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2.  Der Ursprung des nicht-kapitalistischen Weges  

"Einen Magier, Medizinmann, Schamanen, für den ein Mehrprodukt miterzeugt wurde, hatte es schon Jahrtausende gegeben. Jetzt aber erzeugte der Umfang der intellektuellen Aufgaben eine Priester­korporation, die hierarchisch im Tempel organisiert war, die Pläne des Gottes für sein Volk entwickelte und seinen Reichtum verwaltete."  Seite 83

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Zwischen 1905 und 1923 hat es sich entschieden und seit 1945 ist es offensichtlich geworden, daß der Menschheits­fortschritt im 20. Jahr­hundert andere Wege geht, als Marx und Engels voraussehen konnten. Sie hatten diejenige Gesellschaftsformation analysiert, zu der der europäische Teil der Menschheit (Nordamerika eingerechnet) auf seinem spezifischen Weg über antike Sklaverei und germanischen Feudalismus gelangt war, und den Schluß gezogen, daß die von ihnen aufgedeckten inneren Antagonismen des Kapitalismus unmittelbar zu dessen Sprengung durch eine proletarische Revolution führen würden. 

Die Reaktionen und Entwicklungen, mit denen die Völker Asiens (das uns hier auch für Afrika und, bedingter, für Lateinamerika stehen kann) auf die europäische Welteroberung für den kapitalistischen Markt antworteten, interessierten sie hauptsächlich im Hinblick auf die Zuspitzung der innerkapitalistischen Widersprüche, auf die Verbesserung der Kampfbedingungen für das europäische Proletariat. 

Es war Lenin, der im Zusammenhang mit den antikolonialen Bewegungen und Revolutionen in Persien, der Türkei, China, Indien, die auf die russische Revolution von 1905 folgten, als erster die sich ankündigende Verlagerung des revolutionären Sturmzentrums nach dem »Osten« erkannte und die herannahende nächste russische Revolution auch unter diesem Gesichtspunkt zu sehen begann. Lenin gelangte am Ende seines Lebens zu einer Verallgemeinerung dieser neuen Situation, die bis heute noch nicht Allgemeingut der europäischen, auch nicht der sowjetischen Marxisten geworden ist.

Worum es sich letztlich handelt, ist die Tatsache, daß der Fortschritt in unserer Epoche weniger direkt von den inneren, mehr von den aus ihnen folgenden äußeren Widersprüchen des Imperialismus ausgeht. Schon die Oktoberrevolution war nicht, oder war und ist jedenfalls weit mehr als der (aus beschränkter europäischer Erwartungsperspektive »deformierte«) Stellvertreter der ausgebliebenen proletarischen Erhebung im Westen. 

Sie war und ist vor allem die erste antiimperialistische Revolution in einem trotz begonnener eigener kapitalistischer Entwicklung noch überwiegend vorkapitalistischen Land, mit halb feudaler, halb »asiatischer« sozialökonomischer Struktur. Ihre Aufgabe war noch nicht der Sozialismus, so aufrichtig die Bolschewiki daran glaubten, sondern die schnelle industrielle Entwicklung Rußlands auf einem nichtkapitalistischen Weg. 

Erst jetzt, wo diese Aufgabe weitgehend gelöst ist, steht in der Sowjetunion der Kampf um den Sozialismus auf der Tagesordnung. Und nun ist es nicht nur für uns in den europäischen nichtkapitalistischen Ländern, sondern im Hinblick auf den morgigen Tag für die meisten Völker der Erde von ungeheurem Interesse, wie sich dieser Übergang vollziehen wird. Man möchte sich vorurteilslos darüber klar werden, welchen Charakter die Produktions­verhältnisse in der Sowjetunion wirklich tragen, welche Konsequenzen sich in ihrer gegebenen sozialen und nationalen Struktur vorbereiten. Ebenso wichtig ist natürlich China. In den europäischen Ländern, die mit der Sowjetunion verbunden sind, interessiert — wegen des größeren Ablauftempos — vor allem die politische Entwicklung als Ausdruck der gleichen sozialen Widersprüche, die auch die originale Sowjetgesellschaft kennzeichnen. 

Aber zu alledem später.

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Die Verlagerung der Hauptkampflinie von den inneren auf die äußeren Widersprüche des Imperialismus, die sich in der gewiß zweifelhaften, aber höchst bedeutsamen Losung »Weltdorf gegen Weltstadt« widerspiegelt, ist von erstrangiger Bedeutung für die Bestimmung aller übrigen Positionen in den revolutionären Programmen der Gegenwart. 

Man muß sich darüber klar sein, daß sie nach der klassischen marxistischen Tradition nicht zu erwarten war. Sie hat neben praktischen auch theoretische Konsequenzen bis in die marxistische Geschichtsauffassung hinein. Zusammenhang und Abfolge der ökonomischen Formationen und insbesondere unsere gegenwärtige Übergangsperiode im Weltmaßstab werden in einem veränderten Licht erscheinen, wenn wir sie nicht nur unter dem gewohnten Gesichtspunkt der Aufhebung des Privateigentums, sondern auch im Hinblick auf das Schicksal der alten Klassengesellschaften Asiens, Afrikas und des vorkolumbianischen Amerika zu begreifen suchen. 

In diesen Ländern hat das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das» die maßgebliche Triebkraft der historischen Dynamik in Europa war, niemals jene formationsbestimmende Rolle gespielt wie in unserer Antike, unserem Feudalismus und Kapitalismus. Sie sind heute gerade deshalb agrarische »Entwicklungsländer«, in denen die Aufhebung des überlieferten wie des kompradorischen Privateigentums nur die negative Bedingung des Fortschritts ist, nicht wie in reichen Ländern, in denen die positive Aneignung des erarbeiteten Reichtums, der entwickelten Produktivkräfte durch das befreite Volk möglich wird. 

Alle diese außereuropäischen Kulturen, die auf der von Marx so genannten asiatischen Produktionsweise basieren und die zum großen Teil viel älter sind als unsere, stagnierten in einer Bewegung, die ihr Symbol in dem auf der Stelle sich drehenden Rad der buddhistischen Lehre gefunden hat, als der europäische Kapitalismus-Kolonialismus aufgrund seiner industriellen Revolution ihren inneren Zusammenhang zu sprengen begann.

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Unter ihren verrotteten orientalischen Despotien konnten die betroffenen Völker weder dem Kattun noch den Kanonen durchschlagenden Widerstand entgegensetzen. Und wenn doch wenigstens den Kanonen, dann wie die Türken und vor allem die Russen durch aktive Assimilation der »europäischen Errungenschaften« auf dem Gebiet des Militärwesens, die die kapitalistische Durchdringung um so sicherer nach sich zog.

Es war nur realistisch, wenn Marx z.B. 1853 in bezug auf Indien (siehe die beiden Aufsätze in MEW 9/127 ff. und 220 ff.) zu dem Schluß gelangte, der britischen Herrschaft käme dort objektiv die Aufgabe zu, die materiellen Grundlagen einer westlichen, d. h. kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu schaffen. Die Frage war gar nicht, »ob die Engländer ein Recht hatten, Indien zu erobern, sondern ob ein von den Türken, den Persern, den Russen erobertes Indien dem von den Briten eroberten vorzuziehen wäre«. 

Denn während es keinem Zweifel unterlag, »daß das von den Briten über Hindustan gebrachte Elend wesentlich anders geartet und unendlich qualvoller ist als alles, was Hindustan vorher zu erdulden hatte«, hatte doch England »die größte und, die Wahrheit zu sagen, einzige soziale Revolution« hervorgerufen, »die Asien je gesehen«. 

Und die Frage war, »ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien«. Weil nun aber die Geschichte der britischen Herrschaft in Indien kaum etwas verzeichnete, was über die Zerstörung der überlieferten Sozialstruktur hinausging, würden die Inder »die Früchte der neuen Gesellschaftselemente ... nicht eher ernten, bis in Großbritannien selbst die heute herrschenden Klassen durch das Industrieproletariat verdrängt oder die Inder selbst stark genug geworden sind, um das englische Joch ein für allemal abzuwerfen«.

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Diese zuletzt erwähnte Alternative ist jedoch verständlicherweise nicht charakteristisch für die damalige Perspektive von Marx, und der Ausgang des indischen Aufstandes wenige Jahre später gab ihm darin recht. Es hatte auch keine weiteren Konsequenzen, daß Engels die Chancen der mit geeigneteren Methoden kämpfenden Taiping-Rebellen in China günstiger beurteilte. Die beiden Freunde hielten an der Verallgemeinerung fest, mit der der abschließende der beiden Indienaufsätze Marxens endet: 

»Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker (!) unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte«. 

Für Rußland z. B. sah Marx 1881 im Falle einer solchen Revolution im Westen sogar die Möglichkeit einer umfassenden sozialen Reorganisation nach dem Prinzip der heutigen chinesischen Volkskommunen (MEW 19/384 ff.). Die überkommenen Dorfgemeinschaften sollten sich gebietsweise zusammenschließen und in diesem größeren Rahmen die industriellen Errungenschaften eines nunmehr sozialistischen Westens übernehmen und anwenden. 

Dieselbe Grundeinstellung spricht noch aus Engels' letzten Äußerungen über die Aussichten der russischen Revolution aus dem Jahre 1894: 

»Dagegen ist es nicht nur möglich, sondern gewiß, daß, nach dem Sieg des Proletariats und nach Überführung der Produktionsmittel in Gemeinbesitz bei den westeuropäischen Völkern, den Ländern, die der kapitalistischen Produktion eben erst verfallen und noch Gentil­einrichtungen oder Reste davon gerettet haben, in diesen Resten von Gemeinbesitz und in den entsprechenden Volksgewohnheiten ein mächtiges Mittel gegeben ist, ihren Entwicklungsprozeß zur sozialistischen Gesellschaft bedeutend abzukürzen ... Aber dazu ist das Beispiel und der aktive Beistand des bisher kapitalistischen Westens eine unumgängliche Bedingung ... Und dies gilt von allen Ländern vorkapitalistischer Stufe, nicht nur von Rußland. In Rußland aber wird es verhältnismäßig am leichtesten sein, weil hier ein Teil der einheimischen Bevölkerung sich bereits die intellektuellen Resultate der kapitalistischen Entwicklung angeeignet hat ...« 

(MEW 22/428 f.).

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Der Sturz des Zaren-Despotismus werde »auch der Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Anstoß und neue, bessere Kampfbedingungen geben und damit den Sieg des modernen industriellen Proletariats beschleunigen, ohne den das heutige Rußland weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen kann« (MEW 22/435).

