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5 - Gesamtgesellschaftliche Organisation auf der Basis der alten Arbeitsteilung 

 

"Der Apparat schaltet und waltet mit dem erarbeiteten Mehrprodukt in einer Weise, daß man angesichts der Verschleuderung von Volkseinkommen in den verschiedenen Rängen immer wieder die zynische Rechtfertigung hören kann: Man wüßte Fälle, in denen »ganz andere Summen über den Jordan gegangen« sind. Die Verblendung geht manchmal so weit, einen eigenen Stolz darauf zu entwickeln, »daß die sozialistische Wirtschaft trotzdem nicht zusammen­bricht«."  Seite 188, hier gekürzt

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Solange die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen. Denn unter dieser Bedingung war Steigerung der Produktivkräfte, Ausdehnung des Verkehrs, Entwicklung von Staat und Recht, Begründung von Kunst und Wissenschaft nur möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer Grundlage haben mußte die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache Handarbeit besorgenden Massen und den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte und späterhin die Beschäftigung mit Kunst und Wissen­schaft betreibenden wenigen Bevorrechteten.

Es mußte einfach eine besondre Klasse bestehn, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft, für die die eigentlichen Produzenten keine Zeit hatten, besorgte; wobei sie denn nie verfehlte, den arbeitenden Massen zu ihrem eigenen Vorteil mehr und mehr Arbeitslast aufzubürden. Aber ursprünglich beruht alle politische Gewalt auf einer ökonomischen gesellschaftlichen Funktion. Das Gesetz der Arbeitsteilung ist es also, was der Klassen­teilung zugrunde liegt. Aber das hindert nicht, daß die herrschende Klasse, einmal im Sattel, nie verfehlt hat, die gesellschaftliche Leitung umzuwandeln in Ausbeutung der Massen.

Der vorige Absatz, der nichts als eine Sequenz von Gedanken aus Engels' Anti-Dühring (MEW 20/168 ff. und 262 f.) enthält, spricht offensichtlich von der Grundlage der Klassenherrschaft schlechthin, nicht irgendeiner bestimmten. Schon in der Deutschen Ideologie hatten Marx und Engels geschrieben, daß »mit der Teilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß die geistige und materielle Tätigkeit — daß der Genuß und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, und die Möglichkeit, daß sie nicht in Widerspruch geraten«, — ich unterstreiche — »nur darin liegt, daß die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird« (MEW 3/32).

Es genügt, diese Fragen zu stellen, um zu konstatieren, daß unsere Völker den Horizont der Klassengesellschaft noch nicht überschritten haben. Jedoch verlaufen die Klassengrenzen, wie wir noch sehen werden, an einer ganz anderen Stelle, als die offizielle Theorie wahrhaben darf.

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Allerdings ist die Klassenherrschaft bereits auf ihren elementarsten Ausgangspunkt zurückgebracht, auf dem sie sich nun jedoch hartnäckig verteidigt. Ich habe gezeigt, wie die Bolschewiki dazu kamen, ihren Partei-Staats-Apparat als Stellvertreter einer Ausbeuterklasse, als Arbeitsherrn der Sowjetgesellschaft zu etablieren. Gesamtgesellschaftliche Organisation auf der Basis der alten Arbeitsteilung kann nur gesamtstaatliche Organisation, kann nur Vergesellschaftung in dieser entfremdeten Form sein, zumal in den modernen Massengesellschaften mit ihrem hyperkomplexen Reproduktionsprozeß. Unter Marxisten heißt es eigentlich, Eulen nach Athen zu tragen, wenn man feststellt, daß reales gesellschaftliches Eigentum nicht unter der Herrschaft der alten Arbeitsteilung gedeihen kann. Wenn dennoch das Gegenteil verbreitet wird, so zu dem Zweck, dem »kleinen Mann« — die Russen sagen »Mann im Glied«, »rjadovoj celovek« —, der es freilich nicht glaubt, weiszumachen, er sei der Herr und Eigentümer des allgemeinen Reichtums. 

Zweifellos ist in unserer Formation welthistorisch gesehen eine objektive Tendenz zur Überwindung der antagonistischen Struktur wirksam. Unsere Verhältnisse könnten ein Prozeß sein, in dem die Leitungsfunktionen ihren Klassencharakter verlieren. Aber dann müßten die führenden Elemente der Gesellschaft die ersten sein, die die neuesten Formen der ältesten Widersprüche aufdecken. Indem sie sie verbergen, bestätigen und befestigen sie sich in ihrer Eigenschaft als herrschende Schicht. 

Der Reduktionsprozeß, den Marx mit Recht vollzog, um das besondere historische Wesen der kapitalistischen Warenproduktion herauszuarbeiten, kommt dem Bestreben entgegen, hinter der spezifischen Dialektik der kapitalistischen Produktionsweise die gemeinsamen Widersprüche aller antagonistischen Produktion zu verstecken. Da genügt es denn, heute die Bourgeoisie davonzujagen, um morgen in den hinterlassenen oder mit der unter dem Kapital »fortgeschrittensten Technik« neu erbauten Fabriken von aller Herrschaft, Ausbeutung, Entfremdung freie, der Individualität der Produzenten förderliche Arbeit zu leisten.

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Wenn dies nicht gleich zur vollen Zufriedenheit in Erscheinung tritt, so liegt es vor allem an den »ideologischen Überbleibseln des Kapitalismus im Bewußtsein unserer Menschen«. Die Maskerade ist so weit gelungen, daß sogar marxistische Kritiker unseres Systems die offenbare Irrealität der Emanzipation auf bloße »Deformationen« zurückführen, die mit allerdings verdächtiger Regelmäßigkeit vom neuen politischen Überbau ausgehen, dennoch aber nicht im sozial-ökonomischen Wesen der Verhältnisse liegen sollen.

Demgegenüber muß ich noch einmal die Verwurzelung der Entfremdung in der Arbeitsteilung selbst hervorheben. Sie bloß auf den Warenfetischismus zurückzuführen, ist auch realhistorisch falsch. Die abstrakte Arbeit, die im Warenwert erscheint, machte weltgeschichtlich nicht so sehr in den Tauschgeschäften am Rande primärer Gemeinwesen, sondern in der alten Ökonomischen Despotie das erste Mal Epoche. In ihren Steuern wie in ihrer Fron ist trotz der Naturalform, die der Bürokratie natürlich im Hinblick auf die Proportionalität nicht gleichgültig war, für den Staat bereits »Arbeit schlechthin« verkörpert. Letzten Endes nahm er stets auch den Ochsen für das Korn, das Tuch für die Stiefel. 

Eine heute für den Straßenbau ausgehobene Tausendschaft von Bauern konnte nach einer für die Betroffenen unabsehbaren Fügung morgen für etwas ganz anderes eingesetzt werden. Übrigens konstituierte sich wesentlich aus dem Überschuß dieser Despotien, nicht bloß aus den Erzeugnissen privater Kleinproduzenten, mindestens tausend Jahre vor den Griechen der erste konsistente Warenkosmos der Geschichte, der den mittelmeerisch-nahöstlichen Markt füllte. 

Überall dort, wo sich Arbeitsteilung und Kooperation auf großem Maßstab und also bereits unter Herrschaftsverhältnissen entfaltet haben, verhält sich die zusammenfassende Instanz verallgemeinernd zur Arbeit, läßt sie sich mehr oder weniger von der Kommensurabilität der Produkte und Tätigkeiten leiten, kennt sie »Arbeit schlechthin«, fragt sie quantitativ nach ihr als der Basis der verselbständigten sozialen Macht.

