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3 - Von der agrarischen zur industriellen Despotie

 

"Stalins 'Umgestaltung der Natur', die Kolonisierung des Nordens und Sibiriens wäre eben­so­wenig wie der Bau der chinesischen Mauer ohne Zwangs­arbeit möglich gewesen. Darum ist Iwan Denissowitsch rekrutiert worden. Alle die Parteikämpfe der zwanziger Jahre zwischen 'Linken' und 'Rechten' waren die Geburtswehen der Despotie."   Seite 136, hier gekürzt

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Der Kapitalismus ist kosmopolitisch und tendiert daher auf die Dauer zu einem Abbau der nationalen Tradition. Eine antiimperialistische Volks­revolution kann nur im höchsten Grade national sein, auch und gerade dann, wenn die an ihr beteiligte Arbeiterklasse internationalistisch votiert. Als die Bolschewiki die Macht ergriffen, waren sie sich darüber klar, daß sie mehr als nur Interessenvertreter der Arbeiterklasse waren, daß sie die Aufgabe übernommen hatten, die Probleme des ganzen russischen Volkes zu lösen, aus dem alten Rußland das neue zu schaffen. Also mußten sie durch dieses alte Rußland »hindurch«, mußten sie es Schritt für Schritt umarbeiten und dabei das vorgefundene Material benutzen. 

Die ganze Geschichte eines Volkes, die Herrschaftsstruktur, unter der es zuerst Staat wurde, die Produktionsweise, die seinen Arbeitsprozeß bestimmte — alles das schlägt sich in seinem Nationalcharakter nieder. So wie die kommunistische Bewegung im Westen nur aufheben kann, was da ist — dort eben das kapitalistische Privateigentum, mußte auch die revolutionäre Bewegung in Rußland ihr Erbe annehmen. 

Die »Aufhebung« ist nicht nur eine Forderung. Je rückständiger ein Land ist, das den nichtkapitalistischen Weg einschlägt, desto mehr tritt ihr Charakter als unentrinnbares Schicksal hervor. Es wird nicht primär durch den Willen der Avantgarde entschieden, was verschwinden wird und wie schnell, was aufbewahrt und was auf eine höhere Stufe gehoben werden soll. 

Die Bolschewiki hatten kaum zu wählen. Daher spricht es absolut nicht gegen sie, wenn wir heute sehen, daß das gesellschaftliche Leben Rußlands, der ganzen Sowjetunion, noch mehr als einmal umgewälzt werden wird, ehe das Leben dort annähernd sozialistische Qualität annimmt. Grundsätzlich hat der Fortgang der russischen Revolution den Optimismus Lenins nicht widerlegt, schon gar nicht, wenn man daran denkt, wie weit die Länder des spätkapitalistischen Westens von einer harmonischen Lebensform entfernt sind. 

Allerdings kann die Sowjetunion überholt werden von dem später begonnenen Versuch, aus dem alten China das neue zu schaffen. Die Rüstung, die der sowjetischen Gesellschaft in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz aufgezwungen wurde, glich nach innen schon früh jenem mittelalterlichen Folterinstrument, der Eisernen Jungfrau. Sie hemmt nicht nur das normale Wachstum des mächtigen Gesellschaftskörpers, sondern verwundet ihm unausgesetzt mit seinen nur notdürftig abgestumpften Stacheln das eigene Fleisch.

Doch es gibt keine sinnvolle und bewußte Lösung des sowjetischen Problems, das die Sozialisten in der ganzen Welt mit angeht, ohne tiefes Verständnis für den Entstehungsprozeß des neuen Rußlands, für den Mut und die Willenskraft, für die positive schöpferische Leistung des Leninschen Bolschewismus. 

Dazu gehört allerdings, wie hier nur angedeutet werden kann, auch ein Minimum an Bekanntschaft mit der russischen Geschichte, die — seit dem Untergang der in ihrer Epoche glänzenden Kiewer Rus — mit dem ständigen Krieg der Fürsten, mit der Herrschaft der Mongolen, mit dem Despotismus der Moskauer Zaren, die ihre Laufbahn als Steuereintreiber der Horde [Mongolen] begannen, nie unter einem glücklichen Stern stand.

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Der ursprünglichste Antrieb Lenins und seiner Genossen ging ebenso wie bei den drei Generationen russischer Revolutionäre vor ihnen von der moralischen Verantwortung aus, die Geschicke des Volkes zum Besseren zu wenden. Ich glaube, jenes naive Plakat aus der Revolutionszeit, auf dem ein halb bäuerlicher, halb proletarischer Lenin mit dem Birkenbesen den Erdball von dem Ungeziefer der Monarchen, Gutsbesitzer und Kapitalisten reinigt, drückt wahrheitsgemäß die tiefste Schicht der politischen Motivation aus, von der die führenden Bolschewiki erfüllt waren. 

 

 

Einfügung bei detopia

Zeichner:
Viktor Deni, 1920:

"Genosse (Towarisch) Lenin säubert die Welt von Unrat."

 

 

Es ist manches über die objektiven Widersprüche zu sagen, die sie nicht so ans Ziel gelangen ließen, wie sie es emotional und theoretisch begründet erhofften. Aber man mag sich auch ihrer Biographien und ihrer Gesichter erinnern, von Lenin bis Stalin — leider haben zu viele von uns die meisten nie abgebildet gesehen —, um sich zu überzeugen, daß Rußland viel von seinen besten Menschen aufgeboten hatte und daß nur schwer eine Elite denkbar ist, die ihre Aufgabe besser hätte lösen können als diese. 

Ehe wir im vorliegenden Kapitel verfolgen, wie Lenin um die sozialistische Perspektive der Revolution in ihren lebensnotwendigen Kompromissen rang, müssen wir uns noch auf den zunächst erstaunlichen Umstand einstellen, daß der Führer der russischen Revolution ursprünglich keine ganz präzise Vorstellung vom Charakter der mächtigen vorkapitalistischen Formation der russischen Gesellschaft hatte. Wenn über seinen letzten Lebensjahren ein subjektiv-tragischer Schatten liegt, so hängt dies gerade damit zusammen, daß er sich, überdies durch seine Krankheit abgedrängt, zum Spielball von Symptomen werden sah, die er, um mit seiner Kategorie aus dem Philosophischen Nachlaß zu reden, nicht bis in ihr »Wesen zweiter Ordnung« durchschaute. Diese partielle Hilflosigkeit betraf ja nicht Lenin allein. Nach seinem Tode begleitete ein Großteil der Alten Garde den Aufstieg Stalins mit endlosen Diskussionen über einen drohenden »Thermidor«, über eine von Stalin drohende bürgerliche Konterrevolution. 

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Noch in dem späten Entsetzen Bucharins über den »neuen Dschingis Khan« haben die Bolschewiki das wahre Wesen des Stalinismus erst erahnt. Was sie schockierte, war nicht nur das spezifisch Irrationale des despotischen Terrors, sondern die Irrationalität der Erscheinung als ganzer, die aus der proletarischen Revolution, für die sie gelebt hatten, unmöglich hervorgehen konnte.

Sie wußten nicht mehr, woran sie beteiligt waren. Und doch war ihr Dilemma in der leninistischen Tradition verwurzelt, auf die sich Stalin nur höchst selten ganz zu Unrecht berief.

Es würde eine eigene, übrigens sehr notwendige Monographie erfordern, den spezifischen Zusammenhang der Leninschen Revolutionstheorie für Rußland, d.h. die in ihr vollzogene Verarbeitung der russischen Geschichte, Ökonomik und Klassenstruktur, unter dem Gesichtspunkt der nachrevolutionären Erfahrung neu darzustellen. Wie es scheint, hat Lenin den kapitalistischen Entwicklungsgrad Rußlands zu Anfang des 20. Jahrhunderts ähnlich überschätzt, wie das Marx und Engels Mitte des 19. für Westeuropa getan hatten. Insbesondere müßte man untersuchen, ob er nicht aus dem Vordringen der Warenproduktion und der Lohnarbeit auf dem russischen Dorf überhaupt verfrüht auf eine kapitalistische, d.h. um des Mehrwerte willen produzierende Klasse innerhalb der Bauernschaft geschlossen hat. 

Jedenfalls hat Lenin, indem er sich auf die neue, kapitalistische Formation der russischen Gesellschaft konzentrierte, ihre alte, vorkapitalistische Formation nicht in ihrer ganzen Spezifik erkannt. Er ging in seiner »Entwicklung des Kapitalismus in Rußland« sehr detailliert auf die Keime der neuen Formation in den vorkapitalistischen Verhältnissen ein, aber er behandelte sie unter der grundlegenden Voraussetzung, daß Rußland, nur eben mit Verspätung, den von Marx analysierten westeuropäischen Weg »aus dem Mittelalter in die Neuzeit« einschlägt. Unter dieser Voraussetzung sah er zwar viele einzelne Besonderheiten, aber nicht die grundsätzliche Besonderheit Rußlands. 

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Ich zitierte bereits eine der zahlreichen Leninschen Feststellungen über die asiatischen Züge der russischen Verhältnisse. Doch da er — explizit in seiner Vorlesung über den Staat aus dem Jahre 1919 — für das Mittelalter von Westeuropa bis nach Asien ein und dieselbe Gesellschaftsformation unterstellte, die er Leibeigenschaftsordnung nannte, konnte sich der Ausdruck »asiatisch« bei ihm — anders als bei Marx und Engels — nicht auf die sozialökonomische Grundstruktur, sondern nur auf gewisse Überbauerscheinungen in Staat und Lebensweise der russischen Gesellschaft beziehen, deren fundamentale Verankerung ihm deshalb entging. Der beste Beweis, daß es sich so verhält, ist die echte Überraschung Lenins und vieler anderer Kommunisten über die Wiedergeburt des alten Bürokratismus innerhalb der Sowjetinstitutionen gleich nach der Revolution.

Anders als Marx und Engels hatte Lenin keinen allgemeinen theoretischen Begriff von der alten »asiatischen Produktionsweise« als einer ökonomischen Gesellschaftsformation. Bei seiner unbegrenzten Achtung vor Marx und Engels ist es höchst unwahrscheinlich, daß er ihre Konzeption hierüber wohl gekannt, aber stillschweigend verworfen haben sollte. Denn er setzt sich nirgends damit auseinander. In der Vorlesung über den Staat, die ich schon erwähnte (LW 29/460 ff.), stützt er sich ausdrücklich nur auf Engels' »Ursprung der Familie«, wo dieser das Problem der asiatischen Produktionsweise ausklammert. Natürlich kannte Lenin die Stelle im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, wo Marx sie ohne Kommentar als erste von vier Formationen der Klassengesellschaft nennt, konnte sich jedoch nicht mit der zugehörigen Theorie bekanntmachen, die ja in den damals unzugänglichen »Grundrissen zur Kritik der Politischen Ökonomie« entwickelt war, im »Kapital« aber nur verstreut vorkommt. 

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Ebensowenig konnte Lenin die ausführlichen Entwürfe Marxens zu dem kurzen Brief an Vera Sassulitsch vom Jahre 1881 kennen, in denen Marx das Fundamentale der alten russischen Produktionsweise analog zu der indischen sah und das typische Ergänzungsverhältnis zwischen der zersplitterten patriarchalischen Bauernschaft, die in ihren Dorfgemeinschaften noch den Boden umverteilte, ihn also kollektiv besaß, und der zentralen Despotie betonte. Lenin ging in seiner ersten großen Schrift gegen die Volkstümler so weit, das weitverzweigte System der bürokratischen Zarendespotie zur bloßen Agentur, wenn nicht schon der Bourgeoisie, so doch jedenfalls des Kompromisses zwischen Gutsbesitzern und Kapitalisten herabzuqualifizieren, als wäre diese Despotie — bloß ein westeuropäischer Absolutismus.