Die Geschichte hat diese ursprüngliche marxistische Prognose einschneidend korrigiert. Während sich die kapitalistische Ordnung nun schon in einer dritten Phase in ihren inneren Widersprüchen bewegt, statt so an ihnen zugrunde zu gehen, wie es ihr Marx für die erste und Lenin endgültig für die zweite Phase vorausgesagt hatte, sind viele Völker der vorkapitalistischen Länder auf ihren eigenen Weg zum Sozialismus aufgebrochen. Die proletarische Revolution im Westen hat es nicht gegeben; und ihr Eintreten in der bisher erwarteten Form wird immer unwahrscheinlicher. Die russische Revolution war von ganz anderem Typ. Wesen und Charakter einer Revolution werden nur bedingt durch das Programm und den Heroismus der Avantgarde bestimmt, die ihre erste Etappe bestreitet. Die Sowjets von 1905 und 1917 haben die Pariser Kommune fortgesetzt, doch nach ihnen reißt diese Kontinuität ab. 

Heute müßte gerade das Festhalten an der Hoffnung auf einen klassischen sozialistischen Umsturz im Westen zu einem sonst kaum begründeten Pessimismus führen. Die Revolutionen in Rußland und China, auf dem Balkan und in Kuba haben wahrscheinlich nicht weniger, sondern mehr zum allgemeinen Fortschritt beigetragen, als die erhofften proletarischen Revolutionen im Westen vermocht hätten. 

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Dabei ist der Marxismus auf einer Linie, die sich durch die Namen Lenins, Mao Tse-tungs, Nkrumahs und Castros kennzeichnen läßt, über Rußland nach Asien, Afrika und Lateinamerika gewandert. Er repräsentiert heute unvergleichlich mehr und Vielfältigeres als in der Ära von Marx, und zwar auch in seiner Bedeutung für Europa. Es geht nicht um seine »Reinheit«, sondern um seinen einfach nicht monopolisierbaren Gebrauch als Werkzeug zum Studium und zur Veränderung der sozialen Wirklichkeiten (deren Mehrzahl betont werden muß, damit man die Differenzierung des marxistischen Denkens positiv begreifen kann). 

Der historische Materialismus selbst verbietet es, die Verhältnisse in der Sowjetunion, in Volkschina usw. daran zu messen, ob sie den »authentischen Marxismus« realisieren, wie er andererseits auch erklären kann, warum sich die offiziellen Vertreter der verschiedenen Richtungen um den Alleinbesitz der Wahrheit streiten. Nicht der Buchstabe der Theorie, der historische Prozeß ist authentisch. Stellt doch schon der Leninismus in seiner Theorie und erst recht in seiner Praxis eine beträchtliche »Revision« der orthodoxen Lehre dar, die das große Verdienst des Begründers der Sowjetunion ist. 

Lenins Blick für die revolutionären Möglichkeiten der asiatischen Völker war zunächst schon von vornherein durch die erlebte Einsicht in den halbasiatischen Charakter der russischen Verhältnisse geschärft. Wie auch später betonte er schon im Jahre 1900, als die russische reaktionäre und liberale Presse die zaristische Beteiligung an der imperialistischen Polizeiaktion gegen den sogenannten Boxeraufstand in China mit einer Hetzkampagne gegen die barbarischen, kultur- und zivilisationsfeindlichen Chinesen begleitete, die Verwandtschaft der sozialen Probleme, vor denen die Völker Rußlands und Chinas standen: 

»Das chinesische Volk leidet unter denselben Übeln, unter denen .das russische Volk schmachtet — unter einer asiatischen Regierung, die. aus den hungernden Bauern Steuern herauspreßt und jedes Streben nach Freiheit mit Waffengewalt unterdrückt —, unter dem Joch des Kapitals, das seinen Weg auch ins Reich der Mitte gefunden hat« (LW 4/375).

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Das Wort »asiatisch« umschreibt hier eine spezifische Form von Herrschaftsverhältnissen. In diesem Sinne sagte Lenin andernorts: 

»Rußland ist in sehr vielen und sehr wesentlichen Beziehungen zweifellos ein asiatischer Staat, und dabei ein ganz besonders barbarischer, mittelalterlicher, schändlich rückständiger asiatischer Staat« (LW 18/153). 

Vor dem Hintergrund dieser historischen Verwandtschaft beobachtete er, wie auf die russische Revolution von 1905 ganz ähnliche Ereignisse in der Türkei, in Persien und vor allem 1911 in China folgten, wie es zugleich in Indien und Indonesien zu gären begann. Es unterliegt keinem Zweifel, schloß er schon 1908, daß die kolonialistische Raub- und Unterdrückungspolitik der Europäer die asiatischen Völker für einen siegreichen Kampf gegen die Unterdrücker stählen wird. Die russische Revolution besitzt in Europa (das moderne Proletariat) und in Asien einen großen internationalen Verbündeten (LW 15/176 ff.). 1913 gab er einem Aufsatz die bezeichnende Überschrift »Das rückständige Europa und das fortgeschrittene Asien« (LW 19/82 f.). Er schrieb: 

»Das Erwachen Asiens und der Beginn des Kampfes des fortgeschrittenen Proletariats Europas um die Macht kennzeichnen die neue Ära der Weltgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts angebrochen ist« (LW 19/69). 

Mag die Erwähnung Asiens an erster Stelle ein Zufall sein, sie ist doch charakteristisch für die beginnende Akzentverschiebung. In einer Betrachtung über die historischen Schicksale des Marxismus aus dem gleichen Jahr 1913 betonte er mit Bezug auf den »neuen Herd heftigster Weltstürme« in Asien ebenfalls:

»Wir leben heute gerade in der Epoche dieser Stürme und ihrer <Rückwirkung> auf Europa ... Manche Leute, die den Bedingungen der Vorbereitung und Entwicklung des Massenkampfes keine Aufmerksamkeit schenkten, wurden durch den langen Aufschub des entscheidenden Kampfes gegen den Kapitalismus in Europa zur Verzweiflung und zum Anarchismus getrieben ... Nicht Verzweiflung, sondern Zuversicht müssen wir aus der Tatsache schöpfen, daß Asien mit seinen 800 Millionen in den Kampf um dieselben Ideale einbezogen wurde, um die in Europa gekämpft wird ... Nach Asien begann sich auch Europa zu rühren ...« 

(LW 18/578 f.). 

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Charakteristisch für die Leninsche Position ist der Hinweis darauf, daß die philosophischen und politischen Losungen des antiimperialistischen Befreiungs­kampfes von den Idealen der europäischen bürgerlichen und proletarischen Revolution abstammen. Deshalb bedeutet die neue Rolle Asiens nicht etwa, daß »das Licht nun aus dem mystischen, religiösen Osten leuchtet«. »Nein, gerade umgekehrt. Das heißt, daß der Osten endgültig den Weg des Westens betreten hat« (LW 18/154), den auch Rußland eingeschlagen hatte. Zumindest theoretisch hielt ja Lenin bis zuletzt an der Überzeugung fest, »daß die soziale Revolution in Westeuropa zusehends heranreift« (LW 31/140). Aber nach 1917, in der Zeit des leidenschaftlichen bolschewistischen Wartens auf den Ausbruch der Revolution im Westen, besonders in Deutschland, die dem russischen Oktober "Entlastung bringen und seine Zukunft sichern sollte, trat dann mehr und mehr eine andere Orientierung in den Vordergrund.

Im November 1919 entwickelte Lenin vor den Vertretern der kommunistischen Organisationen aus den östlichen Ländern den Gedanken: Da die Imperialisten nicht zulassen werden, daß die europäischen Revolutionen rasch und leicht vonstatten gehen, und da die alten sozialdemokratischen Paktierer ihnen dabei zur Seite stehen werden, »wird die sozialistische Revolution nicht nur und nicht hauptsächlich ein Kampf der revolutionären Proletarier eines jeden Landes gegen die eigene Bourgeoisie sein, nein, sie wird ein Kampf aller vom Imperialismus unterdrückten Kolonien und Länder, aller abhängigen Länder gegen den internationalen Imperialismus sein«. Das Programm der KPR gehe von der Vereinigung des Bürgerkriegs in den fortgeschrittenen Ländern mit den nationalen Befreiungskriegen aus. 

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»Selbstverständlich kann den endgültigen Sieg nur das Proletariat aller fortgeschrittenen Länder der Welt erringen, und wir Russen beginnen das Werk, das vom englischen, französischen oder deutschen Proletariat gefestigt werden wird. Wir sehen aber«, — dies ist eine ganz neue Formulierung: — »daß sie ohne die Hilfe der werktätigen Massen aller unterdrückten Kolonialvölker, und in erster Reihe der Völker des Ostens, nicht siegen werden. Wir müssen uns Rechenschaft darüber ablegen, daß die Avantgarde allein den Übergang zum Kommunismus nicht vollziehen kann«

Lenin fordert, »die echte kommunistische Lehre, die ja für die Kommunisten der fortgeschrittenen Länder bestimmt ist, in die Sprache eines jeden Volkes zu übersetzen«. Die Sowjetrepublik habe die Aufgabe, »alle aus dem Schlummer erwachenden Völker des Ostens um sich zu scharen und gemeinsam mit ihnen den Kampf gegen den Weltimperialismus zu führen« (LW 30/144 ff.). 

Im März 1923, als er seinen letzten, vermächtnishaften Aufsatz »Lieber weniger, aber besser« schrieb, ging Lenin noch einen entscheidenden Schritt weiter. »Wird es gelingen«, so fragte er, »angesichts unserer klein- und zwergbäuerlichen Produktion, angesichts der Zerrüttung unserer Wirtschaft so lange durchzuhalten, bis die westeuropäischen kapitalistischen Länder ihre Entwicklung zum Sozialismus vollenden werden?« 

Nach einem Blick auf die Widersprüche zwischen den reichen imperialistischen Staaten kam er zu dem Schluß, der Ausgang des Kampfes hinge »in letzter Instanz davon ab, daß Rußland, Indien, China usw. die gigantische Mehrheit der Erdbevölkerung stellen«, die durch den Kapitalismus selbst für den Kampf geschult und erzogen wird. Dann gab er zu erkennen, worin er zuletzt den beherrschenden Grundwiderspruch und die zentrale Aufgabe der mit dem Oktober eingeleiteten Epoche sah:

»Damit unsere Existenz gesichert ist bis zum nächsten kriegerischen Zusammenstoß zwischen dem konterrevolutionären imperial­istischen Westen und dem revolutionären und nationalistischen Osten, zwischen den zivilisiertesten Staaten der Welt und den orientalisch zurückgebliebenen Staaten, die jedoch die Mehrheit ausmachen — muß es dieser Mehrheit gelingen, sich zu zivilisieren. Uns mangelt es ebenfalls an Zivilisation, um unmittelbar zum Sozialismus überzugehen, obwohl wir die politischen Voraussetzungen dafür haben.« 

(LW 33/487) 

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Zwei Monate früher hatte er geschrieben: »Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist..., warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen, und dann, schon auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärtsschreiten und die anderen Völker einholen« (LW 33/464). So leitete er aus der Zwangslage, in die die russische Revolution durch ihr Alleinbleiben geriet, den positiven Grundtext der nachfolgenden Geschichte ab. 

Den Helden der damals Zweiten Internationale, die die Bolschewiki wegen dieses Verstoßes gegen die »marxistische Orthodoxie« verbellten, und ihren heutigen Nachahmern schrieb er bei dieser Gelegenheit prophylaktisch ins Stammbuch: »Unseren europäischen Spießbürgern fällt es im Traum nicht ein, daß die weiteren Revolutionen in den Ländern des Ostens, die unermeßlich reicher an Bevölkerung sind und sich durch unermeßlich größere Mannigfaltigkeit der sozialen Verhältnisse auszeichnen, ihnen zweifellos noch mehr Eigentümlichkeiten als die russische Revolution auftischen werden« (LW 33/466). Was für seltsame Leninisten sind das, die sich heute als Schulmeister der von einem guten Viertel der Menschheit getragenen chinesischen Revolution aufspielen ...

Marx hatte die Frage, wie sich die außereuropäischen Völker die Errungenschaften der Epoche des Privateigentums, also den europäischen Reichtum mit seinen industriellen Voraussetzungen, aneignen sollen, nur gestreift. Höchstwahrscheinlich hat er die ungeheure Größe der materiellen Lücke und auch die Tragweite des Unterschieds zwischen den subjektiven Faktoren, den historischen Menschentypen Europas und der kolonialisierten Erdteile, noch nicht in seine Überlegungen einbezogen.

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Das eigentliche Drama der Gegenwart, das wir mit dem Abstraktum »Entwicklung« bezeichnen, wäre ja um nichts geringer gewesen, wenn sich die Hoffnungen der europäischen Sozialisten erfüllt hätten — eher im Gegenteil! Den unerwarteten, unvorhergesehenen Durchbruch einer historischen Notwendigkeit haben Hegel und Marx gern als »List der Vernunft« glossiert. Sollte in dem Ereignis, daß die Massen der »Dritten Welt« dem Aufbruch Europas zuvorgekommen sind, nicht eine solche List der Vernunft am Werke sein?

Die Völker der zurückgebliebenen Länder leben heute im Wettlauf mit einer Katastrophe, die noch weit mehr Opfer fordern kann als der eiserne Strom der russischen Revolution — und vor allem sinnlosere Opfer. Revolutionen wie die russische und die chinesische sind die Bedingung für den Sieg über den Hunger. Einer der frühesten Gedanken des Marxismus, daß die »stürzenden«, die bisher unterdrückten Klassen die Revolution als ihre eigene Aktion brauchen, um »sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden« (MEW 3/70), gilt erst recht für die doppelt niedergehaltenen Völker, die der Kapitalismus auf niedrigerer Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung antraf. 

Sie brauchen nicht Brot aus Kanada, sondern Brot aus Asien, aus Afrika, und dafür brauchen sie eine neue Lebensform, ähnlich nichtkapitalistisch wie die in der Sowjetunion und die in China. Wie anders sollen die Kolonisierten ihren Unterlegenheitskomplex überwinden, massenhaft das für den Aufstieg erforderliche neue Bewußtsein und Selbstbewußtsein finden — wie anders als durch ihre eigene Befreiungsrevolution? Die äußeren Bedingungen dafür können durch existierende sozialistische Mächte begünstigt sein, aber die Menschenmassen der südlichen Hemisphäre können jedenfalls nicht befreit werden.

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Zum materiellen Aufbau vor allem bedarf es anfangs einer starken und — um die Niederringung des überlieferten Stumpfsinns überhaupt zu ermöglichen — oft in vieler Beziehung despotischen Staatsmacht, die nur aus einer Revolution heraus ihre Legitimation und Autorität beziehen und dem Knochenfraß der für die alte »asiatische Produktionsweise« charakteristischen Korruption Einhalt gebieten kann. Diese Staatsmacht muß über jedem »Entwicklungshelfer« stehen, der dort hinkommt, um sein technisches Wissen zu vermitteln und der dabei ständig dazu neigen wird, in kolonialistische Manieren zu verfallen. Es sind nur wenige wie Doktor Bethune. 

Deshalb muß die Befreiungsstaatsmacht da sein, bevor irgendwelche europäischen Ratgeber eine »Communauté« verkünden. Sie muß gegenüber diesen Ratgebern dieselbe Stellung einnehmen wie die junge Sowjetmacht zu den bürgerlichen Spezialisten. Und wenn solche Ratgeber heute bereits aus der Sowjetunion kommen, und natürlich auch aus anderen mit ihr verbundenen Ländern, so müssen auch sie sich diese Einordnung gefallen lassen, bis sie die Probe auf ihre internationalistische Solidarität und Brüderlichkeit bestanden haben. Denn die Geschichte der Befreiungsbewegung seit dem II. Weltkrieg hat unwiderleglich bewiesen, daß das Tempo und der Effekt der Emanzipation für die Massen von der Durchsetzung gerade dieser Konstellation abhängen. 

Stellen wir uns vor, was die noch unter vorkapitalistischen Verhältnissen verharrenden und kolonial ausgebeuteten Völker gewonnen hätten, wenn das westeuropäische Proletariat um die Jahrhundertwende den Befreiungsrevolutionen außerhalb Europas zuvorgekommen wäre. Dürfen wir annehmen, daß sich der Geist einer Menschheitssolidarität, die Praxis einer Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, sogleich vorbehaltlos durchgesetzt hätten? Die Arbeiterklassen Europas partizipierten objektiv am Kolonialismus, und das blieb nicht ohne ideologische Folgen. 

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Auf dem Stuttgarter Sozialistenkongreß von 1907 wurde ein Satz im Resolutionsentwurf, daß der Kongreß nicht prinzipiell jede Kolonialpolitik verwerfe, da sie unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken könne, nur mit knapper Mehrheit abgelehnt. Lenin berichtete, in der Kongreßkommission zur Kolonialfrage sei versucht worden, »ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen«. Er konstatierte: »Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger zivilisierten Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen« (LW 13/66 ff.). 

Die unmittelbaren, trade-unionistischen Interessen der westlichen Arbeiterklassen, die ihrerseits einen beträchtlichen materiellen und kulturellen Nachhol­bedarf entwickelt hätten und überdies außenpolitisch nicht so zur Solidarität gezwungen gewesen wären wie die arme Sowjetrepublik, hätten nur bei äußerster revolutionärer Bewußtheit und Selbstlosigkeit im Zaum gehalten werden können. Aber die sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschafts­bürokratien tendierten eher dazu, kolonialistische Vorbehalte zu kultivieren. Für die geschärften Sinne des heutigen Lesers war selbst die Haltung Friedrich Engels' nicht völlig frei von »fachmännischer« europäischer Überheblichkeit, wie sich z.B. in manchem seiner Kommentare zum indischen Aufstand von 1857-59 kundtat. 

Nicht wenige Autoritäten der westlichen Arbeiterbewegung hätten erst einmal versucht, die »Wilden« und »Halbzivilisierten« Mores zu lehren und sich nach den ersten Mißerfolgen ihres Bestrebens, in Asien und Afrika ein protestantisches Arbeitsethos zu verbreiten, ärgerlich zurückgezogen wie der rechtschaffene Vormund von seinem undankbaren Mündel. Jedenfalls waren die Arbeiterbürokratien allesamt zu einem Erziehungskolonialismus geneigt. Und es ist kaum etwas wahrscheinlicher; als daß die betroffenen Völker gezwungen gewesen wären, sich — wenn auch unter etwas günstigeren Bedingungen als zuvor und mit einer europäischen linkssozialistischen Minderheit zur Seite — gegen solche hypothetischen sozialistischen Regierungen zu wenden.

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Vor allem aber müssen wir noch einmal wiederholen, daß diese Völker die eigene Erhebung unbedingt für ihre Neuformierung brauchen. Sie müssen sich anfangs kulturell von Europa distanzieren, während sie seine technischen Errungenschaften assimilieren. Denn der europäische Zivilisationsexport ist seinem Wesen nach kolonialistisch, auch wenn ihn eine Arbeiterregierung betreibt. Weder Rußland noch China hätten ihre Entwicklungsprobleme in einem solchen Tempo, mit einer solchen Entfesselung der menschlichen Produktivkräfte in Angriff genommen, wenn sie nicht dazu gezwungen gewesen wären, sie in der revolutionären Selbstbehauptung gegen eine feindliche Umwelt zu lösen. 

Wenn eine sozialistisch-kommunistische Ordnung, wie wir inzwischen erkennen müssen, nicht auf bloß provinziell gegebene materielle Voraussetzungen gegründet werden kann, dann ist das Schließen der Zivilisationslücke, von der Lenin gesprochen hat, durch die revolutionären Völker selbst, die sich im Kampf die notwendige Arbeitsdisziplin schaffen, die welthistorische Hauptaufgabe bei der Vorbereitung des Sozialismus. Mit den Revolutionen in Rußland und China, mit dem revolutionären Prozeß in Lateinamerika, in Afrika und Indien schlägt die Menschheit den kürzesten Weg zum Sozialismus ein. Dort, im »Osten«, sind die eigentlichen Verdammten dieser Erde aufgewacht. 

Die Rolle der Arbeiterklasse, die der entscheidende Stoßtrupp der russischen Revolution war und die selbstverständlich auch in Westeuropa eine Aufgabe hat, muß in diesem Kontext neu gesehen werden. Ohnehin hätte ihre Revolution auch in Europa nicht unmittelbar zu dem Sozialismus geführt, den Marx erhoffte, sondern viel wahrscheinlicher zu der uns so vertrauten Erscheinungsform, die Bakunin in Ansehung einerseits der preußisch-deutschen Sozialdemokratie, andererseits des Führungsstils in der Internationale fürchtete. 

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Immer wieder wird unser bürokratischer Zentralismus mit der Rückständigkeit Rußlands erklärt, die indessen nur gewisse Auswüchse zu verantworten hat. Sofern die hierarchischen Funktionärsapparate der Arbeiterorganisationen potentielle Staatsmaschinen sind, bereitet sich in ihnen nicht eine neue Pariser Kommune, sondern ein vom Kapitalismus gereinigter Staatsmonopolismus vor.

Wir werden die staatsmonopolistische Tendenz, die in der ganzen Welt den Gegenstand des Emanzipationskampfes in der bevorstehenden Epoche ausmachen wird, besser einordnen können, wenn wir diese moderne Übergangsperiode zur klassenlosen Gesellschaft mit der alten ökonomischen Despotie vergleichen, die nämlich die vorherrschende Grundform des Eintritts in die Klassengesellschaft war. Auch deshalb haben die Geschichte und die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen des »Ostens« ein aktuelles Interesse für uns. Wir werden sehen, daß der Charakter der Epoche, wie er sich in dem »Zusammenstoß zwischen dem konterrevolutionären imperialistischen Westen und dem revolutionären und nationalistischen Osten« entfaltet, die aktuelle Konsequenz aus der ganzen bisherigen Weltgeschichte ist. Dabei bedarf es in den wesentlichen Punkten nur der weiteren Entwicklung aus den Voraussetzungen, die in der materialistischen Zusammenschau der historischen Evolution bei Marx und Engels bereits gegeben sind.

In dem kleinen Katechismus, den unsere Propagandisten im Grundstudium und anderswo vermitteln, ist allerdings von dem Reichtum dieses Geschichts­bildes kaum mehr als die Idee von der gesetzmäßigen Abfolge der fünf Formationen Urkommunismus, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus-Kommunismus und vielleicht noch die Auffassung des Gesamtverlaufs nach dem dialektischen Prinzip der »Aufhebung«, der »Negation der Negation« übriggeblieben. Insbesondere unterstellt man den Klassikern ganz unzutreffend einen Dogmatismus, nach dem im Grunde genommen jeder Gesellschaftskörper alle diese Formationen durchlaufen müßte. 

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Als eine Art Ausnahmeregelung mußte daher die geradezu antihistorische Metapher vom »Überspringen« ganzer Gesellschaftsformationen durch diese oder jene Völker erfunden werden. Sie ist nicht einmal für die Völker Sowjetasiens, bei denen sie am ehesten einleuchten könnte, eine theoretische Auskunft. (Einem Historiker, der mit den Fakten vertraut ist, muß schon jedes wirkliche Verständnis für geschichtliches Werden abgehen, wenn er es fertigbringt, zu erklären, die Germanen hätten, indem sie »gleich« zum Feudalismus gelangten, »die Sklaverei übersprungen«, auf die nichts in ihrer formativen Periode hinweist. — Die wie bei allen alten Völkern auch bei den Germanen vorkommende patriarchalische Haussklaverei hat sich ja im ganzen alten Orient nicht als Vorstufe antiker Sklavenanwendung in der Hauptproduktion erwiesen.)

Bis vor kurzem durfte man bei uns gar nicht nach einem wirklichen Begriff derjenigen Gesellschaftsordnung fragen, die die seit dem Ausgang des Mittelalters ausschwärmenden europäischen Kolonialisten in fast allen außereuropäischen Ländern vorfanden (sofern es nicht noch stammesmäßige waren), ob nun in Mexiko, Mittelamerika und Peru, ob in Indien und China, ob in Afrika oder im Nahen Osten. Wo es sich in Wirklichkeit um verschiedene, bis auf Amerika und Afrika um Stagnations- und Verfallsstadien der von Marx ökonomisch als asiatische Produktionsweise, politisch als orientalische Despotie bezeichneten ältesten Formation der Klassengesellschaft handelte, hatte man eine Menge allerdings mit »Besonderheiten« versehener Sklavereien und Feudalismen entdeckt, weil Stalin den Begriff der asiatischen Produktionsweise verpönt hatte. 

Während Marx von den Engländern die einzige soziale Revolution in Asien vollbracht sah, muß es nach den heutigen Lehrbüchern z. B. in China und Indien irgendwann in der ersten bzw. zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends u.Z. eine Umwälzung von der »patriarchalischen Sklavenhaltergesellschaft« (ein um so unsinnigerer Ausdruck, als seine Benutzer zugeben, daß die Sklaverei in ihr nie ein charakteristisches Produktionsverhältnis war) zum Feudalismus gegeben haben.

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Als Beweis dienen einige rein deskriptiv feststellbare Merkmalgemeinsamkeiten mit dem europäischen Feudalismus, die nichts über die interne Logik der asiatischen Formation aussagen. Bei Marx, der sich zu einer organismischen Entwicklungsauffassung historischer Gesellschaftskörper bekannte (MEW 23/26f.) und der seinen Feudalismusbegriff aus der von den Germanen ausgehenden europäischen Entwicklung abgeleitet hatte, ist der Feudalismus entscheidend dadurch charakterisiert, daß er immanent die Bedingungen seiner revolutionären Ablösung durch den Kapitalismus erzeugt. Was sind das dann für »feudale Produktionsverhältnisse«, welche sich — nicht nur in Ostasien, sondern selbst in der Türkei — bis in Marx' Zeiten »mit der Unwandelbarkeit von Naturverhältnissen reproduzieren«? (MEW 23/155). 

Es ist überhaupt die Frage, wie allgemein Marxens These aus dem Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie gilt, wonach Gesellschafts­formationen aus ihren inneren Widersprüchen heraus auf dem Wege sozialer Revolution die nächsthöhere erzeugen. Unter den »progressiven Epochen ökonomischer Gesellschafts­formation« nennt Marx dort die asiatische an erster Stelle. Dabei hatte er in den Grundrissen zur Kritik der Politischen Ökonomie gerade gezeigt, daß und warum sie nie und nirgends aus sich selbst heraus zu einer höheren Produktionsweise geführt hatte. Selbst in der antiken Sklaverei machten sich die tödlichen Antagonismen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nur auf eine destruktive Weise bemerkbar. Der Untergang Westroms sah keine revolutionäre Klasse. Vom Feudalismus rückwärts gelesen, erscheinen zwar der Kolonat und verschiedene andere Abhängigkeits­verhältnisse jenseits der unhaltbar gewordenen Latifundiensklaverei als Keime einer neuen Ordnung. 

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Aber war Engels nicht der Meinung, daß es der Germanen, einer — wenn auch unter dem Einfluß Roms zur Beschleunigung ihrer klassengesellschaftlichen Formierung getriebenen — äußeren Kraft bedurfte, um der römischen Agonie einen positiven Sinn zu geben? »... nicht ihre spezifischen nationalen Eigenschaften waren es, die Europa verjüngt haben«, schrieb er, »sondern einfach — ihre Barbarei, ihre Gentilverfassung ... In der Tat sind nur Barbaren fähig, eine an verendender Zivilisation laborierende Welt zu verjüngen. Und die oberste Stufe der Barbarei ... war gerade die günstigste für diesen Prozeß. Das erklärt alles« (MEW 21/150 f.). 

Die Massen der »Dritten Welt« sind in ihrer überwältigenden Mehrzahl keine frischen Barbaren mehr (die Morgan-Engelssche Bezeichnung ist ohnehin überholt), aber da sie in ihren veralteten und vom Kapitalismus dekomponierten Zivilisationen nicht mehr leben, ja überleben können, jedenfalls noch unter ihre überlieferten Existenzbedingungen gedrückt werden, sind sie zum militanten Aufbruch gezwungen. Und sie können darin soviel Freiheit von ihren alten und neuen Fesseln gewinnen, daß sie zur Begründung einer eigenständigen neuen Zivilisation befähigt werden.

In seiner Konzentration auf die Verallgemeinerung der historischen Entwicklungsgesetze, die das moderne Europa seit der beginnenden Emanzipation der Städte im hohen Mittelalter auszeichnen, hat Marx offenbar einen anderen, im Zusammenhang mit Darwin durchaus naheliegenden Gesichtspunkt weniger beachtet: In der Entwicklung der Gattung Mensch lösen die historischen Gesetze, die Marx entdeckte, die biologischen Evolutionsgesetze ab, genauer gesagt, die ersteren, als höhere, heben die letzteren in der bekannten Weise in sich auf.

Aber die Klassiker waren selbst der allgemeinen Überzeugung, daß dies ein langwieriger und jedenfalls im Kapitalismus noch unabgeschlossener Prozeß war. Wie das seit dem vorigen Jahrhundert gewaltig angewachsene Material der alten Geschichte und der Ethnographie zeigt, setzt sich bis in die frühen Klassengesellschaften hinein — natürlich in modifizierter Form — diejenige Methode der Sukzession fort, die für die Entwicklung der Arten charakteristisch ist.

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In der Evolution der Arten finden wir die zu einem Zeitpunkt t fortgeschrittenste Form niemals hervorgegangen aus der zum Zeitpunkt t-1 am weitesten gelangten. Es ist stets einer der noch nicht zu einer sehr bestimmten und damit beschränkten Struktur entfalteten und spezialisierten, einer der noch »unformierten« Zweige, der die nächsthöhere Stufe erreicht. Wir stammen nicht vom Neandertaler ab, obgleich er ein Glied in der Kette ist, die auf uns hinweist. Aufeinanderfolge ist hier nicht Auseinanderfolge. Mit den ersten drei Formationen der Klassengesellschaften (asiatischer, antiker und feudaler) verhält es sich ebenso.

In seinen konkreten Darstellungen in den Grundrissen (375 ff.) bestätigt Marx auch diese Ansicht. Er untersucht die Grundeigentumsverhältnisse im alten Orient, bei den Griechen und Römern sowie bei den Germanen als Prädispositionen der »asiatischen Produktionsweise«, der antiken Sklaverei und des Feudalismus und geht davon aus, daß sie logisch wie historisch aufeinanderfolgen. Aber er behauptet nirgends, daß z.B. die Germanen real die früheren Formen durchlaufen hätten. Vielleicht gibt es einen gemeinsamen Ausgangspunkt, einen primitiveren Gesellschaftszustand, der sich zu diesen verschiedenen Gestaltungen differenzierte je nach den Umweltbedingungen, die die verschiedenen Gemeinschaften vorfanden. Aber jede der drei »naturwüchsigen« Formationen geht unmittelbar aus der Urgesellschaft hervor, allerdings die Sklaverei nicht früher als die asiatische Produktionsweise und der Feudalismus nicht früher als die Sklaverei. Jedenfalls schrieb Marx 1853, das schottische Clanwesen, das der patriarchalischen Endphase der Urgesellschaft zugehört, stehe »eine ganze Stufe« — also nicht zwei oder drei Stufen — tiefer als der Feudalismus (MEW 8/501). 

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Die höher entwickelten Formationen knüpfen einerseits an den von den früheren akkumulierten Stand der Produktionstechnik und -organisation, gewiß auch an manche institutionelle Erfahrungen an, und sie setzen andererseits voraus, daß die früheren ihren Zenit bereits überschritten haben, sich im Stadium der Stagnation oder des Niedergangs befinden. 

Die weitaus meisten der bis ins Mittelalter, in Afrika sogar bis in die Neuzeit aus der Urgesellschaft aufbrechenden Völker »wählten« irgendeine Variante der asiatischen Produktionsweise, weil sie ihnen objektiv den größtmöglichen, in der Regel wahrscheinlich den einzigmöglichen Fortschritt bringen konnte. 

Ehe ich näher auf diese Produktionsweise eingehe, die man nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse am besten als ökonomische Despotie bezeichnet, will ich nur sagen, daß sie bei den ursprünglichen Begründern der alten Zivilisationen direkt aus dem Kampf mit der Natur um ein reicheres Agrarprodukt hervorging, das den dafür in Frage kommenden Landschaften nur durch große Kooperation im gesellschaftlichen, d.h. staatlichen Maßstab abgerungen werden konnte. Später kommende Stämme, die dann solche zivilisierten Völker eroberten, wurden primär gerade dadurch an die vorgefundene Produktionsweise assimiliert, daß sie über die Notwendigkeit der großen Kooperation bei der kollektiven militärischen Unterdrückung der zahlenmäßig größeren Vorbevölkerung in die überlieferte despotische Tradition hineinwuchsen. 

Sklaverei und Feudalismus entstanden erstens nur unter Naturbedingungen, die nicht zur großen Kooperation in der Landwirtschaft zwangen, weil sie auf ausreichendem Regenfall statt auf Bewässerung beruhte. Zweitens entfalteten sich die Griechen und Römer, noch mehr dann die Germanen auf Territorien, die zuvor nicht durchgreifend von älteren Zivilisationen geprägt worden waren. Die Spartaner brachten es gerade deshalb nicht zur antiken Sklaverei, sondern nur zu einer Variante der asiatischen Produktionsweise, weil sie sich auf die kollektive Unterdrückung einer anderen Völkerschaft spezialisierten. Die alten ökonomischen Despotien sind generell dadurch charakterisiert, daß die gentilen Strukturen in ihnen nicht aufgelöst und aufgehoben, sondern konserviert und überlagert werden.

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Kurzum, man darf aphoristisch zugespitzt sagen: Originäre Sklaverei hat es nur dort gegeben, wo vorher keine Ökonomische Despotie geherrscht hat. Originären Feudalismus hat es nur dort gegeben, wo vorher weder Sklaverei noch Ökonomische Despotie durchgreifend wirksam waren. Freilich wurde mit dem Fortschreiten von Formation zu Formation der historische Zusammenhang dichter, wobei die viel langsamere Entwicklung in Altamerika und im subsaharischen Afrika zeigt, wie maßgeblich hieran die geographische Völkerkonzentration um die nahöstliche Mitte der Alten Welt beteiligt war.

Erst mit dem europäischen und — nicht ganz so eindeutig — japanischen Feudalismus ist diejenige »naturwüchsige« Formation gefunden, die nicht die prinzipielle Schranke der beiden vorigen in sich trägt, deren Krise nicht mit einer endlosen Stagnation als Kette unfruchtbarer innerer Zusammenbrüche und Wiedererholungen droht. Originären Kapitalismus aber hat es nun gerade nur dort gegeben, wo sich vorher dieser Feudalismus mit seiner immanenten Transformationstendenz entfaltet hatte. Feudalismus-Kapitalismus ist im Grunde eine Entwicklung, die dialektische Entfaltung und die Ausbreitung einer (bzw. im Hinblick auf Japan zweier) der menschlichen Zivilisationen.

Während nun diese sogenannte abendländische Zivilisation die Kernterritorien der antiken Sklaverei mehr oder weniger einbezogen hat, stand ihr auf dem Höhepunkt ihrer kapitalistischen Phase die ganze Hinterlassenschaft der ältesten zivilisierten Produktionsweise als äußere Beute gegenüber. Die Menschen dieser Länder sind bis auf den heutigen Tag davon betroffen, daß ihre fernen Vorfahren die ersten waren, die eine hohe Kultur schufen und sich dabei einer Sozialstruktur unterwerfen mußten, die aus sich selbst heraus keine sprengende Dynamik erzeugte. 

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Doch ist es klar, daß wir ohne die Arbeit des alten Sumer, Ägypten, Indien, Kreta usw. nicht dieses Griechenland und Rom, nicht unseren Feudalismus und keine englische industrielle Revolution gehabt hätten. Spontane Solidarität den Fernstehenden gegenüber liegt nicht in der menschlichen Natur. Sie setzt ein Wissen um die historisch gewordene Abhängigkeit und Gemeinsamkeit unseres zukünftigen Schicksals voraus. Auch in den Ländern des sowjetischen Blocks sind die historischen Schulbücher völlig disproportioniert, indem sie auf die letzten paar hundert Jahre europäischer Geschichte hin anschwellen. Die fortschrittlichen Bewegungen in Europa und Nordamerika müssen insbesondere versuchen, die spezifischen Formen und Probleme der Emanzipation zu verstehen, die sich aus dem »asiatischen« Erbe der übrigen Menschheit ergeben. 

Das aber wird ihnen um so leichter fallen, je gründlicher sie begreifen, daß sich die weitere Emanzipation ihrer eigenen Gesellschaften jenseits des Kapitalismus an der Schranke staatsmonopolistischer Strukturen bricht. Denn in ihrer klassischen Hochform als Ökonomische Despotie im alten Ägypten, Mesopotamien, Indien, China, Peru weist die asiatische Produktionsweise, die Formation des Übergangs zur frühen Klassengesellschaft, eine aufschlußreiche Strukturverwandtschaft zu unserer Epoche des Ausgangs der Klassengesellschaft auf. Marx hat sich im Jahre 1881 abschließend noch einmal dahingehend geäußert, daß der Weg zum Kommunismus als dialektischer Rückkehrprozeß zu Verhältnissen verstanden werden kann, die den archaischen auf höherer Stufe gleichen.

Das einstmals »vorwärts« und nun »rückwärts« zu durchschreitende Übergangsstadium zwischen Kommunismus und entwickelter Klassengesellschaft ist beide Male gekennzeichnet durch eine spezifische, unmittelbar aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Kooperation erwachsende Funktion des Staates. Verstaatlichte, nicht mehr gemeinschaftliche bzw. noch nicht vergesellschaftete Produktivkräfte machen das Charakteristische dieser beiden Epochen aus.

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Wir werden die wirklichen Widersprüche, die uns jenseits des Kapitalismus begegnen, besser verstehen, wenn wir uns jene alte »asiatische Produktions­weise«, jene alte Ökonomische Despotie näher vergegenwärtigen.

Selbstverständlich wäre es sinnlos, die heutige Epoche und ihre Perspektiven aus solcher strukturellen Analogie erklären zu wollen. Die moderne staats­monopolistische Struktur bewegt sich nicht nur in entgegengesetzter Richtung, sondern vor allem auch mit einer unaufhaltsam über sich hinausdrängenden Dynamik. Der Vergleich soll uns nur den Blick für ihre Probleme schärfen, zugleich allerdings den Eindruck bestärken, daß eine Gesellschaft, die derart der Pyramide staatlicher Arbeitsleitung unterworfen ist wie die unsere, unmöglich schon als sozialistisch, als frei von Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen angesehen werden kann.

Genau genommen bezeichnet der Ausdruck »asiatische Produktionsweise« keine fertige Formation, sondern das Verbindungsglied zwischen der patriarchal­ischen Endphase der Urgesellschaft und den Klassengesellschaften Asiens, das in einem bestimmten Typus der archaischen Ackerbaugemeinde existiert. Wo sich Marx in den »Grundrissen« mit »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen« auseinandersetzt, spricht er im selben Sinne auch von »antiken« und »germanischen«, überdies noch von »slawischen und rumänischen« Formen. Was ihn an dieser Stelle interessiert, sind nicht die voll ausgeprägten Formationen, sondern die verschiedenen naturwüchsigen Formen der Aneignung von Grund und Boden, die dann im Übergang zur Klassengesellschaft die Differenz der drei vorkapitalistischen Formationen begründen. 

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Später hat Marx die asiatische Klassengesellschaft anscheinend insofern noch der primären, archaischen Formation zugerechnet, als in ihr das ursprüngliche Gemeineigentum der Dorfgemeinschaften nicht in Privateigentum aufgelöst, sondern de facto verstaatlicht wurde, so daß die Masse der Produzenten dort unmittelbar mit ihren Arbeitsbedingungen vereinigt blieb. Aber in allen alten Hochkulturen der Menschheit, die in den vorantiken Jahrtausenden an Euphrat und Tigris, am Nil, am Indus, am Huangho, in Kleinasien, auf Kreta, in Südarabien, am Ganges emporstiegen, standen sich die Menschen unzweifelhaft als Ausbeuter und Ausgebeutete, Herrschende und Unterdrückte gegenüber. Wie kam diese naturwüchsigste Klassengesellschaft ohne privates Grundeigentum zustande?

Als die nacheiszeitliche Austrocknung den afrasischen Wüstengürtel entstehen ließ, traf diese allmähliche Verschlechterung der Lebensbedingungen die in den betroffenen Räumen verstreuten Menschengruppen auf den verschiedensten urgemeinschaftlichen Entwicklungsstufen an. Rings um den vorder­asiatischen »fruchtbaren Halbmond« waren besonders viele Völkerschaften von der agrarischen Umwälzung des Neolithikums erfaßt worden und zum Ackerbau übergegangen. Der wachsenden Produktivität ihrer Arbeit stand die wachsende relative Bevölkerungskonzentration gegenüber. Außerdem wirkte die Dezimierung der Flora, die die Menschen und ihre Viehherden betrieben, mit der ungünstigen Klimatendenz zusammen. Der Kampf um die Existenz­bedingungen gewann an Schärfe. Die überaus fruchtbaren Lößkorridore der großen Ströme waren bisher unbesiedelt geblieben, obwohl sie drei Ernten im Jahr ermöglichen sollten. Die Sintflutsage mag das Wagnis erhellen, das im 6. Jahrtausend v.u.Z. die ersten Gemeinschaften unternahmen, als sie, zunächst sporadisch, jahreszeitenweise, von den Überschwemmungsgebieten Besitz ergriffen.

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Seit dem 4. Jahrtausend wurden im heutigen Südirak, am Unterlauf der beiden Ströme, Menschen seßhaft. Das war nur möglich, indem sie die Sümpfe entwässerten und die Kontrolle über die Fluten errangen. Eine Kulturarbeit von solchem Umfang hatten die späteren Griechen, Römer, Germanen am Anfang ihrer Zivilisationen nicht zu vollbringen. Mit diesen Strömen konnten weder einzelne Sippen und Familien noch einzelne Dorfgemeinschaften in isolierter Produktion fertig werden. Die Aufgabe selbst zwang zur periodischen Zusammenfassung mehrerer Gemeinwesen, einer Masse von einfachen Arbeitskräften in der Form der Großen Kooperation, die mehr als bloße Summation der individuellen Leistungen bedeutete und deren Ergebnisse sich jedem partikularen Zugriff entzogen, also nur im ganzen angeeignet werden konnten. So blieb das Land, ob es nun innerhalb der Dörfer kollektiv oder familiär bewirtschaftet wurde, von diesen entscheidenden »Produktionsvorbereitungen« her fast überall, wo diese Formation jemals entstand, Gemeineigentum. Genauer gesagt: Es konnte nicht Privateigentum werden. Das ist nicht dasselbe.

Childe stellt fest, daß die Lebensbedingungen der Menschen unter diesen Umständen außergewöhnliche Machtmittel in die Hände der Gesellschaft legen, um ihre Mitglieder zu disziplinieren. »Der Regen fällt in gleicher Weise auf Gerechte und Ungerechte, aber die Berieselungsgewässer tränken die Felder durch Kanäle, die von der Gemeinde gegraben worden sind« (Der Mensch schafft sich selbst, Dresden 1959/112). Schon unter den Bedingungen der Landwirtschaft in Regenfallgebieten hatten die Stammesmagier eine zentrale Aufsicht über den Jahreslauf des Lebens und der Arbeit ausgeübt. Jetzt mußten die gesellschaftlichen Amtsträger schnell eine ungleich größere Autorität gewinnen. Früher nur illusorische Vermittler der produktiven Tätigkeit (so notwendig diese Vermittlung war und blieb), wurden sie nun zu realen Organisatoren der Produktion. Der Stammgott verlangte den Priestern jetzt nicht mehr bloß regulative Wirksamkeit ab, sondern er offenbarte ihnen die Pläne für Kanäle, Dämme und alsbald auch für Tempel, die zugleich die Rolle von Vorratshäusern spielten. 

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Alle diese öffentlichen Arbeiten mußten vorbereitet und organisiert, die Arbeitskräfte mußten eingeteilt, geleitet, und — da der Mensch nicht »von Natur« fleißig ist — auch angetrieben werden. Richtige Pläne setzten ein Studium des Flusses, seines Verhaltens zu den verschiedenen Jahreszeiten voraus, also einen Schritt über die intuitive Magie hinaus zu systematischer Beobachtung. Die Opfertribute, die der Gott erhielt, wuchsen mit der Erzeugung, und das war auch notwendig, um einen Teil der Menschen längere Zeit zentralisiert einsetzen zu können. Außerdem brauchte man einen Vorrat zur Versicherung gegen Katastrophen, wie sie der Fluß bereiten konnte. Eine solche Lagerwirtschaft erforderte Buchhaltung, Rechenkunst, Schrift, und sie wurden erfunden.

 

Einen Magier, Medizinmann, Schamanen, für den ein Mehrprodukt miterzeugt wurde, hatte es schon Jahrtausende gegeben. Jetzt aber erzeugte der Umfang der intellektuellen Aufgaben eine Priesterkorporation, die hierarchisch im Tempel organisiert war, die Pläne des Gottes für sein Volk entwickelte und seinen Reichtum verwaltete. 

Die Arbeitsteilung zwischen Ackerbau und Handwerk war dieser neuen Teilung schon vorausgegangen. Sie hatte den Austausch in die Gemeinwesen hineingetragen, doch ihre urkommunistische Struktur nicht direkt gebrochen. Mit der Priesterkaste wuchs nun unmittelbar aus den. Bedürfnissen des Produktions- und Reproduktionsprozesses selbst, hier also nicht vermittelt über Warenproduktion und Privateigentum, sondern über die Große Kooperation und ihre Direktion, die erste herrschende Ausbeuterklasse der Geschichte empor. Sie eignete sich unter der Fiktion des Gottes das Mehrprodukt an, das von den Handarbeitern, die sie anleitete, geschaffen wurde. Sie brachte mit der Verfügungsgewalt über den disponiblen Reichtum und über den disponiblen Teil der lebendigen Arbeit die erweiterte Reproduktion und also das fernere Schicksal der Mehrheit unter ihre Bestimmung und Kontrolle. Es handelt sich .dabei exakt um einen der beiden Wege zur Klassenbildung, von denen Engels im Anti-Dühring spricht (MEW 20/166 f.).

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Marx nennt es für Ägypten »die Herrschaft der Priesterkaste als Leiterin der Agrikultur« (MEW 23/537). »Die Teilung der Arbeit«, heißt es in der »Deutschen Ideologie« (MEW 3/31), »wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt.« In der Tat! Denn sie ist identisch mit dem frühesten Klassengegensatz, der seinen reinen, ungestörten Ausdruck zunächst immer in der Gestalt der Theokratie fand, nicht nur in Mesopotamien und Ägypten.

In dem Maße allerdings, wie die um den Tempel emporwachsenden Städte mit ihrer Kulturarbeit aufeinander zu rückten, wie ihr wachsender Reichtum die Begehrlichkeit benachbarter Herrschaften oder barbarischer Stämme reizte, nahm die Bedeutung des Kriegsführers und der militärischen Organisation zu. Andererseits verursachten die internen Angelegenheiten der Tempel einen immer differenzierteren Aufwand. Es kam zu einer Trennung der ideologischen und administrativen Aufgaben, wenn auch den Priestern meist die Bewirtschaftung derjenigen Ländereien blieb, die inzwischen unmittelbar dem Gott gehörten.

Das Königtum stieg auf. Zuerst in Ägypten, dann auch in Mesopotamien drängte die Notwendigkeit, die Stromsysteme im Ganzen zu kontrollieren, zum Territorialstaat. Nun trat der Großkönig, der Kaiser, der »orientalische Despot« im vollen Sinne des Wortes auf den Plan. Oft nahm er auch die Funktion des Oberpriesters wahr, erhob sich zum Stellvertreter, wenn nicht zur Inkarnation des Gottes, oder zu seinem Sohn. In seiner Person, und regierungsklug im Idealfall nur in seiner Person, trafen die beiden Zweige zusammen, aus denen sich jetzt die herrschende Klasse zusammensetzte: die Hierarchien der Priester und der Beamten, d.h. der Ideologen und der zivilen bzw. militärischen Bürokraten. 

Engels stellt fest, daß dieser »politischen Herrschaft überall eine gesellschaftliche Amtstätigkeit zugrundelag ... Wie viele Despotien auch über Persien und Indien auf- oder untergegangen sind, jede wußte ganz genau, daß sie vor allem die Gesamtunternehmerin der Berieselung der Flußtäler war, ohne die dort kein Ackerbau möglich« (MEW 20/167). 

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Schlechte Regierung bedeutet unter solchen Umständen schlechte Ernten, rapide Verelendung der Bevölkerung. Aber die Ökonomische Despotie verfolgt wie jede Klassenherrschaft natürlich nicht die Volkswohlfahrt als letzten Zweck. »Die Regierung im Orient«, meint daher Engels, »hatte immer nur drei Departments: Finanzen (Plünderung des Inlands), Krieg (Plünderung des Inlands und des Auslands) und travaux publics, Sorge für die Reproduktion« (MEW 28/259). Die öffentlichen Arbeiten stehen hier nicht umsonst an letzter Stelle, obgleich es in allen alten Despotien, besonders in ihren Anfängen, Kaiser gegeben hat, die als progressive »Verwandler der Welt« auftraten und ihr Großes Haus (wie ja der Name Pharao zu übersetzen ist) in der bestimmten Ordnung hielten.

Die Theokratie war zwar der ursprünglichste, aus der inneren Struktur des sich zivilisierenden Gemeinwesens selbst hervorgehende Weg zur Orientalischen Despotie, sie war jedoch von vornherein nicht der einzige. Für jene Stämme, die ihre formative Periode nicht als seßhafte Bodenbauer, sondern bei dem Abenteuer der kriegerischen Wanderung durchmachten, brachte die Lebensweise eher einen Kriegskönig als eine Priesterschaft an die Spitze, wobei dieser Kriegskönig im günstigen Falle zugleich die sakrale Spitze bildete. Wenn dann die Landnahme solcher Stämme mit Eroberung und Unterwerfung einer anderen Bevölkerung verbunden war, wuchs der Gentiladel in eine Staatsbürokratie hinüber, wobei natürlich zugleich fast immer eine Ergänzung der neuen herrschenden Klasse aus anderen Gruppen erfolgte. So entstand z.B. im 2. Jahrtausend v.u.Z. das kleinasiatische Reich der Hethiter, das — gewiß nicht zufällig — in seiner ersten Phase einige frühfeudale Tendenzen zeigt, wie umgekehrt bei vielen germanischen Staatsgründungen im Mittelmeerraum, z.B. bei den Wandalen unter Geiserich, starke Züge der Despotie hervortraten.

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Insbesondere die Organisation der herrschenden Spitze, des Hofes im alten Hethiterreich, weist frappierende Ähnlichkeiten mit dem merowingischen und karolingischen Frankenreich auf. Die maßgebende Differenz lag nicht »oben«, sondern »unten«: anders als die Hethiter, die sich im späteren Großreich auf die Ausbeutung nordmesopotamischer und syrischer Gebiete orientierten, wo die Bevölkerung in der asiatischen Weise reproduzierte, hatten es die Franken mit einer Bevölkerung zu tun, die teils von der Auflösung der Sklaverei her, teils aus germanischer Tradition zu familienweiser Produktion übergegangen war. Das Hethiterreich zeigt übrigens auch, daß nicht nur die Bewässerung, sondern jede Form der Großen Kooperation eine Despotie begründen kann, sei es etwa die Kooperation des umfassenden Eroberungskriegs wie noch bei den Mongolen, sei es die Kooperation bei der Unterdrückung einer Bevölkerung. Allerdings war die Despotie um so beständiger, je mehr sie durch direkt ökonomische Notwendigkeit begründet war.

Ein Fall, der sich wegen seiner klassischen Klarheit und Durchsichtigkeit besonders für die Demonstration eignet, ist die ökonomische Despotie der Inkas, die mit der Unterwerfung eines bereits kultivierten Volkes durch ein fremdes Gentiladelsgeschlecht im peruanischen Hochland begann und mit einem fast die ganze mittlere und nördliche Andenregion samt Küstenstreifen umfassenden Großreich endete. Dieses Großreich war weit realer als etwa das karolingische Imperium in seinen besten Zeiten. Die Kontrolle war durch strategische Straßen in alle Landesteile gesichert, die auch die materielle Basis eines überaus raschen Nachrichtendienstes waren. In den neu eroberten Gebieten wurden Bevölkerungseinheiten gegen andere aus den Kerngebieten des Reiches ausgetauscht. Die Sprache des Königsclans, der sich durch das Privileg der Vielweiberei zu einem genügend zahlreichen Hochadel ausgewachsen hatte, wurde als Verkehrsidiom durchgesetzt. »Geschenke« begründeten den Luxus der goldstrahlenden Hauptstadt, und ein Abglanz davon fand sich auch in den Zentren der Provinzen wieder.

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Allein diese Tribute — mochten sie vielleicht auch einst der Grundstock der Kaiserherrlichkeit gewesen sein, und später noch den ersten Rückfluß aus jeder neuen Unterwerfung darstellen — waren nur der Ausweis der Macht, nicht ihr Fundament. Dies Fundament war die uneingeschränkte Verfügung des Inkas, in dem auch hier die Pyramiden der weltlichen und kirchlichen Hierarchien zusammenliefen, über die gesamte Mehrarbeit der Bevölkerung, die über zwei Drittel der überhaupt verausgabten Arbeit darstellte. 

Die ökonomische Grundlage, deren höchst bedeutende Ausdehnung die Inka-Herrschaft geschichtlich rechtfertigt, war eine hochentwickelte, mit diffiziler Bewässerung aus den Gletscherabflüssen kombinierte Terrassenkultur des Maises, dieser Königin der indianischen Kulturpflanzen, die auch im Mittelpunkt der den agrarischen Jahreszyklus verbürgenden staatlichen Magie stand. Der »Sohn der Sonne« und seine höchsten Würdenträger beteiligten sich jedes Jahr einmal an der Landarbeit, indem sie symbolisch ihre goldenen Grabstöcke ansetzten. (Auch die Pharaonen pflegten ja den »ersten Spatenstich« für ihre Staatsbauten zu tun.) Für die mehr als zehn Millionen Bauern des Landes war jeder Arbeitsgang reglementiert und religiös sanktioniert. 

Wie funktionierte nun die große Ausbeutung?

Wie in fast allen ökonomischen Despotien verfügte über alles Land der Herrscher. Marx hat dies »Königseigentum« am Boden als die formationsspezifische Art der Negation des ursprünglichen Gemeineigentums im Orient hervorgehoben. Die ursprüngliche »asiatische Form« der Aneignung durch die Dorfgemeinschaft blieb für den unmittelbaren Produktionsprozeß meist erhalten. 

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Aber die wirkliche Umkehrung der Machtverhältnisse, der Verfügungsgewalt ist überall daran zu erkennen, daß der Vorsteher der Dorfgemeinschaft, selbst wenn er noch von unten gewählt wird, nun den untersten Rang der offiziellen Bürokratie einnimmt und primär nach oben haftbar ist, haftbar je nach Regelung für das Steueraufkommen und/oder für die periodische Rekrutierung der Arbeitskommandos, des Militäraufgebots usw. Die freien Mitglieder der alten Dorfgemeinschaft (in deren Schoß es allerdings auch längst Unterdrückung der Frauen, der Jugend, der häuslichen Sklaven gegeben hatte) einschließlich der Ältesten waren zu »Gemeinfreien« geworden, die man ebensogut als Staatssklaven ansehen kann. Jedenfalls sprach Marx von »der allgemeinen Sklaverei des Orients«. 

Wie äußert sich dieser generelle Zug bei den Inkas, die übrigens eine allerunterste Kaste von Haussklaven für die niedrigsten Arbeiten kannten?

In dem Andenreich war der Boden von Staats wegen dreigeteilt: Das erste Dritteil gehörte direkt dem Inka, war also regierungsunmittelbar. Das zweite Dritteil war dem Tempel, dem Gott zugewiesen, unterstand so ebenfalls unmittelbar der Herrschaft. Das letzte, kleinste Drittel blieb den Ayllus, den Dorfgemeinschaften, zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zugeteilt. In den Dörfern kamen noch immer die Ältesten zusammen, die ihrerseits, im Kontakt mit den einfachen Mitgliedern standen, so daß alle das Empfinden haben konnten, gehört zu werden, zugestimmt zu haben. 

Auch die Häuptlinge von ehedem waren nicht verschwunden. Aber sie bildeten nun eine Art niederen Beamtenadel. Sie entgingen durch ihre Funktion, die Arbeitskräfte für die Staats- und Gottesfelder sowie für die zahlreichen öffentlichen Arbeiten auszuheben und die einfache Reproduktion ihrer Verbände zu regeln, ebenfalls der körperlichen Arbeit, bildeten so die unterste Schicht der herrschenden Klasse. Im Inka repräsentiert, eignete sich diese das Mehrprodukt also in der Form der Arbeitsrente an, auf eine Weise, in der Ausbeutung, Herrschaft und Verfügung über nahezu den gesamten Reproduktions­prozeß unmittelbar zusammenfallen.

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Gleichzeitig wurde auch das Herrschaftswissen monopolisiert, die Geheimhaltung der funktionswichtigen Informationen gesichert. Im alten Mesopotamien hatte man schon die bürokratischen Lehrlinge, die angehenden Schreiber »eingeweiht«. Die Priesterschaft, als Spitze der Schriftgelehrten, wehrte erfolgreich jede den Zugang erleichternde Vereinfachung der komplizierten Zeichenschrift ab. Die indischen Brahmanen verfolgten als eine der schwersten Sünden das Verbreiten des Veda, des »Wissens«, unter Unberechtigten. Ein Inka brachte diese Haltung auf die klassische Formel: »Man soll nicht die kleinen Leute lehren, was nur die Großen wissen dürfen.« 

Nun war die Inka-Herrschaft, die zur Zeit der spanischen Invasion offenbar gerade erst im Begriffe stand, den Zenit ihrer ökonomischen und kulturellen Leistungsfähigkeit zu überschreiten, mehr als nur ein System der Auspressung von Mehrarbeit. So offenbar die Privilegien, der direkte und indirekte Parasitismus der Herrschaft waren, ging darin doch nur ein freilich nicht zu unterschätzender Bruchteil des Mehrprodukts auf. 

Immer noch der alten Rolle des Gentil-Vaters verpflichtet, begriff der Inka, als der Große Patriarch, der er nun war, die Fürsorge für seine Untertanen als ureigenstes Herrschaftsinteresse. Er regierte weise und gerecht, nicht etwa »tyrannisch« — und das hieß: »Es gab nichts, was der Wille des Inka nicht hätte ändern können — aber dieser Wille gab nicht dem einen das, was dem andern zukam.« 

Und von der alten Dorfgemeinschaft hatte er die Verantwortung geerbt, kein Individuum in materielle Not geraten zu lassen. Die Naturalien (Lebensmittel, Wolle usw.), die aufgrund der Fronarbeit in den öffentlichen Speichern konzentriert waren, wurden nach festen Prinzipien, die die Anspruchsgleichheit der Gemeinfreien anerkannten, unter die Bevölkerung verteilt. Es gab »Felder für die Witwen und Waisen«. Die Arbeitspflicht wurde so gehandhabt, daß das Dritteil der Ayllus ordentlich bestellt werden konnte. Es kam kaum je eine Herrschaft dem ihr möglichen Optimum so nahe.

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Dafür durften sich selbst die Höchsten dem Inka nur mit einer Bürde auf dem Haupte nahen. Ein Franzose sagt, »außer ihm und seiner Familie gibt es keine Menschen; denn die anderen Menschen sind zu Teilen der Wirtschaftsmaschine geworden und zu Nummern innerhalb der Verwaltungsstatistik.« Die Familien und Stadtbevölkerungen wurden in Gruppen zu Zehn, Hundert und Tausend registriert, die jede ihren Vorsteher hatten. 

Die Pflicht zu Gehorsam und Unterwerfung war so total, wie die potentielle Zwangsanwendung für den Fall abweichenden Verhaltens allgegenwärtig war. Jede Handlung, die gegen Regeln und Gesetze des verstaatlichten Gemeinschaftslebens verstieß, war zugleich Verbrechen gegen den Staat und Sünde gegen den Gott und wurde quasi als Rebellion geahndet, meist sogar mit dem Tode. Adlige freilich sühnten mit Amtsenthebung. Das Schwerste, was sie treffen konnte, war also Entzug der Teilhabe an der Herrschaft. Es fehlte nicht an einem inneren Spionagewesen. 

Das Gesamtergebnis war die historische Disqualifizierung der unmittelbaren Produzenten, die in wenigen Generationen zu stumpfer Unmündigkeit und Initiativlosigkeit herabsanken, zu einem Zustand, wie er dem freien Mitglied einer archaischen Dorfgemeinschaft niemals eigen gewesen war. Ihrer Führung einmal verlustig gegangen, standen sie den spanischen Konquistadoren dann ebenso hilflos gegenüber wie die indischen Bauern allen ihren Eroberern.

Es lohnte sich auch deshalb, etwas näher auf die Ökonomische Despotie der Inkas einzugehen (übrigens in Anlehnung an einen Überblick von Eva Lips), weil dieses System wiederholt als sozialistisch oder kommunistisch, z. B. als »religiöser Staatskommunismus« hingestellt worden ist. Dies ist insofern nicht völlig unsinnig, als es sich hier einerseits tatsächlich um eine Überlagerung archaischer Verhältnisse und andererseits um die reale Urheimat so manches utopischen »Sonnenstaates« handelt. 

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Auch sollten einer derartigen Kennzeichnung diejenigen nicht widersprechen, die die Aufgabe des Sozialismus hauptsächlich darin sehen, einen perfekteren Wohlstandsstaat als der Kapitalismus herzustellen und aus naheliegenden Motiven die Frage nach der politischen Struktur der Verfügungsgewalt über unseren gesellschaftlichen Reichtum verteufeln. Die wirklichen Parallelen zu unserer Sozialstruktur, die schwer zu leugnen sein dürften, reichen genau so weit, wie diese, obwohl jenseits des Kapitalismus, doch noch nicht sozialistisch ist.

Es war ein moderner Peruaner, Funktionär des damals noch neuen und progressiven Militärregimes, Carlos Delgado, der vor ein paar Jahren den allgemeinen Schluß formulierte, die gesamte geschichtliche Erfahrung zeige, »daß aufgeklärte Minderheiten stets repressive Bürokratien geschaffen haben. Im Namen des einen oder des anderen Mythos, dieses oder jenes Ideals, unterschieden sich solche Bürokratien — wegen ihres Absolutismus, ihrer fanatischen Intoleranz und ihres unersättlichen Machthungers — schließlich nicht mehr von irgendeiner herrschenden Oligarchie der Vergangenheit« (Belgrader »Internationale Politik« 23, 528, 4.4. 72/22). Delgado resümiert hier insbesondere die Erfahrung so vieler lateinamerikanischer Revolutionen. 

Frantz Fanon hat auf genau dieselbe Weise den Verfall afrikanischer Befreiungsbewegungen nach ihrem Sieg als Prozeß oligarchischer Bürokratisierung beschrieben. Aber die Erscheinung ist nicht neu, sondern alt, sie reicht hinter die aufgrund ihres Privateigentums herrschenden Oligarchien der Vergangenheit zurück. Wenn die Klassen, die mit dem Privateigentum verbunden waren, vernichtet oder entmachtet sind, tritt das ältere Element der Arbeitsteilung nach Hand- und Kopfarbeitern wieder als autonomer Faktor der Klassenbildung hervor, und zwar solange, wie diese Arbeitsteilung überhaupt reproduziert wird. Wie in der Frühzeit geht aus dem »Wissen« die Macht hervor, nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch innerhalb der Gesellschaft. Warum sich das »Wissen«, wo es herrscht, stets als bürokratische Hierarchie mit der Tendenz zur despotischen Spitze organisiert, bedarf späterer Erklärung.

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Zunächst wollen wir uns restlos darüber klar werden, daß die Herrschaft von Geistesarbeitern eine der ältesten und noch längst nicht abgetanen historischen Realitäten ist. Childe zitiert aus einer ganzen Anzahl verwandter ägyptischer Urkunden, die aus der Zeit des Neuen Reiches stammen, also mehr als 3000 Jahre zurückliegen, die folgende Ermahnung eines Vaters an seinen Sohn: 

»Laß dir das Schreiben angelegen sein, auf daß du dich vor harter Arbeit jeder Art bewahrest und ein hoher Beamter von großem Ansehen werdest. Der Schriftgelehrte ist von Handarbeiten erlöst; er ist es, der befiehlt... Hältst du nicht des Schreibkundigen Palette in deinen Händen? Das ist es, was den Unterschied ausmacht zwischen dir und dem Manne, der ein Ruder handhabt« (Der Mensch schafft sich selbst/189). 

Schreiben ist der Grundstock des Aufstiegs und der Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse der Könige, Priester und Beamten, die sich natürlich je später um so mehr aus sich selbst heraus fortsetzt. Beamter und Gelehrter waren besonders in Ägypten und China ein und dasselbe. Die Klasse der chinesischen Staatsbürokraten, der kaiserlichen Beamten, konnte geradezu als »Literaten« benannt werden. Platos »Philosophenherrschaft« war ja auch nichts anderes als die idealisierte Rezeption des altägyptischen politischen Überbaus, nur mit einer spartanischen »Wächter«-Oligarchie statt mit dem Pharao an der Spitze. 

Die Tatsache, daß das gesamtgesellschaftliche Interesse, aus dem heraus sich diese Führerschaft entwickelte, von vornherein im unlösbaren Konflikt mit ihren Sonderinteressen lag, fand ihren Ausdruck in der Geburt der ersten reflektierten Ideologie, einer Ethik des rechtschaffenen Beamten, der sich seiner Verantwortung bewußt bleib^und in der Ausnutzung seiner Privilegien maßhält. Im 25. Jahrhundert v.u.Z. schrieb der Ägypter Pta-Hotep für seinen Sohn, der es wie. er selbst zum höchsten Beamten des Reiches bringen sollte, eine Weisheitslehre zusammen, die vielleicht die erste Liste erwünschter »Führungs­eigenschaften«, den ersten Katalog der bürokratischen Tugenden darstellt. 

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Als erste Pflicht des Menschen bezeichnete Pta-Hotep seine Einfügung in die Gesellschaft, die also zum Problem geworden sein mußte. Dann empfahl der aufgeklärte Mann unter dem Hinweis auf ihre irdische Zweckmäßigkeit, nicht auf irgendwelche religiösen Motive, die folgenden Prinzipien: Bescheidenheit vor allem, gemischt mit Freigebigkeit, Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe, Ehrfurcht und Gehorsam gegenüber den Eltern, Selbstbeherrschung, Maßhalten in allen Dingen, Anstand im Umgang mit Vorgesetzten wie mit Untergebenen. 

Schließlich ermahnte er seinen Sohn: »Sei nicht stolz darauf, daß du ein Gelehrter bist — nimm Rat vom Ungebildeten wie vom Gebildeten« (Synchronoptische Weltgeschichte). Die letzte Maxime ist entscheidend für die Stabilität der bürokratischen Herrschaft. Wenn der Kontakt mit den Unteren abreißt, ist die Stunde der Rebellion nicht mehr fern.

Wie sehr diese Ethik die neuen Verhältnisse der Herrschaft als Tatsache voraussetzt und bejaht, wird überaus deutlich, wenn wir ihre guten Lehren in der Verachtung wiedererkennen, die ihnen die chinesischen Dauisten zollten. Als die ältere, naturwüchsige Form der ökonomischen Despotie in China in einem jahrhundertelangen Kampf zusammenbrach, wurden ihre Widersprüche den Intellektuellen in der Form einer vielgestaltigen philosophischen Bewegung bewußt. Während sich die meisten Denker um die Konzeption einer besseren Herrschaft bemühten, wiesen die Dauisten den Enterbten der einstigen archaischen Gemeinschaft den Weg dorthin zurück. Von dieser Position aus aber sahen sie mit äußerster Schärfe das Wesen des Umbruchs, der sich seit dem Ausgang der Urgemeinschaft vollzogen hatte. In Lau-dses Dau-De-dsching, dem Buch von der rechten Art, das Gemeinschaftsleben im Einklang mit der Natur wachsen zu lassen, lesen wir (in der neuen Übersetzung von Ernst Schwarz für Reclam):

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»verloren ging das große Dau —
gute und rechtschaffenheit entstand 
hervortrat die klugheit —
die große heuchelei entstand 
zerrissen war die sippe —
der familiensinn entstand 
in Wirrnissen zerfiel der Staat —
der treue minister entstand«

»gnade und ungnade — angst machen sie beide ... 
gnade gilt dem tieferstehenden 
ängstlich empfängt er sie 
mit angst verliert er sie«

Lau-dse, der in den neuen Weisen mit ihrer Heiligkeit, Klugheit, Rechtschaffenheit, Güte, mit ihrem Geschick und ihrer Gewinnsucht die Wurzel der großen Verwirrung sah, die in der Zeit der Kämpfenden Reiche über China gekommen war, stellte ihnen das Ideal des Stammesweisen von ehedem entgegen, der »geschehen läßt« statt »geschehen zu machen«, der »wissend« ist statt »gelehrt«, und der dem weiblichen, mutterrechtlichen Element noch nahesteht. Sein Weiser

»läßt die dinge wachsen und besitzt sie nicht
tut und verlangt nichts für sich
behüter, nicht beherrscher
das sei genannt Süen De — das tiefste De«
»so ist der weise:
. . . nimmt nicht für sich, was er vollbracht
und will nicht gepriesen sein«.
»hält der weise den vertrag in händen
so preßt er damit nicht die menschen
wer De besitzt, wahrt den vertrag
wer keins besitzt, fordert fron«.

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»Immer weitherzig den Dingen gegenüber, in nichts beengend den Menschen«, so sollte nach dem Dauisten Dschuangdse der Weise sein. Er ist das Gegenbild des gelehrten Bürokraten und entlarvt ihn bis in seine aufklärerische Idealisierung hinein als eine Figur der Herrschaft. 

Daß aber die ganze Auseinandersetzung um die Gestalt des »Weisen«, um das rechte und zweckmäßige Verhalten von Gebildeten, von Qualifizierten geht, die das gesellschaftliche Leben der Menschen im Staat zu regeln haben, kennzeichnet die Herkunft dieser herrschenden Klasse aus der Arbeitsteilung und Kooperation selbst, unvermittelt über das Privateigentum. Natürlich hat das Privateigentum, gerade in China auch das am Boden, mit der Zeit eine wachsende Rolle in den meisten Ökonomischen Despotien gespielt. Jedoch hat es sich nie den Staat unterworfen und von seinen elementaren Interessen aus umgemodelt. Das chinesische Kaisertum konnte die großen Grundeigentümer alle paar hundert Jahre durch eine Agrarreform enteignen (noch die russische Reform von 1861 wäre in einem echten Feudalreich unmöglich gewesen). 

Die Beamtenprivilegien und -mißbräuche waren in den alten ökonomischen Despotien der solideste Weg zum Wohlstand, zum Eigentum. Auch in den afrikanischen Ländern, die heute den nichtkapitalistischen , Weg gehen, stoßen »die energischen Maßnahmen zur Erziehung und Umerziehung der Beamten ... auf ernsthaften Widerstand, bedingt durch die zählebigen Ansichten vom Staatsdienst als Quelle persönlicher Bereicherung« (Probleme des Friedens und des Sozialismus 15/1972, 7/963). Gerade darum handelt es sich auch, wenn Frantz Fanon die nach der Befreiungsrevolution einsetzende Verwandlung der einheimischen afrikanischen Intelligenz, gerade auch der eben noch national-revolutionären, in »bürokratische Bourgeoisie« beschreibt.

Übrigens stand die Beamtenkarriere im alten China jedem Bürger offen, der es intellektuell und ökonomisch fertigbrachte, sich auf die regulären Staatsprüfungen in offizieller Ideologie und Verwaltungslehre vorzubereiten, also »Gelehrter« zu werden. Daher war zu verschiedenen Zeiten ein ins Gewicht fallender Prozentsatz der Beamtenschaft frisch emporgekommen.

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Das bedeutete einen Gewinn an Stabilität für die Macht: »Ganz wie der Umstand, daß die katholische Kirche im Mittelalter ihre Hierarchie ohne Ansehn von Stand, Geburt, Vermögen aus den besten Köpfen im Volke bildete, ein Hauptbefestigungsmittel der Pfaffenherrschaft und der Unterdrückung der Laien war. Je mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der beherrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist ihre Herrschaft« (MEW 25/614).

Marx, der die eben zitierte Beobachtung festhielt, hatte sich jedoch nie näher mit der durch die Reproduktion der christlichen Kirchen­hierarchie nicht aufgeworfenen Frage beschäftigt, ob »Philosophen« (wie nach Platos »Staat«), »Gelehrte«, Bürokraten selbständig herrschen können, obwohl er den Fakt für die ägyptische Priesterherrschaft anerkannte. Angesichts der völlig vom Privateigentum geprägten bürgerlichen Gesellschaft maß er dieser archaischen Konstellation keine moderne theoretische Bedeutung bei. Außerdem hatte er die asiatische Produktionsweise vorwiegend unter dem Gesichtspunkt studiert, daß sie nicht zum Privateigentum führt, und die politische Struktur, die sich unter solchen Umständen ergibt, nur in der Institution des Despoten allein, als des de-facto-Eigentümers am Boden, gestreift. 

Indessen ist der Despot ja nur die repräsentative und administrative Spitze einer herrschenden Klasse, die über die Kirchen- und Staatsbürokratie abwärts bis zu den Steuereintreibern und Dorfältesten sowie zu den Vorstehern der staatsobligatorischen Kaufleute- und Handwerker-Korporationen reichte. Es handelte sich um eine als ideologischer und administrativer Staatsapparat organisierte herrschende Klasse. In jener Ära deckte sich die Spaltung der Gesellschaft in Beherrscher und Beherrschte keineswegs mit der in Reiche und Arme. Reiche, die nichts weiter waren als reich, befanden sich fast immer in einer so zweischneidigen Lage wie später die jüdischen Finanziers im frühkapitalistischen Europa. 

Dienten sie aber, um Einfluß zu haben, als hohe Beamte, dann traten die dafür charakteristischen Gefahren des jähen Absturzes in Verbannung, Kerker oder Tod in den Vordergrund ... Aber wie dem auch sei, wir sahen bereits, daß Marx die Herrschaft der Kopfarbeit über die Handarbeit zwar stets als wesentliches Moment der Klassengesellschaft betrachtete, aber in der Kontroverse mit Bakunin die Möglichkeit, daß ihr eine selbständige Bedeutung zukommen könnte, zumindest für die Epoche jenseits des Kapitalismus abwies.

Wir wollen nun sehen, wie sich diese ganze Problematik in der Praxis der siegreichen russischen Revolution konkret entfaltete, und dabei an den Gedanken­gängen des späten Lenin demonstrieren. Denn bereits vor Stalin, in den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg, zeichnete sich die neue Gesellschaftsstruktur in allen Grundlinien ab, wie sie bis heute existiert. Der Stalinismus im engeren Sinne, als Periode des massenhaft angewandten physischen Terrors, verdeckt diese Struktur eher, als daß er sie erhellt; es verhielt sich ja mit Cromwell und Napoleon ganz ähnlich. Wenn wir uns also Lenins Ringen mit den neuen Verhältnissen vor Augen führen, lenken wir nicht etwa von irgendwelchen »schlimmen Dingen« ab, sondern versuchen, mitten ins Zentrum der sowjetischen Verhältnisse vorzustoßen.

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  Die Alternative - Zur Kritik des real existierenden Sozialismus - Rudolf Bahro 1977