur sechs Mal im Jahr für eine Stunde besucht werden durfte. Isolation. Die Jahre, in denen die meisten Menschen ihre soziale und berufliche Heimat finden, ziehen an Bodo Strehlow in Bautzen vorbei. Doch er gibt sich nicht auf. Auf Umwegen gelangen vier Physikbücher, ein Computer-Buch und, als Gipfel des Zynismus, der Studienführer westdeutscher Universitäten in seine Hände. Dieses halbe Dutzend Bücher erreicht im Lauf der Jahre für Strehlow einen biblischen Status.

Aber auch im Knast hält der Häftling Strehlow den Mund nicht. Es kommt immer wieder zu Verhören, bis er eines Tages 1984 nur knapp einem Mordversuch durch Vergiften entgeht. Das nach der Wende angestrengte Verfahren wird eingestellt, Strehlow überlebt knapp.

Am 21. Dezember 1989 ist der Alptraum zu Ende. Nichts mehr hält Bodo Strehlow im Osten. Der Berliner Rechtsanwalt Vogel erledigt für ihn die Formalitäten, begleitet ihn in den Westen der Stadt, von wo er nach Münster ausgeflogen wird. Ein Journalist nimmt sich seiner an und bringt ihn in den letzten Dezembertagen zu Günther Jauch in die Sendung "Menschen '89". Nachdem er dort den Wunsch bekräftigte, Physik zu studieren, bietet ihm der ehemalige Rektor der Universität Heidelberg und Professor der Physik zu Putlitz einen Studienplatz in Heidelberg an. Fortan lebte Bodo Strehlow in einem Studentenwohnheim im Neuenheimer Feld und tat endlich das, was er schon immer wollte. In Heidelberg lernte er auch seine Ehefrau kennen, gründete eine Familie und trat 1995 nach dem Vordiplom in die Selbständigkeit.

Student wird Unternehmer

Ich frage ihn, wie er mit der Erinnerung an Bautzen und der tagtäglichen Gewißheit umgeht, zehn Jahre seines Lebens an ein Unrechtsregime verloren zu haben, dessen Existenz die Westdeutschen gerne vergessen. "Es gibt viel zu tun", antwortet er und beschreibt mit seiner Hand einen Bogen, der wohl sinnbildlich sein junges Unternehmen einschließen soll und bricht in ein selbstironisches Lachen aus. In Strehlows Leben regiert die Verdrängung, jedenfalls in dem Gesicht, das er der Öffentlichkeit zeigt. Es ist schwierig, ihn davon abzubringen, den Teil des Interviews, welcher die Zeit seiner Haft betrifft, mit beißendem Zynismus zu würzen. Allein die Tatsache, daß er über unser Gespräch die Zeit und damit den Beginn der Schulung vergißt, die er leitet, zeigt mir, daß jedesmal Steine ins Rollen kommen, wenn von Bautzen die Rede ist.

Im nächsten Jahr wird sich die Wende zum zehnten Mal jähren, wird Bodo Strehlow am 21. Dezember seinen zweiten Geburtstag feiern. Und die wiedervereinten Deutschen? Kennen wirklich alle die Geschichte der unzähligen Strehlows, die nicht nur in Bautzen in Haft waren? "Ich fühle mich zehn Jahre jünger", sagt Bodo Strehlow. Und lacht. (job)

 

 

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