Start       Vortrag I-IV      Weiter

Sechs Vorträge über das Buch Die Alternative

 Von Rudolf Bahro      V      VI   

 

  IV 

32-55

Weshalb und wozu braucht man in den Ländern des real existierenden Sozialismus eine neue Kommunistische Partei, einen neuen Bund der Kommunisten? Dazu muß man zuerst wissen, worin eigentlich die führende Rolle der gegenwärtig herrschenden Parteien besteht, wodurch es dazu gekommen ist, daß sie den emanzipatorischen Interessen direkt entgegenstehen.

Der Kern der Sache besteht in ihrer eigenen Bürokratisierung, die sie unfähig macht, sich von der Staatsmaschine, vom Etatismus zu distanzieren. Es gab noch nie eine Herrschaft, deren maßgebliche Repräsentanten sich wie bei uns ausgerechnet »Büromitglieder« und »Sekretäre« nannten. An diesen Bezeichnungen allein ließe sich schon die Überwältigung des lebendigen Parteikörpers durch seine Bürokratie ablesen.

In der »wachsenden Rolle des Staates«, wie man das nennt, feiert der Parteiapparat vor allem die Bedingung seiner eigenen und unendlichen Reproduktion. Es ist gerade die gegebene Existenzform der Partei selbst (nicht so sehr des Staates), die die Staatsvergottung notwendig macht. In den Parteiinstanzen bis hinauf zum ZK-Apparat, der in Wirklichkeit nur die ausgebreitete Totalität der Politbürofunktionen ist, findet man alle Zweige und Ebenen der staatlichen und sonstigen Bürokratie in komprimierter Form verdoppelt, ebenso wie zuvor schon ausnahmslos alle Zweige des gesellschaftlichen Lebens in der Apparatur der Regierung und der offiziellen »gesellschaftlichen Organisationen« verdoppelt sind. 

Zur Erklärung des Parteiapparats muß man an die Entstehung unserer Verhältnisse erinnern. Die Leninsche Konzeption für den Mechanismus der proletarischen Diktatur hatte mit der Aktivität der Massen gerechnet. Die Übertragung, die sogenannte Transmission der Parteienergie, sollte nicht primär repressiv über den Staat, sondern erzieherisch über die Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Organisationen erfolgen. Die Gewerkschaften insbesondere sollten nicht nur Schulen des Sozialismus, sondern zugleich auch Kampfinstrumente gegen die bürokratische Entartung der Staatsmacht sein. Sie wurden aber weder das eine noch das andere. Ihre Rolle leidet an einer derartigen Dystrophie, daß es schon für die Staatsmaschine selbst ein Verhängnis ist, wie z. B. die polnische Szene seit 1970 immer wieder zeigt.

Die wirkliche Transmission wurde noch zu Lenins Lebzeiten der Staatsapparat. Und nun ergibt sich natürlich angesichts des Fehlens mächtiger Korrektive von unten die Frage, wie die Partei die Staatsmaschine kontrollieren soll, damit es nicht zu ihrer Degeneration im Selbstlauf der bürokratischen Routine und Korruption kommt. Die Lösung nun bestand im Aufbau einer weiteren, dem Staatsapparat übergeordneten Bürokratie als Parteiapparat. An der Spitze steht in Gestalt des Politbüros eine Institution, die sich de facto selbst beruft. Wer neu in diese Führung aufgenommen werden soll, entscheiden diejenigen, die schon drin sind, und auch sie nicht alle. Diese »Kommunisten« gehen so weit, ein eigenes Protokoll für ihre interne Sitzordnung nach Rangabstufungen vorzusehen.

Die Diktatur des Politbüros ist eine verhängnisvolle Übersteigerung des bürokratischen Prinzips, weil der ihm gehorchende Parteiapparat sozusagen Kirchen­hierarchie und Überstaat in einem ist. Die ganze Struktur ist quasi-theokratisch. Denn die Essenz der politischen Gewalt — ich spreche hier gar nicht von ihren hypertrophierten Vollzugs- und Polizeiorganen — ist die geistliche Gewalt, mit der ständigen Tendenz zur Inquisition, so daß die Partei schon selbst die eigentliche politische Polizei ist.

Der Parteiapparat als Kern der Staatsmacht bedeutet den säkularisierten Gottesstaat. Nie waren, seit die Theokratien der Frühzeit niedergingen, weltliche und geistliche Autorität derart in einer Hand vereint. In dieser institutionellen Identität von Staatsautorität, ökonomischer Verfügungsgewalt und ideologischem Ausschließlichkeitsanspruch sowie in der daraus sich herleitenden Unkontrollierbarkeit der Politbüros und ihrer bis an die Basis reichenden Apparate besteht das politökonomische Frontproblem im real existierenden Sozialismus. Das ist der gordische Knoten, der zuerst zerhauen werden muß.

Der Apparat ist — weit über die individuelle Borniertheit seiner maßgebenden Leute hinaus — blind gegen alle Reaktion der Gesellschaft auf seine eigene lastende Existenz. Die heutige Parteiorganisation ist eine Struktur, die nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für sich selbst aktiv massenhaft falsches Bewußtsein produziert. Sie sollte die soziale Struktur zur Entfaltung des gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses sein, ein System, an dem alle denkenden Elemente des Volkes Anteil nehmen können. Statt dessen schiebt sich die von ihr verbreitete Ideologie wie eine verfärbte, systematisch mit Dunkelfeldern durchsetzte Zerrlinse zwischen das gesellschaftliche Denken und die Wirklichkeit. 

33


Die Massen, die nicht darüber unterrichtet sein können, wie diese Linse gewachsen und konstruiert ist, wie sie eingestellt und gedreht wird, was sie abblendet, welche systematischen Fehler sie verursacht, können nur darauf verzichten, dieses Instrument zu benutzen. Und sie tun es auch: sie »schalten ab«, noch ehe die offiziellen Gebetmühlen den ersten Satz geklappert haben. 

Aber die Tragödie besteht darin, daß sie dann überhaupt auf differenzierte Erkenntnis verzichten müssen, weil die Gesellschaft keine alternative Struktur dafür besitzt. Schlimmer noch: die Theorie, die am besten geeignet ist, den Dschungel des bürokratischen Zentralismus und sein politbürokratisches Allerheiligstes zu durchdringen, der revolutionäre Marxismus, ist infolge der totalen Verfügungsgewalt des Apparats über die Massenkommunikationsmittel und das Erziehungswesen noch immer so effektiv von der Parteibürokratie usurpiert, daß ihn das allgegenwärtige Mißtrauen der Massen mitbetrifft. In welchen Varianten er auch immer auftritt, die Menschen haben den Verdacht, er sei doch eigens dazu geschaffen worden, die jetzige Parteiherrschaft zu begründen. Inquisitorisch allmächtig, wird die Partei zugleich in zunehmendem Umfang buchstäblich verachtet für etwas, was man in früheren Zeiten geistliche Ohnmacht genannt hätte. Und in das hochprozentige Vakuum, das so entstanden ist, schießt natürlich die ideologische Massenproduktion des Westens ein, wo immer dessen Übermittlungstechnik hinreicht. 

So hat die Monopolisierung aller politischen, ökonomischen und geistigen Entscheidungsmacht zu einem unüberwindlichen Widerspruch zwischen dem sozialen Auftrag der Partei und ihrer politischorganisatorischen Existenzform geführt. Ihre innere Verfassung und ihre führende Rolle als Überstaatsapparat bilden heute das entscheidende Entwicklungshemmnis auf dem Wege zur weiteren Emanzipation des Menschen in unserem System. Die Partei zerstört die Idee, in deren Namen sie angetreten war. Sie zerstört die Kontinuität der kommunistischen Bewegung in den Individuen, die sie tragen sollen.

Schon durch sein bloßes physisches Dasein, ohne jede speziellere Perfidie, ist der heutige Parteiapparat der Totengräber der Parteiidee und der individuellen Parteigesinnung. Er macht gerade jene Menschen, die aus Überzeugung und Charakter Kommunisten sind, als Parteimitglieder überflüssig. Mehr noch: wenn es nicht gelingt, sie zu Bürokraten zu machen, in den Apparat zu integrieren, können sie das normale, völlig veräußerlichte »Parteileben« nur stören und die Stabilität gefährden, so daß es logisch ist, die Maschinerie gegen sie in Alarmbereitschaft zu versetzen. 

34


Die Kommunisten sind in einer solchen Partei gegen sich selbst und gegen das Volk organisiert. Es bedarf keiner weiteren Analysen, um zu beweisen, daß dieser Parteityp in den entwickelten Ländern des real existierenden Sozialismus historisch überfällig ist und also liquidiert werden muß. Auf seinen Trümmern muß, mit wesentlich anderer Funktion, eine neue Organisation geschaffen werden, die man am besten einen Bund der Kommunisten nennen sollte.

Wenn ich auf diese Weise sage: »Die Kommunistische Partei ist tot, es lebe die Kommunistische Partei!« — so beziehe ich mich nicht auf irgendeine metaphysische Notwendigkeit, so als müßte es sie immer und unter allen Umständen geben. Vielmehr hat die Partei eine ganz konkrete Aufgabe als Werkzeug sozialer Veränderung, und dies in einer ganz bestimmten Situation. Auch, daß ich von einer einzigen Partei spreche, daß ich eine neue gegen die alte setze, hat hierin seinen jedenfalls durchdachten Grund.

Ich habe gezeigt, daß solange, wie die alte Arbeitsteilung nicht bis in ihre letzten Verwurzelungen in den Individuen überwunden ist, notwendig ein Widerspruch zwischen den emanzipatorischen Bedürfnissen der Menschen und dem Apparat besteht, den sie zur Regulierung ihrer Existenzbedingungen benötigen. Denn solange ist dieser Apparat Staat eine wesentlich repressive Maschinerie. Aus nichts anderem als aus der Existenz dieses Widerspruchs begründet sich die historische Notwendigkeit einer Kommunistischen Partei in der protosozialistischen Gesellschaft. Die Partei hat da kein grundsätzlicheres Thema als die Beziehung von Gesellschaft und Staat, als die Perspektive der Zurücknahme des Staats in die Gesellschaft. 

Nach meiner Ansicht hängt die in allen Varianten des nichtkapitalistischen Weges zu beobachtende Tendenz zur Einheitspartei mit der Eigenart dieser Sozialstruktur und speziell mit ihrem dominierenden Problem, dieser Beziehung von Gesellschaft und Staat, zusammen.

Ist die gesamtgesellschaftliche Organisation einmal durchgängig als ein staatliches System verwirklicht, so bleibt einfach kein notwendiger Ansatz für eine Parteienvielfalt mehr — es wäre denn der schmale und beschränkte der besonderen Interessen in ihrem Unterschied und Gegensatz zu den (wie auch immer zunächst noch entfremdeten) allgemeinen. Die besonderen Interessen müssen anders als in Gestalt politischer Parteien zu ihrem vollen Recht und zuvor natürlich zu ihrer uneingeschränkten Artikulation kommen, u. a. zum Beispiel durch souveräne Gewerkschaften.

35


Jedoch kann die sozusagen idealtypisch von den nichtkapitalistischen Verhältnissen vorgeschriebene Einheit (Einheit) der Partei nur als ein dialektischer Prozeß verstanden werden. Vergißt die Partei nach der Revolution, daß es der Überbau einer einstweilen noch nicht oder kaum veränderten Gesellschaft ist, in dem sie nun sitzt, ein Überbau, der unbedingt als provisorische Larve der neuen Ordnung zu begreifen und zu transzendieren ist, — vergißt sie das, dann kann sie nicht einig bleiben, dann muß sie gespalten werden. 

Gelänge es ihr dagegen, sich so zu organisieren, daß sie die rechtzeitige und sukzessive Neuanpassung der Institutionen auslösen und führen kann, dann bliebe die Dialektik von Einheit-Spaltung-Einheit latent, dann bliebe die Kontinuität der einen Partei gewahrt, wenn auch nie die völlige Kontinuität ihres maßgeblichen Personals. 

Doch dazu müßte klar sein, daß es wirklich um die Ablösung einer politischen Verfassung durch eine andere als Hebel der weiteren ökonomischen Umwälzung geht, nicht um Reförmchen und »Strukturveränderungen« an der einen oder anderen einzelnen Institution. Die Gesellschaft kann nicht allzulange auf diese Entscheidung warten. Eben weil es vom Standpunkt der fortschreitenden allgemeinen Emanzipation unter den Bedingungen gesamtgesellschaftlicher Organisation eine Partei sein soll, muß die bestehende Partei gesprengt, gespalten werden, sobald sie vor ihrer Hauptaufgabe versagt, die alte Arbeitsteilung und damit die Voraussetzungen des Staats, des etatistisch-bürokratischen Syndroms, abzubauen.

Die oppositionelle Gruppierung, die sich unter solchen Umständen schon spontan herausbilden muß, strebt nicht etwa danach, zweite Partei neben der alten zu werden, oder, genauer gesagt, zu bleiben. Vielmehr kann sie subjektiv und objektiv gar keine andere Absicht haben, als die Einheit auf der Grundlage eines erneuerten Programms und einer erneuerten inneren Verfassung wiederherzustellen. Die Spaltung ist vorübergehendes Moment des historischen Prozesses. Sie richtet sich nicht gegen die Idee der Partei, sondern gegen ihren Apparat, gegen ihre Verfallenheit an den Staat, die im Parteiapparat verkörpert ist. Die Gesellschaft soll wieder eine Führung haben, die nicht im Apparat steht. Die Führer müssen in der Gesellschaft leben und ihren Arbeitsalltag teilen. 

Hat die Partei in der ersten Phase des real existierenden Sozialismus — bis zu einem gewissen Punkt erfolgreich — mit Hilfe des Staates, des Apparates, die Gesellschaft revolutioniert, so kommt es jetzt darauf an, mit der Gesellschaft, gestützt auf das in ihr angesammelte überschüssige Bewußtsein, den Staat, den Apparat neu einzuordnen. Wenn die von unten unkontrollierte Bürokratie die Ursache dafür ist, daß die Partei bisher die Rolle des Überstaatsapparats spielt, dann gibt es nur diese einzige Lösung: 

36


Sie selbst muß die Kontrolle der gesellschaftlichen Kräfte über die Bürokratie, über die Staatsmaschine in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Sie muß diese Kräfte so formieren, daß sie dem Apparat massiv als autonome Mächte gegenübertreten und ihn zu progressiven Kompromissen zwingen können. Dies erfordert, den Kommunismus als Massenbewegung zu organisieren.

Im Prinzip bedeutet es eine Spaltung der gesellschaftlichen Macht, die Installierung einer progressiven Dialektik von Staat und gesellschaftlichen Kräften. Die Kommunisten müssen den Widerspruch in den Regierungsapparat selbst hineintragen. Das Ergebnis wird eine Situation geregelter Doppelherrschaft sein, in der die etatistische Seite allmählich an Gewicht verliert. Verharren im Etatismus oder vorwärts in die Kulturrevolution — das ist die Alternative. Was die Partei erreichen muß, um sich in dieser Situation zu bewähren, das ist die ideologische Hegemonie, die sie in ihrer bisherigen Verfassung niemals wieder erlangen wird. Dazu muß sie sich selbst statt als Überstaatsapparat als der kollektive Intellektuelle organisieren, der die Bewußtheit der ganzen Gesellschaft über ihre Entwicklungsprobleme vermittelt.

Der Begriff des kollektiven Intellektuellen ist ein Vermächtnis Antonio Gramscis, des Begründers der italienischen Kommunistischen Partei, den die Faschisten bis an den Tod in ihren Gefängnissen hielten. Gramsci ging davon aus, daß die ideologische Autorität der Partei direkt von der Qualität ihrer intellektuellen Produktion abhängt, von der Fassungs- und Mobilisierungskraft des Modells, in dem sie die soziale Wirklichkeit widerspiegelt und die Richtung ihrer Veränderung vorzeichnet.

Dementsprechend muß der Bund der Kommunisten wesentlich anders organisiert sein als die Partei bisher. Die organisatorische Struktur muß sich nach dem Charakter der hauptsächlichen Tätigkeit richten. Erfolgreiche Erkenntnisarbeit erfordert den Zugang aller Beteiligten zur Gesamtheit der bedeutsamen Informationen, die »horizontale«, nichthierarchische Koordinierung der Untersuchungen aufgrund von Eigenaktivität der Interessierten, die Zulassung von Hypothesen, die den gewohnten Vorstellungsrahmen sprengen, die freie Diskussion der verschiedenen Interpretationen ohne Bewertung durch irgendwelche beamteten Instanzen, die »bestätigen oder nicht bestätigen« können.

37


Soll die Organisation der Kommunisten auf diese Weise der Vergesellschaftung der politischen Einsicht und Entscheidungsfähigkeit dienen, so ist die erste Bedingung eine für alle authentischen Kräfte einer tendenziell nichtantagonistischen Gesellschaft offene Parteiverfassung. Jedes ausschließende Sektierertum, jede Machtgeheimniskrämerei hinter verschlossenen Polstertüren hindert die Heranziehung aller lebendigen, produktiven Elemente der Arbeit und der Kultur.

Wenn die Aufgabe, die Subalternität zu liquidieren, richtig gestellt ist, muß man sich innerhalb der Partei unbedingt von der Glorifizierung der sogenannten proletarischen Disziplin lösen, die Lenin von Kautsky übernahm, weil sie auf die russischen Realitäten paßte. Was Lenin seinerzeit hervorhob, war die militärische Organisierbarkeit, die Bereitschaft der Arbeitermassen, sich einem Kommando zu fügen, sich der überlegenen Übersicht und Denkkraft eines politischen Generalstabs unterzuordnen. Lenin verwischte den Gegensatz zwischen Fabrik- und Parteidisziplin, wie ihn Rosa Luxemburg um die gleiche Zeit herausarbeitete.

Selbstverständlich erfordert eine effektive Organisation auch heute einen Apparat und eine Disziplin, nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Partei. Aber die Kommunisten müssen in ihrer Organisation das Kräfteverhältnis zwischen der Ebene der Diskussion und Entscheidung über Werte und Ziele, Wege und Mittel der Politik einerseits und der Sphäre des Apparats für die Durchführung andererseits umstürzen.

Der Prozeß, in dem die Staatsmaschine in ein dienendes, verwaltendes Werkzeug verwandelt wird, kann überhaupt nur in Gang kommen, wenn er innerhalb der Partei seinen Anfang nimmt, wenn die Herrschaft der Sekretäre und Sekretariate über die Partei gebrochen wird. Die Kommunisten müssen ihre Politik von jeglichem bestimmendem Einfluß eines Parteiapparats befreien und ihre kollektive Souveränität über ihn herstellen. Und jeder Kommunist muß die Möglichkeit haben, notfalls aus seiner Rolle als diszipliniertes Mitglied herauszutreten und eine Gewissensentscheidung zu treffen. Faßt man dies alles zusammen, so kann man sagen, die Partei muß ihre alte institutionelle Existenz an ihre geistige Erneuerung wagen. Ich will in ein paar Antithesen komprimieren, was den Bund der Kommunisten heute kennzeichnen würde. 

Er hätte zu sein:

38/39

Die Hauptfunktion dieses Kommunistischen Bundes wird darin bestehen, die Gesellschaft so in die Kulturrevolution hineinzuführen, daß sie eine planmäßige und dennoch nicht aufgezwungene, also eine von überwiegend positiven Bedürfnissen getragene praktische Veränderung durchmacht.

 

    

    V  

 

Wenn es nach allem bisher Gesagten ein breites emanzipatorisches Interesse in der realsozialistischen Gesellschaft gibt, und wenn es denkbar erscheint, dieses Interesse politisch zu organisieren in Gestalt eines neuen Bundes der Kommunisten, dann rückt in den Mittelpunkt die Frage nach einer ökonomischen Strategie der allgemeinen Emanzipation, nach einem Aktionsprogramm der Kulturrevolution.

Es bedarf mehr als einer politischen Revolution, es bedarf einer tiefgreifenden ökonomischen Alternative, um die Quellen von Subalternität und Entfremdung zu verstopfen. Die ökonomische Alternative muß damit rechnen, daß sich die bestehenden Verhältnisse weitgehend in den Gewohnheiten der Massen niedergeschlagen haben. Das heißt, sie muß vor allem dem Andrang der kompensatorischen Bedürfnisse konzeptionell gerüstet entgegensehen, damit diese den Übergang in den emanzipatorischen Prozeß nicht blockieren können.

39


Der Marxismus lamentiert nicht über die vorgefundene Bequemlichkeit und Knechtseligkeit der Menschen, über ihren scheinbaren oder mitunter auch tatsächlichen Unwillen zur Freiheit. Er plädiert für die aktive, prometheische Solidarität mit den am meisten Unterdrückten, für die Konzentration der Kräfte auf das Aufholen der weniger entwickelten, benachteiligten, zukurzkommenden Schichten und Gruppen. Denn es ist klar; wenn die Entfaltungsbedingungen der freien Individualität — und das sind recht genau konstatierbare Realien des ökonomischen und politischen Prozesses — nicht für alle geschaffen werden, muß alle Emanzipation halb bleiben und alsbald von neuem unwahr werden.

Das bedeutet also ein gewissermaßen zweistufiges Programm. Ehe man sich der Zielvorstellung zuwendet, also der Frage, wie eine Gesellschaft organisiert sein muß, die die freie Entwicklung eines jeden ihrer Mitglieder sichern will, muß man sich in der praktischen Politik auf die Vorbedingung für den Aufbruch dorthin konzentrieren und die ganze Strategie als einen Entwurf des Weges entwickeln. Dann lautet das erste Problem: Wie kann man die kompensatorischen Interessen neutralisieren, die die Menschen an die bestehende Form der Zivilisation binden?

Die Richtung der Lösung hängt natürlich von der Zielvorstellung ab; die beiden Stufen der Kulturrevolution können nicht einfach mechanisch nacheinander ablaufen. Der Kurs auf einen neuen Gesamttypus der ökonomischen Reproduktion ist nicht nur, wie bereits gesagt, wegen der Umwelt- und Ressourcenkrise erforderlich, sondern nicht zuletzt auch, um den Antrieb für das Streben nach Ersatzbefriedigungen zu entspannen. Die Wachstumskonkurrenz forciert die Ungleichheit im materiellen Lebensstandard der Menschen und Völker, und damit die kompensatorischen Bedürfnisse. Je mehr produziert wird, desto mehr muß erjagt, besessen und verbraucht werden, desto mehr psychische Energie wird in abstrakter Arbeit und kompensatorischen Genüssen gebunden und bleibt den emanzipatorischen Kräften entzogen. Die materielle Unersättlichkeit kostet uns die Freiheit der höheren Entwicklung, unterwirft uns Regulationen, die auf Zwang beruhen, erzeugt die Stiefmütterlichkeit der Gesellschaft. Wenn die Explosion der materiellen Bedürfnisse nicht zum Stillstand gebracht werden kann, wird der Kommunismus nicht nur ökonomisch, sondern auch psychologisch unmöglich.

40


Als Marx einen Überfluß an Gütern dafür voraussetzte, waren in erster Linie die eigentlichen Subsistenzmittel, war das Lebensnotwendige gemeint. In den industrialisierten Ländern hat sich die treibende Dialektik von Produktion und Bedürfnis auf das Feld der Genuß- und Entwicklungsmittel verlagert. Das kompensatorische Haben-, Verbrauchen-, Konsumierenwollen und -müssen erzwingt die Fortsetzung einer Erzeugungsschlacht, bei der wir auch noch in hundert Jahren zu arm für den Kommunismus sein werden. Der Teufelskreis der kapitalistischen Wachstumsdynamik muß durchbrochen werden. 

Für die praktische ökonomische Politik stellt sich als erstes das Problem der Initialzündung für einen solchen Durchbruch. Was kann geschehen, um den massenhaften kompensatorischen Bedürfnissen die Spitze abzubrechen? Man muß sie so weit wie möglich, aber auch so billig wie möglich zufriedenstellen. Es gibt eine Reihe von Sofortmaßnahmen, bestimmten »Abschaffungen« zunächst, die in ihrem Generalnenner an die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit appellieren und dadurch über sich selbst hinausweisen: 

Es gilt erstens die Liquidierung der bürokratischen Korruption von oben in ausnahmslos allen ihren offenen und verdeckten, geheiligten und ungeheiligten Formen. Hierunter fallen solche Schritte wie die Begrenzung der Einkommensskala nach oben, die Beseitigung aller besonderen materiellen, sozialen, medizinischen, kulturellen und sonstigen Versorgungseinrichtungen des Funktionärsapparats sowie die Reduzierung der Aufwände für Repräsentation und Abschirmung. Hierunter fällt auch der Schlußstrich unter den kleinbürgerlichen Pomp der Orden und Ehrenzeichen, bei Streichung sämtlicher damit zusammenhängender Bezüge ...

Es gilt weiter die Abschaffung der Arbeitsnormung und des Stücklohns. Die Situation des »Leistungsarbeiters« forciert aufgrund ihrer prinzipiellen Ungerechtigkeit gegenüber den Betroffenen Protest- und Abwehrhaltungen, verursacht Störmanöver, z. B. gegen das optimale Funktionieren der Maschinerie und Technologie, kostet Qualität und Material, erzeugt Solidarisierung gegen leistungsstärkere Kollegen, erhöht den Krankenstand, verhindert gerade die exakte Ermittlung von Kapazitäten usw. Die ganze Summe psychischer Energie, die für den mit Norm und Stücklohn verbundenen Interessenkonflikt aufgewandt bzw. abgeführt wird, geht der Entwicklung der Produktivkräfte verloren, wirkt ihr aktiv und passiv entgegen. Es gilt sodann die planmäßige periodische Beteiligung des gesamten leitenden und intellektuellen Personals der Gesellschaft an der einfachen, ausführenden Arbeit in der materiellen Produktion wie in anderen Bereichen.

41


Man muß hierfür einen Modus regelmäßiger, relativ dauerhafter Verbindung zu bestimmten Arbeitskollektiven schaffen, der so flexibel handhabbar ist, daß die Wahl dieses zweiten Arbeitsplatzes zwar in einem helfenden institutionellen Rahmen, aber nicht ohne die aktive Mitbestimmung der Individuen erfolgt. Davon wird für alle, die auf der Basis der fortgesetzten alten Arbeitsteilung vornehmlich leitende bzw. schöpferische Tätigkeit ausüben, ein anders kaum zu erzielender Anstoß ausgehen, sich unablässig und ohne selbstgerechte Idealisierung des eigenen Standortes mit den Ursachen und Folgen der sozialen Ungleichheit in der Verteilung von Arbeit und Bildung in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Es gilt schließlich die rigorose Berichtigung des Lohngefüges, die durch eine etwas längerfristige Diskussion an der Basis vorzubereiten ist. Die Herstellung der Lohngerechtigkeit, die gegenwärtig durch zahllose Disproportionen gestört ist, muß zugleich als ein Vorstoß in Richtung auf die Egalisierung der Einkommen konzipiert werden. Denn die Kulturrevolution stellt später generell die Geltung des Leistungsprinzips für die Einkommensverteilung und den Einsatz des sogenannten materiellen Anreizes als wichtigsten Regulator des Leistungsverhaltens in Frage. Eine Nivellierung der Gesellschaft in bezug auf die Qualität des Verbrauchs wäre die Bedingung dafür, über das Prinzip der Quantität, über den kompensatorischen Verbrauch hinauszukommen.

So bezweckt das kulturrevolutionäre Konzept in seiner ersten Stufe, daß ein möglichst großer Betrag'an psychischer Antriebsenergie aus dem Komplex der kompensatorischen Verhaltensweisen abfließt, und daß dieser Betrag gewonnen wird für die tiefgreifende Umgestaltung der Bedürfnisstruktur. Der Schwerpunkt des sozialen Interessenkampfes soll sich auf die Bedingungen für die Aneignung der Kultur verlagern. Das wird dann »von selbst« auch eine andere Struktur des materiellen Verbrauchs nach sich ziehen. Die Unterordnung der kompensatorischen Bedürfnisse kann nur gelingen, wenn die Antriebe positiv auf viel weitergehende Perspektiven ansprechen.

Das kommunistische Produktionsziel ist die freie und reiche Individualität als reale Tatsache, die die ganze Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenhangs bestimmt. Sie findet ihr Maß in erster Linie in jener Qualität des individuellen Wissens, Fühlens und Verhaltens, die bei der gegebenen Kulturhöhe erfordert ist, um sich in eine aktive Beziehung zum sozialen Ganzen zu setzen.

Da die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens das ganze Ensemble zum

42


Subjekt haben, sind alle Individuen unterentwickelt, denen die Umstände den Zugang zu dieser Ebene verwehren.

In zweiter Linie ist die freie und reiche Individualität auch an die Allseitigkeit der Betätigungen und Beziehungen gebunden. Zu verwirklichen sind also die Bedingungen für die Emanzipation von der vertikalen Arbeitsteilung schlechthin und von möglichst vielen Schranken der horizontalen Arbeitsteilung.

Um in diesem Sinne die objektiven Entfaltungsbedingungen der menschlichen Subjektivität neuzugestalten, muß die Kulturrevolution vor allem eine Umverteilung der Arbeit in Gang setzen, nach dem Prinzip, daß alle gleichen Anteil an den Tätigkeiten auf den verschiedenen Funktionsniveaus leisten und daß die soziale Gleichgeltung der Ausführenden bei aller notwendigen Arbeit auf die einzig mögliche Weise verankert wird: keinen Menschen mehr in die Funktion einer bestimmten, beschränkten oder subordinierten Tätigkeit zu verwandeln. Alle Monopolisierung selbstentwicklungsgünstiger Tätigkeit muß fallen, wenn ihr Pendant, die vorprogrammierte Unterentwicklung anderer Individuen, und damit die letzte Form der Ausbeutung, überwunden werden soll.

Daraus folgt die Notwendigkeit, allen Menschen den unbeschränkten Zugang zu einer Gesellschaft und Künste, Natur und Technik umfassenden Allgemeinbildung höchster, »universitärer« Stufe zu eröffnen. Dies ist die Alternative zur Schichtdifferenzierung nach Bildungsgraden und zu sozial inkompetentem Spezialistentum jeder Art. Spezialisierung ist bedeutungsmäßg nach- und unterzuordnen. Gegen die gesamte vieltausendjährige Tradition patriarchalischer Leistungsgesellschaft muß die Kulturrevolution die Kindheitssituation, den Sozialisationsprozeß so gestalten, daß die überwiegende Mehrzahl der Heranwachsenden die entsprechende Entwicklungsfähigkeit und motivationale Bereitschaft bewahren und steigern kann.

Ein solcher Bildungsprozeß verlangt natürlich eine allgemeine Praxis, in der er sich vollziehen kann, vor allem den Wiedergewinn eines Gemeinschaftslebens auf der Basis autonomer, verschiedenartiger Gruppenaktivitäten, um die allein sich erfüllte menschliche Beziehungen kristallieren können. Die Isolierung und Vereinsamung der Menschen in den Einzelzellen der modernen Arbeits-, Schul-, Familien- und Freizeitwelt wird zur tiefsten Quelle sozialen Unglücks und sozialer Unfähigkeit.

43


Die entscheidende politische Bedingung ist die Vergesellschaftung gleich Demokratisierung des allgemeinen Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses, sein Vollzug außerhalb und oberhalb jeglichen hierarchischen Apparats. Ohne eine politische Praxis vollständiger Freiheit zur Teilnahme an der Kommunikation über soziale Werte, Ziele und Wege gibt es keinen Fortschritt in der menschlichen Emanzipation mehr. Nur unter der Voraussetzung dieser Freiheit kann eine realisierbare ökonomische Strategie der Kulturrevolution erarbeitet werden. Denn die gesamte Ökonomik, das ganze Verhältnis von Produktion und Bedürfnis wie auch die informationelle Regelung des Reproduktionsprozesses umzuprogrammieren — das müßte zu verlustreichen sozialen Zusammenstößen führen, falls es nicht gelänge, immer neu die Übereinstimmung der Mehrheit herbeizuführen. 

Wenn eine Gesellschaft so weit industrialisiert ist, daß sie ihren Mitgliedern die elementaren Bedürfnisse auf der erreichten Kulturstufe einigermaßen zuverlässig befriedigen kann, muß die ökonomische Planung allmählich, aber bestimmt, auf die Priorität der allseitigen Entwicklung der Menschen, auf die Vermehrung ihrer positiven Glücksmöglichkeiten umgestellt werden. Sowohl das Wachstum der Produktion als auch das Wachstum der Arbeitsproduktivität werden praktisch ihres Heiligenscheins als unentrinnbare ökonomische Erfordernisse verlustig gehen. Damit wird nicht umgekehrt Nullwachstum zum Gesetz erhoben, sondern überhaupt das Kriterium, das Quantität von der ersten Stelle verdrängt. Der gesellschaftliche Zusammenhang soll nicht länger auf die inzwischen falsche Voraussetzung des Mangels, der Armut sich gründen. Es heißt, endlich aufhören, hier vom Spätkapitalismus bestimmen zu lassen, was Reichtum ist, was und wozu und wofür wir produzieren müssen und nach welchen Effektivitätskriterien das zu geschehen hat. 

Eine sozialistische Gesellschaft wird ihren Individuen auch im Reich der Notwendigkeit einen allgemeinen Freiheitsspielraum für Selbstverwirklichung und Wachstum der Persönlichkeit bieten, und das heißt ökonomisch gesprochen, sie wird die Herrschaft der vergegenständlichten über die lebendige Arbeit beenden. Nicht mehr leben, lernen, verbrauchen, entspannen, genießen, um nur die Arbeitskraft für den nächsten Produktionszyklus wiederherzustellen. Die Planung muß beginnen nicht mit einer Arbeitszeitbilanz, sondern mit einer gesellschaftlichen Zeitbilanz schlechthin, mit dem Zeitbudget der Individuen für die Gesamtheit aller ihrer Lebensäußerungen. Sie muß entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen für alle individuellen Zeitpläne schaffen. Eine der wichtigsten anzusteuernden Bedingungen ist eine Arbeitskraftreserve gegenüber dem Plan, eine vorgesehene Überkapazität an lebendiger Arbeit gegenüber der vorhandenen Maschinerie.

44


Ein sozialistisches Recht auf Arbeit würde etwas ganz anderes bezwecken als die Vollbeschäftigung mit entfremdeter Arbeit bis hin zu vorab eingeplanten Überstunden. Verkürzung der psychologisch unproduktiven Arbeitszeit, nicht identisch mit der Verkürzung der Arbeitszeit allgemein, ist heute die wichtigste Forderung.

Die Arbeitsorganisation muß sich den Bedürfnissen der Bildungspolitik anpassen und nicht primär umgekehrt. Es gilt, die bereits spontan in Gang gesetzte Produktion überschüssigen Bewußtseins noch aktiv zu forcieren, um mit voller Absicht einen Bildungsüberschuß zu erzeugen, den das wissenschaftlich-technische Fabriksystem samt Überbau in seiner gegenwärtigen sozialen Verfassung nicht mehr auffangen kann, so daß der Angriff auf die alte Arbeitsteilung unvermeidlich wird.

Hand in Hand mit dem Aufbau einer anders gerichteten Motivationsstruktur wird eine Harmonisierung der wirtschaftlichen Tätigkeit möglich, durch Maßnahmen wie

Die Beibehaltung der herrschenden Produktionsgewohnheiten würde zwangsläufig nicht nur die ökologische, sondern auch die psychologische Krise, die in der Paralyse der Arbeitsmotivation zum Ausdruck kommt, zuspitzen.

Wie kann sich die gesamtgesellschaftliche Organisation der Arbeit und des Lebens gestalten, wenn die alte Arbeitsteilung gebrochen wird? Damit die Menschen fähig werden, sich den allgemeinen Zusammenhang anzueignen, tatsächlichen Einfluß auf die soziale Synthesis auszuüben, muß man den von vornherein individualitäts- und initiative-feindlichen Typus zentralistischer SuperOrganisation aufgeben. Der gesellschaftliche Zusammenhang muß sich ja dem Zugriff der Individuen entziehen, wenn er so organisiert wird, daß lauter spezialisierte, nur an der Spitze zwingend koordinierte Zweigleitungen von oben nach unten durchgreifen und die zweckmäßige horizontale Kooperation und Kommunikation an der Basis illegalisieren. 

45


Soll die reiche Individualität wirklich Produktionsziel sein, so muß eine Form der ökonomischen Regulation gefunden werden, die den Menschen konkrete individuelle Initiative und reale Gemeinschaftlichkeit sichert.

Die Lösung liegt in der Aufdeckung des föderativen Prinzips, das der bekannten Idee der freien Assoziation eingeschrieben ist und das zum Beispiel auch Marxens Option für die Kommuneorganisation bestimmt hat. Die Grundeinheiten der vereinigten Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens müssen relativ autonome souveräne Zusammenfassungen auf territorialer Basis sein, denen die Eigenschaft des sozialen Mikrokosmos zukommt. Eine solche kommunale Organisation könnte auch der Rahmen sein, um die vereinsamende Trennung der Arbeits-, Wohn- und Bildungssphäre abzubauen, ohne dabei alte Beschränktheiten, Abgeschlossenheiten, lokale Zwänge wiederzugebären. Insbesondere böte sie auch Raum für Wohngemeinschaftsformen, in denen ich die ökonomische Grundlage der Frauenemanzipation und eine Bedingung für die tiefgreifende Sicherung voller Bildungsfähigkeit und Lernmotivation der Kinder, für ihren Schutz gegen die mit der Kleinfamilie unabweisbare Gefahr primärer Neurotisierung sehe.

Gesellschaftsorganisation nach dem Kommuneprinzip bedeutet Unterordnung (keineswegs gleichzusetzen mit Beseitigung) der hierarchischen Regelung. Sie bedeutet Koordination statt Subordination der Menschen in bezug auf ihre verschiedenen Betätigungen. Und sie bedeutet Assoziation dieser verschiedenen unterfunktionellen Verbände zu komplexen, aber infolge der territorialen Struktur noch überschaubaren Einheiten, die den Lebensprozeß in seiner Allseitigkeit umfassen und an denen keine Entscheidungslinien vorbeiführen. Die Kommunen, die natürlich an gewissen Punkten im Rahmen planmäßiger gesamtgesellschaftlicher Arbeitsteilung spezialisiert sind, assoziieren sich selbst zur nationalen Gesellschaft. Zwischen den Nationen dringt bereits im gegenwärtigen Völkerrecht der Assoziationsgedanke durch, nicht etwa die abscheuliche Idee einer hyperbürokratischen Weltregierung.

Die Vermittlung zur jeweils höheren Einheit mag vollzogen werden durch von der Basis gewählte Delegierte. Die Kontrolle gegen überschießende Sonderinteressen kann man sichern durch Herstellung voller Öffentlichkeit des Informationsflusses und durch die Garantie eines wirklichen individuellen Rechts und einer individuellen Pflicht zur Aufdeckung institutioneller Manipulationen anstelle der bisher üblichen bürokratischen Vergatterung.

46


So kann man sich, in äußerster Verkürzung dargestellt, die Ordnung denken, in der die Bedingungen realer Freiheit zusammenfallen mit denen realer Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kommunismus ist nicht nur notwendig, er ist auch möglich. Ob er wirklich wird, das muß im Kampf um seine Bedingungen entschieden werden.

  

  VI  

 

Schließlich komme ich auf die politischen Perspektiven zu sprechen. Was kann eine kommunistische Opposition für die Verwirklichung ihrer Absichten hoffen? Selbstverständlich frage ich zunächst für jene Minderheit existentiell engagierter Menschen, die ihre Hoffnungen nicht an augenblickliche politische oder gar geheimpolizeiliche Konjunkturen gehängt haben und nicht auf sichere Erfolgszinsen spekulieren.

Im Jahre 1922 erschienen in München nachgelassene Studien Karl Liebknechts, in denen er unter anderem auf den Slogan von Politik als der Kunst des Möglichen reagiert. Ich zitiere:

»Das äußerst Mögliche ist nur erreichbar durch das Greifen nach dem Unmöglichen. Die verwirklichte Möglichkeit ist die Resultante aus erstrebten Unmöglichkeiten. Das objektiv Unmögliche wollen, bedeutet also nicht sinnlose Phantasterei und Verblendung, sondern praktische Politik im tiefsten Sinne. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung eines politischen Ziels aufzeigen, heißt mitnichten seine Unsinnigkeit beweisen, höchstens die Einsichtslosigkeit der Kritikaster in die gesellschaftlichen Bewegungsgesetze, besonders in die Gesetze der gesellschaftlichen Willensbildung. Die eigentliche und stärkste Politik, das ist die Kunst des Unmöglichen.«

Das Unmögliche bedeutet hier die Summe alles dessen, was je für sich genommen in der Tat »nicht geht«, sondern nur bei einer Umwälzung im Ganzen, wie sie der wohlangepaßte gesunde Menschenverstand gewöhnlich nicht zu denken wagt.

Die kommunistische Alternative zielt auf eine Umwälzung bis in die Tiefenschichten der Kultur. Sie lebt keineswegs von der naiven Illusion, die Opposition müßte nur die Macht in die Hände bekommen, damit sich die Geschichte von stundan auf andere Bahnen bewegt. Mit der Kulturrevolution kann man die Gesellschaft nicht überrumpeln wie mit einem Staatsstreich. Unmittelbar strebt die Opposition überhaupt nicht nach der Macht, sondern im Vertrauen auf das langfristige Anwachsen ihres Einflusses nach der Möglichkeit öffentlicher, ungehinderter Selbstverständigung, eigener Organisation und Propaganda. 

47


Eine Phase offener Auseinandersetzung zwischen ihr und dem offiziellen Pharisäer- und Schriftgelehrtentum ist unerläßlich. Unter der politbürokratischen Vormundschaft können die Massen nicht zur Vernunft kommen. Die sogenannte Unreife der Menschen ist je länger je mehr das Produkt der Apparatherrschaft, wenn sie zuerst eine ihrer Ursachen war. Das kulturrevolutionäre Programm richtet sich, als eine Art moderner Umkehrideologie, gegen die massenhaften Gewohnheiten, die auf der Linie spontaner Anpassung an die kapitalistische Zivilisation liegen. Wahrscheinlich wird es nach einem ersten antibürokratischen Aufschwung eine ähnliche Reaktion geben wie nach der Bergpredigt des Neuen Testaments, wo es heißt, das Volk entsetzte sich über solche Lehre. Mit diesem Trägheitswiderstand müssen wir rechnen. Er beruht auf der wechselseitigen Ergänzung von Bürokratismus und Subalternität. Diesen Konnex zu zerreißen, ist eben der Zweck einer geduldigen Politik zur Neutralisierung der kompensatorischen Interessen. 

Es gibt in der Parteiintelligenz und in ihrem Umkreis viele, denen moralisch an dem Nachweis gelegen ist, man könne »nichts machen«, während sie rhetorisch das Fehlen tragfähiger Alternativen beklagen. In Aitmatows Erzählung »Abschied von Gülsary« sagt der Held seinem ältesten Freund: »Irgendwann hast Du aufgehört, Kommunist zu sein.« Wer aber tatsächlich nur in seiner Überzeugung entmutigt ist, möge sich an das Lob der Dialektik erinnern: »Das Sichere ist nicht sicher, so wie es ist, bleibt es nicht.«

Man muß nur wagen, sich selbst einige radikale Fragen zu stellen: Wie lange noch versteht sich von selbst jener perspektivlose »ökonomische Wettbewerb« um Ausstoß und kapitalkonforme Produktivität, dem wir alles andere opfern? Oder: Woran liegt es, daß man die Individuen vornehmlich finanziell zur Arbeit anreizen und restriktiv kontrollieren muß? Und: Ist es wirklich unmöglich, über die diplomatische Mitwirkung an dem sogenannten Gleichgewicht der Abschreckung hinauszukommen? Was sind das für Interessen, die uns hindern, den westlichen militärisch-industriellen Komplex mit einer faktischen Eskalation der Abrüstung unter Druck zu setzen? Auch die Frage: Erweist sich die politbürokratische Apparatherrschaft in der Sowjetunion nicht mehr und mehr als prominenter Teil der Weltreaktion, zumal ihre Funktion, nationale Befreiungsbewegungen zu unterstützen, mit der gegenwärtigen Endphase in Südafrika auslaufen wird? Und: Woher können noch Gruppen gegen einen sowjetischen Dubcek kommen? Alle diese politischen Fragen sollten neu durchdacht werden.

48


Nehmen wir nur die militärpolitische Situation. Jede wirkliche Abrüstungsinitiative setzt heute voraus, daß die progressiven Kräfte in beiden Blöcken die machtpolitischen Komplexe koordiniert unter Druck setzen und der Feindbildpflege ein Ende machen. Gesellschaftliche Veränderungen sowohl in den kapitalistischen als auch in den nichtkapitalistischen Ländern Europas sind die Vorbedingung, um das reaktionäre Universum der Rüstungsplaner und Abrüstungsdiplomaten zu sprengen und eine Eskalation beiderseitiger Abrüstung in Gang zu bringen. Natürlich müssen die Streitkräfte während eines politischen Machtwechsels zunächst uneingeschränkt funktionsfähig bleiben, wie es sich ja 1968 in der CSSR als durchaus möglich erwies. Aber dann geht es um eine politische Offensive für den Ausbruch aus dem supermilitaristischen Hexenkessel, in dem sich das Befreiungsstreben der Menschheit totläuft.

Das Kräfteverhältnis zwischen emanzipatorischen und Apparatinteressen tritt politisch viel ungleichgewichtiger in Erscheinung, als es sozialökonomisch tatsächlich ist. Die Ursache besteht einfach darin, daß die subalterne Verhaltenstendenz ihrem Wesen nach durchgängig institutionalisiert wurde, während die Individuen in ihren menschlichen Interessen vorsorglich atomisiert gehalten, darüber hinaus polizeilich an entsprechender politischer Artikulation und Organisation gehindert werden.

Deshalb kann eine kommunistische Opposition auf den ersten Blick aussichtslos erscheinen. Aber die Ironie der Geschichte will es, daß Apparate, die bisher noch mit jeder kommunistischen Ketzerei fertig wurden, angesichts der neuen, anscheinend so unqualifizierten Herausforderung durch Bürgerrechtsbewegungen wie nie zuvor um guten Rat verlegen sind. In Wirklichkeit ist das eine ganz neue, günstige Situation für kommunistische Oppositionen. Allerdings müssen wir uns von dem alten orthodox-marxistischen Sektierertum freimachen. 

Wir können den Weg nicht lernen von jener Opposition, die einst bei wachsender eigener Irritation den Kampf gegen den Aufstieg der stalinistischen Despotie verloren hat. In einer bestimmten Phase der Ablösung von der Apparatherrschaft hat jeder revolutionäre Kommunist nach 1917 trotzkistisch empfunden. Aber diese Position ist tatsächlich historisch aussichtslos. Nicht alte Normen wollen wir wiederherstellen, sondern neue Normen schaffen. Wir sind nicht mehr auf innerparteiliche Konstellationen angewiesen, sondern müssen uns bewußt auf die breiten gesellschaftlichen Kräfte stützen, die der politischen Polizei, naiv und schlau zugleich, Verfassungstexte und UNO-Resolutionen unter die Nase halten. 

49


Wir haben uns nicht mit der Richtung beispielsweise Sacharows zu identifizieren, und ein Solschenizyn steht uns geradezu konträr. Aber es ist nicht unser Hauptanliegen, uns zu distanzieren, während wir positiv für unseren eigenen Standpunkt werben. Die Beseitigung der politbürokratischen Diktatur ist das erste Gebot!

Heute gibt es selbst in der Sowjetunion schon eine — wenn auch noch schwache und zerstreute — neue kommunistische Opposition, repräsentiert etwa durch Menschen wie die Brüder Medwedjew. Es gibt sie seit anderthalb Jahrzehnten in Ungarn, wo sie angestrengt wissenschaftlich arbeitet und eine Viertellegalität genießt. Es gibt sie unbeirrt in der Tschechoslowakei. Hier hat sie sich nur taktisch auf die Verfassungsfragen zurückgezogen, um von dort aus den Kampf um ihre Legalität aufzunehmen, die in der Tat das unmittelbarste Kampfziel ist. Sie wächst in Polen, wo sie Verbindung zu den Arbeitern anstrebt und in letzter Zeit eine beträchtliche Breite und Organisiertheit erreicht hat. Und sie formiert sich neuerdings auch in der DDR. 

Es existiert heute in allen osteuropäischen Ländern ein erhebliches marxistisches Potential. Immer mehr Kommunisten beginnen bewußt zweigleisig zu arbeiten (nicht mehr bloß zweigleisig zu denken — das ist auch psychologisch eine ganz andere Qualität). Der Apparat findet in diesen Kreisen auf das Dutzend keinen Judas mehr, kaum noch einen unter Zwölf mal Zwölfen. Die ideologische Ohnmacht der alten Mächte ist seit 1968 geschichtsnotorisch. Sie stehen einer Kirche vor, an die kaum noch jemand glaubt. Und sie sind nicht mehr diskussionsfähig. Was sie noch verlautbaren, ist hoffnungslos abgenutzt, ist gemessen an marxistischen Minimalansprüchen an das intellektuelle Format einer Führung unter dem Niveau aller Kritik. Nur die Abwehrmechanismen funktionieren noch. Produktive Reaktionen werden nicht mehr gefunden. Sie bleiben einstweilen an der Macht, aber einzig aufgrund polizeilicher Repression und latenter militärischer Intervention. 

Das Jahr 1968 war und bleibt ein wesentlicher Einschnitt. Einmal in den 60 Jahren seit der russischen Oktoberrevolution sind die Kräfte, die nach einer neuen Organisation der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft drängen, voll in das Licht der Geschichte getreten. Spätestens damals in der Tschechoslowakei wurde offenbar, daß es im real existierenden Sozialismus generell einen progressiven Interessenblock gegen die Apparatherrschaft gibt. Mehr noch, es wurde klar, daß die Mehrheit der aktiven Parteimitglieder auf einen Aufbruch zu neuen Ufern wartet. Letztlich wurde in Prag und Bratislava nichts Geringeres nachgewiesen als die Lebensfähigkeit unserer Gesellschaftsordnung ohne politbürokratische Diktatur.

50


Mit dem Schlagwort von der Konterrevolution meinte die Reaktion stets in erster Linie die konsequente Reformpolitik selbst. Es ist und bleibt das größte politische Verbrechen der sowjetischen Führung nach dem II. Weltkrieg, die Völker Osteuropas, einschließlich des eigenen Landes, und die gesamte fortschrittliche Menschheit um die unersetzlichen Erfahrungen gebracht zu haben, die mit dem Ausreifen des tschechoslowakischen Experiments gewonnen worden wären. Die deutschen Kommunisten haben es noch vor sich, der Bevölkerung der Tschechoslowakei in aller Form ihre Distanzierung von der Mitwirkung an diesem Akt internationaler politbürokratischer Reaktion anzutragen.

Die tschechoslowakischen Erfahrungen bleiben hoffnungsvoll, besonders wenn man bei ihrer Bewertung den nationalen Rahmen überschreitet. Sie verweisen die Opposition darauf, langfristig die politische Hegemonie im Rahmen des ganzen sowjetischen Blocks anzustreben. Maßgebend sind nicht die nationalen Unterschiede und Animositäten, maßgebend ist der fundamentale Widerspruch zwischen den sozialen Interessen aller Völker Osteuropas und den Interessen ihrer politischen Bürokratien. Die Völker der Sowjetunion brauchen ebenso wie die Völker Polens, Ungarns, usw. eine neue politische Lebensordnung.

In den letzten Jahren hat sich die stragegische Position der Apparate noch bedeutend verschlechtert. Sie werden nicht fertig mit den Konsequenzen der Konferenz von Helsinki, auf die sie sich einlassen mußten, um die ökonomische Kooperation mit dem Westen zu sichern. Und noch größer ist die Gefahr, die auf der Berliner Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien sichtbar wurde, weil es hier um die Stabilität im Zentrum der Apparatherrschaft geht. Die Wahrheit ist, daß der sogenannte Eurokommunismus den Geist der Spaltung in die osteuropäischen Parteien hineinträgt, auch in das Personal ihrer Apparate bis hinauf zu den Politbüros. 

Wie jeder weiß, ist die Form des politischen Überbaus, mit dem die antikapitalistischen Umgestaltungen in Osteuropa nach 1945 durchgesetzt wurden, den Völkern dieser Region oktroyiert worden. Sie ist weder nach Substanz noch nach Gestalt noch nach dem Zeitpunkt die Konsequenz ihrer eigenen, nationalen Entwicklung. Der Export des sowjetischen Modells hatte ursprünglich trotz allem eine progressive Bedeutung. Es war die antikapitalistische Lösung, die wir haben konnten. Die geschichtliche Situation hielt nicht etwa eine bessere Lösung für Osteuropa bereit. 

51


Heute jedoch besteht die Rolle der nachstalinistischen Apparatherrschaft in der Sowjetunion gegenüber Osteuropa darin, die Völker daran zu hindern, in der ihnen gemäßen Form zum Sozialismus voranzuschreiten. Sie werden dadurch in der ferneren Folge einer politischen Restauration in die Arme getrieben. Der zunehmende Nationalismus — und das heißt konkret »Antisowjetismus« — in den osteuropäischen Ländern hat soweit eine progressive Funktion, wie er sich gegen die Fesseln richtet, die die Hegemonie des sowjetischen Apparats ihrer inneren Entwicklung anlegt. 

Das Wesen des Souveränitätsproblems, sein springender Punkt, besteht für die osteuropäischen Völker in der Notwendigkeit, den eigenen sozialistischen Fortschritt weitestgehend von der andersgearteten und für sie zu langsam sich wandelnden inneren Situation in der Sowjetunion unabhängig zu machen. Denn sie brauchen jetzt nicht nur — wie die Sowjetunion auch — schlechthin eine Neuanpassung des Überbaus an die weitaus entwickelteren Produktivkräfte, sondern zugleich die Wiederherstellung der nationalen Kontinuität hinsichtlich der Art der gesellschaftlichen Institutionen. 

Sobald es praktisch einen westeuropäischen Weg zum Sozialismus gibt, wird der politische Prozeß in Osteuropa nicht nur verstärkt auf eine unabhängigere Außenpolitik, sondern vor allem auf die bisher unterdrückte institutionelle Reform zusteuern. Eine Reaktion gegen den bestehenden Zustand ist unvermeidlich. Die Kontinuität des nichtkapitalistischen Weges und die Stabilität des europäischen Friedens erfordern, daß sich die Kommunisten rechtzeitig darauf einstellen, dieser Wende eine konstruktive und allmähliche Form zu geben. 

Die osteuropäischen Völker wollen mit Sicherheit politische Verfassungen aus jenem Geist, den Berlinguer, Marchais, Carillo und andere auf der Berliner Konferenz vertreten haben. Wenn der sowjetische Überbau unfähig sein sollte, sich einem demokratischen Übergangsprozeß zum Sozialismus in Italien, Frankreich, Spanien anzupassen, würde die Sowjetunion höchstwahrscheinlich ihre westliche Peripherie verlieren — völlig verlieren, denn in ihrem heutigen Status minderer Souveränität ist sie auf keinen Fall zu halten. Aus der Sicht der wohlverstandenen sowjetischen Zukunftsinteressen, die sich die dortige Opposition zu eigen machen wird, geht es gerade darum, die osteuropäischen Länder präventiv zu entlasten und sie so in ihrer Funktion als zuverlässige Partner der ökonomischen Kooperation und freiwilligen Integration zu bestärken. 

52/53


Ein serviler »proletarischer Internationalismus«, wie er von den Tribünen der letzten SED-Parteitage zu vernehmen war, gefährdet wegen der anti­sowjetischen Stimmungen, die er provoziert, die langfristigen Bündnisinteressen viel mehr als ein zweitweilig etwas überkompensierender National­kommunismus wie in Rumänien. Die Sowjetunion könnte den osteuropäischen Völkern Gelegenheit geben, die wirklichen Vorteile des Bündnisses, insbesondere seine äußerst weitreichenden ökonomischen Perspektiven, zu erkennen.

Für die sich formierende Opposition kommt es jetzt darauf an, eine den spezifischen Bedingungen im real existierenden Sozialismus adäquate, möglichst allseitige und strategisch entscheidende Gegenposition aufzubauen, um der Politbürokratie später die offene geistige und politische Schlacht aufzwingen zu können. Nachdem die Apparate anerkennen mußten, daß es zwischen den Parteien unterschiedliche Standpunkte zu ganz entscheidenden Problemen geben kann, werden sie sich mit der Forderung konfrontiert sehen, das Gleiche für das innere Leben ihrer Parteien und Länder anzuerkennen. Sie möchten eine Art Augsburger Religionsfrieden: Cuius regio, eius religio — wessen Land- oder Herrschaft, dessen Religion — hieß es damals. Dieser Kurs der Abschirmung und Abgrenzung gegen die neuen Ideen muß aktiv durchkreuzt werden. Fort mit der Nichteinmischungsmentalität in ideologische Angelegenheiten! 

Noch hat der Apparat einigen Erfolg mit seiner erprobten Taktik, jeder grundsätzlichen Kritik die Artikulation in der eigenen Gesellschaft unmöglich zu machen und zugleich ihr Lautwerden außerhalb der Bannmeile als Beweis ihres Außenstehens auszugeben. Die Opposition soll die Wahl haben, entweder zu schweigen — und das hieße, politisch nicht vorhanden zu sein — oder »dem Feind zu dienen«. Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich hier um einen Effekt, den die Diktatur selbst macht, weil ihr dringend daran gelegen sein muß, die geäußerten inneren Widersprüche zu verfremden. Wir haben es in diesem Punkt mit der letzten ideologischen Sicherung der politbürokratischen Vormundschaft über die Gesellschaft zu tun. Setzen wir uns darüber hinweg und ziehen wir rücksichtslos den Trennstrich zwischen unserer Loyalität zur nichtkapitalistischen Basis und der Loyalität zu ihrem überholten Überbau! 

Es ist außerordentlich wichtig, alle Möglichkeiten der Kommunikation im eigenen Lande zu nutzen und möglichst ein eigenes Netz dafür aufzubauen. Doch man darf sich auch nicht scheuen, im politischen Kampf die Technik des anderen Machtblocks auszunutzen. Wem gehörte der plombierte Waggon, der Lenin aus der Schweiz nach Rußland brachte, und wer gab das grüne Licht für diese Fahrt? Entscheidend blieb, was der »deutsche Spion«, wie die Verleumder ihn danach nannten, in Petrograd aus der Tasche zog. Damals waren das die berühmten Aprilthesen, die strategischen Richtlinien für den Weg zum Oktober.

53/54

In den zurückliegenden Jahren haben sich auch die inneren, subjektiven Bedingungen für eine effektivere Formierung der oppositionellen Elemente verbessert. Die erste nicht mehr durch den Krieg geprägte Generation tritt in das politische Reifealter ein. Offenbar nimmt die Bereitschaft zum Wagnis der sozialen Sicherheit, nimmt der Drang zu, der Umwelt das wahre Gesicht zu zeigen. Wer sich solange oppositionell fühlt, bis das Zentralorgan der Partei ihm einen Nachruf für treue Dienste widmen kann, wäre eben nicht gewesen, wofür er sich so lange gehalten hat.

Woran es noch mangelt, ist die Initiative zur Sammlung, zum Zusammenschluß für den bewußten zielstrebigen Kampf. Die herrschenden Verhältnisse schreiben den Weg direkt vor.

Da wir uns — soweit wir der Partei angehören — als regulär ausgeschlossen betrachten müssen, sobald wir uns auf einer eigenen Plattform vereinigen, müssen wir in der Organisationsfrage auf die allgemeinen Bürgerrechte zurückgreifen. Die Verfassungstexte versprechen Versammlungsfreiheit und — zumal an öffentliche Räume zunächst ohnehin nicht zu denken ist — die Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Zeit ist reif, um Menschen, die sich engagieren wollen, ohne allzuviel Konspiration, vielmehr mit Wissen und unter dem Schutz einer bestimmten interessierten Öffentlichkeit zusammenzuführen. Gewiß wird es sich zunächst um vorwiegend theoretisch-ideologische und propagandistische Aktivitäten handeln, noch nicht um eine Massenbewegung.

Ein Anfang muß aber gemacht werden.

Die Aussicht einer innerparteilichen Machtverschiebung, für die durchaus viele historische Erfahrungen sprechen, kann nicht länger allein auf dem Wege des langen Schleich- und Schweigemarsches durch die Institutionen verfolgt werden. Der Kern der neuen Vereinigung kann nur außerhalb der bestehenden Struktur liegen. Abgesehen von den zu erwartenden Ausschlüssen haben die Brennpunkte einer neuen, veränderten Bewußtheit ihren Ort objektiv nicht im Bannkreis des parteioffiziellen Besserwissens und der apparativen »Machbarkeit«. Wir sollten den Apparat daran gewöhnen, einer offenen Opposition ins Gesicht zu sehen. Er wird zweifellos mehr als eine Methode der Unterdrückung ausprobieren, aber die Umstände werden ihm nicht erlauben, zu den äußersten Mitteln zu greifen. Sobald er auf den Entschluß einer auch nur kleinen Gruppe von Menschen trifft, eher auf Familienleben, Wohlstand und Wohlgelittensein zu verzichten als auf einen übergeordneten Zielhorizont, muß die ganze Abwehrmaschinerie kläglich versagen.

Die »Organe« werden zum Beispiel nicht allzu lange fortfahren können, Kommunisten auszuweisen, die von den revolutionären und fortschrittlichen Kräften der übrigen Welt eindeutig als verantwortungsbewußte, völlig in den realsozialistischen Verhältnissen verwurzelte Menschen angesehen werden. Überhaupt werden Repressalien den Prozeß jetzt eher beschleunigen, nicht nur, weil sie die internationale Solidarität auf den Plan rufen. Auf etwas längere Sicht werden wir unsere Legalität und öffentliche Präsenz als kommunistische Opposition durchsetzen.

Es gibt manche Anzeichen, daß sich der Zug der Geschichte zur nächsten Station in Bewegung setzen möchte. Wann das sein wird, ist nicht unabhängig von subjektiven Entscheidungen. Vielmehr kommt es gerade auf eine kritische Masse individueller Impulse an. Wenn es heute in allen osteuropäischen Ländern zahlreiche Menschen gibt, die trotz der sicheren Aussicht auf jahrelange Unannehmlichkeiten Ausreiseanträge stellen, dann ist es für die kommun­istische Minderheit an der Zeit, sich dafür zu exponieren, daß sich hier, in den Ländern des real existierenden Sozialismus, das Leben gründlich ändert.

54-55

#

 

 

www.detopia.de     ^^^^ 

Kurzform von Die Alternative Von Rudolf Bahro