Die zaristische Staatsmaschine war in den vorkapitalistischen Zeiten immer mehr gewesen als das Exekutivorgan des Adels, mehr als ein »Leibeigen­schafts­staat«. Und sie hatte neben der von Lenin an sich natürlich richtig gesehenen modernen Funktion bis an ihr Lebensende eine selbständige sozialökonomische Beziehung zu ihrer bäuerlichen historischen Basis, wie sie auch neben dem Leibeigenschaftsverhältnis bestanden hatte (das den Zaren voraussetzte!). Eben deswegen und in diesem Sinne nannten Marx und Engels das alte Rußland halbasiatisch. Die feudale Gutswirtschaft mit Leibeigenen umfaßte erstens nur einen Teil der Bauernschaft. Es gab daneben immer Staatsbauern, die nicht im feudalen Verhältnis zum Zaren standen. Und beide Kategorien wurden über Kopfsteuern typisch »orientalischen« Charakters mittels der bis zum Dorfältesten hinabreichenden bürokratischen Pyramide vom Staat ausgebeutet. Zweitens ergab die naturale Gutswirtschaft ebensowenig wie die auf lokale Mikromärkte beschränkte bäuerliche Wirtschaft einen organischen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, zumal die Städte fast durchweg bloß Verwaltungs- und Garnisonsorte, bürokratische Stützpunkte ohne Bürgertum waren. 

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Die großen Zaren, Iwan Grosny, Peter der Erste, waren die effektivsten Despoten. Ob nun Peter seine Hauptstadt bauen ließ oder — wie man bei dem sowjetischen proletarischen Schriftsteller Andrej Platonow sinnfällig nachlesen kann — die Schleusen von Epifan, stets rekrutierte er die Arbeitskräfte durch willkürliche Zwangsaushebung der Bauern, so wie jeder unternehmende Despot seit den Pharaonen. Er konnte gar nicht anders vorgehen. Und sobald einer der Zaren wirklich die Möglichkeiten ausnutzte, die ihm seine objektive Funktion bot, erwiesen sich die Adligen, selbst die »aus Ruriks Geschlecht«, als seine zugleich widerwilligsten und prominentesten Sklaven. Es war Regel, sie väterlich zu züchtigen. 

Seit Iwan Grosny, der den schon von seinen Vorgängern gebrochenen Hochadel weitgehend ausrottete, haben die Zaren mehrfach neue Schichten büro­kratischen Adels aus den Cliquen ihrer Emporkömmlinge geschaffen und Gutsbesitzer aus ihnen gemacht. Sie erwarben erst allmählich — wie übrigens auch in Indien — ihre zugleich feudale Qualität, ohne jemals von der despotischen Nabelschnur loszukommen. Wer nicht unter seinen Bauern veröden, wer sich irgendeine Bedeutung geben wollte, mußte stets die latente Grundlage seiner Gutsbesitzerrolle aktualisieren und in den Zarendienst treten.

So lagen zu Anfang unseres Jahrhunderts in der russischen Gesellschaft drei Formationen übereinander:

Zuunterst die asiatische — Zarenbürokratie samt orthodoxer Staatskirche und Bauernschaft.

Darüber die seit der Aufhebung der Leibeigenschaft erst halb liquidierte feudale, die sich aber in der Vergangenheit nie völlig aus der älteren ersten heraus­gearbeitet hatte — Ex-Gutsherren und Ex-Leibeigene im Kampf um den Boden. Schließlich zuoberst, in wenigen Städten konzentriert, die moderne kapitalistische — industrielle Bourgeoisie und Lohnarbeiter. (Auf dem Dorf trat der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit noch nicht dominierend hervor, hatte nur in selteneren Fällen seine patriarchalische Hülle abgestreift).

Im Verhältnis der beiden vorkapitalistischen Formationen liegen die Gründe, die Engels dazu veranlaßten, Rußland als »seinem Wesen und seiner Lebensart, seinen Traditionen und Einrichtungen nach ... halbasiatisch« zu nennen (MEW 9/23). 

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Selbstverständlich war das alles — soweit es nämlich die Zarenseite des »asiatischen« Grundverhältnisses betraf — zu Anfang dieses Jahrhunderts auf den Tod unterhöhlt und europäisch übertüncht. Aber was mußte übrigbleiben, wenn man die Kapitalisten und auch die gestern noch halb bürokratischen, halb feudalen Gutsbesitzer, die sich kaum erst zu Junkern gemausert hatten, davonjagte? Übrigbleiben mußte — wenn auch inzwischen sozial destruiert, aber noch längst nicht neu formiert — die bäuerliche Basis der Zarendespotie samt ihrer »kleinbürgerlichen« Anlagerung in den nichtindustriellen Provinzstädten (der traditionelle russische Meschtschanin war kein potentieller Bourgeois), samt »dem zahllosen Heer von Beamten, das Rußland überflutet und ausstiehlt und hier einen wirklichen Stand (!) bildet« (Engels, MEW 18/559).

Das steckte mit in der »kleinbürgerlichen Elementargewalt«, die den Bolschewiki nach dem Sieg gegenübertrat: 100 Millionen Bauern und 15 Millionen Kleinbürger ihrer proletarischen Basis von 5 oder 6 Millionen. Was Lenin nun, im Jahre 1921, über Bauernrußland schrieb, trug einen anderen Akzent als in der »Entwicklung des Kapitalismus in Rußland«:

»Man sehe sich die Karte der RSFSR an. Nördlich von Wologda, südöstlich von Rostow am Don und von Saratow, südlich von Orenburg und Omsk, nördlich von Tomsk ziehen sich unermeßliche Landstriche hin, auf denen Dutzende riesengroßer Kulturstaaten Platz fänden. Und in allen diesen Landstrichen herrschen patriarchalische Zustände, Halbbarbarei und ausgesprochene Barbarei. Und in den entlegenen ländlichen Gegenden des übrigen Rußlands? Überall dort, wo Dutzende Werst von Feldwegen — richtiger: Dutzende Werst von Wegelosigkeit — das Dorf von der Eisenbahn, das heißt von der materiellen Verbindung mit der Kultur, mit dem Kapitalismus, mit der Großindustrie, mit der großen Stadt trennen? Überwiegen nicht in allen diesen Gegenden ebenfalls patriarchalische Zustände, Oblomowtum, Halbbarbarei?« (LW 32/363).

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Über diese Zustände hatte Engels 1875 geschrieben: 

»Eine solche vollständige Isolierung der einzelnen Gemeinden voneinander, die im ganzen Lande zwar gleiche, aber das grade Gegenteil von gemeinsamen Interessen schafft, ist die naturwüchsige Grundlage für den orientalischen Despotismus; und von Indien bis Rußland hat diese Gesellschaftsform, wo sie vorherrschte, ihn stets produziert, stets in ihm ihre Ergänzung gefunden. Nicht bloß der russische Staat im allgemeinen, sondern sogar seine spezifische Form, der Zarendespotismus ... ist notwendiges und logisches Produkt der russischen Gesellschaftszustände« (MEW 18/563 f.). 

Mußte nicht der ungeheure Block der erst in kapitalistische Gärung übergehenden ältesten russischen Ökonomik auch einen institutionellen Tribut von den Bolschewiki erzwingen? Mußte er ihnen nicht, wenigstens vorübergehend, die Ersetzung der zaristischen durch eine neue, wie Lenin später tatsächlich sagte, nur »ganz leicht mit Sowjetöl gesalbte« Bürokratie abfordern, um das Riesenreich, das ja überdies durch Krieg und Bürgerkrieg verwüstet, ausgehungert und desorganisiert war, unter der neuen Macht lebensfähig zu erhalten? Gegen den entstehenden Sowjetbürokratismus, den er zwangsläufig mit begründen half, sollte Lenin seinen letzten großen Kampf führen, und den einzigen völlig erfolglosen seines Lebens, weil er selbst auf dem Boden dessen stand, was er aus den Angeln heben wollte. 

Die bolschewistische Machtergreifung in Rußland konnte zu keiner anderen als der jetzt gegebenen Gesellschaftsstruktur führen, und je mehr man, was hier zu weit führen würde, die Stationen der sowjetischen Geschichte durchdenkt, desto schwerer wird es einem, selbst vor den furchtbarsten Extremen eine Grenze zu ziehen und zu sagen, jenseits begänne das absolut Vermeidbare. 

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Gehen wir, was die Grundsituation betrifft, die infolge der Produktivität des »Spätkapitalismus« bis heute anhält, noch einmal von der Marx-Engelsschen Auffassung über die Voraussetzungen des Sozialismus aus, und vergessen wir dabei nicht, daß hinter einer jeweils manifesten Technik (die ja zerstörbar ist) die historisch geschulte Produktivkraft Mensch als allein ausschlaggebende Größe steht. Der Volkstümler Tkatschow hatte Engels vorgehalten, die soziale Revolution werde in Rußland viel leichter als im Westen sein, weil es dort erst im Keime die Macht des Kapitals gäbe, so daß die arbeitenden Menschen nur mit der politischen Macht, also mit der Zarendespotie, zu kämpfen haben würden. Engels antwortete, zur Vernichtung aller Klassenunterschiede gehöre 

»nicht nur ein Proletariat, das diese Umwälzung durchführt, sondern auch eine Bourgeoisie, in deren Händen sich die gesellschaftlichen Produktiv­kräfte soweit entwickelt haben, daß sie die endgültige Vernichtung der Klassenunterschiede gestatten ... Erst auf einem gewissen, für unsere Zeitverhältnisse sogar sehr hohen Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Produktivkräfte wird es möglich, die Produktion so hoch zu steigern, daß die Abschaffung der Klassenunterschiede ein wirklicher Fortschritt (!), daß sie von Dauer sein kann, ohne einen Stillstand oder gar Rückgang in der gesellschaftlichen Produktionsweise herbeizuführen« (MEW 18/556 f.). 

Daß in diesem Sinne Rußland nicht reif für den Sozialismus sei, sollte dann seit der Revolution von 1905 der ständige Tenor der Menschewiki sein. Nicht nur Plechanow, sondern selbst Gorki in der »halbmenschewistischen« Nowaja shisn warf Lenin vor, er setze die hoffnungsvolle politische Existenz der russischen Arbeiterklasse vorzeitig für ein ehrgeiziges Abenteuer aufs Spiel, das nur in einer sozialen Katastrophe, nämlich in der Aufreibung des Proletariats an einer übermächtigen Aufgabe, enden könne. Es würde von Bauernrußland verschlungen werden. Wie die Haltung Sinowjews und Kamenews vor dem Oktoberaufstand zeigte, reichte diese Befürchtung bis in die bolschewistische Partei hinein. Schließlich war Sinowjew Lenins vertrautester Gefährte aus der eben zu Ende gegangenen Emigrationszeit. 

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Lenin kannte natürlich den, wie er sagte, unstrittigen Satz, daß die Entwicklung der Produktivkräfte in Rußland noch nicht die für den Sozialismus erforderliche Höhe erreicht habe, genausogut wie alle seine Opponenten. Ehe wir auf seine Gegenargumente kommen, wollen wir jenen Aspekt seiner Haltung hervorheben, der am Anfang und Ende aller seiner Argumente stand, und den alle Opportunisten, zuletzt wieder 1968 in Frankreich, als »voluntaristisch« verwerfen müssen, um nicht schamrot zu werden. 

Gerade im Hinblick auf die entscheidende strategische Frage der Machtergreifung in diesem Rußland, in dem die neue Staatsmacht zunächst das einzige Unterpfand einer ferneren sozialistischen Perspektive sein würde, sagte Lenin lapidar: »Wer vor Beginn eines großen Kampfes die Niederlage fürchtet, der kann sich nur zur Verhöhnung der Arbeiter Sozialist nennen« (LW 33/4). Und wie um den »verantwortungsvollen Politikern«, die »nichts aufs Spiel setzen dürfen«, die letzte Ausflucht abzuschneiden, schrieb er ein Jahr vor seinem Tode anläßlich der Aufzeichnungen des Linksmenschewiken Suchanow: »Wie ich mich erinnere, hat Napoleon geschrieben: <On s'engage et puis ... on voit>. In freier Übersetzung bedeutet das etwa: Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich finden. 

Auch wir haben uns im Oktober 1917 zuerst ins Gefecht gestürzt und dann solche Einzelheiten (vom Standpunkt der Weltgeschichte aus sind das zweifellos Einzelheiten) zu sehen bekommen wie den Brester Frieden oder die NÖP usw. Gegenwärtig kann schon kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß wir im wesentlichen den Sieg davongetragen haben« (LW 33/466). »Gegenwärtig«, 1923 — aber 1917? Lenin fuhr fort: »Unseren Suchanows, von den rechts von ihnen stehenden Sozialdemokraten ganz zu schweigen, fällt es im Traum nicht ein, daß Revolutionen überhaupt nicht anders gemacht werden können« (LW 33/466). 

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Fest steht, daß die Bolschewiki mit dem Willen der Massen zur Macht gelangt sind. Und Lenin rechtfertigte die Tat der Bolschewiki in seinem letzten Jahr mit merkwürdig zurückhaltenden, fast defensiven, dadurch um so eindrucksvolleren Worten. Er verwies auf Europa, auf seinen Ausbruch in die Barbarei des eben zurückliegenden Weltkriegs, und er fragte: 

»Könnte nicht ein Volk, das auf eine revolutionäre Situation gestoßen ist, eine Situation, wie sie sich im ersten imperialistischen Kriege ergeben hat, könnte nicht dieses Volk, infolge der Aussichtslosigkeit seiner Lage, sich in einen Kampf stürzen, der ihm wenigstens irgendwelche Aussichten eröffnete, sich nicht ganz gewöhnliche Bedingungen für eine Weiterentwicklung der Zivilisation zu erringen? ... die Möglichkeit eines anderen Übergangs ..., um die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen, als in allen übrigen westeuropäischen Staaten?« (LW 33/464). 

Und zugleich verwies Lenin auf jene Konstellation, aus der die umfassendste Rechtfertigung der bolschewistischen Tat erwachsen sollte, auf den Umstand, daß Rußland an der Grenze zwischen Europa und den »teilweise bereits begonnenen Revolutionen des Ostens in Verhältnisse versetzt« war, »unter denen wir gerade jene Verbindung eines >Bauernkriegs< mit der Arbeiterbewegung verwirklichen konnten«, an die Marx bereits einmal für Preußen gedacht hatte (LW 33/464). 

Im übrigen hat Lenin, quasi in Paraphrase zu Engels' Polemik gegen Tkatschow, nach dem Oktober viele Male bestätigt, daß es in Rußland leichter als im Westen war, die Macht zu ergreifen, aber viel schwerer, sie zu behaupten, fast unendlich schwerer, ihr die letztlich adäquate ökonomische Basis zu schaffen. Wie er die Lösung dieser Aufgabe sah und welche Konsequenzen unvermeidlich waren, wenn die Bolschewiki nicht auf halbem Wege kehrtmachen, wenn sie den anderen, nichtkapitalistischen Weg der Zivilisierung Rußlands durchstehen wollten — das ist eine Frage von sehr aktuellem Interesse für die unerläßliche »Vergangenheitsbewältigung« in der kommunistischen Bewegung unserer Tage.

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Der wichtigste Gesichtspunkt ist hier der folgende: Aus dem Kräfteverhältnis der Klassen und aus der ganzen überlieferten Ökonomik in Rußland mußte sich bei Lenin von vornherein eine andere Einstellung zur Rolle des Staates in der Übergangsperiode ergeben als bei Marx. In der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, die Marx unterstellte, sollte die Diktatur des Proletariats nur den politisch-militärischen Widerstand der Bourgeoisie zu brechen haben, einer Bourgeoisie, die als Klasse isoliert sein mußte, da sie bereits ökonomisch überflüssig war. 

In Wirklichkeit hätte die Arbeitermacht auch in Frankreich, sobald sie über ihren Existenzkampf in Paris hinausgelangt wäre, vor der Notwendigkeit eines zentral organisierten Kampfes um die ökonomische Umgestaltung im Sektor der ländlichen und städtischen Kleinproduktion gestanden. Und der bloße ideologische Einfluß der in den Provinzzentren konzentrierten Arbeiter auf die viel stärker als die russische in ihrer Tradition verankerte bäuerliche Parzellenwirtschaft hätte gleichfalls der Ergänzung durch einen systematischen Umerziehungsdruck bedurft. Durch das Beispiel und selbst durch das Angebot einer zur Vereinigung drängenden Technik seitens der Industrie lassen sich alte Produktionsverhältnisse noch nicht auflösen.

In Rußland war die Umgestaltung der überwiegenden patriarchalischen und kleinbürgerlichen Wirtschaftsweise und Kultur, zunächst aber ihre »äußerliche« Unterordnung unter die proletarische Hegemonie die Existenzbedingung des Arbeiterstaates, mußte also zur ausschlaggebenden Funktion der Diktatur werden. Das war eine gigantische politisch-organisatorische Aufgabe, die Aufgabe, »die Einheit der Nation zu organisieren«, wie sie Marx angesichts der Kommune formuliert hatte, damals jedoch unter der Voraussetzung, daß damit nur die adäquate Form für den im wesentlichen durch den allumfassenden nationalen Markt bereits gegebenen ökonomischen Zusammenhang zu finden sei. Wir können hier dahingestellt sein lassen, wie weit sich in Frankreich der Zusammenschluß der vorhandenen Fabrikbelegschaften (immerhin waren sie geographisch ausgewogener verteilt!) und der Gemeinden von unten nach oben als Weg zur Vollendung der sozialistischen Nation im ökonomischen Prozeß bewährt hätte.

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In Rußland war der nationale Markt in seinem Volumen und in seiner Warenstruktur, in seiner territorialen Ausdehnung, in seiner materiellen Basis (Verkehrswesen) noch weit davon entfernt, die Einheit der Nation zu stiften. Insbesondere war der ökonomische Zusammenschluß mit der städtischen Großindustrie für den überwiegenden Teil der Landbevölkerung noch keine unentrinnbare Reproduktionsbedingung. Sieht man von der Textilindustrie ab, kam sie noch weitgehend mit dem provinziellen und dörflichen Handwerk aus. Unter diesen Umständen wäre ein von unten nach oben funktionierendes Fabrikrätesystem in der auf wenige Lokalitäten konzentrierten Großindustrie zwangsläufig auf einen besonderen korporativen Zusammenschluß gegenüber der Mehrheit der Nation hinausgelaufen. Lenin gebrauchte später nicht zufällig den Ausdruck »Bündnis der Arbeiter und Bauern unter Führung der proletarischen Staatsmacht« (LW 33/3), die notwendig über den besonderen Interessen auch der Arbeiter stehen mußte. 

(Dies mußte ein Räteregime innerhalb der Fabriken nicht von vornherein ausschließen. Wenn sich gleich nach dem Oktober erwies, daß es bei der gegebenen ökonomischen und kulturellen Situation der Arbeitermassen angesichts der Sabotage der Spezialisten für Leitung, Ökonomie und Technik zum Verzehr der Fonds, also der industriellen Substanz tendierte, so handelt es sich hier um ein spezifisches Moment von leider sehr weitreichender Prägekraft. Jugoslawien beweist, daß eine Kombination von zentraler Staatsmacht und Fabrikräten, wenn schon nicht optimal, so doch jedenfalls möglich ist.)

Inzwischen hat sich überall, wo gestützt auf die Arbeiter und Bauern eine neue Gesellschaftsordnung entstand, herausgestellt, daß der Aufbau einer neuen Staatsmaschine unumgänglich ist. Lenin, der dies für Rußland frühzeitig erkannte, gab dem Marxismus in dieser Frage eine orthodox betrachtet unvorher­gesehene Wendung, und das konnte nicht anders sein. 

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Seine Entscheidung war bereits mit der ganzen Arbeit gefallen, die er geleistet hatte, um die bolschewistische Partei neuen Typus zu schaffen. Sie wurde im Westen deshalb nicht verstanden, auch nicht von den Linken wie Rosa Luxemburg, weil sie in nuce schon den neuen Staatstyp vorstellte, wie ihn Rußland für seine Erneuerung unter der »Hegemonie des Proletariats« brauchte. Hinter Lenins (formell zu Unrecht auf Marx und Engels zurückgeführter) Auffassung über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, Staat und Arbeitsorganisation, Staat und Verteilung im Sozialismus stand letztlich jene Minimumbedingung für die Hegemonie des Proletariats, die er nach der Revolution auf den einfachen Nenner brachte, die Bolschewiki müßten in der Lage sein, »Rußland zu verwalten« (LW 32/141).

Das Buch »Staat und Revolution«, das Lenins direkte theoretische Vorbereitung auf die Machtübernahme darstellt, wird von Illusionisten, die sich polemisch an die traditionellen Elemente der darin entwickelten Position halten, gern gegen die späteren Entwicklungen zitiert. Aber in der entscheidenden Frage konzipiert es die Sowjetmacht genauso, wie sie dann geschaffen wurde. Diese »entscheidende Frage« sah Lenin im Sommer 1917,darin, »ob die alte Staatsmaschinerie ... aufrechterhalten bleibt oder ob sie zerstört und durch eine neue ersetzt wird«, ob die Revolution »mit Hilfe einer neuen Maschine kommandiert und regiert« (LW 25/501). Insofern er noch überzeugt war, man würde ohne Bürokratie auskommen, erscheint zwar diese neue Staatsmaschine einfach als »eine nach dem Typ der Kommune gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter« (LW 25/499). Aber es ist auch von einem »aus bewaffneten Arbeitern bestehenden Apparat« die Rede, und vom Ersatz der Ministerien »durch Kommissionen von Fachleuten bei den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten« (LW 25/501). Diesen Sowjets sollte »die ganze ungeteilte Macht« gehören. 

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Doch wie konnten diese Kommissionen, die späteren Volkskommissariate, in dieser untergeordneten Stellung zu den Sowjets verharren, wenn Lenin dem Staat der Übergangsperiode die folgende Funktion zuwies, die ihn in Gegensatz zu vielen in den Sowjets repräsentierten unmittelbaren Volksinteressen bringen mußte? Ich zitiere: »Bis die <höhere> Phase des Kommunismus eingetreten sein wird, fordern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens der Gesellschaft und seitens des Staates über das Maß der Arbeit und der Konsumtion ...« — »Das bürgerliche Recht« (das Marx im Zusammenhang mit dem Leistungsprinzip konstatiert hatte) »setzt natürlich in bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, daß im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürgerliche Staat — ohne Bourgeoisie!« (LW 25/484 f.). 

Hier ist ganz unverkennbar von Zwang die Rede, der sich nicht gegen die früheren herrschenden Klassen richtet, der seine Adressaten nur unter den »zurückgebliebenen Elementen« der Arbeiterklasse und des Volkes selbst haben kann. Lenin überträgt hier diejenigen Funktionen dem Staat, die bei Marx die »freie Assoziation« regeln sollte. Diese »freie Assoziation« kommt bei Lenin zumindest für die erste Phase des Kommunismus überhaupt nicht vor, ja er spricht ausdrücklich von der »Umwandlung aller Bürger in Arbeiter und Angestellte eines großen Syndikats, nämlich des ganzen Staates, und der völligen Unterordnung der gesamten Arbeit dieses ganzen Syndikats unter den wahrhaft demokratischen Staat, den Staat der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten«. »Es handelt sich nur darum, daß sie alle gleichermaßen arbeiten, das Maß der Arbeit richtig einhalten und gleichermaßen Lohn bekommen« (LW 25/484). 

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Und als wollte Lenin ausdrücklich den von Marx abgefertigten Bourgeois recht geben, fügte er unter Hinweis, dies sei natürlich nicht das Endziel, hinzu: »Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn« (LW 33/488). Schließlich die Verallgemeinerung, schon kurz vor »Staat und Revolution« formuliert: »Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein« (LW 25/369). 

Das sind die Fundamente, auf denen unser System bis heute beruht. Wir brauchen uns hier nicht bei dem Akzent Staatskapitalismus aufzuhalten. In einem spezielleren Sinne hat Lenin die Kategorie auf echte kapitalistische Elemente angewandt, die in verschiedener Weise als Konzessionäre an den proletarischen Staat gebunden wurden. Auf den Sozialismus als Ganzen bezogen, wie er hier konzipiert wurde, bedeutet »Staatskapitalismus« nichts als staatliche Verfügung über alle gesellschaftlichen Fonds und Produkte, die ihres eigentlichen Kapitalcharakters durch die Revolution entkleidet wurden. 

Trotz gelegentlicher Experimente ist in den Ländern des real existierenden Sozialismus nie um irgendeines Staatsprofits willen produziert worden. Es ging nie primär um Mehrwert, sondern um Mehrprodukt. Der Staatsplan schrieb primär Mengen von Gebrauchsgütern vor, und die Konkurrenz der Wirtschaftsfunktionäre' um den bürokratischen Aufstieg wurde in Produktionsstückzahlen und Tonnen ausgetragen. Kollektiver Bourgeois ist der Staat bei uns nur sekundär, in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber der Gesellschaft. Als Trotzki annahm, irgendwann würden sich die verantwortlichen Funktionäre gar privat die Fabriken aneignen, dokumentierte er nur den Anachronismus des Schemas, mit dem er die Stalinperiode begreifen wollte.

So ungewohnt es auf den ersten Blick erscheinen mag: die Ausbeutung ist bei uns ein politisches Phänomen, ein Phänomen der politischen Machtverteilung. Noch in »Staat und Revolution« konnte und wollte das Lenin natürlich genausowenig wahrhaben wie vor ihm ,Marx in seinem Streit mit Bakunin. Die neuen Staatsfunktionen, so versicherte er, würden keinerlei Vorgesetztenrechte und -allüren, keinen Schimmer eines Vorrechts einräumen.

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Die gesellschaftliche Kontrolle werde nicht von einem Beamtenstaat durchgeführt werden (LW 25/433 und 484). Das waren keine Vorwände; Lenin hat nach der Revolution gegen »kommissarisierte« Kommunisten, gegen »kommunistische Würdenträger« gekämpft. Nur verstand er die bürokratischen Auswüchse des Arbeiterstaates, denen er sofort ins Auge sah, als einen unvermeidlichen Tribut an die alte Gesellschaft, etwa in dem Sinne, wie es der bereits erwähnte Schriftsteller Platonow in seiner Satire »Grad gradow« (»Die Stadt Gradow«) gestaltet hat. Lenin hob vor allem immer wieder hervor, der neue sowjetische Bürokratismus sei der Überbau über der alten bäuerlichen Zersplitterung, die in der Tat die eine, die negative Wurzel darstellte. Sie zwang dem Staat binnen wenigen Jahren zentrale Institutionen mit Zehntausenden Beamten auf, die in ihrer Mehrzahl aus dem überlieferten bürokratischen Stand rekrutiert werden mußten.

Aber verwahrte sich Lenin zu Recht dagegen, den Bürokratismus auch aus der Anlage der neuen Staatsmacht selbst abzuleiten? Im April 1918 schrieb er: »Je entschlossener wir jetzt für eine rücksichtslos starke Macht, für die Diktatur einzelner Personen für bestimmte Arbeitsprozesse, in bestimmten Momenten rein exekutiver Funktionen eintreten müssen, desto mannigfaltiger müssen die Formen und Methoden der Kontrolle von unten sein, um jede kleinste Möglichkeit, die Sowjetmacht zu entstellen, zu paralysieren, um das Unkraut des Bürokratismus immer wieder und unermüdlich auszureißen« (LW 27/266). Doch wenn, wie Marx gezeigt hatte, der Arbeitsprozeß innerhalb der Fabrik despotisch geleitet wird, wenn Engels und Lenin dies auch über den Kapitalismus hinaus als objektive Gegebenheit nahmen, und wenn dann dieses Fabriksystem auf den Arbeitsprozeß der ganzen Gesellschaft angewandt wird, so ist ein Gleichgewicht zwischen »oben« und »unten« gar nicht möglich. 

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Allein schon die Einführung eines Begriffes »unten« weist auf Verhältnisse der Herrschaft hin. Lenins Entwurf vom Sozialismus als Staatsmonopol zum Nutzen des ganzen Volkes ist zwar eine Reaktion auf die russische Gesellschaft, aber er muß auch ohne die spezifische russische Rückständigkeit zu einer Sozialstruktur führen, die durch gehorsame Unterordnung der Produzenten unter eine politische Pyramide der gesellschaftlichen Arbeitsleitung charakterisiert wird. An die Stelle der Massenkontrolle von unten trat daher früh das Studium der Massenstimmung von oben. Der Apparat mußte »das Ohr an der Masse haben«, weil er sonst erst durch ihren Aufstand korrigiert werden konnte, wie zuletzt 1970 in Polen.

Diese allgemeine Problematik des Staatsmonopolismus wollen wir jedoch jetzt noch zurückstellen. Sie betrifft alle sozialistischen Bewegungen der Gegenwart. Ähnlich wie in der bürgerlichen Republik erst das eigentliche Wesen des Kapitalismus »rein« hervortrat, wäre das Wesen des »sozialistischen« Staatsmonopolismus, sein harter Kern, erst aufgrund der angestrebten demokratischen Revolution in der Tschechoslowakei von 1968, in seinem noch nicht auflösbaren Bestand zutage getreten. Es war kein Zufall, daß der führende Wirtschaftstheoretiker der Reform, Ota Sik, keine wirklichen Arbeiterräte wollte, sondern das Regime der Direktoren, bloß attachiert von Räten . . . Aber da wir im Augenblick noch unter der absolutistischen Form leben, die sich unter dem Einfluß der russischen Verhältnisse unmittelbar nach der Oktoberrevolution gezeigt und nach dem Bürgerkrieg konsolidiert hat, müssen wir das Allgemeine noch im russischen Besonderen weiterverfolgen.

Was Lenin begründete und Stalin ausführte, war ja nicht der Überbau einer einigermaßen entwickelten Industrie, um den jetzt der politische Kampf zwischen »Konservativen« und »Progressiven« geht, sondern der Überbau der Industrialisierung, das Werkzeug zur Schaffung der fehlenden ökonomischen Grundlagen für den Sozialismus, wie immer man diesen selbst verstehen wollte.

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Die entscheidende objektive Tatsache, die Lenins Korrektur an Marxens Sozialismusbegriff und Staatsauffassung widerspiegelte, war das Fehlen einer bürgerlichen Kultur der Produktivkräfte, das Fehlen der kapitalistischen Arbeitsgewohnheit, -disziplin und -qualifikation im weitesten Sinne. Im Mai 1918, als die vergleichsweise kleine russische Großindustrie noch nicht stillstand wie nach dem Bürgerkrieg, entwickelte Lenin gegen die »linken Kommunisten« den folgenden Gedankengang: »Sozialismus ist undenkbar ohne großkapitalistische Technik, die nach dem letzten Wort modernster Wissenschaft aufgebaut ist, ohne planmäßige staatliche Organisation, die Dutzende Millionen Menschen zur strengsten Einhaltung einer einheitlichen Norm in der Erzeugung und Verteilung der Produkte anhält« — wie es damals Deutschland und in der Stalinära dann Amerika repräsentierte. 

»Sozialismus ist außerdem (!) undenkbar ohne die Herrschaft des Proletariats im Staate ...Und die Geschichte ... nahm einen so eigenartigen Verlauf, daß sie im Jahre 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus gebar, eine neben der anderen, wie zwei künftige Küken unter der einen Schale des internationalen Imperialismus. Deutschland und Rußland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen Bedingungen und andererseits der politischen Bedingungen für den Sozialismus« (LW 27/332). 

Damals fand sich keiner der Bolschewiki mit der Aussicht ab, man würde mit dieser einen »Hälfte« allein bleiben, die man dann vom historisch-materialistischen Standpunkt kaum ferner als »Bedingung des Sozialismus« hätte ansehen können. Aber für die Zeit des tätigen »Wartens« auf die Revolution im Westen formulierte Lenin schon jenes Programm, das sich als der welthistorische Auftrag Stalins erweisen sollte: »Solange in Deutschland die Revolution noch mit ihrer >Geburt< säumt, ist es unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, 

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keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme stärker zu beschleunigen, als Peter (!) die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Rußland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken« (LW 27/333). 1921 fügte er hinzu: »Solange es in anderen Ländern keine Revolution gibt, werden wir Jahrzehnte (!) brauchen, um uns herauszuwinden ...« (LW 32/227).

Zumindest für die überwältigende Mehrheit der damaligen russischen Bevölkerung, für die Bauernschaft, bedeutete das die Aussicht auf jahrzehntelange Revolution von oben, im »Interesse« einer ungeborenen dritten oder vierten Generation. Es bedeutete, daß ihr die Leiden der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals doch nicht erspart bleiben sollten. In der »zweiten Revolution«, der Kollektivierung, waren die bäuerlichen Massen Objekt des Fortschritts. Selbst die Dorfarmut war nur mitgerissen von einer Gewaltmaschine, vor der Peter neidisch erblaßt wäre. Die gewaltsame Kollektivierung hat das russische Dorf so niedergedrückt, daß die riesige Sowjetunion noch immer nicht ohne amerikanisches Getreide auskommt. Als Lenin gestorben war, nahm Gorki in seinem großen Nekrolog in einem auf die Bauernschaft bezüglichen Zusammenhang das zweiseitige Drama zwischen ihr und den Bolschewiki vorweg. Er schrieb: 

»Alles Ungewöhnliche hindert die Leute, so zu leben, wie sie wollen. Sie sehnen sich — falls sie dies tun — überhaupt nicht nach einer grundlegenden Änderung ihrer sozialen Gewohnheiten, sondern nur nach einer Ausdehnung derselben. Der Grundton alles Stöhnens und Jammerns der Mehrheit ist: <Hindert uns nicht, so zu leben, wie wir es gewohnt sind!> Wladimir Iljitsch Lenin war ein Mensch, der wie kein anderer vor ihm verstand, die Leute zu hindern, ihr gewohntes Leben zu führen« (Lenin und Gorki, Berlin und Weimar 1964/53 f.). 

Die Summe des individuell empfundenen Unglücks wächst, wenn der Gang der Geschichte beschleunigt wird.

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Die Bolschewiki haben den furchtbaren Zusammenstoß mit der Mehrheit der Bauernschaft nicht gewollt. Gerade weil sie ihn unbedingt vermeiden wollten, hat sich ja Mitte der zwanziger Jahre zunächst die bucharinistische »Rechte« stimmungsmäßig gegen die trotzkistische »Linke« durchgesetzt, die praktisch sofort nach dem Bürgerkrieg die industrielle Akkumulation auf Kosten der reicheren Bauern forcieren wollte. Da die Bauernschaft später in um die »verlorenen fünf Jahre« verkürzter Zeit viel rigoroser bezahlen mußte — und unter ungeheuren materiellen und politischen Verlusten für die ganze Gesellschaft —, läßt sich nachträglich leicht feststellen, die linke Opposition habe »recht gehabt«. 

Aber warum konnte sie die Partei nicht überzeugen — zu einem Zeitpunkt, da die politische Meinungsbildung zwar schon vom Gewicht des Apparats deformiert, jedoch noch keineswegs von der Geheimpolizei beherrscht wurde? Warum trat sogar Lenin, der den GOELRO-Plan inspiriert hatte, zunächst gegen die Forderung nach einem gesamtstaatlichen Industrialisierungsplan und gegen entsprechende größere Rechte für Gosplan auf? 

