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Die SED-Diktatur und ihr Erbe

    Einleitung von Aretz/Stock  

 

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Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 und insbesondere die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 beendeten für unser Land einen historischen Ausnahme­zustand, eine Zeit der nationalen Anomalität.

Es war nicht nur einfach die Anomalität einer staatlichen Teilung: Es war die Spaltung in zwei Systeme, die sich – in diesem einen Punkt hatte Erich Honecker recht — vertrugen wie Feuer und Wasser. Auf der einen Seite ein freiheitlicher und demokratischer Staat, der seinen Bürgern viele, nicht zuletzt materielle Entfaltungs­möglichkeiten bot — auf der anderen Seite ein politisches System, das unter der Fahne des Sozialismus seinen Bürgern elementare Freiheits- und Menschenrechte vorenthielt und durch die zentral verwaltete Mangelwirtschaft den Menschen auch die materiellen Perspektiven verweigerte, die ihrem Leistungs­willen und ihrer Leistungs­fähigkeit entsprochen hätten.

Die Deutschen in der DDR, die nach der umfassenden, stetig perfektionierten Einmauerung vom 13. August 1961 opponierten oder einfach nur ihre persönliche Meinung äußerten, erlebten die Härte und oft genug die Brutalität eines Regimes, das auf die außenpolitische Entspannung mit der Verschärfung der Repression nach innen reagierte. Tausende unschuldiger Deutscher haben das in den Zuchthäusern Hoheneck, Bautzen, Cottbus, in Waldheim und anderswo erfahren müssen.

In der DDR mußte darüber geschwiegen werden, weil sonst Konsequenzen zu befürchten waren; im Westen wurde darüber kaum gesprochen, weil das Interesse sich in erster Linie auf Menschenrechtsverletzungen an den fernen Nächsten in Lateinamerika, Afrika und Asien richtete. 

Das oft genug als »anti-kommunistisch« abqualifizierte Engagement für den nahen Nächsten auf der anderen Seite der innerdeutschen Grenze blieb Sache kleiner Gruppen und einzelner Idealisten. Viele, die im Westen um Hilfe für ihre in der DDR inhaftierten Verwandten oder Freunde baten, haben dies schmerzhaft erfahren müssen.

Nicht nur mangelnde oder mangelhafte Unterrichtung durch westdeutsche Medien hat zu dieser Schieflage beigetragen, sondern auch das fehlende Verständnis für die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der beiden politischen Systeme. Zwar ist die DDR für die ganz überwältigende Mehrheit der Westdeutschen nie ein politisches Vorbild gewesen – Ausnahmen bildeten linke Studenten­gruppierungen und andere elitäre Zirkel –, aber diese westdeutsche Mehrheit wußte sehr wenig von der DDR, wie sie wirklich war. Man sah sie überwiegend als einen funktionierenden Staat. Freiheitliche »Defizite« in der DDR wurden längst nicht mehr in allen politischen und kirchlichen Lagern kritisch wahrgenommen.

Die auch in der Bundesrepublik eifrig verbreitete Propaganda hatte vielerorts gewirkt: Preiswertes Wohnen und sichere Arbeitsplätze für alle, besonders aber die durch den Sozialismus begründete vermeintliche allgemeine Solidarität der DDR-Deutschen schienen den westdeutschen Wohlstand zu kompensieren, der mit soviel Streß und Verlust an Lebensqualität in der angeblichen »Zwei-Drittel-Gesellschaft« erkauft werden mußte.

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Tatsächlich hätte die Legende von der sozialen Sicherheit und dem stetigen Fortschritt in der DDR nicht mehr lange aufrecht­erhalten werden können - das geheime »Schürer-Papier« vom Oktober 1989, verfaßt von dem Wirtschaftsfachmann des SED-Politbüros, machte deutlich, daß der wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR unmittelbar bevorstand. Die Arbeitsplätze waren ebenso wie viele »soziale Errungenschaften« nur scheinbar sicher, und schon 1990 wäre dies, so die SED-interne Analyse, offen zutage getreten.

Es ging aber in der DDR nicht nur um eine gescheiterte Wirtschaft oder um ein »relatives« Weniger an Freiheit. Die DDR war – ideell wie materiell – ein qualitativ anderer Staat als die Bundesrepublik Deutschland. Das macht auch ein nachträglicher Blick in die DDR-Verfassung deutlich. Diese Verfassung definierte den Staat bereits in ihrem ersten Artikel unmißverständlich als das Herrschafts­instrument der Arbeiterklasse und als Staatsziel den Sozialismus: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.«

Die Verfassung der DDR bildete – im Unterschied zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland – nicht einen Rahmen, in dem die Anhänger verschiedener politischer Ideen wetteifern. Der DDR-Staat diente vielmehr der Verwirklichung eines politischen Zieles, das von der SED als übergeordneter Instanz festgelegt wurde.

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Wer Grundrechte, etwa das in der Menschen­rechts-Charta der Vereinten Nationen von 1948 garantierte Recht auf Meinungsfreiheit (Menschenrechts-Charta Artikel 19) in Anspruch nehmen wollte, um eine von der Staatsideologie abweichende Auffassung zu vertreten, verstieß in der Logik des SED-Regimes gegen die staatliche Ordnung und mußte bestraft werden.

In extremer Weise galt dies auch für die Inanspruchnahme des Rechtes auf Freizügigkeit, das die Menschenrechts-Charta der UNO in ihrem Artikel 13 garantiert. Die DDR ignorierte diese Zusicherung und stempelte Menschen, die ausreisen wollten, zu Außenseitern, und diejenigen, die nachdrücklich auf ihrem Ausreiseantrag beharrten, zu Kriminellen.

»Grenzbrecher«, wie man in der DDR-Sprache jene nannte, die aus Deutschland (Ost) über die Mauer nach Deutschland (West) fliehen wollten, waren zu »vernichten«. Als Folge davon sind 900 Menschen bei dem Versuch, die DDR zu verlassen, erschossen oder von Minen zerfetzt worden, sind andere in der Ostsee ertrunken.

Nicht nur für viele Opfer des SED-Regimes bleibt es unverständlich, daß in den 80er Jahren eine Reihe von Ministerpräsidenten westdeutscher Bundesländer die Finanzierung der >Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter< eingestellt haben, in der die Menschen­rechts­verletzungen an der innerdeutschen Grenze unter der Leitung von Staatsanwälten erfaßt wurden.

Alle wesentlichen politischen Entscheidungen in der DDR sind vom SED-Politbüro getroffen worden; dieses Politbüro war das höchste Machtorgan im SED-Staat. Durch die totale Instrumentalisierung des Staatsapparates hat das Politbüro Aufbau, Struktur, Organisation, personelle Zusammensetzung und Aufgabenstellung aller für Sicherheitsfragen zuständigen Organe bestimmt und gesteuert. In politisch wichtigen Fällen wurden sogar Gerichtsurteile im Politbüro festgelegt, oft erhöhte man das von dem jeweiligen Gericht vorgeschlagene Strafmaß.

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Ein Staat, der sich als das Herrschaftsinstrument einer einzigen Partei definiert, kennt weder unabhängige Gerichte noch eine andere Art von Gewaltenteilung. »Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege« war folgerichtig der entsprechende DDR-Verfassungs­abschnitt überschrieben, und auch die politische Gesinnung der Richter wurde festgelegt: »Richter kann nur sein, wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist.« (Artikel 94 DDR-Verfassung) Ein anderes als das sozialistische Recht gab es nicht. So wurde auch der »Kommentar« – oder in diesem Falle genauer: die Interpretations- und Gebrauchs­anweisung – des Strafgesetzbuches der DDR durch das Ministerium der Justiz herausgegeben, wiederum eine Stelle, die selbstverständlich von der SED gelenkt war.

Unabhängig von der Rechtspraxis stand also bereits die Rechtstheorie der DDR in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn zum Teil vordergründig dieselben Begriffe verwandt wurden. Allerdings war niemand in der DDR gezwungen, Richter oder Staatsanwalt zu werden. Wer diese Berufslaufbahn einschlug, hat das in Kenntnis einer Rechtstheorie und einer Rechtspraxis getan, die der Idee von vorstaatlichen Freiheits- und Abwehrrechten der Bürger radikal widersprach. Die Richter und Staatsanwälte der DDR haben sich freiwillig in den Dienst eines Unrechts­systems gestellt und oft in einer Weise »Recht« gesprochen, die jeder Menschlichkeit hohn spricht.

Im nachhinein verweisen viele von ihnen auf die Gesetze der DDR und darauf, daß sie nicht anders hätten handeln können. Damit machen sie es sich entschieden zu einfach. Unabhängig davon, daß sie aufgrund einer freiwilligen Entscheidung tätig waren, schloß das Strafrecht der DDR,

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die so sehr um internationale Anerkennung und Reputation bemüht war, zumindest theoretisch die Berufung auf den Befehlsnotstand aus: »Auf Gesetz, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich.« (§ 95 StGB DDR)

Die internationalen Konventionen zum Schutz der Menschenrechte – von der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen bis zur KSZE-Schlußakte – sind von der DDR unterzeichnet worden, und diese Texte waren den Richtern bekannt. Eine Berufung auf Befehlsnotstand durch ehemalige DDR-Richter und Staatsanwälte kann daher nicht in Betracht kommen. Im Zweifelsfalle hätten sie ihr Amt aufgeben können – bisher ist aber kein einziger entsprechender Fall bekannt geworden.

»Das sozialistische Recht der Deutschen Demokratischen Republik dient der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft«, so die Präambel des Strafgesetzbuches der DDR. Zu diesem Zweck wurden besondere Straftatbestände und Strafrahmen konstruiert, die für freiheitliches und rechtsstaatliches Denken nicht nachvollziehbar sind. Wer etwa Personen, Menschenrechts­initiativen oder Gefangenenhilfsorganisationen im Westen über seinen Ausreisewunsch unterrichtete, lief sofort Gefahr, wegen der Weitergabe von »der Geheimhaltung nicht unterliegende(n) Nachrichten zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik« (§ 99 StGB DDR) verurteilt zu werden; der Strafrahmen reichte bis zu zwölf Jahren Haft.

Schuldig der »staatsfeindlichen Hetze« machte sich bereits, wer ein »A« als Kürzel für die beantragte Ausreise in den Westen an einem Fenster seiner Wohnung anbrachte: »Wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschafts­ordnung der

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Deutschen Demokratischen Republik angreift oder gegen sie aufwiegelt, indem er Schriften, Gegenstände oder Symbole zur Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse von Repräsentanten oder anderen Bürgern herstellt, einführt, verbreitet oder anbringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren bestraft. Vorbereitung und Versuch sind strafbar« (§ 106, Abs.1 und 3 StGB DDR); wer dabei mit Organisationen oder Einzelpersönlichkeiten zusammenwirkte, »deren Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik gerichtet ist« – womit Organisationen im Westen gemeint waren, die sich kritisch zur DDR geäußert hatten – mußte mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen (§ 106, Abs. 2 StGB DDR).

»Widerrechtliches Passieren der Staatsgrenze«, wie Flucht und Fluchtversuch im offiziellen Kommentar des DDR-Strafrechtes genannt wurden, konnte »in schweren Fällen« mit bis zu acht Jahren Freiheitsentzug bestraft werden (§213 Abs. 3 StGB DDR). Ein schwerer Fall lag zum Beispiel vor, wenn »die Tat zusammen mit anderen begangen wird« (§213 Abs. 5 StGB DDR), also Freunde oder ein Ehepaar das Fluchtvorhaben gemeinsam planten oder durchführten. Schon die Vorbereitung, etwa der Kauf einer Landkarte des Grenzgebietes, konnte zu einer Haftstrafe führen. Der Versuch, Menschen beim Verlassen der DDR zu helfen, war – ohne daß ideelle Motive entlastend gewesen wären – wegen »staatsfeindlichen Menschenhandels« mit einer lebens­länglichen Freiheitsstrafe bedroht.

In der Lebenswirklichkeit der DDR wurden aus dem Rechtssystem willkürliche und unmenschliche Maßnahmen abgeleitet: Sie schlossen die Verbannung politisch Mißliebiger in kleine Orte fern der bisherigen Arbeitsstätte und dem vertrauten sozialen Umfeld ein. Ihren perfiden Höhepunkt erreichten sie mit der Wegnahme von Kindern, wenn die Eltern (oder die Mütter) sie angeblich nicht im Sinne des Systems zur »sozialistischen Persönlichkeit« erziehen würden.

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Etliche dieser zwangsadoptierten Kinder sind von ihren Müttern bis heute nicht wiedergefunden worden, andere waren ihnen nach der langen Zeit der Trennung völlig entfremdet.

Der in Gesetzesform gegossene Staatsterrorismus der DDR wurde durch das »Ministerium für Staatssicherheit« (MfS), das wichtigste Herrschafts­instrument der SED und im offiziellen Jargon »Schirm und Schild der Partei«, in furcht­erregenderweise mit Leben erfüllt. Nicht weniger als 91.000 hauptamtliche und 174.000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) kontrollierten 1989 knapp 17 Millionen Deutsche in der DDR – Kleinkinder und Greise eingerechnet

Hochgerechnet auf die Bevölkerung des wieder­vereinigten Deutschland würde ein solches Spitzelsystem mehr als 1,2 Millionen Mitarbeiter haben müssen ... Übrigens waren auch mehrere zehntausend West-Deutsche als IM tätig. Die Stasi-Akten z.B. der Autoren dieses Buches gehen auf west-deutsche Spitzelberichte zurück.

Kein Lebensbereich war in der DDR von der Bespitzelung durch die Stasi unberührt – ob Arbeits- oder Ausbildungsplatz, Schule, Freizeit, nicht zuletzt der häusliche und familiäre Bereich vieler, die in das Blickfeld der »Stasi« geraten waren. Ihr besonderes Interesse richtete die Stasi auf Intellektuelle, Künstler, Öko- und Friedensinitiativen sowie den kirchlichen Bereich. Wer in irgendeiner Weise von der geforderten sozialistischen Alltagsnorm abwich, wer West-Kontakte pflegte, Kritik übte oder gar einen Ausreiseantrag stellte, konnte der Stasi-Bespitzelung nicht entgehen. Die Stasi war – bis in die Zeit des SED/PDS-Parteichefs Modrow, unter dem das Ministerium für Staatssicherheit lediglich einen neuen Namen erhielt – ein Instrument permanenter Überwachung und Bedrohung.

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Spitzel gab es in der DDR überall, und der Stasi gelang es sogar, Freunde und Verwandte der Überwachten für ihre Dienste zu gewinnen. Erpreßbarkeit wegen kleinerer »Vergehen«, die Drohung mit Nachteilen oder Verfolgung der Familie, das Ausnutzen menschlicher Schwächen und nicht zuletzt ideologische Überzeugung halfen bei der Anwerbung. Zu den scheußlichsten Methoden der Stasi gehörte es, den Ehepartner oder die kirchliche Vertrauens­person eines Stasi-Zieles in die Bespitzelung einzubeziehen. Selbst das ist gelungen.

Meist ist das MfS aus »aktuellem« Anlaß aktiv geworden, aber es hat auch langfristig und perspektivisch angelegte Aktionen gegen Mißliebige durchgeführt. Dazu gehörte, daß die Abwesenheit der »Observationsobjekte« benutzt wurde, um in der Privat­wohnung und am Arbeitsplatz Abhörgeräte zu installieren. Das Telefon stand dabei meist an erster Stelle. Für die Überwachungs­aktionen, die den gesamten Tagesablauf einer »Zielperson« umfassen konnten, wurde kein technischer Aufwand und kein Personaleinsatz gescheut, wenn die Stasi-Vorgabe lautete: »Ermittlungsverfahren mit Haft«. Es ist erwiesen, daß das »Erste Kommissariat« der regulären Kriminalpolizei häufig in Stasi-Aktionen einbezogen war.

Als sich das Ende der DDR abzeichnete, plante die Stasi in zahlreichen Orten Internierungslager. In ihnen sollten Personen zusammengefaßt werden, die bereits mit dem System in Konflikt geraten waren, und solche, die als oppositionelles Potential in Betracht kamen und daher aus der Sicht des Regimes ausgeschaltet werden mußten. Offen bleibt bis heute, wie in einem solchen Fall das Schicksal der betroffenen Frauen und Männer ausgesehen hätte – in den Stasi-Unterlagen, welche die Gauck-Behörde rekonstruieren konnte, ist von »Liquidierung« die Rede.

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Der Verlauf der Ereignisse hat die Umsetzung dieser Pläne unmöglich gemacht. Nach dem 9. November 1989 haben die Verantwortlichen buchstäblich viele Kilometer Akten vernichtet; das Schicksal zahlreicher Stasi-Opfer kann daher ebenso­wenig im einzelnen in den Akten nachvollzogen werden wie Details der geplanten Stasi-Großaktionen.

Das MfS war aber nicht nur in der DDR tätig. Besonders westdeutsche Organisationen und Einzelpersonen, die sich für politische Häftlinge und Ausreisewillige in der DDR einsetzten, waren vorrangige Zielobjekte. In einer Geheimrede vor hohen Stasi-Offizieren nannte der »Minister für Staatssicherheit« der DDR, Erich Mielke, im Oktober 1978 ausdrücklich die Menschen­rechts­initiative »Hilferufe von drüben« (Hvd), deren Gründung auf eine Berichtsserie in dem von Gerhard Löwenthal geleiteten »ZDF-Magazin« zurückging, die »Internationale Gesellschaft für Menschenrechte« (IGFM), das »Brüsewitz-Zentrum« und die »Hilfsaktion Märtyrerkirche« als »Feindzentralen«, welche die DDR bekämpften und deshalb von der Stasi zersetzt werden müßten.

Innerhalb des MfS war dazu eine eigene Abteilung (Zentrale Koordinierungsgruppe / ZKG) mit 20 hauptamtlichen Mitarbeitern unter Leitung des Oberstleutnant Arnim Ullmann eingerichtet worden, deren ausschließliches Ziel es war, Hvd und IGFM zu bekämpfen. Allein auf >Hilferufe von drüben<, einen eingetragenen Verein mit gerade zwölf Mitgliedern und etwa fünf ständigen Helfern in der Vereinszentrale, setzte die Stasi 83 Inoffizielle Mitarbeiter an.

Zwar sammelte diese Abteilung eifrig Material – die nur zum Teil erhaltenen Akten des Zentralen Operativvorganges (ZOV) »Zentrale« umfassen allein für Hvd und IGFM mehr als 3.500 Aktenblätter –, aber die beabsichtigte Infiltration der »Feindzentralen« im Westen mißlang.

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Hvd und ihr Vorsitzender Claus-Peter Clausen wurden von der Stasi mit Brand- und Bomben­anschlägen bedroht, die Arbeit der IGFM sollte durch angebliche rechtsradikale Verbindungen diskreditiert werden, welche die Stasi durch gezielte Desinformation verbreitete. Auch Aktionen gegen Hvd wollte die Stasi der rechts­extremen Szene in die Schuhe schieben; zur Ausführung der schriftlich erhaltenen Absichten kam es dann aber nicht mehr.

Neben den »Feindzentralen« zielte die Stasi auch auf einzelne, entsprechend engagierte Persönlichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland; ihre politische Bedeutung oder ihre gesellschaftliche Stellung spielte dabei keine Rolle. Besondere Gefahr ging aus Stasi-Sicht beispielsweise von dem Hamburger Taxifahrer Erich Dangschat und dem Hiltruper Missionsbruder Theo Köning aus, die besonders aktiv für politische Häftlinge und Ausreisewillige eintraten. Während Dangschat immer wieder neue briefliche Wege zu den Betroffenen fand und – soweit von ihnen gewünscht – ihre Fälle öffentlich machte, schrieb »Bruder Theo« in die DDR, schickte den »Politischen« Päckchen, organisierte konkrete Hilfe in der Bundesrepublik und schenkte den Menschen, die gerade das SED-Regime hatten hinter sich lassen können, seine persönliche Zuwendung.

Jene hilfsbereiten Menschen in West­deutschland, die sich wie Dangschat und Bruder Theo aus meist christlichen Motiven in den Menschen­rechts-organisationen für die bedrängten Landsleute in der DDR einsetzten, mußten nach der Öffnung der Stasi-Archive erfahren, daß auch sie in Westdeutschland ganz persönlich von der Stasi ausgespäht und »bearbeitet« worden sind.

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Häftlinge, die wegen gescheiterter Fluchtversuche oder wegen anderer politischer »Vergehen« in der DDR einsaßen, setzten oft ihre ganze Hoffnung in die Arbeit der »Feindzentralen«. Von vielen westdeutschen Medien wurden sie hingegen kaum wahrgenommen und noch seltener unterstützt.

Angesichts der menschenunwürdigen und brutalen Haftbedingungen war es mehr als verständlich, daß für die Gefangenen, die um ihre Freilassung und die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland kämpften, jede Woche, jeder Tag zählte: Einsperrung in völlig überfüllten Zellen unter unsäglichen hygienischen Bedingungen, die Zusammenlegung mit kriminellen Schwerverbrechern, die offenkundig durch das Personal bevorzugt wurden, die Verweigerung ärztlicher Hilfe, die menschenunwürdige Behandlung besonders weiblicher Gefangener, das Verbot der Kommunikation mit anderen Häftlingen oder mit der Außenwelt, Arbeits­normen, die kaum zu erreichen waren, und die oft gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, das unzureichende und in manchen Fällen ekelerregend aufbereitete Essen, das Ungeziefer in den Zellen, körperliche und seelische Mißhandlungen und nur sehr selten ein Wärter, der eine Spur von Menschlichkeit erkennen ließ – das war der jahrelange Alltag von Menschen, die sich nach rechtsstaatlichen Normen nicht das geringste hatten zuschulden kommen lassen.

Ungeachtet ihrer parteipolitischen Zusammensetzungen hatten alle Bundesregierungen seit den frühen 60er Jahren Gefangene aus diesen Haftbedingungen und aus der DDR »freigekauft«. Den Politikern war klar, daß sie durch die Sachlieferungen, mit denen der »Preis« bezahlt wurde, die DDR auch ein Stück weit ökonomisch stabilisierten und die DDR ihr aus Gefangenen bestehendes »Angebot« beliebig erhöhen oder verringern konnte. Die Bundesregierungen hatten aber keine andere Möglichkeit, den oft langen Leidensweg der politischen Gefangenen abzukürzen und ihnen den Weg in die Bundesrepublik Deutschland zu öffnen.

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Die Betroffenen haben durch das Freikaufverfahren, das zeitweise heftig umstritten war, nicht nur ihre Freiheit vorzeitig wieder­erlangt, für viele war die Haftverkürzung der Schutz vor weiteren körperlichen oder seelischen Schäden. Hatte es die DDR früher immer wieder verstanden, Kriminelle unter die Gruppen freigekaufter politischer Häftlinge zu mischen und sich damit tatsächlicher Verbrecher zu entledigen, beendete die Bundesregierung in den 80er Jahren diese Praxis. Seitdem wurden nur noch wirklich politisch Verfolgte freigekauft.

Das »Freikaufsgeschäft« wurde unter wesentlicher Beteiligung des Ost-Berliner Rechtsanwaltbüros Vogel abgewickelt. Seine Mitarbeiter und er selbst waren auch an zahlreichen Prozessen beteiligt, die aus politischen Gründen geführt wurden. In auffallend vielen Fällen weicht das, was die ehemaligen Mandanten von Wolfgang Vogel über seine Rolle berichten, erheblich von dem ab, wie er sein »hilfreiches Tun« beschreibt. Das 1996 ergangene (erstinstanzliche) Urteil gegen Vogel wegen »Erpressung Ausreisewilliger« spricht eine deutliche Sprache. (In einem zweiten, anders gelagerten Fall ist Vogel allerdings in erster Instanz freigesprochen worden.)

Generell haben DDR-Anwälte in »politischen« Fällen meist nur eine formale Verteidigung geführt und die Anschuldigungen der DDR-Staats­anwaltschaft inhaltlich widerspruchslos hingenommen. In zahlreichen Prozessen hat es keine gemeinsame Verteidigungs­vorbereitung von Anwälten und Angeklagten gegeben; oft genug fand vor Prozeßbeginn nicht ein einziges persönliches Gespräch statt. Auch die Tatsache, daß solche Gespräche von der Stasi abgehört wurden, erklärt für die damals Angeklagten bis heute nicht das Verhalten ihrer Anwälte.

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Viele ehemalige Gefangene, die in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert waren, haben schwere seelische, nicht wenige von ihnen auch körperliche Schäden davongetragen. Manche leiden selbst jetzt noch, Jahre nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes, unter ernsten seelischen Erkrankungen, andere haben sichtbare körperliche Narben davongetragen.

Ihre Richter, Staatsanwälte, die Gefängnis­wärter und Kriminal­polizisten, und nicht zuletzt die offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi sind meist ohne Bestrafung davongekommen.

Nicht die »Verhältnisse« oder ein abstraktes System sind für das Geschehene verantwortlich, sondern jene, die es erdacht, aufgebaut und bis 1989 getragen haben. Kann man den Opfern des SED-Regimes ihre Verbitterung verdenken, wenn sie ehemalige Stützen und aktive Helfer dieses Regimes immer noch oder heute wieder in wichtigen Funktionen sehen, während sie selbst durch die DDR-Maschinerie aus der Berufs- und der Lebensbahn geworfen worden sind? Wie muß es auf sie wirken, wenn etwa der frühere Eislebener Stasi-Dienst­stellenleiter Kittler, heute PDS-Politiker, sagt: »Ich bereue keine Sekunde meines Lebens«?

Im Geschäftsbereich des Innenministeriums von Brandenburg ist nur jeder fünfte Mitarbeiter, der von der Gauck-Behörde als Stasi-belastet erkannt wurde, auch tatsächlich entlassen worden (Stand: Juli 1996). Andererseits hat kaum ein Denunziations­opfer entgangene Ausbildungs­qualifikationen oder Berufserfahrungen aufholen können, manchen ist es überhaupt nicht mehr gelungen, beruflich wieder Fuß zu fassen.

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So wichtig es ist, den Menschen eine Chance zu geben, die in der Vergangenheit geirrt haben, noch wichtiger – und auch moralisch geboten – wäre es, sich in erster Linie denen zuzuwenden, die unter dem Regime gelitten und aktiv zu seiner Überwindung beigetragen haben.

Offenkundig sind wir von dieser moralischen Selbstverständlichkeit noch weit entfernt. In manchen Medienbeiträgen und Fernseh-Talkshows wird heute ein Bild von der DDR gezeichnet, das wesentliche Teile der Realität ausklammert oder menschen­verachtende Schändlichkeiten, die nicht wegdiskutiert werden können, auf das Fehlverhalten einzelner reduziert. Teile der (west-) deutschen Öffentlichkeit sind anscheinend auch jetzt noch nicht bereit oder imstande, Fehleinschätzungen aus der Zeit vor 1990 zu revidieren.

Diese beschönigende SED/DDR-Darstellung führt dazu, daß die Opfer des SED-Regimes – und übrigens auch viele Bürger­rechtler – als ewig Gestrige erscheinen, als auf ihr individuelles Schicksal und die Vergangenheit fixierte Psychopathen, als Störer auf dem Weg zur »inneren« Wiedervereinigung.

Aber nicht die Opfer der SED und Bürgerrechtler stören diesen Prozeß, sondern die Verteidiger und subtilen Schönredner des untergegangenen Systems. Daß sie und ihre politischen Vertreter so viel Aufmerksamkeit in den elektronischen Medien finden, ist ein nahezu ebenso großer Skandal wie die Tatsache, daß die Opfer und jene, die in der DDR entscheidend zur Überwindung des Regimes beigetragen haben, von denselben Medien praktisch ignoriert werden.

Wenn wir es mit der »inneren« Wiedervereinigung ernst meinen, wenn auch Versöhnung zwischen Opfern und Tätern das Ziel sein soll, ist historische und politische Wahrhaftigkeit eine Grundvoraussetzung. Das schließt konsequenterweise auch die Bereitschaft ein, jene zur Verantwortung zu ziehen, die anderen geschadet und davon möglicherweise auch noch persönlichen Vorteil gehabt haben – übrigens manchmal bis in die Zeit nach der staatlichen Wiedervereinigung.

Vielleicht können wir Deutschen von dem Beispiel Südafrikas lernen und dem dortigen Bemühen, das menschenunwürdige Apartheid­system aufzuarbeiten. Jene, die in der Zeit des alten Regimes an Verletzungen der Menschenrechte und entsprechenden Straftaten beteiligt waren, können heute Straffreiheit erlangen, wenn sie ihr Handeln vor einer »Wahrheitskommission« offenlegen. 

Eine solche »Wahrheitskommission«, die durch den Bundespräsidenten berufen werden könnte, wäre eine wichtige Ergänzung zu der parteiübergreifenden Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die seit 1992 einen Beitrag zur »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur« leistet.

Kollektives Vergessen, das Verdrängen von Unrecht und Schuld und die Hoffnung darauf, daß die belastenden Akten rechtzeitig vernichtet worden sind, können keine Basis für unsere gemeinsame Zukunft in Deutschland sein.

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