Start   Weiter

12  Renate und Harry Lichtenberg / Berufung auf die KSZE-Schlußakte führt ins Zuchthaus

 

Harry Lichtenberg und seine Frau Renate aus Magdeburg waren bereits in ihrer Jugendzeit mit dem SED-Regime in Konflikt geraten. 1984 stellten sie für sich und ihre beiden Söhne (damals sieben und zwei Jahre alt) zum wiederholten Male Ausreiseanträge. Wegen der Kontaktaufnahme mit Persönlichkeiten in der Bundesrepublik, die ihr Anliegen unterstützten, wurden sie verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

 

216

»Wir haben noch Glück gehabt« — so kommentierten Harry und Renate Lichtenberg ihr Schicksal, als sie nach elfmonatiger Haft und Trennung von ihren Kindern am 29. Juni 1985 in Hamburg als Familie wieder vereint waren. Die Behandlung durch die Stasi und die »Haftgemeinschaft« mit Mördern hatte ihnen klargemacht, wie das Regime auf Abweichungen von der DDR-Norm reagierte.

Harry Lichtenbergs Vater, der ein kleines Taxiunternehmen in Magdeburg betrieb, hatte kurz vor dem 13. August 1961 bereits einen großen Teil des Hausrats nach Berlin (West) geschafft und so die Flucht aus der DDR vorbereitet, als Harrys älterer Bruder ernsthaft erkrankte. Während seines Krankenhaus­aufenthalts wurde der Fluchtweg im wahrsten Sinne des Wortes zugemauert.

Von einer »sozialistischen« Erziehung konnte vor diesem Familienhintergrund nicht die Rede sein. 1972 unternahm der damals 16jährige Harry einen ersten, sehr naiven Fluchtversuch mit dem Interzonenzug. Bereits in Stendal, weit vor der innerdeutschen Grenze, wurde er aus dem Zug geholt und verhaftet. Bei den anschließenden Vernehmungen redete er so, wie er dachte, und das Regime reagierte auf seine Weise: Er erhielt 20 Monate Jugendhaft. 

Weil er während seiner Haftzeit als »Aufrührer« eingeschätzt wurde, mußte er entgegen den Jugendschutzbestimmungen der DDR in drei Schichten arbeiten. Auftraggeber für die in der Haft gefertigten Waren war ein westdeutsches Versandhaus.

Mit 18 Jahren wurde Harry Lichtenberg entlassen und schlug sich anschließend als Wagenwäscher, Beifahrer und Fahrer bei der PGH Delikata durch. Von 1977 an war er im väterlichen Taxenbetrieb tätig.

Im gleichen Jahr heiratete er Renate Wisotzke, geboren 1958 in Thorun (Thorn), Polen, die seit 1962 mit ihrer Familie in der DDR lebte. Die Eltern waren in der Landwirtschaft tätig und ganz unpolitisch. Renate schloß die Oberschule ab und trat, um einen Ausbildungsplatz zur Fachverkäuferin zu erhalten, in die FDJ ein. Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, verließ sie die FDJ gleich wieder. Der Zusammenstoß mit dem Staat war vorprogrammiert.

Der offene Konflikt trat ein, als sie in der Berufsschule die wirtschaftlichen Mängel in der DDR kritisierte. Sie solle schweigen, herrschte sie der Lehrer an, sie sei ein »Nichts«, und als sie auf ihrer Kritik beharrte, drohte er ihr, sie werde »ausgelöscht wie ein kleines Licht«. Was es bedeutete, als junger Mensch in der DDR »ausgelöscht« zu werden, erfuhr Renate bei der Prüfung, mit der sie die Ausbildung abschließen sollte. Angeblich hatte sie nicht bestanden — aber eine Überprüfung oder die Einsicht in die Unterlagen wurde ihr verweigert. Im Rückblick stellte sie fest, daß wohl in dieser Situation ihr »Haß« auf das Regime entstanden sei.