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Von da an schon gilt eben auch der Gedanke, »daß, solange also die Spaltung zwischen dem besonderen und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht« (MEW 3/33). Dieses Fundament der Klassengesellschaft in der Arbeitsteilung liegt allen ihren späteren Formationen in dem Sinne zugrunde, daß es nach Abtragung der moderneren Überlagerungen noch einmal »rein« hervortreten kann, selbstverständlich nicht mehr in der alten, archaischen Gestalt. Gerade die russische Revolution ist geeignet, uns nachdrücklich zu belehren, daß die Zeit der Arbeitsteilung auch die Zeit der Herrschaft des Menschen über den Menschen ist, die sich in einer patriarchalischen Grundstruktur aller maßgebenden sozialen Verhältnisse äußert, von der alten Despotie des Orients bis zu dem rohen, despotischen Kommunismus der Armen, den der junge Marx als im Grunde bereits abgetane Möglichkeit apostrophiert hatte.

Man muß sich am Ursprung des Regierungsproblems klarmachen, worin die menschliche und historische Substanz der Fähigkeit besteht, den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu regeln. Wodurch hat schon der Stammesweise in der Schlußphase der Urgesellschaft, wodurch haben die frühen Priester und Propheten Macht über ihr Volk erlangt? Sie monopolisierten allmählich die Handhabung, Auslegung und Rationalisierung der Riten und Mythen, die den Jahreszyklus der Arbeit und des Lebens im Einklang mit den natürlichen Erfordernissen regelten. Sie eigneten sich sukzessiv das gemeinschaftliche Interesse an, das nach Marx nicht nur in der Vorstellung, als »Allgemeines«, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen existiert, unter denen die Arbeit geteilt ist (MEW 3/33), das aber der Formulierung bedarf!

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Die entwickelte Arbeitsteilung und natürlich auch das Verhältnis zur Natur und zu anderen Gemeinwesen begründen objektiv ein »Allgemeininteresse«, das unter den am Anfang dieses Kapitels erwähnten Bedingungen nur zur besonderen Angelegenheit bestimmter Individuen und Gruppen werden konnte. Insofern ist der Staat noch mehr als die illusorische Gemeinschaftlichkeit: er ist die Korporation, in der die Gesellschaft sich selbst anschaut; er zeigt, daß sie wirklich existiert, nämlich mehr als die Summe ihrer Teile ist. Er reproduziert sie ideell als komplexes System, das aber noch nicht bis unten von Bewußtsein durchdrungen ist. Selbsterkenntnis der Gesellschaft (als des produzierenden Subjekts) muß sich als besonderer Staat äußern, solange die Individuen nicht das Ganze überschauen können, in das sie integriert sind. Kurz, das gemeinsame höhere Interesse wird zum besonderen Interesse der Höheren. Ihre ökonomischen Sonderinteressen treten dann erst hinzu, ergeben sich zum großen Teil überhaupt erst daraus.

Unseren populären Lehrbüchern können wir oft die platt-aufklärerische Idee entnehmen, diese Priester hätten sich zuerst die Verfügungsgewalt über den gemeinsamen Reichtum angeeignet und dann die Herrschaftsreligion, anknüpfend an naive Volksmythologie, sozusagen anschließend als Rechtfertigungsideologie erfunden. In Wirklichkeit war es gerade umgekehrt. Die Verfügungsgewalt erwuchs aus der priesterlichen Magie als einer privilegierten, aber für das fortschreitende Gemeinwesen ausgesprochen notwendigen Bewußtseinsarbeit. Um — anachronistisch gedacht, aber im Hinblick auf unsere gegenwärtige Konstellation — diese Priester zu expropriieren, hätte man zuerst die Magie vergesellschaften müssen, dann erst — oder vielmehr: damit! — den Speicher. Und in der Magie steckte nichts anderes als die Fähigkeit, das ganze Gemeinwesen nach innen zu durchschauen und daher seine Bedürfnisse gegenüber der natürlichen und sozialen Umwelt repräsentieren zu können.

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Gegenstand dieser ursprünglichen Aneignung und Ausübung von Macht ist also der aktuelle Lebens- und Arbeitsprozeß des Gemeinwesens in seiner gedachten und tatsächlichen Gesamtheit, der durch die Priesterherrschaft eine Peispektive des kulturellen Fortschritts erhält bzw. ursprünglich erhalten hat. Aus der subjektiven Bewältigung dieser schöpferischen Aufgabe fließen Weisheit und Berufenheit, fließt das mysteriöse »Charisma« geistiger (muß nicht heißen: rationaler) Führerschaft. Die persönliche Autorität des »Wissenden« erscheint dann als individuelle Voraussetzung des Priesteramtes. Aber die Aneignung dieses »Wissens« setzt eben objektiv schon die Hierarchie der Arbeitsleitung im weitesten Sinne voraus. Hebräer und Hindus haben besonders genaues Zeugnis von dieser für ihre Kulturen ausschlaggebenden Konstellation hinterlassen. Die »Sendung Mosis« beispielsweise war genau von dieser Art.

Vor einiger Zeit schrieb ein Genetiker: »Wir wissen nicht, ob es ein Nebenprodukt der ästhetischen Anlagen oder der fundamentalen Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist, was bestimmten Personen eine Aura von Weisheit verleiht, die erstaunlicherweise zu ihrer Beherrschung des sich ständig vermehrenden Wissens in keinem Verhältnis zu stehen scheint« (Th. Dobzhansky, Dynamik der menschlichen Evolution, Frankfurt, M. 1965/405). 

Ästhetische Anlagen und Fähigkeit zur Selbsterkenntnis hängen engstens zusammen, wie insbesondere Christopher Caudwell gezeigt hat (Illusion und Wirklichkeit, Dresden 1966). Und mit dem ständig anwachsenden Wissen sind hier offenbar vor allem die Früchte des modernen Spezialistentums gemeint, in dem die alte Arbeitsteilung ihren letzten Gipfel erreicht. 

Moderne »Weisheit« steht sehr wohl in einem Bezug zu dieser schlechten Unendlichkeit des Wissens, minimal (nicht optimal) in einem negativen: sie läßt sich nicht davon irritieren und absorbieren. »Weisheit« — und bei der frühen am deutlichsten, weil sie in sich ungeteilt und nichts weiter ist als dies — erscheint als die Individualform, die aus dem privilegierten Verkehr mit den »Göttern«, mit den »höheren«, objektiven Mächten hervorgeht, d.h. aus der Handhabung des allgemeinen, überpartikularen Zusammenhangs komplexer Gemeinwesen in sich selbst. 

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Diese Erhebung zu einem ersten reflektierten Bewußtsein vom Gesellschaftsganzen hat eine ungeheure progressive Bedeutung gehabt. Die Menschen hatten den Weg bis in die Klassengesellschaft mit ihrem als Naturtatsache gegebenen Bewußtsein gemacht. Nun begann eine Minderheit, die Geschichte mit ihrem Selbstbewußtsein zu machen. Mit dieser Leistung begann eine ganz neue Schicht der menschlichen Evolution, der realen »Phänomenologie des Geistes«: die Stufe des »für sich seienden« Menschengeistes, d.h. der welterkennenden und zugleich ihrer Individualität bewußten Persönlichkeit. Der Marxismus, die bisher reifste Frucht der Selbsterkenntnis des gesellschaftlichen Menschen, begann mit der Forderung nach der Verwirklichung des geschichtlichen Selbstbewußtseins in allen Individuen. Nichts anderes bedeutet Marxens früher Imperativ, »die Philosophie aufzuheben« in der Aktion der Proletarier.