Nachdem die NÖP gerade erst die formellen Bedingungen für die Minimalbefriedigung der Bauernschaft geschaffen hatte, mußte die Rekonstruktion der Vorkriegsindustrie, und vor allem natürlich der verarbeitenden (Werkzeuge, Landmaschinen, Textilien usw.), erst die materielle Deckung für die von den Bauern erwirtschafteten Mittel ermöglichen. Darauf konzentrierte man sich zunächst, zumal die relative Stabilität der inneren politischen Szene davon abhing. So konnte Stalin dem Zentralkomitee noch 1926 erklären, der vorgesehene Dnjepr-Staudamm werde der UdSSR so viel nützen wie ein Grammophon einem Bauern ohne Kuh. 

Ende der zwanziger Jahre zeigte sich dann, daß die Dynamik der von der Revolution entfesselten bäuerlichen Warenproduktion die industrielle Entwicklung überholt hatte. Unzufrieden mit den steigenden Preisen für die mangelnden Industriegüter gingen die Kulaken zur Erpressung der Sowjetmacht über, indem sie das Getreide für die Versorgung der Städte zurückhielten.

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Die nun folgende unvorbereitete Wendung zur Kollektivierung der Landwirtschaft ohne industriellen Vorlauf und zu der deshalb zwangsläufig überzogenen Akkumulationsrate der ersten Fünfjahrespläne war die Antwort auf die von den Kulaken an der Spitze der Bauernschaft aufgeworfene Überlebensfrage der nichtkapitalistischen Ordnung. Angesichts dieser Entwicklung, zu der die Bolschewiki getrieben wurden, kann die »rein ökonomisch« plausible Kritik daran, daß der Gesamtprozeß der Industrialisierung weit entfernt von einem denkbaren Optimum verlief, nur akademischen Charakter tragen. Ohne den Zwangsapparat, den die Bolschewiki in Bewegung setzten, wäre Rußland heute noch ein Bauernland, höchstwahrscheinlich auf kapitalistischem Wege. Und man darf eben nicht vergessen, daß die politische Schwäche der Opposition und damit der von ihr repräsentierten hypothetischen Alternative selbst zu den Sekundärer­scheinungen der gegebenen Situation gehörte. 

Die Historiker, insbesondere die sowjetischen, mögen feststellen, wie weit Modifikationen möglich gewesen wären, die das Ausmaß der Opfer und Verluste sowie die Intensität der nachfolgenden Depression in der Landwirtschaft vermindert hätten. Jedenfalls war der Zusammenstoß als solcher unvermeidlich, um so mehr, als inzwischen historisch erwiesen ist, daß auch ein ausreichendes Angebot an moderner Landmaschinerie die Bauern keineswegs automatisch zur Hinnahme der Kollektivierung bewegt. In Sowjetrußland waren die Bauern die stärkste Klasse der Bevölkerung und bis 1928 der eigentliche Nutznießer der sozialen Umwälzung. Sie mußten der Gegenstand einer zweiten Revolution werden.

Und wie stand es um die russische Arbeiterklasse, um die proletarische Basis der Diktatur?  

Diese Frage wurde noch viel früher .akut, in der leidenschaftlichen Gewerkschaftsdiskussion von 1920/21 kurz vor dem .Kronstädter Aufstand. Die Fabrikarbeit, die Fabrikdisziplin ändert dadurch, daß die Arbeiterpartei zur Macht kommt, ihren entfremdeten Charakter nur spirituell: die politische Revolution kann kein neues Leben für den Arbeiter als Menschen produzieren.

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In einem rückständigen Land ist die Generation, die die Fabriken in Besitz nimmt, eine ganze Epoche selbst von den nur materiellen Früchten ihrer Tat entfernt. Daher wird nur diejenige Schicht der Arbeiterklasse, die sich über die korporativen Interessen hinaus zu politischer Bewußtheit zu erheben vermag, mehr als vorübergehend ihre Arbeitseinstellung ändern. In Wirklichkeit entgeht aber gerade dieses Element der weiteren Fabrikarbeit, weil es an anderer, persönlichkeits­begünstigender Stelle für den neuen Gesellschafts- und Staatsaufbau gebraucht wird. 

In der Stunde der Revolution zeigt sich, daß die alte Gesellschaft nur einer Minderheit der unterdrückten Klasse die psychische Energie für einen aktiven Aufschwung gelassen hat. Die meisten brachten zwar die Kraft für die kollektive Aktion der Machteroberung unter erprobten Führern auf, sehr viele für ihre Aufopferung im Bürgerkrieg. Eine Leitungsfunktion, eine Kommandostellung verlangt einen Grad an Selbstbewußtsein und Artikulationsvermögen, der unter den Ausgebeuteten ein individueller Glücksfall ist. Darin liegt ja der Grund, daß die Arbeiterklasse, anders als die Bourgeoisie, ohne organisiertes »Hirn«, ohne intellektuellen Vortrupp, der die geeignetsten Proletarier geistig und emotional ihrem durchschnittlichen Milieu entreißt, nicht siegen kann. Was geschieht nun mit und in der Arbeiterklasse nach dem Sieg?

Eine Revolution weckt in den Herzen der Beteiligten immer die grenzenlose Hoffnung auf eine große und glückliche Veränderung aller Lebensverhältnisse, in die sie gestellt sind. Hölderlin sagt im Hyperion, was nicht alle Menschen auszusprechen vermögen, was aber fast alle fühlen, wenn die Bewegung, der sie angehören, kulminiert: 

»An der Fahne allein soll niemand unser künftig Volk erkennen; es muß sich alles verjüngen, es muß von Grund aus anders sein, voll Ernst die Lust und heiter alle Arbeit! . . . und auch kein Augenblick darf einmal noch uns mahnen an die platte Vergangenheit.«

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Dies ist eine psychologische Wahrheit. Und die massenhafte Enttäuschung und Ernüchterung darüber, wie wenig sich alltäglich geändert hat, folgt dann vor allem für diejenigen auf dem Fuße, die nicht die Voraussetzungen dafür mitbringen, die komprimierte Perspektive in einer aktiven Rolle bei der langfristigen Umgestaltung der Gesellschaft umzusetzen. Für die vielen Menschen, die durch die Revolution nicht zu — in einem gewissen, subjektiven Sinne — freier Tätigkeit gelangt sind, hat sie das Leben nicht wesentlich verändert. Es wechseln nur die Umstände, die Kulissen schneller, für manche eben zu schnell.

Viele Arbeiter begegneten dem neuen Kommando, das überdies nicht immer frei von dem »kommunistischen Hochmut« der Avancierten war, den Lenin zu den Hauptfeinden der Bewegung zählte, mit Reserve, bald mit Mißtrauen oder sogar mit Rebellion unter dem Einfluß der von den Bolschewiki abgedrängten menschewistisch-sozialrevolutionären und anarchistischen Strömungen. Die Bolschewiki mußten mit Hilfe der Gewerkschaften Disziplinargerichte gegen Bummelantentum und Produktionsdiebstähle einrichten und versuchen, gegen die starke gleichmacherische Tendenz ein Prämiensystem durchzusetzen.

Da infolge des Bürgerkrieges Lebensmittelversorgung, Brennstoffzufuhr und Transportproblem einen einzigen Teufelskreis bildeten, lag die Großindustrie danieder. Die Fabrikarbeiter und ihre Familien hungerten. Sie konnten, wenn überhaupt, oft nur Kleinproduktion wie die legendären Feuerzeuge herstellen und waren gezwungen, einen Teil davon natural auf dem schwarzen Markt umzusetzen, um sich am Leben zu erhalten.

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Mit der neuen Wirtschaftspolitik von 1921, die die ökonomische Verbindung mit der widerspenstigen Bauernschaft sichern sollte, verschärfte sich die ideologische Spannung in der Arbeiterklasse noch mehr, weil sie, angeblich politisch herrschend, zugleich in der Konsumtion die Rolle des Aschenputtels spielen mußte. Alle frühen Parteioppositionen, von den »linken Kommunisten« über die »Arbeiteropposition« bis zu den »Demokratischen Zentralisten« drückten in dieser oder jener Weise die Enttäuschung der Arbeiterschichten aus, die sich um ihr Erstgeburtsrecht betrogen sahen, eine Enttäuschung, die sich keineswegs auf das spezielle Versorgungsproblem konzentrierte, sondern letztlich mit der erneut subalternen Rolle der Arbeitermehrheit in der Gesellschaft zusammenhing.

Das verkennt z.B. Ernest Mandel (Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt 1968/660 ff.), wenn er die wachsende Entfremdung zwischen Arbeiterklasse und Partei primär auf die Politik des oktroyierten Konsumverzichts, also auf die unzulängliche Lösung eines »Grundwiderspruchs zwischen nichtkapitalistischer (dieses Wort verdeckt die durchgehende Ungenauigkeit Mandels, die sowjetischen Verhältnisse für nachkapitalistisch zu halten!) Produktionsweise und bürgerlichen Verteilungsverhältnissen« zurückführt. Schon in der Situation nach dem Bürgerkrieg, als von einer überhöhten Akkumulationsrate noch gar nicht die Rede sein konnte, entglitten den Bolschewiki die politischen Voraussetzungen, um sich in einer demokratischen Diskussion mit der Arbeitermehrheit über das notwendige Maß der Opfer zu einigen. 

Die seit Ende der zwanziger Jahre einsetzende Majorisierung der »alten« Arbeiterklasse durch Millionen von Menschen, die mit der Umgestaltung der Landwirtschaft in die Industrie geworfen wurden, läßt dann die Idee einer Massenabstimmung über die Verteilung des Mehrprodukts für den konkreten sowjetischen Fall ganz illusorisch erscheinen. Die jugoslawische Praxis, die nach dem II. Weltkrieg unter dem indirekten Schutz der Sowjetunion möglich war, hat andererseits durchaus nicht den Beweis erbracht, daß die sozialistische Demokratie »an und für sich« in dem Mandelschen Sinne ökonomisch effektiver ist. 

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Für die Sowjetunion der zwanziger und dreißiger Jahre muß man eher das Gegenteil befürchten. Als die vereinigte linke Opposition 1926 zum Sturm gegen die Stalin-Bucharinsche Mehrheit der Parteiführung rüstete, wandte sich das Politbüro der Italienischen Kommunistischen Partei mit einem mahnenden Brief an das ZK der KPR, in Wirklichkeit hauptsächlich an Trotzki, Sinowjew und Kamenew, in dem es das Problem der Arbeiterklasse in Sowjetrußland auf folgenden Nenner brachte:

»Genossen, noch nie in der Geschichte ist es vorgekommen, daß eine herrschende Klasse in ihrer Gesamtheit einen niedrigeren Lebens­standard hatte als bestimmte Elemente der beherrschten und unterworfenen Klasse. 

Dieser unerhörte Widerspruch ist ein Los, das die Geschichte dem Proletariat vorbehalten hat; in diesem Widerspruch liegen die Hauptgefahren für die Diktatur des Proletariats, vor allem in den Ländern, wo der Kapitalismus noch keinen großen Aufschwung genommen hat und wo es ihm noch nicht gelungen ist, die Produktivkräfte zu vereinheitlichen. Aus diesem Widerspruch ... entstehen der korporative Geist und die Schichten der Arbeiteraristokratie. Und doch kann das Proletariat nicht herrschende Klasse werden, wenn es nicht mit der Aufgabe seiner korporativen Interessen diesen Widerspruch aufhebt, es kann seine Hegemonie und seine Diktatur nicht aufrechterhalten, wenn es seine unmittelbaren Interessen nicht den allgemeinen Interessen opfert. 

Es ist sicher leicht, auf diesem Gebiet Demagogie zu betreiben, und es ist leicht, auf den negativen Seiten des Widerspruchs zu beharren: >Bist du, schlechtgenährter und schlechtgekleideter Arbeiter, der Herr oder ist es der pelzgekleidete NEP-Mann, dem alle Güter dieser Erde zur Verfügung stehen?< ... Auf diesem Gebiet ist Demagogie leicht, und es ist schwierig, sich ihrer zu enthalten, wenn die Frage in Begriffen des Korporativgeistes gestellt wird und nicht in denen des Leninismus, das heißt der Lehre von der Hegemonie des Proletariats, das sich historisch in der und der bestimmten Position befindet«

(Gramsci, Philosophie der Praxis, Frankfurt 1967/124 f.).

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Das ist eine schlagende, im Rahmen der leninistischen Überlieferung unwiderlegbare Argumentation. Wie aber, wenn sich die Arbeiterklasse »uneinsichtig« zeigt, wenn der Streit der Führer nur widerspiegelt, daß das Band zwischen Avantgarde und Klasse bereits zum Zerreißen gespannt ist? Wie, wenn die Arbeiterklasse als Ganze nicht diese »heilige Schar« ist, wenn sie sich nicht auf ein Leben für die diesseitige Transzendenz festlegen läßt? 

Das italienische Politbüro sagt, dann kann ihre Diktatur nicht bestehen. Oder man muß versuchen, sie zur Aufgabe ihrer korporativen Interessen zu zwingen, und zu diesem Zweck die Diktatur des Proletariats innerhalb des Proletariats reproduzieren. Um konkret zu bleiben, muß man sich ja vor Augen halten, daß die bevorstehende Industrialisierung eine Vervielfachung der Arbeiterzahl durch Millionen unaufgeklärter Dörfler bringen mußte und deren kurzfristige Vergewaltigung zur ungewohnten industriellen Disziplin auf die Tagesordnung setzen würde. Wie sollte sich unter solchen Umständen der Korporativgeist niederhalten lassen (wenn nicht durch politische Atomisierung der neuen Arbeitermassen)? Wie sollte sich das Verhältnis zwischen Avantgarde und Proletariat gestalten? 

Theoretisch ist der Mechanismus der Diktatur des Proletariats, wie ihn Lenin insbesondere im April-Mai 1920 für die westeuropäischen Kommunisten beschrieb (LW 31/31 ff.), völlig klar. Lenin spricht dort über das Transmissionssystem von der Partei zu den Massen. Es ist heute Mode, sich über den »Mechanizismus« der Leninschen Auffassung aufzuregen. Sobald man näher hinsieht, erweist sich das als unsinnig, auch wenn an anderer Stelle die Gewerkschaften sogar als »Zahnrad« figurieren. Lenin spricht in einem Bild, um sich verständlich zu machen. Seine Auffassung von der Rolle der Gewerkschaften schließt ein zweites »Zahnrad« mit entgegengesetztem Drehmoment, nämlich den Schutz der Arbeiter gegen ihren Staat als Apparat, ein. In dieser Funktion ist den korporativen Interessen des Proletariats Raum gegeben.

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Im Gewerkschaftsbeschluß des XI. Parteitags von 1922 wird ausdrücklich auch ein gewisser »Interessengegensatz zwischen den Arbeitermassen und den leitenden Direktoren der Staatsbetriebe oder deren übergeordneten Behörden« hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingungen konstatiert. Dieser Interessengegensatz wird auf die Kommerzialisierung des Reproduktionsprozesses, auf die Einführung der wirtschaftlichen Rechnungsführung bei »Konzentration der gesamten Machtfülle in den Händen der Betriebsleitungen« zurückgeführt (LW 33/170 ff.). Die Gewerkschaften soilen den Kampf um die Steigerung der Produktivkräfte geschickt mit der Verteidigung der Arbeiterinteressen gegen bürokratische Übergriffe vereinigen. 

 

1920 erklärte Lenin das Funktionieren der proletarischen Diktatur auf die folgende ebenso durchsichtige wie einleuchtende Weise: »Faktisch bestehen alle leitenden Körperschaften der weitaus meisten Verbände und in erster Linie natürlich der Zentrale oder des Büros aller Gewerkschaften ganz Rußlands . . . aus Kommunisten und führen alle Direktiven der Partei durch. Im großen und ganzen haben wir also einen der Form nach nicht kommunistischen, elastischen und verhältnismäßig umfassenden, überaus mächtigen proletarischen Apparat, durch den die Partei mit der Klasse und der Masse eng verbunden ist und durch den, unter Führung der Partei, die Diktatur der Klasse verwirklicht wird« (LW 31/33). Da die Arbeiterklasse gar nicht homogen sein kann und da sie nicht als »ein Sack Kartoffeln« regieren kann, versteht sich die Notwendigkeit einer solchen Organisation ihres politischen Lebens als herrschende Klasse. Übrigens hat die alte deutsche Sozialdemokratie ihren Einfluß nicht wesentlich anders organisiert. Die Leninsche Konzeption hat unter der Voraussetzung, daß man die Herrschaft der Arbeiterklasse unter den gegebenen Bedingungen überhaupt als Realität bejaht, nicht die geringste Lücke.

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Wenn man allerdings heute unter Berufung auf diese Konzeption unsere Staatsmaschine verteidigt, dann bedient man sich eines Taschenspielertricks. Man suggeriert als Selbstverständlichkeit, daß unser System nach dieser Leninschen Konzeption funktioniert, um seine fundamentale Blöße damit zuzudecken. Soweit es zutrifft, daß der Apparat die Partei politisch (nicht bloß im mechanischen administrativen Kontakt) mit der Klasse und mit der Masse verbindet — soweit haben wir die »Diktatur der Klasse«. Und soweit es nicht zutrifft, haben wir die »Diktatur über das Volk und über die Arbeiterklasse«. Und wodurch wird diese Proportion, die natürlich immer ein qualitativ bestimmtes Verhältnis zur Folge hat, nicht ein ausflüchtiges »teils-teils«, entschieden? Um den Stier bei den Hörnern zu packen: Wodurch wird sie negativ entschieden? Durch den Auszug, den Rückzug der Arbeitermehrheit aus dem »Apparat«, der dadurch erst Apparat im üblichen Sinne wird. Von dem Leninschen lebendigen Mechanismus bleibt dann das bürokratische Gerippe zurück. Das proletarische Element verschwindet auch aus dem Umgangsstil. Der Karrierebeamte, sei's auch proletarischer Herkunft, setzt sich durch, nicht in Monaten, aber in Jahren. Die Arbeiterklasse wird regiert.

Im Frühsommer 1920 hatte Lenin den westeuropäischen Kommunisten seine Konzeption noch als gesicherte Erfahrung dargestellt, nach der man »jeden Bolschewiken« fragen konnte. Im Dezember 1920 aber brach in Sowjetrußland eine Gewerkschaftsdiskussion aus, die den passiven Widerstand der Arbeitermassen zur Voraussetzung hatte. Trotzki löste sie aus, indem er diesen Tatbestand verkannte und deshalb den politisch und administrativ schlecht funktionierenden Gewerkschaftsapparat »durchrütteln«, d.h. von oben mit geeigneteren Kadern besetzen wollte. Aber auch Lenin wollte zunächst nicht wahrhaben, daß es sich bei der anlaufenden Diskussion um mehr als um ein überflüssiges Gezänk der Parteiintellektuellen handelte. 

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Doch bald erwies sich die Gewerkschaftsdiskussion als das innerparteiliche Symptom der Arbeiterreaktionen auf die Krise, die dem Bürgerkrieg folgte. Es war die Periode um den Aufstand in Kronstadt, und auf dem folgenden X. Parteitag mußte um die Einheit der Avantgarde gerungen werden. In dieser Diskussion ergab sich einfach aus der polemischen Konstellation eine gewisse Akzentverschiebung in der Leninschen Darstellung des Verhältnisses zwischen Partei und Arbeiterklasse, d.h. er war gezwungen, den negativen Aspekt, die Unterscheidung zwischen Avantgarde und Klasse zu betonen, weil der Demokratismus von unten gefährlich zu werden begann, feindliche Einflüsse trug.

Zunächst stellte Lenin nüchtern fest, die Diktatur des Proletariats könne »nicht durch eine die Industriearbeiter in ihrer Gesamtheit erfassende Organisation verwirklicht« werden. Arbeitsteilung also in der Machtausübung, zum ersten Mal liegt hierauf der Akzent. »Es ergibt sich, daß die Partei sozusagen die Avantgarde des Proletariats in sich aufsaugt und diese Avantgarde die Diktatur des Proletariats verwirklicht« (LW 32/2 f.). Denn: »Weiß ewa jeder Arbeiter, wie der Staat zu regieren ist?« (LW 32/47). Die zentrale Staatsverwaltung — »das ist eine Riesenmaschinerie«! (LW 32/52). »Wir haben keine andere Stütze als die Millionen Proletarier, die unaufgeklärt, meistenteils unwissend, unentwickelt, ungebildet sind, die aber als Proletarier ihrer Partei folgen« (LW 32/43). Ihr Platz ist in den Gewerkschaften als Schulen des Kommunismus und der Verwaltung. »Wenn sie diese Jahre in der Schule zubringen, so werden sie es lernen, aber das geht langsam vor sich. Wir haben nicht einmal das Analphabetentum liquidiert« (LW 32/48). »Um zu regieren braucht man eine Armee von gestählten Revolutionären«, eben die »Bolschewiki, die eine zwanzigjährige Parteischule durchgemacht haben« (LW 32/48). Um die ganze Klasse später unmittelbar an die Staats- und Wirtschaftsverwaltung heranlassen zu können, »dazu bedarf es der Erziehung« (LW 32/51).

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Die eigentliche Schwierigkeit lag jedoch weniger in der fachlichen als in der politischen Qualifikation, jedenfalls in dem hier interessierenden Zusammenhang. Wenn das Spektrum der politischen Einstellungen in der Arbeiterklasse an einer bestimmten Stelle reißt, dann entsteht eine Konfrontation statt kontinuierlicher Beeinflussung. Will man den Riß dennoch überwinden, ohne den grundlegenden Kurs zu ändern (was gar nicht möglich gewesen wäre), dann fällt, zumindest in der Praxis, die politische Kontrolle, die politische Rückkopplung von unten nach oben als aktive Funktion weg. Dann realisiert sich die Diktatur des Proletariats — formal noch ebenso beschreibbar, wie im Mai 1920 geschehen — als ein abgestuftes Verhältnis von Erziehern und Erzogenen, indem die Gewerkschaften als Transmission zur Arbeiterklasse fungieren, während die Arbeiter ihrerseits die Bauernschaft, den absoluten »Laienstand«, in die Lehre nehmen. Sehr schnell entfällt, »daß der Erzieher selbst erzogen werden muß«, und die Gesellschaft sondiert sich »in zwei Teile — von denen der eine über ihr erhaben ist«, wie Marx in den Feuerbachthesen gesagt hatte.

Es blieb zwar Platz für die Kontrolle der Werktätigen über einzelne untere Funktionäre, aber nicht über deren Korporation, über die Partei. Die Partei konnte sich nur selbst erziehen und kontrollieren. Lenin beschrieb sie nun'in der Polemik positiv so ähnlich, wie sie Bakunin gegen Marx negativ vorausgesehen hatte: als einen Orden von modernen »Wissern«: »Über zwanzig Jahre haben wir den Arbeitern durch Taten und nicht durch Worte bewiesen, daß die Partei etwas Besonderes ist, daß sie politisch bewußte, zur Selbstaufopferung bereite Menschen erfordert, daß sie zwar Fehler macht, sie aber korrigiert, daß sie leitet und Menschen auswählt, die wissen, welcher Weg uns noch bevorsteht, welche Hindernisse wir noch zu überwinden haben« (LW 32/47). Das erinnert unzweifelhaft an die Selbstdarstellung bewährter Priesterschaften aus der Frühzeit, hier beginnt die spätere Parteimetaphysik und -mystik. Aber das ist keine Phantasterei, wie Marx ausgerufen hatte, sondern der Ausdruck der neuen Gesellschaftsformation in statu nascendi.

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Besonders entschieden wies Lenin alle Angriffe auf die Politik der Ernennungen, der Einsetzung wichtiger Partei-, Staats- und Gewerkschaftsfunktionäre von oben, ab. Darauf verzichten, hieße die führende Rolle der Partei aufgeben, sagte er, und dies wiederum würde den Untergang der Sowjetmacht bedeuten. Wenn das zutrifft, und es spricht alles dafür, daß er recht hatte, war also genau jene hierarchische Investitur angebracht, die Marx als unvereinbar mit dem Geist der Kommune behandelt hatte. Unter diesen Umständen konnten auch innerhalb der Partei nicht alle gleich sein, zumal ja die »zwanzigjährige Schule« nur eine Minderheit, die »Alte Garde« der Parteimitglieder, durchlaufen hatte.

Nach dem Sieg der Partei, die nun als einzige herrschte, biederten sich natürlich immer wieder karrieristische Elemente an, die es hinauszureinigen galt.

Vor allem aber stufte sich die Alte Garde selbst hierarchisch: nach der Höhe der Funktionen im Apparat, die je länger desto mehr mit dem Maß des Gehorsams nicht gegenüber der Doktrin, sondern gegenüber der Linie der herrschenden Fraktion korrelierte. Denn daß die Staatsmaschine nach einem Kommando funktionierte und nach außen, nach unten geschlossen auftrat, war viel wichtiger als die Frage, nach welchem Kommando. Da die politischen Interessenvertretungen der kleinbürgerlichen Schichten ausgeschaltet bleiben mußten zugunsten des Interessenausgleichs durch die proletarische Diktatur von oben, durfte auf die Dauer auch keine indirekte Vertretung der anderen Strömungen durch Parteifraktionen zugelassen werden. Sie wurden denn auch im Ergebnis der Gewerkschaftsdiskussion verboten. 

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Isaac Deutscher hat in seinen Werken über Stalin, Trotzki und die »unvollendete Revolution« überzeugend gezeigt, wie das Fraktionsverbot die Selbst­kontrolle der Partei reduziert und das innere Leben allmählich getötet hat. 

Von nun an haben Oppositionen unrecht, indem sie auftreten. Wer etwas ändern will, muß aufs Ganze gehen: muß versuchen, die Herrschaft über die Partei zu erobern. Es entsteht zwangsläufig ein Mechanismus der Machtkämpfe, wie er in orientalischen Despotien üblich war.

Nach dem Bürgerkrieg stellte sich heraus, daß die 6 Millionen Gewerkschafter, von denen eben noch die Rede gewesen war, keineswegs die Existenz einer aktions- und herrschaftsfähigen Arbeiterklasse bedeuteten. Lenin selbst wählte für den Ausfall dieses entscheidenden »Zahnrads« für die Transmission zu den Bauern so zugespitzte Formulierungen, daß ihm Opponenten vorhielten, er übe nach seinen eigenen Worten die Diktatur einer nicht existierenden Klasse aus. Lenin stellte die Lage tatsächlich so dar, daß die Partei zum Stellvertreter, zum Platzhalter der Arbeiterklasse geworden war. In der Periode, als sich der Machtapparat für die positive Aufgabe der Revolution formierte, als er seine für Jahrzehnte konsistente Grundgestalt ausprägte, konnte man die große Mehrzahl der Arbeiter gar nicht mitreden lassen, weil sie durch das Daniederliegen der Großindustrie deklassiert, »aus dem Klassengeleise geworfen« war.

»Die Fabriken und Werke stehen still — das Proletariat ist geschwächt, zersplittert, entkräftet« (LW 33/3). »Soweit die kapitalistische Großindustrie zerstört ist, soweit die Fabriken und Werke stillgelegt sind, ist das Proletariat verschwunden« (LW 33/46). Mehr noch: »Wenn man von >Arbeitern< spricht, so meint man sehr häufig, das bedeute Fabrikproletariat. Das bedeutet es durchaus nicht. Seit dem Krieg sind bei uns Leute in die Fabriken und Werke gegangen, die gar keine Proletarier sind, die vielmehr hineingingen, um sich vor dem Krieg zu drücken; und sind heute (1921) die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse etwa derart, daß echte Proletarier in die Fabriken und Werke gehen?« (LW 33/286). 

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Außerdem war seit dem Oktober ein Aufgebot bewußter Elemente nach dem andern für die militärischen und politischen Schwerpunktaufgaben und für den neuen Apparat herausgezogen worden. Also kalkulierte die Bourgeoisie »ganz richtig, daß die wirklichen >Kräfte der Arbeiterklasse< gegenwärtig aus, der machtvollen Avantgarde dieser Klasse (der Kommunistischen Partei Rußlands ...) bestehen plus Elementen, die durch Deklassierung am meisten geschwächt sind und den menschewistischen und anarchistischen Schwankungen am stärksten unterliegen« (LW 33/7). 

Das heißt, die Sowjetmacht, die Diktatur des Proletariats beruhte bereits auf der Herrschaft der Kommunistischen Partei allein. Lenin fuhr fort: »Unter der Losung >Mehr Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse< wird gegenwärtig in Wirklichkeit eine Stärkung der menschewistischen und anarchistischen Einflüsse betrieben: Kronstadt hat das im Frühjahr 1921 mit aller Anschaulichkeit gezeigt und bewiesen« (LW 33/7). Die Avantgarde hatte nur noch die »historischen«, die Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse hinter sich, ihre unmittelbaren Interessen nicht mehr. Von nun an galt nicht mehr die Frage, ob die Arbeiterklasse der Partei, ihren Führern vertraut, sondern ob die Partei der Arbeiterklasse vertrauen kann. Von Zeit zu Zeit wird das versichert. Nicht die Arbeiter danken ihren Führern, sondern die Führer danken den Arbeitern für ihre Leistungen, und das scheint seine Ordnung zu haben. Paternalismus wurde der Grundzug der Beziehungen zwischen Parteiapparat und Arbeiterklasse. 

Bei dieser langfristig wirksamen Konstellation konnte ein vorhandener und für die weitere Entfaltung der subjektiven Produktivkräfte sowie für die Einschränkung der unproduktiven Konsumtion unter Umständen bedeutsamer Spielraum nur mit dem von der /«nerparteilichen Entwicklung abhängigen Maß an »pädagogischer« Qualifikation und Aufgeklärtheit des »Erziehers« verbunden sein. Hier hat die Paralysierung und Dezimierung der bewußtesten Elemente durch den Stalinschen Apparat verheerend eingewirkt, indem sie die Ausnutzung dieses Spielraums unmöglich machte und freie Bahn für die stupidesten, politisch und moralisch ungebildetsten Bürokraten schuf.

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Das Dilemma des Leninismus, über dem nach Lenins Tod die Einheit des alten Parteikerns zerbrach, kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, daß Lenins Heilmittel gegen den Bürokratismus, die Rekrutierung neuer, unverbrauchter Kader aus der Arbeiterklasse, ihre Rekrutierung für den längst mit den Massen konfrontierten Apparat war. Immer wenn die Opposition von Bürokratismus sprach und damit mehr oder weniger bewußt stets auf die Rolle des Parteiapparats selbst zielte, nicht primär auf die bürokratischen Auswüchse im Sowjetapparat, antwortete Lenin mit der Gegenfrage: wo sind die zuverlässigen und gebildeten Arbeiterkader, die ihr vorbereitet habt, damit wir unsere Leute an die Plätze stellen können, an denen wir jetzt fremde Elemente beschäftigen müssen? 

Lenin konnte auch nicht anders argumentieren, hatte er doch bereits erkannt, daß der Kampf gegen den Bürokratismus, also sein Vorhandensein, ebensolange dauern würde wie die Schaffung der materiellen Basis des Sozialismus. Freilich sah er nicht voraus, daß die Erziehungsarbeit unter den Massen immer nur den Erfolg haben würde, ihre energischsten und in der gewünschten Richtung aufgeklärtesten Elemente nach oben abzuziehen und die massenhafte Unmündigkeit und Regierungsunfähigkeit zu reproduzieren. 

Auf der Suche nach den Ursachen des Bürokratismus ging Lenin vom Standpunkt unserer heutigen Erfahrungen offensichtlich in die Irre. Auf dem XI. Parteitag schilderte er einen Fall, in dem der Ankauf von französischen Fleischkonserven gegen das wenig wertvolle Papiergeld der Sowjets, also ein ausgesprochen günstiges Geschäft, nicht ohne Kamenew zustande gekommen wäre, der Lenin während seiner Krankheit im Rat der Volkskommissare vertrat.

»... wie könnten denn russische Staatsbürger ohne das Politbüro des ZK der KPR eine solche Frage entscheiden! ... Diese Vorstellung gehört selbst­verständlich ins Reich des Übernatürlichen«. 

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»Aus dem Untersuchungsmaterial ersehe ich, daß der eine verantwortliche Kommunist zu dem anderen verantwortlichen Kommunisten gesagt hat: <Künftig werde ich mit Ihnen ohne einen Notar überhaupt nicht sprechen.> Aber außerdem ging aus dem Untersuchungsmaterial hervor, <daß der Schuldige nicht gefunden worden ist> ... es gibt keine Schuldigen, dafür aber Wirrwarr, Durcheinander und Unverstand«. 

Es gibt natürlich Saboteure, »aber kann man gegen sie kämpfen, wenn die Lage so ist, wie ich sie geschildert habe? Das ist schädlicher als jede Sabotage« (LW 33/280 ff.). Worin aber sah Lenin die Ursache? »Alle Institutionen waren zur Stelle. Woran mangelte es? An Kultur bei 99% der Mitarbeiter der Moskauer Konsumgenossenschaft ...« »Jeder beliebige Kommis, der die Schule eines kapitalistischen Großunternehmens durchgemacht hat, versteht so etwas zu machen ...« »Was not tut, ist ein kultiviertes Herangehen an die einfachsten Staatsangelegenheiten«.

 

Inzwischen haben spätestens die DDR und die CSSR bewiesen, daß jeder beliebige Kommis in unserem System verlernen kann, so etwas zu machen. Was Lenin damals fälschlicherweise unmittelbar auf den russischen Kulturmangel zurückführte, das waren die Anfänge dessen, was vor einigen Jahren Andras Hegedüs, ein ehemaliger ungarischer Ministerpräsident, als »System der organisierten Verantwortungslosigkeit« beschrieben hat. Die Ungarn kennen es lange. Unter Maria Theresia galt in der Armee der Donaumonarchie der Wahlspruch: »Es ist besser, nichts zu tun, als etwas Falsches«. Diese Mentalität herrscht in jeder Bürokratie und Hierarchie, in der die Glieder nur nach oben verantwortlich und abhängig sind und vom Prinzip her keine Kompetenzen zu horizontaler Kooperation haben.

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Lenin erkannte natürlich sofort die Tendenz auch der neuen Kader, zu verbürokratisieren, die also offenbar doch mit dem Wesen der Institutionen selbst zusammenhängen mußte. Warum sonst wollte er wenigstens diejenigen, die sich direkt unter den Massen mit politisch-kultureller Aufklärung befassen sollten, aus dem Apparat heraushalten? »Gehören Sie einer Institution an, so verbürokratisieren Sie ...« (LW 33/57). In heiklen Fragen achten unsere Propagandisten heute viel mehr auf die Mienen ihrer Vorgesetzten als auf die Reaktion ihrer Zuhörer, die sie überzeugen sollen. 

Doch unter den gegebenen Umständen war Lenin auch seinerseits auf bürokratische Heilmittel angewiesen. Sein Kampf gegen den Bürokratismus und gegen solche Folgeerscheinungen wie Korruption etc. gipfelte in der Sorge um eine Institution, die auch nur Teil des Apparats war: um die Arbeiter- und Bauerninspektion als Behörde. Obwohl er eine Enttäuschung mit ihr erlebte, widmete er seinen letzten großen Aufsatz dem Programm und der Begründung ihrer Reorganisation. Da sie zwei Hauptaufgaben haben sollte: Spitzbuben aus den Ämtern herauszufischen und die Verwaltungsarbeit nach westlichem Vorbild zu rationalisieren, wollte er hier »die besten Elemente, die es in Rußland gibt« konzentrieren. Und er entwarf das Musterbild dieser Funktionäre, die revolutionäre Unbestechlichkeit und Sachkenntnis in sich vereinen sollten.

Jedoch mußte er bei seinem Vorschlag bereits mit dem geringschätzigen Spott der Partei- und Sowjetbürokraten rechnen, die in diesem Falle gegen ihn recht behalten sollten. An der Spitze des Volkskommissariats für die Arbeiter- und Bauerninspektion hatte übrigens bis April 1922 Stalin gestanden; es war Stalins Apparat, den Lenin auseinandernehmen und neu zusammensetzen wollte. Aber die ABI war und blieb nicht deshalb ein Fiasko, weil hier der Teufel zufällig mit Beelzebub hatte ausgetrieben werden sollen, sondern weil man den Apparat nicht mit dem Apparat kurieren kann. 

Lenin war nicht der erste, der auf eine solche Institution verfiel. 1722, drei Jahre vor seinem Tode, hatte Peter I. eine »Prokuratura« eingerichtet, um die Funktionen des gesamten Verwaltungs­apparats zu überwachen.

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Schon der humanste und aufgeklärteste Despot der indischen Geschichte, der große Maurya-Kaiser Aschoka, hatte zweieinhalb Jahrhunderte v.u.Z. auch seine <ABI>, seine <Bevollmächtigten für Gerechtigkeit>, die die Moral und Zuverlässigkeit der ausgedehnten Beamtenschaft kontrollieren und das Volk gegen ihre Übergriffe schützen sollten.

Jede behördliche Arbeiter- und Bauerninspektion ist das Eingeständnis für die Abwesenheit jener Volkskontrolle, die die Kommune herstellen sollte, der Ausweis für eine von den Werktätigen isolierte Staatsmaschine.

Wenn man nur die politische Entwicklung verfolgt, die sich innerhalb der Leninschen Partei nach ihrer Machtübernahme vollzog, tritt der eigentliche Sinn der Ereignisse nicht genügend hervor. Die historische Funktion der bolschewistischen »Partei neuen Typus« bestand darin, den Apparat für den produktiven Umsturz der überlieferten russischen Gesellschaftsstruktur, für die gewaltsame Industrialisierung vorzubereiten und aus sich zu erzeugen. 

Stalins »Umgestaltung der Natur«, die Kolonisierung des Nordens und Sibiriens wäre ebensowenig wie der Bau der chinesischen Mauer ohne Zwangsarbeit größten Stils möglich gewesen. Darum ist Iwan Denissowitsch* rekrutiert worden. Alle die Parteikämpfe der zwanziger Jahre zwischen »Linken« und »Rechten« waren nichts als die Geburtswehen der Despotie. Die Kämpfer erkannten zu spät, daß es gar nicht um »links« oder »rechts« gegangen war und daß ihre Auftritte eins unfehlbar zur Folge hatten: eine Stärkung des Apparats. 

detopia-2009: Buchlein von Solschenizyn 1962

Was negativ als Vernichtung der innerparteilichen Demokratie erschien, war die Kehrseite jenes Prozesses, in dem die eindeutigen hierarchischen Unterordnungsverhältnisse für die eigentliche, ökonomische Revolution von oben geschaffen und fixiert wurden. Als das gehorsame, gefügige Werkzeug fertig war, gab es die Partei als kommunistische nicht mehr, auch nicht die Leninsche. Es gab eine politische Administration, flankiert von Organen des Terrors. Was vom Kommunismus blieb, waren die individuellen Gewissenskonflikte der in ihrer Organisation zerstreuten Genossen.

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Nach Platos Erfahrung ist die Existenz des politischen Menschen tragisch, wenn er »den Staat nicht gefunden hat, der zu ihm paßt«. Dies wurde zum Erlebnis Trotzkis, Sinowjews, Bucharins und der vielen andern alten Revolutionäre, die in sich einen anderen Staat vorweggenommen hatten als den, der das Resultat ihres Wirkens war. Sie waren, besonders Trotzki, bewundernswert unfähig, in ihr entfremdetes Produkt hineinzuschlüpfen. Sie haben die Macht verloren, weil sie nicht zu dem Staat paßten, der im Werden war. Stalin hat sie gewonnen, weil er dazu paßte. Nicht nur wegen der ständigen Bedrohung, nein, wegen der positiven Aufgabe, die Massen in die Industrialisierung hineinzutreiben, die sie nicht unmittelbar wollen konnten, mußte die Sowjetunion eine eiserne »petrinische« Führung haben. 

Hätte ein subjektiv begabterer Mensch als Stalin sich diesem Zweck anzupassen vermocht, so hätten die ideologischen Auskunftsmittel im Rahmen der alten Parteitradition weiter gereicht, und das Äußerste des Terrors wäre vermieden worden, der Cäsarenwahn erspart geblieben. Aber kaum mehr. Das Auseinanderklaffen von materiellem Fortschritt und sozialpolitischer Emanzipation, wie es Dostojewskis Legende vom Großinquisitor vorweggenommen hatte, war unvermeidlich. Die sprunghafte technisch-kulturelle Qualifizierung der Massen mußte erst die Voraussetzungen für sozialistische Produktionsverhältnisse schaffen.

Man darf nur nicht verkennen, daß dies eine Rechtfertigung jener Art ist, wie sie Marx auch der revolutionären Tätigkeit der Bourgeoisie zuteil werden ließ. Sie gilt einer antagonistischen Realität, in der »die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden« (MEW 26. 2/111). Und sie zwingt uns keineswegs dazu, den souveränen Zynismus aus Goethes <Westöstlichem Diwan> nachzubeten, der da lautet: 

»Sollte diese Qual uns quälen, 
da sie unsre Lust vermehrt? 
Hat nicht Myriaden Seelen 
Timurs Herrschaft aufgezehrt?«

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Dies um so weniger, als natürlich die konkrete Form des industriellen Aufstiegs nicht fatalistisch interpretiert werden darf. Insbesondere mag man an der Größe der Folgen — wie immer man sie beurteilen mag —, die das Überleben Mao Tse-tungs für China! hatte, die mögliche Modifikation abschätzen, die ein um wenige Jahre längeres Leben Lenins bewirkt haben könnte.

Die Stalin-Periode hat den Leninismus seiner humanistischen Perspektive beraubt, indem sie ihn, radikal praktizistisch, restlos an die aktuelle Praxis ausverkaufte und aus jeder sowjetischen Not eine allgemeingültige Tugend machte. Lenins Maßnahmen, die mit dem mörderischen Existenzkampf in einer belagerten Festung zusammenhingen, sollten keine irreversiblen Beschränkungen für die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit der Partei in neuen, veränderten Situationen sein. Indem sie alles festschrieb, was Lenin einmal durchgesetzt hatte (wie das Fraktionsverbot, das die Bildung bloßer Parteiflügel unmöglich machte), hat die Partei unter Stalin die Erstarrung der ersten, frühen strukturellen Anpassungsform an eine außerordentliche Situation organisiert. Wie in der biologischen Evolution können derartige Gewaltakte auch in der historischen den betroffenen Organismus in eine Sackgasse führen.

Wenn man den Gedanken an die Kontingenz eines besseren Weges nicht völlig dahingestellt sein lassen will, so gibt es nur hier einen Anknüpfungspunkt für das nachträgliche Reflektieren. Ist ein anderes als das Stalinsche Verfahren denkbar, den absolut notwendigen Parteikonsensus für eine einzige, aber günstigere Praxis der protosozialistischen Industrialisierung durchzusetzen? 

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Lenin hatte für den Fall eines Bruches im Politbüro über dem Gegensatz Stalin-Trotzki den Untergang der Sowjetmacht vorausgesagt. Da es zu diesem Bruch kam, war nach der Logik der Leninschen Prophezeiung die politische Vernichtung einer der beiden Fraktionen die Bedingung des Überlebens. Hätte es unter der Fortdauer der Leninschen Autorität — bei einem höheren Niveau der theoretischen Arbeit! gelingen können, die Einheit der Partei, d.h. vor allem der Parteiführung in der politisch-administrativen Praxis bei wirklicher Diskussion der jeweiligen Alternativen zu sichern? Denn nur unter dieser Voraussetzung konnte der Parteikern unter dem auf dem X. Parteitag angelegten Panzer genügend lebendig bleiben, um sich später zur rechten Zeit und mit vollem Bewußtsein seiner wieder zu entledigen. 

In der Konzeption Lenins war der bevorstehende Weg die Vermittlung zu dem wenn auch fernen sozialistischen Ziel. Dieses Bewußtsein sollte im Parteikern überleben und an die nächste Generation weitergegeben werden. Indem Stalin lange vor der Zeit die sozialistische Verfassung ausrief, während er die Alte Garde erschießen ließ, konstatierte er und vollendete zugleich die Zerstörung dieses Bewußtseins. Von nun an war — die unmittelbare Bewegung alles, das Ziel nichts, jedenfalls in der Alltagspraxis der Partei- und Staatsmaschine. Wenn das kommunistische Ideal — wie sich dann besonders im Kriege zeigte — dennoch kryptisch überlebte, so daß es in den fünfziger Jahren in der Gestalt eines nahezu religiösen Heimwehs nach Lenin hervorbrechen konnte, war das vor allem eine intraindividuelle Realität, eine gesellschaftliche Tatsache ohne gesellschaftliche Form, ohne organisierte Manifestation.

An sich ist die Frage nach einer vergangenen Möglichkeit immer spekulativ und nicht zu beantworten. Sie lohnt sich in diesem Falle dennoch als Frage, weil es heute um eine Lebensund Entwicklungsform der Partei jenseits der stalinistischen Erstarrung geht. Die nachstalinsche Partei hat sich der neuen Lage immer nur äußerlich angepaßt. Lenin hatte drei Phasen des Kommunismus im Auge: die Diktatur des Proletariats (bis zur Errichtung der Grundlagen des Sozialismus), den Sozialismus und den Kommunismus.

Man kann die Kritik am gegenwärtigen Zustand des sowjetischen Staatswesens einfach auf den Nenner bringen, daß es noch nicht einen einzigen wesentlichen Schritt über die Strukturen hinausgelangt ist, die unter den sehr spezifischen Bedingungen der zwanziger Jahre für die erste der drei genannten Phasen geschaffen wurden. Gerade in dieser erstarrten Kontinuität kann die Sowjetunion schwerlich auch nur die Grundlagen des Sozialismus vollenden, schon weil das keine rein technische Aufgabe ist. Die sowjetische Gesellschaft braucht eine erneuerte kommunistische Partei, unter deren Führung sie die in den Jahrzehnten des Industrialisierungsdespotismus erarbeiteten Produktivkräfte für den Aufbruch zu neuen Ufern, in den eigentlichen Sozialismus ausnutzen kann. 

Wenn sich eine hypothetische Alternative zu Stalin ironischerweise auf einen anderen Personenkult um einen überlebenden Lenin verwiesen sieht, so kann sich eine Alternative zur heutigen Parteipolitik auf einen mächtigen Block progressiver Kräfte und Interessen der industrialisierten protosozialistischen Gesellschaft stützen. Die objektive Basis und der subjektive Faktor für eine neue Politik — beides ist massenhaft vorhanden. Und die adäquate geistige und politische Organisation dieser subjektiven Kräfte ist die Aufgabe, an der sich die Partei erneuern muß.

139-140

(geschrieben 1972-1973)

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus