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ARD - Interviewsendung

am 23.8.1977 mit Lutz Lehmann 

 

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ARD:
Das ist Rudolf Bahro, 41 Jahre, SED-Mitglied, Abteilungsleiter für wissenschaftliche Arbeitsorganisation und Mitglied einer Parteileitung im VEB Gummi­kombinat in Ostberlin. 
Sein Buch »Die Alternative — Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« erscheint in Kürze im Verlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Köln — nachdem die Versuche des Autors, systemkritische Texte in der DDR selbst zu publizieren, gescheitert sind. Schon die soziologische Dissertation Bahros hatte den politischen Selektionsapparat der Merseburger Hochschule nicht passiert. Bahro, mit 30 Jahren stellvertretender Chefredakteur der FDJ-Zeitschrift »Forum« hat sich 1967 in die Produktion zurückgezogen. Meine erste Frage an den kommunistischen Autor in Ostberlin: 

Wann, Herr Bahro, ist ihnen aufgegangen, daß der real existierende Sozialismus und seine theoretischen Grundlagen, wie Sie zeigen, kaum noch identisch sind. 

Rudolf Bahro:
Das ist eine lange Geschichte. Wissen Sie, ursprünglich sieht das ja so aus: Man sieht von vornherein, ich hab' das auch früh gesehen, daß bestimmte Dinge anders sind, als sie vom kommunistischen Ideal her sein sollten. Aber ich habe lange Jahre geglaubt, das sind — im Rahmen unserer Verhältnisse und unter der Führung, die hier offiziell existiert — behebbare Mängel und Probleme. Erst in dem Maße, indem ich erkannt habe, daß hier Schranken sind, die nicht zu überspringen sind, daß also dieses System nicht offen für eine wirklich sozialistische und kommunistische Perspektive ist, erst in dem Maße habe ich mich zu diesem Weg entschieden. Die überlegungsmäßigen Anfänge reichen zurück eigentlich schon in die Jahre zwischen dem 13. August 1961 und dem 21. August 1968. Wie sehr viele Kommunisten eigentlich, besonders der jüngeren Generation, habe ich gehofft, daß wir nach der Mauer, also auf der Grundlage der einigermaßen gesicherten Stabilität, jetzt einen großen Versuch machen werden, die Massen für uns zu gewinnen, also endlich aus dieser Konfrontations­situation zur Bevölkerung rauszukommen.

Und gewisse Ansätze schien es mir — ich hab' mich damals geirrt — zu geben, zwischen 1961 und '68. Ich erinnere beispielsweise an das Jugend­kommunique des Politbüros von 1963, wo also doch Spielraum geboten war für Kritik an der Bürokratie von unten, um bestimmte Erstarrungs­prozesse abzubauen, zu verhindern, also freien Raum zu geben für Initiative. Das waren in letzter Instanz, zumindest de facto nur taktische Manöver, es ist nichts dabei herausgekommen. Dann kam der Versuch in der Tschechoslowakei, dann kam die Zerschlagung dieses Versuches, und das war der Augenblick, in dem ich nicht mehr mitkonnte. Also der 21. August hat meine heutige Position entschieden. Seitdem arbeite ich sozusagen nicht mehr nur vorbereitend, sondern ernsthaft an diesem Buch, studiere ich dafür. Anfang der siebziger Jahre habe ich dann begonnen, das zu schreiben.

 

ARD:
Der bürokratische Apparat, so verstehe ich Sie, der bürokratische Apparat ist aus Ihrer Sicht mehr ab nur ein Instrument, sondern er ist schon fast die Sache selbst geworden.

Rudolf Bahro:
Ja, ich habe ja im Grunde genommen, kein politisches Buch in diesem spezielleren Sinne geschrieben, das nur die politische Oberfläche unserer Verhältnisse betrifft. »Der Spiegel« hat mein Buch da recht einseitig dargestellt, indem er also meine Kritik am Parteiapparat in den Mittelpunkt gestellt hat. Das steht natürlich so drin in meinem Buch, wenn es auch Auszüge sind, mehrere. Aber mein Buch ist eigentlich ein ökonomisch-philosophisches Werk. Ich habe unsere Produktionsverhältnisse analysiert und habe nachgewiesen, welchen Stellenwert darin der bürokratische Überbau hat: Daß er also tatsächlich systemcharakteristisch ist, daß unsere nichtkapitalistische Ordnung tatsächlich ein System des bürokratischen Zentralismus ist. Ich bin da weit in die Geschichte zurückgegangen. Übrigens: Ich habe gezeigt, Marx war ja der Überzeugung, daß der Kommunismus, der moderne Kommunismus, auch ein Rückkehrprozeß in bestimmter Hinsicht sein wird zum archaischen Kommunismus. Da gab es bei ihm eine Relation.