Das Selbstbewußtsein, die vollentfaltete, universelle Individualität, die persönliche Autorität sind nach aller Einsicht der psychologischen Wissenschaft nur als Funktion eines aktiven Zugangs zur Totalität des Gemeinwesens möglich, durch etwas, was Spinoza, wenn auch spiritualistisch und kontemplativ, ziemlich exakt anzielte, als er die erkennende »intellektuelle Liebe zu Gott« das höchste Glück des Menschen pries. Universalität und Totalität sind natürlich Begriffe der Qualität, nicht der Quantität. Gemeint ist, daß die reale Möglichkeit, an der Synthesis des Geschichtsprozesses teilzunehmen, der einzige Weg ist, der subalternen Existenz zu entkommen.

Im gesellschaftlichen Durchschnitt setzt eben die individuelle Fähigkeit zur Teilnahme an der sozialen Synthesis, gar auf der Ebene, wo es gilt, »den Staat zu regieren«, zweierlei voraus:

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1. Eine bisher stets durch besonderen, intensiven Ausbildungsgang erworbene Qualifikation, die fast immer nur denjenigen Individuen zuteil wurde, die irgendeine soziale Kandidatur für synthetische, »allgemeine« Arbeit mitbrachten. Bis hier und heute herrscht das Prinzip der »Qualifikation für den Arbeitsplatz«, und wer dort nicht als Kopf, sondern als Hand gebraucht wird, lernt auch eher Bewegungs- als Begriffskoordination. Die Ausbildung zur Köchin schließt Philosophie und Politik höchstens katechetisch ein, obgleich darin im Prinzip bereits ein großer Fortschritt liegen kann, der die berühmte Leninsche Forderung als Losung rechtfertigt.

2. Die effektive Gelegenheit, eine Reihe immer höherer synthetischer Funktionen auszufüllen, an der Spitze sozialer Informationshierarchien zu stehen oder zumindest in irgendeiner Form an der Verallgemeinerung zu partizipieren.

 

Der Erkenntnisprozeß, der den Übergang zur Zivilisation beförderte, konnte nicht auf einmal vollzogen werden — weder subjektiv noch objektiv. Vor allem aber konnte ihn unmöglich die Gemeinschaft als ganze vollziehen. Und wenn wir jetzt — auf der Ebene der Subjekte — die Gesellschaft zerfallen sehen in »Weise« und »Subalterne«, in »Die da oben« und »die kleinen Leute«, so geht das ursprünglich auf diesen Fortschritt der Evolution zurück.

Die Unteren gaben seither den größten Teil ihrer wachen und vor allem ihrer psychologischen Zeit nicht nur schlechthin für Handarbeit oder schematische Arbeit, sondern für Arbeit und Leben in einem partikularen Zusammenhang aus. Das alte, lokale Gemeinwesen hatten sie, indem sie es an Ort und Stelle produzierten und reproduzierten, auch gemeinschaftlich erkannt. Zwar existierte es im Regelfalle fort, und sie reproduzierten es wie bisher. Aber anders als bisher leisteten sie darin keine — wie Marx sagt — »unmittelbar gesellschaftliche« Arbeit mehr, die den Bezug auf die Allgemeinheit eingeschlossen hätte.

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Denn der nunmehr wesentlichste Zusammenhang, den sie mit ihrem Mehrprodukt erzeugen und tragen halfen, entzog sich zugleich mit diesem Mehrprodukt ihren Blicken. Dort, in der fernen Zentrale, wurde nun in abstrakter, abgesonderter, halb religiöser, halb intellektueller Gestalt die »allgemeine Arbeit« geleistet. Nur dort und nur den damit Befaßten konnte der im Staatsgebiet und »international« erzeugte größere Zusammenhang Erkenntnisgegenstand werden. 

Genau betrachtet, kennzeichnet man den Vorgang der sozialen Differenzierung, der Klassenbildung, der sich um den Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit entspinnt, sehr ungenau, wenn man sagt, die zunächst Zukurzgekommenen, später dann Unterdrückten gingen ihrer »alten Rechte« auf Teilnahme an der allgemeinen Willensbildung verlustig. In ihren dörflichen Siedlungen konnten selbst eroberte Bevölkerungen oft ihre gemeinschaftlichen Traditionen fortsetzen. 

Nur waren ihre Gemeinschaften als Ganze, ehedem sich selbst genügend in ihrem Charakter als vollständiger sozialer Kosmos, nun zu unkompetenten Teilen eines übergeordneten Ganzen geworden, und zwar zu Teilen, die diesen neuen, größeren Zusammenhang nicht mikrokosmisch wiederholten, sondern eben subalterne Funktionen in ihm wahrnahmen. Es wurden im wesentlichen nicht überkommene alte, sondern vorher nicht dagewesene, neu entstandene Funktionen monopolisiert. 

Der erste Führer eines Stammesbundes, einer Völkerschaft z.B. gründete seine Macht auf ein Interesse, das vorher gar keinen institutionellen Ausdruck gefunden, ja, das er vielleicht überhaupt erstmalig artikuliert hatte. Die einfachen Stammesmitglieder, die Gemeinfreien der heraufziehenden neuen Zeit der Klassenherrschaft, verloren da anfangs nicht absolut, sondern relativ an gesellschaftlicher Macht. Sie brauchten nur stehenzubleiben, zu verharren, wie sie waren, um subaltern zu werden. Natürlich schrumpften in der Folge mit der Autonomie ihrer Sippen bzw.. Dorfgemeinschaften auch die ursprünglichen Funktionen dieser Einheiten, aber dieser Schwund wurde durch die neue Beziehung zur Zentrale, die niemals gänzlich passiv war, kompensiert.

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Im allgemeinen ist eine unterdrückte Bevölkerung höherer Formation eben deshalb jenen ehemaligen Weggenossen überlegen, die sich seinerzeit vor der Knechtschaft verheißenden Zivilisation zurückziehen konnten.

Das Fortschrittsproblem besteht niemals hauptsächlich darin, günstige Entwicklungsbedingungen zu vernichten, nur weil sie Privilegien sind, sondern sie zu verallgemeinern. Vor den industriell entwickeltsten Zivilisationen der Gegenwart steht die gewaltige Aufgabe, das Privileg der »allgemeinen Arbeit« zu verallgemeinern, die in der alten Arbeitsteilung, in der lebenslangen Unterwerfung unter partikulare Verrichtungen verankerten Existenzbedingungen »kleiner Leute« zu überwinden. Die gegenwärtige Situation, da die vergegenständlichten Produktivkräfte unwiderstehlich nach Wiederherstellung der gesamt-gesellschaftlichen Kooperation drängen, während die alte Arbeitsteilung noch triumphiert, muß noch Zustände individueller und kollektiver Ohnmacht erzeugen, von denen die modernen Priesterschaften nur scheinbar ausgenommen sind. Sie wissen relativ weniger als die alten Diener Ammon Res über den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, den sie regulieren müssen.

Aber das Heil liegt — wie aus dem ganzen dargestellten Zusammenhang folgt — erst recht nicht einfach bei den Subalternen. Die unmittelbaren Bedürfnisse der subalternen Schichten und Klassen sind immer konservativ, antizipieren in Wirklichkeit nie positiv eine neue Lebensform. Die Bauernaufstände in den orientalischen Despotien endigten notwendig mit der Neueinsetzung eines Despoten. Die Sklaven, wo sie sich erhoben, strebten — wenn nicht auseinander in ihre verschiedenen Heimatländer — danach, sich an die Stelle der Sklavenhalter zu setzen. Die Bauern der Feudalepoche kämpften um ihre alten Freiheiten.

Das Proletariat kämpft spontan um die Teilhabe an der Lebensweise der Bourgeoisie, wenigstens der nächststehenden kleinen — die Verzweiflung des Früh­proletariats rührte daher, daß es, unter sein Existenzminimum gedrückt, keine Hoffnung auf eine solche Perspektive entwickeln konnte. 

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Erst wenn in einer gesamtgesellschaftlichen Krise eine Fraktion der Oberschichten bzw. -klassen oder, effektiver, eine neue »Mittelklasse« die Massen der Unterdrückten für eine Reformation oder Revolution organisiert, ergeben sich neue Perspektiven. Man muß auf den Ursprung der Ungleichheit, der Herrschaft, der Ausbeutung zurückgehen, um diesen Mechanismus des Fortschritts zu begreifen, der aus der Ganzheit eines widerspruchsvollen sozialen Systems hervorgeht und nicht einfach von einem ihrer Pole erzeugt wird. Die Dialektik des Fortschritts ist in der marxistischen Literatur seit der mechanistischen, dualistischen Behandlung nach Plechanows insgesamt unglücklichem Kategorienschema »Volksmassen — Persönlichkeit« ziemlich verzerrt worden. Neue, höhere Kulturen sind nie ohne die Massen, ohne eine wesentliche Veränderung ihrer Lebenslage geschaffen worden, und, von einem bestimmten Reifegrad der vorhergehenden Krise ab, auch nicht ohne ihre Initiative. 

Aber in keinem bekannten historischen Fall ging der erste schöpferische Impuls (ideell, organisatorisch) von ihnen aus (die Gewerkschaften antizipieren keine neue Kultur). Auch die politische Arbeiterbewegung ist von exbürgerlichen Intellektuellen begründet worden, was keineswegs ausschließt, daß die aktivsten proletarischen Elemente früh eine eigene Rolle in den sozialistischen Parteien spielten und in der Tendenz selbst Intellektuelle wurden. Es kann auch nicht geleugnet werden (es ist aber auch hinreichend betont worden), daß sich die moderne Arbeiterklasse in mancher wichtigen Beziehung von früheren ausgebeuteten Klassen unterscheidet. Dennoch gilt allgemein, daß die werktätigen Massen in der Geschichte vorwiegend die quantitative Akkumulation leisten. 

Daher ist die Bildung des neuen historischen Kräfteblocks immer die Formierung eines strukturierten Organismus, in dem sich mehrere Elemente der alten Gesellschaft zu einer neuen Qualität kombinieren. So war es auch in unserer Revolution.

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Entscheidend war nicht das »Bündnis« der Elemente, entscheidend war die Führung, die über ihnen stand. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, daß eine unterdrückte, bisher in ihrem realen Lebensprozeß weitgehend von der erwähnten Synthesis ausgeschlossene Klasse der alten Gesellschaft allein den neuen Typus von Gesellschaft konstituiert. Das geschieht auch nirgends. Wenn es dennoch dazu käme, müßte sie sich um so sicherer innerlich sehr grundlegend differenzieren, d.h. zumindest eine neue Schichtung aus sich erzeugen. Wir haben eben eine hochkomplexe Technik und Organisation des Reproduktions­prozesses vor uns, die durch politische Veränderungen allein überhaupt nicht ernstlich berührt wird, in der aber Unter- und Überordnungs­verhältnisse der einschneidendsten Art sowie psycho-physische Anforderungsunterschiede äußerster Spannweite materiell inkorporiert sind. Dadurch ist unsere Gesellschaft geschichtet, und natürlich weit über die einfache Dichotomie von körperlicher und geistiger Arbeit hinaus.

Seit jener frühen Zeit, in der sich in einem ersten schamanistischen Priestertum die bewußte Schicht des sozialen Lebens institutionell zu verselbständigen begann, hat sich also in ihr selbst eine vielfältige Differenzierung vollzogen, so daß sich jetzt ein sehn großer Bevölkerungsteil der modernen Industrie­gesellschaften zumindest formell mit Tätigkeiten befaßt sieht, die den Menschen nicht als physische Naturkraft, sondern direkt in dem spezifischen Organ beanspruchen und entwickeln, das ihn durch seine besondere Organisation in der Natur privilegiert. Der größte Teil der in unserer Gesellschaft geleisteten geistigen Arbeit resultiert aus der technischen Arbeitsteilung innerhalb der Produktion und der Informationsverarbeitung. Die durchschnittliche Tätigkeit des Ingenieurs und Ökonomen erscheint nicht als Unterfunktion der herrschenden Klasse, sofern damit nichts als die Vermittlung des Produktions­prozesses selbst besorgt wird — so wenig sich diese Aufgabe faktisch separieren läßt!

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In ihrem Ursprung ist die geistige Arbeit, die wir heute so vielfältig geteilt vorfinden, gesellschaftliche Leitungstätigkeit. Jedoch bei entwickelter Zivilisation behindert das Begriffspaar körperliche und geistige Arbeit sogar die Analyse, und in der Gegenwart mehr denn je. Die Masse der geistigen Arbeit wurde schon frühzeitig nicht von der eigentlichen Oberschicht bzw. -klasse selbst besorgt. Die niederen Schreib- und Rechenbeamten der orientalischen Priester und Despoten wurden zwar aus dem Mehrprodukt unterhalten, aber ihre Revenue betrug nur einen Bruchteil dessen, was die Spitzen der Hierarchie verbrauchten (sie hatten allerdings die bürokratische Karriere vor sich). In der Antike griff die geistige Arbeit bis in die Klasse der Sklaven hinein. Auch die Arbeitsaufsicht überließen schon die griechischen Sklavenhalter ihren Verwaltern und fanden, es habe damit für sie persönlich nichts Rechtes auf sich. Was sie sich — neben dem Sinnengenuß — hauptsächlich vorbehielten, das waren nach Aristoteles Staatsgeschäfte und Philosophie, eben die Beschäftigungen der sozialen Synthesis.

Es handelt, sich also um ein elementares, frühes Verhältnis, so »modernistisch« ich es hier auch formulieren möchte: Die organisatorische Beherrschung arbeitsteiliger Kooperation ist von Anfang an ein Informationsproblem, das Problem einer Bewußtseinsstruktur, die als Verhältnis von Personen in Erscheinung tritt. Die Hierarchie der Arbeitsleitung drückt institutionell die Hierarchie der informationellen Kopplungen aus, und dieser ganze Apparat spiegelt letztlich die Gliederung des materiellen Reproduktionsprozesses nach Verarbeitungsstufen, Kombinationsformen und -graden sowie die notwendige innere Arbeitsteilung des Informationsverarbeitungsprozesses wider. 

Alle an der Kooperation beteiligten Individuen verfügen auch über Bewußtsein als Naturkraft, aber nicht alle nehmen hauptsächlich in dieser Eigenschaft daran teil. Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung sind Begriffe, deren Realgehalt gerade vor diesem allgemeinen Hintergrund ein und derselbe ist, jedenfalls im Kern.

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Immer handelt es sich darum, daß mehr oder weniger große Anteile der geteilten und vereinzelten konkreten Arbeit, die von der Masse der Produzenten geleistet wird, im Namen eines besonderen, und darum in einem besonderen Klassensubjekt verkörperten Gemeininteresse zusammengefaßt werden, so daß nun diese konzentrierte vergegenständlichte Arbeit das Mittel wird, die lebendige zu kommandieren — zu dem insgesamt gesehen erreichten Zweck, diesen entfremdeten Reichtum quantitativ und qualitativ zu vermehren. 

Unabhängig von ihrer konkreten Form und unabhängig von dem Grad des Parasitismus am Pol der sozialen Macht (möge dieser für historische Augenblicke gegen Null gehen!) besteht die Ausbeutung und Unterdrückung darin, die Produzenten der Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über die Bedingungen ihres materiellen Lebens zu berauben, so daß ihre soziale und nicht selten sogar ihre biologische Existenz als Individuen in die Hände einer wesensmäßig unbegreiflichen, väterlichen Schicksalsmacht gelegt ist.

Haben die werktätigen Massen der »sozialistischen« Länder auch nur den geringsten positiven Einfluß auf die Entscheidungen, die ihr materielles und also letztlich ihr gesamtes Geschick betreffen? Auf die Entscheidungen über die Proportion zwischen Akkumulation und Konsumtion, zwischen , Kriegs- und Friedensproduktion, zwischen Wohnungsbau und Monumentalbau, zwischen dem Aufwand für Bildung und dem Aufwand für die propagandistische Selbstdarstellung der Macht, zwischen den Kosten für die Befreiung der Frau von der hauswirtschaftlichen Sklaverei und den Kosten für die Sicherheit der »Beauftragten der Gesellschaft«? Natürlich nicht. Sind die betroffenen Völker gefragt worden, ob man Krieg um eine unbewohnte Ussuri-Insel führen und militärisch gegen die sozialistische Erneuerung der Tschechoslowakei intervenieren soll? Erst recht nicht. 

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Es gibt nur die negative, indirekte Kontrolle durch die Gefahr spontaner Massenerhebungen, die, wenn sie eintreten, das totale Versagen der Herrschaft im Rahmen ihrer eigenen Maßstäbe signalisieren. Letzten Endes zeigen sie an, daß sich der politische Überbau im Teufelskreis der alten Arbeitsteilung festgefahren hat, deren konzentrierten Ausdruck er darstellt. 

Zweifellos erhält die Kritik des real existierenden Sozialismus durch die Provokation einer Staatsmacht, die sich in der bestehenden Arbeitsteilung festgesetzt hat, um sie zu konservieren, ihren stärksten Anstoß. Um aber konstruktiv zu werden, darf sie sich in diesem ausschlaggebenden Punkt keinesfalls auf die Denunziation beschränken. Bloße politische Veränderungen würden für sich allein überhaupt nichts an den Realitäten bessern, die die jetzige Ordnung erzeugt und ihre Abnutzung hervorgerufen haben. Wir müssen wissen, wie sich die herrschende gesellschaftliche Arbeitsteilung auf dem Niveau des modernen Industrialismus darstellt, das heißt, worin ihr Wesen besteht und wie sie sich reproduziert. Sonst beschränken wir uns am Ende darauf, nur die an sich illusorische Forderung zu wiederholen, jede Köchin solle lernen, den Staat zu regieren, wo sie es doch — als Köchin, falls sie dies auch bleiben soll — normalerweise einfach nicht lernen kann.

Denn was heißt es, den Staat zu regieren, wenn er primär (nach seiner archaischen Herkunft) und zuletzt (jenseits des Privateigentums an Produktions­bedingungen) den aktiven Überbau der Arbeitsteilung, die Form ihrer gesamtgesellschaftlichen Organisation, ihr sekundäres, in seiner Substanz geistiges, informationelles Modell darstellt? Selbst arbeitsteilig betrieben, spiegelt er in seinen verschiedenen Ebenen und Zweigen die Struktur des gesamten sozialen Reproduktionsprozesses wider. Später wird auch die technische Arbeitsteilung nach Wirtschaftszweigen und innerbetrieblichen Verrichtungen — d.h. das Verhältnis der Spezialisten untereinander, ihrer wechselseitigen horizontalen Disponibilität usw. — zum Problem werden. 

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Gegenwärtig geht es um die entscheidende vertikale Arbeitsteilung, um die Tendenz zur Polarisierung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters durch die Verdoppelung des materiellen Reproduktions­prozesses in einen stofflichenergetischen und einen ihm steuernd und regelnd übergeordneten informationellen Prozeß.

Die durch die Kybernetik aufgedeckte Struktur von Informationssystemen zur Regulation komplexer Zusammenhänge bzw. Systeme ist die Hierarchie von Regelkreisen. Das gedachte Ganze des geregelten mehrstufigen Prozesses — und die soziale Kooperation ist seit Beginn der Zivilisation ein mehrstufiges Unternehmen — kommt nur an der Spitze der informationellen Hierarchie zusammen, nur dort existiert formell (informell kann sich natürlich unter gegebenen Umständen mancher orientieren) ein integrales Bewußtsein des jeweiligen Vorgangs. 

Deshalb muß sich — wie ich hier im Vorgriff auf die Überlegungen im Dritten Teil feststellen möchte — die kommunistische Assoziation nicht allein außerhalb bzw. oberhalb der unmittelbaren Produktion, sie muß sich insgesamt an der Spitze der Pyramide konstituieren, die den Stoffwechsel mit der Natur und den sozialen Prozeß informationell vermittelt. 

Die Menschen der kommunistischen Gesellschaft werden Material bewegen und Informationen verarbeiten, auf welcher Koordinationsebene auch immer, wenn man einen bestimmten Zeitpunkt herausgreift. Worauf es ankommt, ist, daß sie sozial weder unter den Stoffwechsel mit der Natur noch unter die Informations­verarbeitung subsumiert sein werden. In dem Maße, wie sich das Eingreifen der lebendigen Arbeit immer mehr auf den informationellen Prozeß konzentriert, rückt diese zweite Subsumtion in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung.

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Die entscheidende Leitungsfunktion, die mit zunehmender Komplexität des Reproduktionsprozesses immer mehr zum zentralen Element innerhalb all dieser Regelkreise und primär des volkswirtschaftlichen Systems als Ganzem wird, ist die Planung. Wenn der Plan die nationale Wirtschaft oder für den Anfang wenigstens ihre sogenannten Kommandohöhen dirigiert, dann zeigt er in dieser Rolle die neuen Verhältnisse positiv als nichtkapitalistisch bzw. — falls keine traditionellen Ausbeuterinteressen maßgeblich mitkontrollieren — als proto-sozialistisch an. 