217


Als Harry und Renate Lichtenberg 1977 heirateten und noch im selben Jahr, ihr Sohn Enrico geboren wurde, lösten sie das Wohnungsproblem durch die Bestechung eines SED-Stadtrates in Magdeburg-Nord. Nachdem 1982 der zweite Sohn Falco zur Welt gekommen war, wurde die Wohnung zu klein. Sie suchten ein Haus und vereinbarten den Kauf, mußten aber dieses Mal die Korruptheit des Regimes zu ihrem Nachteil erfahren. Der zuständige SED-Stadtrat verweigerte ihnen die in der DDR notwendige Zuzugsgenehmigung, weil er das Haus einem Freund zuschieben wollte.

Renate Lichtenberg hatte 1980 im Rahmen einer »Erwachsenenqualifizierung« die Ausbildung zur Fachkellnerin begonnen. 1982 wollte sie ihre Prüfung ablegen. Erst später fand sie heraus, wie groß das Interesse der Stasi an ihrem Fall war: Das MfS hatte den Gaststättenleiter angewiesen, sie in der praktischen Prüfung gegebenenfalls mit Verfahrenstricks durchfallen zu lassen. Der Plan funktionierte nicht: Renate Lichtenberg bestand mit »gut«.

Der Sohn Enrico sorgte unterdessen im Kindergarten für Aufsehen. Der Fünfjährige imitierte eine Zeichentrickfigur aus der ZDF-Unterhaltungssendung >Der große Preis<, womit klar wurde, daß die Eltern das westdeutsche Fernsehprogramm der sozialistischen TV-Unterhaltung vorzogen. Prompt gab es für sie eine Verwarnung und die Androhung, Enrico werde aus dem Kindergarten ausgeschlossen. Wenig später überraschte der Kleine seine Eltern mit Geschichten von »bösen Amerikanern« und »guten DDR-Waffen«.

218


Renate Lichtenberg, die jede militaristische Erziehung ablehnte, erklärte ihrem Jungen, »alle Waffen« seien schlecht. Enrico gab auch das umgehend im Kinder­garten wieder, eine weitere Verwarnung der Eltern folgte.

Die Lichtenbergs, für die das der »i-Punkt« war, meldeten den Sohn daraufhin aus dem Kindergarten ab und stellten einen Ausreiseantrag. In einer Vorladung wurde ihnen erklärt, der Antrag sei unzulässig, weil sie keine verwandtschaftlichen Beziehungen in die Bundesrepublik Deutschland hätten. Die Beschwerde, die sie beim Rat der Stadt gegen die Ablehnung einlegten, begründeten sie u.a. mit dem verweigerten Hauskauf. Sie forderten eine 3-Zimmer-Wohnung oder die Möglichkeit zur Ausreise. Noch einmal versuchte es das Regime auf die »sozialistisch-gütige« Art: Sie wurden zur Wohnungs­verwaltung vorgeladen, wo man sie vergeblich mit dem Hinweis auf den 10. Parteitag der SED und die dort zu erwartenden Beschlüsse zur Wohnraum­schaffung beschwichtigen wollte.

Den Eheleuten war klar, daß sie eine andere Begründung für ihren Ausreiseantrag finden mußten. In der Staatsbibliothek suchten sie nach Literatur zum Thema »Menschenrechte«. Durch Zufall fiel ihnen eine Abhandlung über die Wiener Konvention in die Hände, aus der sie den Schluß zogen, daß die von der DDR unterzeichneten internationalen Abkommen wie die KSZE-Schlußakte innerstaatliche Rechtswirkung hatten. 

Ihren zweiten Ausreiseantrag begründeten sie mit entsprechenden Zitaten und Verweisen und fügten eine Äußerung Honeckers hinzu, der nach ihren Informationen in einem Interview mit der Saarbrücker Zeitung ausgeführt hatte, jeder Bürger eines Landes habe das Recht, sein Land zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.

219


Einer zweiten Vorladung durch die »Behörde des Innern« im Herbst 1983 folgte die resolute Renate Lichtenberg ohne ihren Mann, der nachts arbeitete und, so ihre Meinung, tagsüber schlafen müsse. Dafür nahm sie einen ihrer Söhne mit. Das mehrstündige Verhör kreiste immer wieder um die Frage, warum die Lichtenbergs ausreisen wollten. Renate Lichtenberg machte daraus kein Hehl. Sie kritisierte die eingeschränkte Reisefreiheit, die Verweigerung der beruflichen Selbständigkeit und schließlich: »Wir sind nicht mit der Mauer einverstanden und damit, daß dort Menschen erschossen werden.«

Als sie auch noch die Erwartung äußerte, im Westen besser und vor allem ohne Bevormundung leben zu können, war aus der Sicht des MfS das Maß voll: Sie sei nicht imstande, ihre Kinder zu »sozialistischen Persönlichkeiten« zu erziehen, und für diese Einschätzung werde man genügend Zeugen finden, um ihr die Kinder wegzunehmen.

Ihr Ehemann Harry wurde getrennt vorgeladen. Er berief sich auf die KSZE-Schlußakte, die auch von der DDR unterzeichnet worden war, und die dort vereinbarte Freizügigkeit. Aber die KSZE-Akte war für das MfS bedeutungslos. Ausdrücklich warnte die Stasi Harry Lichtenberg unter Hinweis auf das Strafgesetzbuch der DDR, Kontakte im Westen zu suchen und auf diese Weise Unterstützung für das Ausreisebegehren zu finden: Das sei illegal und werde Konsequenzen haben. Im übrigen könne er so viele Ausreiseanträge stellen wie er wolle — sie würden ohnehin nicht bearbeitet.

220


Die Lichtenbergs beantworteten diese zynische Aufforderung auf ihre Weise: Tatsächlich wiederholten sie im Abstand von vier bis sechs Wochen ihren Ausreiseantrag. Die Situation änderte sich, als sie durch einen in die DDR geschmuggelten Illustrierten-Ausschnitt von der Tätigkeit ihres Hamburger Taxi-Kollegen Erich Dangschat erfuhren, der sich für Ausreisewillige und Häftlinge in der DDR einsetzte.

Sie nahmen mit ihm und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) Kontakt auf — und wurden im Juli 1984 von der Stasi abgeholt. Das MfS wollte auch gleich die Kinder »in Obhut« nehmen — Renate Lichtenberg konnte das aber mit letztem Einsatz verhindern. Die Kinder wurden bei der Großmutter untergebracht.

In der Untersuchungshaft wurde ihnen anwaltlicher Beistand verweigert. Es kam noch schlimmer: Wegen ihres anhaltenden Protestes wurde Renate Lichtenberg mit Injektionen »ruhiggestellt«.

Durch Klopfzeichen konnte sie sich mit ihrem Ehemann verständigen, der als Folge eines ungewöhnlichen Zufalles in der Nebenzelle einsaß. Harry Lichtenberg protestierte zur Verblüffung der Vernehmer gegen die Mißhandlungen seiner Frau. Sie wurden daraufhin beendet, offenkundig aus der Sorge, diese Information könne weitere Kreise ziehen.

Nach dreimonatiger Untersuchungshaft wurden Harry und Renate Lichtenberg wegen Landesverrats und illegaler Nachrichtenübermittlung angeklagt. Ein Anwalt des Büros Vogel, der sie vertrat, verhielt sich eher »passiv« und suchte sie mit dem Hinweis zu beruhigen, es werde »nicht so schlimm«. Das Urteil widerlegte die Prognose: Harry Lichtenberg wurde zu drei Jahren, seine Frau zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Der Anwalt deutete an, daß möglicherweise eine vorzeitige Ausreise in Betracht komme. Beide setzten ihre ganze Hoffnung in diese unbestimmte Äußerung.

221


Harry Lichtenberg verbüßte seine Haft in Cottbus, überwiegend in der Gesellschaft anderer politischer Häftlinge. Renate Lichtenberg wurde dagegen in das Frauenzuchthaus Hoheneck verbracht. In einer Zelle mit 15 Betten und offenen Toiletten war sie gemeinsam mit Frauen inhaftiert, die wegen Raub-, Kindes- oder Gattenmordes verurteilt waren. Wie die übrigen Häftlinge mußte Renate Lichtenberg im Drei-Schicht-System Bettwäsche für den Export in die Bundesrepublik nähen. Den hohen Akkord-Anforderungen stand eine völlig unzureichende Versorgung gegenüber. Kakerlaken im Speiseraum und selbst im Brotbehälter, unzureichender Hofgang, für den Fall abweichenden Verhaltens waren schlimme Sanktionen angedroht.

Als Renate Lichtenberg sich weigerte, an den politischen Schulungen teilzunehmen, wurden ihr Besuche und der Empfang von Paketen verboten. Zeichnungen, die ihre kleinen Kinder den Briefen an die Mutter beigefügt hatten, wurden von einer Wärterin, Oberleutnant Suttinger, vor ihren Augen zerrissen.

Nach elfmonatiger Haft konnte die Bundesregierung Harry und Renate Lichtenberg im Mai 1985 »freikaufen«. Beide reisten in die Bundesrepublik Deutschland aus.

Mit Hilfe von Erich Dangschat fand die Familie in Hamburg Wohnung und Arbeit. Möbel und Renovierungskosten bezahlte ein aktives Mitglied der CDU. Endlich, nach sechs Wochen, konnte eine Tante aus dem Westen auch die Kinder aus der DDR holen, nicht ohne daß die Stasi noch einen letzten Versuch unternommen hätte, den Eltern das Sorgerecht wegzunehmen.

222


In der Umbruchzeit des Frühjahres 1990 fanden Renate und Harry Lichtenberg in einem Dorf bei Magdeburg einen der Schöffen aus ihrem Verfahren. Frau Lichtenberg war der Mann aus der Jugendzeit als Bürgermeister von Niederndodeleben bekannt. Er sei in seine Rolle von der Stasi gezwungen worden, suchte er sich zu verteidigen, und ängstlich bat er sie darum, nichts zu sagen — sein Sohn wisse von nichts. Sie fragte ihn, ob er angesichts dessen, was er ihr und ihren Kindern angetan habe, Gewissensbisse empfinde. Der Schöffe schwieg.

Die DDR-Erfahrungen der Familie Lichtenberg waren damit noch nicht beendet. Im Spätsommer 1990 suchten Harry und Renate Lichtenberg über ihren ehemaligen Anwalt Schumann aus dem Büro Vogel Kontakt mit dem Gericht in Magdeburg aufzunehmen, das sie verurteilt hatte. Der Versuch blieb ohne Ergebnis, weil ihr ehemaliger Anwalt nicht reagierte.

Sie fuhren schließlich am 4. Oktober 1990 ohne Ankündigung nach Magdeburg, um »ihren« Richter zu sprechen. Der Pförtner suchte ihnen in DDR-typischer Bevormundung auch noch einen Tag nach der Wiedervereinigung Deutschlands den Zutritt zum Gerichtsgebäude zu verweigern, aber die Drohung mit der Presse ließ ihn schlagartig erkennen, daß der vorangegangene Tag auch für sein Verhalten Konsequenzen hatte.

Nach einer Wartezeit von einer Stunde konnten Harry und Renate Lichtenberg schließlich eines Richters habhaft werden. Er behauptete, die Richter und Staatsanwälte aus DDR-Zeiten seien ohne Ausnahme abgezogen. Renate Lichtenberg fand den Beweis für das Gegenteil ganz schnell, als sie ihn zur Seite schob und in das angrenzende Besprechungszimmer ging. Sie sah dort Staatsanwalt Kadaschafka, den Mann, der in ihrem Prozeß die Anklage vertreten hatte. Als er davonzulaufen versuchte, hielt sie ihn entschlossen fest.

Auf ihre Vorhaltungen erklärte er achselzuckend, wenn er sie seinerzeit nicht angeklagt haben würde, hätte es eben ein anderer gemacht. Sie bezeichnete ihn als das, wofür sie ihn hielt: als Verbrecher. Ihre Frage, wie er sich fühle, beantwortete er nicht. Wie der Schöffe fand auch der Staatsanwalt kein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung. Vielmehr mußte sie feststellen, daß Staatsanwälte und Richter im Herbst 1990 noch in denselben Funktionen waren und die Übergangsmonate dazu genutzt hatten, wichtige Unterlagen aus früheren Prozessen verschwinden zu lassen.

Harry Lichtenberg und seine Frau Renate sind nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie leben und arbeiten heute in Hamburg. Im Rückblick stellten sie fest, daß sich »unsere Pläne und Wünsche fast alle erfüllt« haben. »In Freiheit leben, Gesundheit und unser kleiner Betrieb — und daß unsere Kinder in Freiheit und ohne Bevormundung aufwachsen können.« 

223-224

#

Original-Stasi-Akten:

 

 

225-229

#

  ^^^^