Und der real existierende Sozialismus: Ich habe gezeigt, daß das mit umgekehrter Ablaufrichtung korrespondiert mit dem Weg, der in die Klassengesellschaft hineingeführt hat, mit der alten ökonomischen Despotie. Wie etwa in Ägypten, wo auch eine Bürokratie und Theokratie, eine Hierarchie, die keineswegs Privateigentümer der Produktionsmittel war, daß sie dort über den gesamtgesellschaftlichen Arbeits- und Lebensprozeß weitestgehend verfügt hat. So daß also die Individuen auch dort, so wie das bei uns der Fall ist, ihre Situation gekennzeichnet sahen durch eine Erscheinung, die ich Subalternität genannt habe. 

ARD:  
Ja, Sie haben die beiden Strukturen, die sich da gegenüberstehen beschrieben als Anmaßung des Apparats und Subalternität der Massen. Was hat denn das für konkrete Auswirkungen? 

Rudolf Bahro: 
Das Wesen der Sache besteht einfach darin, daß alle wesentlichen EntScheidungsprozesse von Ebene zu Ebene nach oben so weit zentralisiert sind, daß sich die große Masse der Individuen von jeglicher Mitbestimmung über genau die Dinge, von denen eigentlich ihr Leben wirklich abhängt — und nicht nur ihr Wohlleben — ausgeschlossen sieht, und daß die Menschen also praktisch fast zwangsläufig, wie ich das nenne: subalternisiert werden, privatisieren, ins Privatleben sich zurückziehen, sich darauf beschränken dann, den Wohlstand, den uns das andere System vormacht, auf eine letzten Endes für die individuelle Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte recht irrelevante Weise zu pflegen. 

Lutz Lehmann: 
Ist es das, was so der westliche Besucher als hervorstechendes Merkmal der DDR registriert, die Kleinbürgerlichkeit oder Spießbürgerlichkeit der Bevölkerung?

Rudolf Bahro:  
Ja, das ist sozusagen der Schein, der durch diese Situation, wie ich sie eben geschildert habe, dann massenhaft hervorgebracht wird. Wobei ich aber glaube, daß es eine recht systemspezifische Angelegenheit ist und nicht auf irgendwelche alten preußisch-deutsche Traditionen, die sicherlich mitspielen, zurückgeführt werden kann.

Lutz Lehmann: 
Nun hat ja der Zustand, den Sie da beschreiben, Anmaßung von oben und subalterne Haltung unten, offenbar auch ökonomische Auswirkungen, also in der Produktion, im Arbeitsprozeß.

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Rudolf Bahro:   Ja, ich hab' ja die letzten 10 Jahre in der Industrie verbracht. Zuletzt in einer industriellen Leitungsfunktion. Und die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, sind, gerade was diesen Punkt betrifft, ganz wesentlich in mein Buch mit eingeflossen.

Man muß tatsächlich feststellen, die Auswirkung dieser Verhältnisse geht dahin, daß wir einen ständigen sukzessiven Abbau der Arbeitsmoral, der Arbeitsdisziplin in unserer Industrie zu verzeichnen haben, und daß vor allem sich das durchsetzt, was der ungarische marxistische Philosoph, Andras Hegedüs, als ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit bezeichnet hat, das ist das Pendant direkt zur Subalternität. Wir haben hier Verhältnisse der Subalternität und der organisierten Verantwortungslosigkeit, und das richtet in der Wirtschaft großen Schaden an.

Wir haben einen sehr hohen Pegel der Desorganisation und der Demotivierung, eigentlich nicht bloß der Arbeiter, sondern auch der Kader in den mittleren Leitungspositionen. Bei uns ist es einfach möglich, daß so interessante Aufgaben beispielsweise wie eine große Investition auf eine solche Weise unter die Leute gestreut und verteilt werden, daß diese eigentlich angenehme Arbeit von lauter unlustigen Leuten mit großem Widerstreben gemacht wird, weil es einfach zu keinem Erfolgserlebnis für's Individuum dabei kommt. Das hängt mit der Art und Weise zusammen, wie wir unser Gesamtsystem von oben durchsteuern.

Lutz Lehmann: 
Was Sie da geschrieben haben, Herr Bahro, ist sicher das Buch eines Ketzers. Wer ist denn nun der Adressat? An wen wenden Sie sich?

Rudolf Bahro:  Ketzer — wir können ja diesen Begriff ruhig einmal beim Wort nehmen. Die Reformation, wenn man so will, also im ausgehenden Mittelalter, hat ja ihre Adressaten längst, bevor sie dann mit Luther endgültig zum Durchbruch kam, schon in den Kreisen gerade, die der Kirche durchaus nahe standen, in Theologenkreisen, in Mönchskreisen, in Kreisen engagierter christlicher Laien, gehabt. Und wenn ich an unsere Verhältnisse hier denke: Wir haben in der Tschechoslowakei doch 1968 gesehen, wie viele Kommunisten, die in der KPC organisiert waren, in Wirklichkeit auf ganz anderen Positionen standen, als sie partei-offiziell zum Ausdruck bringen mußten. Ich würde ganz entschieden sagen: Es denkt in der DDR. Hier sind zahllose Leute, die mit dem Marxismus einigermaßen vertraut sind, natürlich längst auf ähnliche Gedanken gekommen wie ich. Worum es sich jetzt handelt, ist eigentlich vielmehr die Frage, soll man das nun so laut aussprechen und soll man sogar in Kauf nehmen, jetzt irgendwelche Schützenhilfe, beispielsweise von Strauß oder so, also von der Reaktion in der Bundesrepublik, zu kriegen. Ich habe das mit in Rechnung gestellt, ich sah keine andere Möglichkeit. Aber die Problemstellungen, die ich aufwerfe, die stehen in zahllosen Köpfen in der DDR auf der Tagesordnung.

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Lutz Lehmann: 
Nun sind ja die Signale in der DDR auf vordergründigen Fortschritt gestellt. Das Motto lautet: Wachstum, Wohlstand, Stabilität. Sicher attraktive Ziele für die Massen. Da kommen Sie, und wollen ja, Sie sagen das ausdrücklich, Sie wollen eine Kulturrevolution. Wie und von wem soll denn das verwirklicht werden? 

Rudolf Bahro: 
Das kann ich natürlich in der Kürze nicht vollständig entwickeln. Der ganze dritte Teil meines Buches ist dieser Frage gewidmet. Ich rechne darauf, daß es in diesem Lande und überhaupt in den Ländern des real existierenden Sozialismus bereits eine Masse, ich nenne das »überschüssiges Bewußtsein«, gibt, also von, ich möchte sagen, psychischer Energie und Kapazität, die nicht mehr in der täglichen Arbeit, in dem täglichen funktionierenden Apparat gebunden ist. Und das läuft darauf hinaus, daß doch mächtige emanzipatorische Interessen, so nenne ich das hier, am Werke sind, die nur nicht organisiert sind und deshalb nicht ausgenutzt werden können. Unser System ist so organisiert, daß alles, was darüber hinausdrängt, atomisiert ist, ohnmächtig ist und man nur in den vier Wänden darüber reden kann. Da kann man vieles sagen. Aber es kommt nicht zusammen, daß man eine Perspektive ernstlich diskutieren und zum Vorschlag bringen könnte. Und darum eigentlich handelt es sich: Daß man die Kräfte, die durchaus da sind aber zersplittert, unorganisiert — auch polizeilich, muß man sagen, an der Organisation gehindert — daß man die hier zusammenführt, um erst einmal die Perspektive dieser Kulturrevolution, von der ich in einem ganz allgemeinmarxistischen Sinne, keineswegs maoistisch, spreche, diese Perspektive der Kulturrevolution erst einmal ausgiebig diskutiert. Daß man also den Versuch macht, praktisch der bürgerlichen Zivilisation, deren Horizont wir bisher eben nicht zu sprengen in der Lage waren, eine Alternative, eine andere Zivilisation entgegenzusetzen.

 

Lutz Lehmann: 
Alternative, das ist ja der Titel Ihres Buches: Alternative zum real existierenden Sozialismus. Aber wird man sich nicht darauf berufen, daß vieles von dem, was in der DDR so ist, wie es ist, seinen Grund darin hat, daß sich der Staat in einer besonderen politisch-strategischen Lage an der Nahtstelle zwischen Ost und West befindet?

Rudolf Bahro:  
Für die spezifische Situation der DDR ist da sogar was dran an dem, was Sie sagen. Wissen Sie, mein Buch ist eigentlich in Wirklichkeit gar keine DDR-Kritik, so wie >Der Spiegel< das etwas sehr kurz gefaßt hat. Mein Buch ist eine Kritik des real existierenden Sozialismus. Und dessen Wurzeln, dessen Geschichte, dessen Struktur kann man nur begreifen, wenn man über die Sowjetunion geht, wenn man den Weg Rußlands, — ich nenne das von der agrarischen zur industriellen Despotie — versteht, das heißt also: nicht einfach denunziert, sondern in seinem Wesen, in seiner Notwendigkeit auch begreift und von dort dann neue Perspektiven aufzeichnet. 
Ich glaube eigentlich, daß mein Buch — die augenblickliche Sensation: Ich hoffe sogar, daß das bald vorbei ist — daß mein Buch weitgreift, daß mein Buch hinausgreift über diese augenblickliche und spezielle DDR-Konstellation, daß es die Gelegenheit gibt, daß man überhaupt in den Ländern des real existierenden Sozialismus über eine Konzeption für eine andere Gesamtpolitik, so sehe ich das, diskutieren kann. 
Was ich eigentlich möchte, wenn ich nochmal auf den >Spiegel< Bezug nehme: Ich will nicht morgen eine Partei gründen. So läuft Geschichte, so läuft Politik nicht ab. Aber: Daß ich der kommunistischen Opposition, für die ein Potential in allen Ländern des real existierenden Sozialismus da ist, daß ich dieser Opposition ein theoretisches Fundament gebe, das ist der eigentliche Zweck meines Buches.

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