Der Plan ist absolut notwendig, sobald sich Entwicklungsrichtung, Wachstumstempo und Proportionalität der Produktion, was den gesamtgesellschaftlichen Maßstab betrifft, nicht mehr empirisch über den Marktmechanismus herstellen. Die Bedürfnisse der Gesellschaft, über die im Kapitalismus die zahlungs­fähige Nachfrage informiert, müssen nun in einen planmäßigen Bedarf übersetzt werden, wobei natürlich die begrenzten Mittel zu ihrer Befriedigung mitspielen.

Die eigentliche Planungsaufgabe scheint auf den ersten Blick die Matrizenrechnung zur Sicherung der Proportionalität in der insgesamt zu erzeugenden Masse von Gebrauchswerten (einschließlich Dienstleistungen im weitesten Sinne) zu sein, und in der Tat beansprucht diese Arbeit mit ihren Voraussetzungen in der Primärdatenerfassung (bzw. -erfindung) den Löwenanteil des Planungszeitaufwands auf allen Ebenen der Hierarchie. Es ist ein ungeheures Zahlenspiel, die Erzeugnis- und Leistungsstruktur zwei- bis dreimal jährlich (Planentwurf, Plan, präzisierter Plan, Plankorrekturen) für die zahllosen Positionen, in die sie aufgegliedert und unter die verschiedenen Wirtschaftszweige und -einheiten verteilt ist, »materiell« (d.h. nach Menge, z. B. Stückzahl), finanziell und zeitlich durchzurechnen sowie die Aufwände an Arbeitszeit, Maschinerie und Material dafür zu bilanzieren. Wissenschaftlich, wie sie es beansprucht, ist unsere Planung, wenigstens im Prinzip, genau hinsichtlich ihres methodischen Verfahrens zur Sicherung der Proportionalität. Man kann voraussetzen, daß »loyal«, nämlich mathematisch richtig gerechnet wird, bis in die zweite Stelle hinter dem Komma, in jenem buchhalterischen Geist, der unsere Ökonomie en detail so kleinkariert macht. 

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Mit den modernen Rechenmaschinen stellt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung auch hinsichtlich ihres Kraftaufwands ein prinzipiell lösbares Problem dar, sobald einmal die Phase der Anpassung an die elektronische Datenverarbeitung absolviert ist. Soweit scheint der Annäherung an den Weberschen Idealtypus unvoreingenommener und effektiver bürokratischer Leitungsorganisation, die das geheime Streben der »marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft« seligen Angedenkens war, nichts im Wege zu stehen. Wo aber hört die Wissenschaftlichkeit der Planung auf? Bei ihren Prämissen, also ehe sie beginnt. 

Diese Prämissen, ich meine die Prioritäten und Präferenzen, die in die Ausarbeitung eingehen, können gar nicht wissenschaftlich-objektiv bestimmt werden, solange es in einer Gesellschaft antagonistische Interessen gibt, wie sie mit der ungleichmäßigen Verteilung knapper Existenz- und Genußmittel sowie vor allem mit der ungleichmäßigen Verteilung von Bildung und Arbeit als Mitteln zur Selbstentwicklung und zur Aneignung der Kultur gegeben sind. Und der bürokratische Interessenausgleich von oben, dessen Hauptinstrument die Planung ist, kann zwar das Überschießen bestimmter partikulärer Interessen dämpfen, das »natürliche« Parallelogramm der Kräfte zeitweilig verzerren — Geltung verschafft sich die reale Differenzierung doch!

Vor allem aber liegt es im Wesen der hierarchischen gesamtstaatlichen Arbeitsorganisation, mit den Ebenen ihres eigenen Apparats einen alles durchdringenden neuen, vertikalen Aufbau von Interessengegensätzen zu schaffen. Er äußert sich nicht nur darin, daß jeder tieferen Ebene die administrativen Kompetenzen stärker beschnitten werden, als für ihr lebendiges Funktionieren gut ist, sondern er hat auch einschneidende ökonomische Konsequenzen. Jede höhere Ebene zieht die Mittel für ihre »Schwerpunktvorhaben« (siehe z.B. die DDR-hauptstädtische Repräsentation auf Kosten aller übrigen Bezirke) und sonstigen Bedürfnisse aus dem allgemeinen Fonds ab, ehe die Bilanzrunden beginnen, und programmiert so den Rotstift für die Nachgeordneten vor. 

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Die normalen Basiseinheiten, die ungeachtet dessen ihre Jahr um Jahr routinemäßig gesteigerten Pläne erfüllen müssen, haben Mühe, die einfache Werterhaltung zu decken. Eine Vielzahl von Kommunen und Betrieben wird einfach ökonomisch unfähig, elementare Reproduktionsbedürfnisse ihrer Bevölkerung bzw. Belegschaft auf dem normalen Standard zu befriedigen. Verschwendung und Knappheit der materiellen Ressourcen für den Plan gehen Hand in Hand. Im Dienstleistungs- und Versorgungssektor wird teilweise geradezu zivilisatorische Substanz geopfert bzw. wegrationalisiert. 

Da die Pläne insgesamt stets angespannt sind und die Proportionalität nur notdürftig sichern, erweisen sich die Schwerpunktvorhaben als sichere Mittel, das ökonomische Gleichgewicht des Gesamtprozesses zu stören und damit die Arbeitsbedingungen für die Masse der Werktätigen permanent zu belasten (z.B. mit für die Planerfüllung längst unerläßlichen Überstunden und Sonderschichten). Die Bedingungen der Planerfüllung werden der Basis — von deren auch nicht zur Ökonomisierung beitragendem Gegenspiel mit unaufgedeckten Reserven abgesehen — weit mehr zugeteilt als von ihr selbst beeinflußt. Der Ingenieur insbesondere, in seiner Eigenschaft als Techniker und Technologe, hat kaum Einfluß darauf, wird deshalb mehr auf die bürokratischen Kanäle der Entscheidung als auf die praktische Veränderung gelenkt.

Engels hat das Auftreten von Sonderinteressen, die sich in der Vertikale manifestieren, unmittelbar auf die Leitungs- und Organisationsprobleme unter der alten Arbeitsteilung zurückgeführt. »Die Gesellschaft«, schrieb er an Conrad Schmidt (MEW 37/490), »erzeugt gewisse gemeinsame Funktionen, deren sie nicht entraten kann. Die hierzu ernannten Leute bilden einen neuen Zweig der Teilung der Arbeit... Sie erhalten damit besondre Interessen auch gegenüber ihren Mandataren, sie verselbständigen sich ihnen gegenüber ...« — schon unter primitiven Zuständen. 

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Wieviel mehr muß das folgen, wenn es sich um den riesigen korporativen Verband zur Informationsverarbeitung handelt, der um die nationale Planungsarbeit von heute zusammengeschlossen wird. Nicht die Gesellschaft, die staatliche Bürokratie ist das Subjekt des Plans im real existierenden Sozialismus. 

Was für »besondre Interessen auch gegenüber ihren Mandataren« hat die planende Staats- und Wirtschaftsbürokratie, muß sie notwendig haben — und zwar gerade dann, wenn man von der Rivalität ihrer verschiedenen Ebenen und Zweige wie auch von der unberechtigten Aneignung bestimmter Vorteile durch die einzelnen Funktionäre absieht? Diese besonderen Gesamtinteressen der Bürokratie, in der Spitze des Apparats repräsentiert, sind nicht leicht zu erkennen, weil sie jeweils die Kehrseite der objektiven Erfordernisse darstellen, die die Existenz der Bürokratie als Planungssubjekt rechtfertigen. Sie hängen untrennbar mit diesen Erfordernissen zusammen, weil eben die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen die besondere Aufgabe der Planung ist. Es sind die Staatsinteressen nach der Seite ihres Unterschieds und Gegensatzes zu den gesellschaftlichen. Sie bestimmen grundlegend die Art und Weise, in der die gesellschaftlichen Interessen im Plan in Erscheinung treten und sind deshalb an den einzelnen Entscheidungen nur auszumachen, wenn man nach ihren unausgesprochenen Prämissen fragt; der Teufel steckt hier meistens nicht im Detail.

Insbesondere in der gesamtvolkswirtschaftlichen Dimension segeln die bürokratischen Interessenformeln leicht unerkannt unter der Flagge des Gemeininteresses. Sehen wir sie uns etwas näher an!

Verlangt die Hebung des Volkswohlstandes etwa nicht auf lange Sicht eine möglichst hohe Akkumulationsrate, einen möglichst großen Zuwachs zum Nationaleinkommen? Die Akkumulation von Mehrprodukt ist die progressive ökonomische Funktion, bisher. 

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Aber zugleich ist der Zuwachs die eigentliche Domäne der zentralen Verfügungsgewalt, das Instrument und der Ausweis ihrer Wirtschaftspolitik, bei der es nicht nur um Ausbalancierung der Proportionalität, sondern auch um den Genuß, den Ausbau und die Sicherung der eigenen Macht nach innen und außen geht. Extrazuwachs läßt sich stets besonders leicht für größere Bequemlichkeit des Regierens und der Regierer verwenden. Die Politik des maximalen Produktionsausstoßes, die unter wechselnden Namen immer weiter fortgesetzt wird, wirkt überdies als Quelle unrationeller Gesamtverausgabung von lebendiger und vergegenständlichter Arbeit. 

Ist die Konzentration der Investitionen auf Schwerpunktvorhaben nicht wirklich besser als ihre Zersplitterung auf viele kleinere Objekte? Diese Frage kann man schon nicht mehr ohne weiteres beantworten, weil es nicht zuletzt auch darum geht, auf welche Objekte konzentriert wird und welche Bereiche vernachlässigt werden. Man kann z. B. die PKW-Produktion für den privaten und bürokratischen Bedarf vorantreiben, man kann aber auch das Verkehrswesen und überhaupt die Infrastruktur rekonstruieren. Doch überall, wo der Einsatz zu langsam, nicht sichtlich genug oder überhaupt nicht als Warenproduktion zurückfließt, wird erst ernsthaft investiert, wenn die Disproportionen bereits auffällig geworden sind. Viel Konzentration von Mitteln wird überhaupt erst notwendig, weil zu viele Schwerpunktvorhaben jeweils zu viele heue Schwerpunkte nach sich ziehen. Bei der Realisierung, die sich meist verteuert, während der Effekt hinter den Vorberechnungen zurückbleibt, schneiden die Investitionen häufig noch tiefer in den laufenden Reproduktionsprozeß ein, als ohnehin schon geplant, zumal die Termineinhaltung fast immer zusätzliche Kapazitäten beansprucht, die anderswo abgezogen werden.

Wer würde sich gegen ein reibungsloses, störungsfreies Funktionieren des gesamten Reproduktionsprozesses und gegen seine Voraussetzung, die absolute Plantreue der volkswirtschaftlichen Partner, wenden?

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Es handelt sich nur darum, daß der Plan keine Reserven vorsieht, um Störungen abzufangen. Während es oft zweckmäßig wäre, den Planablauf zugunsten der Rationalisierung zu »stören«, wird vielmehr die Rationalisierung gestört, um den Produktionsplan zu retten. Es ist nicht einmal immer die volkswirtschaftliche Notwendigkeit, oft ist es bloß der bürokratische Formalismus, der dann die wertmäßige Planerfüllung um jeden Preis verlangt, unter Hintansetzung des Sortiments, also der Gebrauchswertstruktur, und der Kosten. Die Plandisziplin wird zum Selbstzweck, als Mittel zur Unterwerfung unter die hierarchische Rangordnung. 

Kann man ohne lückenlose, zuverlässige, termintreue Berichterstattung von unten nach oben real planen, steuern und kontrollieren? Der Apparat bemüht sich um eine Ethik der Informationsabgabe! Doch angesichts des Interessenkampfes um das Verhältnis zwischen Planauflage und Reserven und um die Investitionen nimmt der zentrale Bedarf an Kontrollinformationen gegen die Basis ständig zu. Wieviel Arbeit wird vergeudet, weil die Gesellschaft noch antagonistisch funktioniert! Der Informationsfluß, den eine zentrale Institution mit der gesamten Matrix ihrer Strukturelemente in Gang setzt, erreicht an dem nachgeordneten Einzelleiter vorbei meist unmittelbar dessen sämtliche Unterfunktionäre. Die Funktionalorgane an der Basis wissen ihre Auflage längst vom übergeordneten wirtschaftsleitenden Organ, ehe sie sie von der Leitung ihrer eigenen Einheit erfahren können. Mit den Jahren gewinnt dieses Verfahren an nachträglicher Rationalität, weil sich die formell verantwortlichen Leitungen nicht mehr für die Proportionalität ihres eigenen Kräfteeinsatzes verantwortlich zu fühlen brauchen. Die Überdetermination der Basis, die Orientierung der unteren Funktionäre auf bürokratisch« Disziplin statt auf industriellen und ökonomischen Erfolg bewirkt natürlich das Gegenteil von Intensivierung. 

Liegt es schließlich nicht auf der Hand, daß man den Apparat, von dem so oder so alles abhängt, angesichts seiner spürbaren Mängel unablässig qualifizieren, verfeinern, perfektionieren muß? 

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Aber dieses Bestreben bringt nicht zuletzt das Interesse der Bürokratie an ihrer Existenz, Erhaltung und Ausdehnung zum Ausdruck und mündet in das unaufhaltsame Wachstum des Apparats, das einen sehr großen Teil des Produktivitätszuwachses auffrißt. Die Binnengesetzlichkeiten des sozialen Lebens im Apparat erlangen immer größeren Einfluß auf die Definition der gesellschaftlichen Interessen; das sogenannte ökonomische Grundgesetz des Sozialismus ist da ein weiter Mantel, unter dem sich viel verstecken läßt. Die »Rolle des Staates« wächst wirklich ganz offenbar: Es gibt kein Gebiet, auf dem der real existierende Sozialismus größere Fortschritte gemacht hätte als in der Breite, Tiefe und Vielfältigkeit des Bürokratisierungsprozesses.

Wie man aus alledem sieht, ist der Subjektivismus die notwendige Begleiterscheinung einer der Form nach wissenschaftlichen Planung, die auf dem diktierten Interessenausgleich von oben beruht. Das Zentrum, das jeden authentischen Ausdruck der verschiedenen besonderen Interessen, die sich in der Gesellschaft überkreuzen, verhindert, kann die Integration nur ersatzweise in einem Akt vollziehen, der den realen Interessengruppen äußerlich und nicht ihre eigene Tat ist. Und es kann dabei nur seine eigenen besonderen Interessen zugrunde legen. Es sind also zwei Quellen des Subjektivismus, die sich in den Entscheidungen überdecken: die eigenen Sonderinteressen, von denen das Zentrum ausgeht, und die mangelnde Kenntnis der gesellschaftlichen Bedürfnisse, die es strukturell bedingt nicht in adäquater Form rezipieren kann. 

(Der letztgenannte Mangel hat seinen Ausdruck in einer Institution gefunden, die den langen Weg der Erkenntnis über den trägen hierarchischen Apparat kompensieren und den kurzen Weg über einen Interessenaustrag im öffentlichen Leben ersparen soll: Partei und Regierung wollen über dieselbe Umfragesoziologie, die sich im Westen als Verstärker der herrschenden Ideologieproduktion erwiesen hat, erfahren, was die Gesellschaft wünscht, wo den unvermeidlichen »kleinen Mann« der Schuh drückt. 

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Im Apparat des Zentralkomitees selbst hat man ein Institut für Meinungsforschung eingerichtet. Handfester läßt sich kaum dokumentieren, daß in Wirklichkeit gar keine Partei funktioniert, sondern bloß ein Apparat über einer verwalteten Mitgliederschaft. Das bescheidenste Minimum an echter kommunistischer Aktivität und demokratischem gesellschaftlichem Leben würde diese in ihrem Ansatz kümmerlichen Forschungen überflüssig machen, samt den Panzerschränken, in denen man ihre Ergebnisse verschwinden läßt.)

Jede protosozialistische Gesellschaft hat zahlreiche Beispiele dafür erlebt, daß ökonomische Entscheidungen — manchmal sogar ohne ausreichende rationale Verhüllung — »subjektivistisch« getroffen wurden (wie seit der Palastrevolution gegen Chruschtschow der offizielle Fachausdruck für die Unterordnung , ökonomischer Bedürfnisse der Gesellschaft unter die Sonderinteressen miteinander rivalisierender bürokratischer Gruppierungen lautet). Bis hinunter zur Ebene der einzelnen Industriezweige, ja Betriebe kommt es immer wieder zu Situationen, in denen »Geld keine Rolle mehr spielt«, um einen Fehler auszubügeln oder seine Aufdeckung so lange hinauszuschieben, bis die Verantwortlichkeit schlechterdings nicht mehr lokalisierbar ist, oder um den Termin für irgendein modernes Potemkinsches Dorf zu halten. Die Gesellschaft hat in dieser Beziehung allen Grund zu dem Verdacht, daß das bürokratische »System der organisierten Verantwortungslosigkeit« (eine ausgezeichnete begriffliche Prägung von Andras Hegedüs) sie ebenso teuer zu stehen kommt wie die kapitalistische Anarchie. 

Der Apparat schaltet und waltet mit dem von den werktätigen Massen erarbeiteten Mehrprodukt in einer Weise, daß man angesichts offenbarer Verschleuderung von Volkseinkommen in den verschiedenen Rängen immer wieder die zynische Rechtfertigung hören kann, man wüßte Fälle, in denen »ganz andere Summen über den Jordan gegangen« sind. Die Verblendung geht manchmal so weit, einen eigenen Stolz darauf zu entwickeln, »daß die sozialistische Wirtschaft trotzdem nicht zusammenbricht«. 

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Jedoch sind es nur im sensationellen Fall die »subjektivistischen« Extratouren, die offenbaren Mißbräuche der bürokratischen Autorität, die die Verluste verursachen. Ein solches Versagen der Bürokratie wie in Polen Ende 1970 ist die ständige Gefahr, die dem System eingeschrieben ist. Der offizielle Kampf gegen den »Subjektivismus« ist gerade deshalb eine ständige Notwendigkeit, einfach eine Frage der Selbsterhaltung an der Macht, und damit durchaus ernstgemeint. Wenn man es allzu oft strapazieren muß, verschleißt das Muster des Sündenbocks, und eines Tages könnte selbst das geduldige Sowjetvolk auf den Gedanken kommen, daß es nicht an seinen Landwirtschaftsministern und an deren Rang im Politbüro liegt, ob die Erträge steigen oder fallen. Es liegt nicht am schlechten Willen der Spitze, sondern an der Untauglichkeit des bürokratischen Prinzips, wenn die Wirtschaft mit wachsendem Umfang und wachsender Differenzierbarkeit der Akkumulation eine Tendenz zur Stagnation aufweist. 

Angesichts der Hegelschen Sorge um »Sicherung des Staates und der Regierten gegen den Mißbrauch der Gewalt von Seiten der Behörden«, bei der der hierarchische Aufbau selbst eines der Korrektive sein sollte, bemerkte Marx sarkastisch: »... als wenn nicht die Hierarchie der Hauptmißbrauch wäre und die paar persönlichen Sünden der Beamten gar nicht mit ihren notwendigen hierarchischen Sünden zu vergleichen wären; die Hierarchie straft den Beamten, insoweit er gegen die Hierarchie sündigt oder eine der Hierarchie überflüssige Sünde begeht; aber sie nimmt ihn in Schutz, sobald die Hierarchie in ihm sündigt; zudem überzeugt sich die Hierarchie schwer von den Sünden ihrer Glieder ... Wo ist nun der Schutz gegen die >Hierarchie<? Das kleinere Übel wird durch das größere allerdings insofern aufgehoben, als es dagegen verschwindet« (MEW 1/255). 

Der Kampf für eine saubere Verwaltung wird natürlich trotzdem seine Bedeutung haben, und um so dringlicher sein, je mehr asiatische Tradition ein Land vor der Revolution hatte. Aber in den industriell fortgeschrittenen Ländern, wo es meist auch ein tradiertes, gegen Beamtenkorruption gerichtetes Ethos gibt, muß der allgemeinere Blick von den kleinen Sünden der Glieder ab auf die großen Sünden gelenkt werden, die mit der Existenz von außen unkontrollierter Bürokratie gegeben sind.

Insgesamt gesehen kommt man zu dem Schluß, daß der institutionelle Überbau unserer Länder in seiner Konkurrenz mit dem gegnerischen staatsmonopolistischen Establishment deshalb ungenügend spezifische sozial-ökonomische Ziele verfolgt, weil er der protosozialistischen Gesellschaft korporativ gegenübersteht. Hier wie dort geht es um »ökonomisches Wachstum«, d.h. um die Vermehrung des verfügbaren Mehrprodukts als Ausweis und Sozialversicherung der eigenen Herrschaftsfähigkeit. 

Selbstverständlich fällt dabei auf der heutigen Stufenleiter des Industrialismus für die Massen etwas ab, womit sie ihre prolongierte Subalternität quantitativ kompensieren können. Der Konsum der materiellen Güter rollt hüben und drüben mit, historisch gesehen, relativ kurzer Phasenverschiebung. Die herrschenden Parteien im real existierenden Sozialismus sind infolge der ursprünglichen Unterentwicklung der meisten zugehörigen Länder gewiß noch immer dort »am sozialistischsten«, wo sie die Produktivkräfte wenigstens quantitativ und günstigstenfalls auch strukturell vorantreiben. 

Aber das hat keine langfristige Perspektive mehr, und die menschliche Emanzipation bleibt weit hinter den durch die materiell-technischen Mittel gegebenen Möglichkeiten zurück. Es verhält sich eigentlich genau so, wie Marx stets unterstellt hat: daß der Sozialismus als materielle Bewegung nur synchron mit der Aufhebung der alten Arbeitsteilung fortschreiten kann. Er kann nur die Praxis der Produzenten (und Konsumenten), nicht einer von ihnen abgesonderten politischen Führung sein.

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus