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Abschlußveranstaltung  

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Franz Marek, Österreich:

Wir sind hierher gekommen, weil wir von der Überzeugung durchdrungen sind, daß Solidarität unteilbar ist. Wir halten es für unglaubwürdig, gegen die Berufsverbote in der Bundesrepublik zu kämpfen und dazu zu schweigen, daß in der benachbarten CSSR tausende Kommunisten seit 10 Jahren ihren Beruf nicht ausüben können, und manche davon überhaupt keine Arbeit haben. Wir halten es aber auch für eine widerwärtige Heuchelei, wenn die Problematik der Menschenrechte nur auf Osteuropa reduziert, die Massaker in Nicaragua bagatellisiert und dem Schah von Persien die Referenz bewiesen wird. 

Regierungen mögen auf einem Auge blind sein. Für uns ist die Solidarität unteilbar.

Es muß uns nachdenklich stimmen, Genossen, daß immer mehr junge Menschen in manchen osteuropäischen Staaten, angewidert von dem dürren Katechismus der offiziellen Ideologie, zu einem alten Katechismus greifen, um dort ihre Inspiration für ihren Widerstand zu finden. Es muß uns nachdenklich stimmen, daß in manchen Staaten des russischen Imperiums der Nationalismus ständig wächst, was in Konfliktsituationen zu einer Katastrophe unberechen­baren Ausmasses führen kann.

Wenn wir hier in den letzten Tagen oft recht kontroverse und manchmal im doppelten Sinne des Wortes erschöpfende Diskussionen geführt haben, in einem können wir uns doch einig sein, daß wir gegen die Aushöhlung der Demokratie im Westen und gegen die Perversion des Sozialismus im Osten mit der Fahne des authentischen Sozialismus kämpfen, der revolutionär, demokratisch und humanistisch ist.

Wir haben vor einem Jahr auf dem Kongreß in Venedig die westeuropäische Linke dazu aufgefordert, eine Kampagne zur Befreiung Bahros zu beginnen. Dies war zu einem Zeitpunkt, wo sein Buch in anderen Sprachen noch nicht übersetzt war. Wir sind sehr froh, daß im Rahmen einer gewissen Krise der gesamten Linken Westeuropas diese Solidaritätskampagne stärker geworden ist. Wir sehen darin einen Gradmesser, oder wenn ihr mir den Ausdruck gestattet, ein Barometer für die Erkenntnis, daß die Linke in den Fragen der Ostpolitik präsent sein muß und nicht zulassen darf, daß reaktionäre Politiker diese Fragen für ihre dunklen Zwecke instrumentalisieren. 

Deshalb gehen wir von hier mit dem Versprechen weg, bei jeder Gelegenheit immer wieder und überall gegen dieses schändliche Urteil zu protestieren, ein Urteil, das das elementare Rechtsempfinden schändet. Als Genosse Pelikan von der Charta 77 sprach, sind mir da die Worte von Bert Brecht eingefallen: „Am Grund der Moldau wandern die Steine, drei Kaiser liegen begraben in Prag, was groß ist, bleibt groß nicht, und klein nicht, was klein ist, zwölf Stunden hat die Nacht und dann kommt der Tag." So sagen wir für Bahro ähnlich wie E. Fried: „An ihm führt kein Weg vorbei, gebt Bahro frei, gebt Bahro frei!"

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  Abschlußresolution des Bahrokongresses  

 

Die Teilnehmer des Internationalen Kongresses für und über Rudolf Bahro vom 16. bis 19. November 1978 in Berlin (West) wenden sich erneut gegen das in einem Geheimprozeß ohne wirksame Verteidigung gefaßte Gesinnungsurteil der DDR-Justiz gegen Rudolf Bahro und fordern seine sofortige Freilassung.

Rudolf Bahro versucht die marxistische Methode und Begrifflichkeit auf die Untersuchung der osteuropäischen Gesellschaften anzuwenden und den Weg einer sozialistischen Veränderung aufzuzeigen.

Unabhängig davon, ob man mit den Thesen und einzelnen Aussagen Bahros übereinstimmt, ist sein Buch ein bedeutender wissenschaftlicher und politischer Beitrag eines kritischen Marxisten und Kommunisten. Er hat mit seinem Werk <Die Alternative> dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet, den Sozialismus als reale Perspektive aufzuzeigen und Schritte zur praktischen Veränderung zu entwickeln versucht. Deshalb verkörpert er, ebenso wie Robert Havemann, die Hoffnungen vieler Menschen in Ost und West.

Wir demonstrieren und diskutieren für und über Rudolf Bahro, weil wir für den Sozialismus sind. Sozialismus und Demokratie sind untrennbar.

Solidarität mit Rudolf Bahro heißt für uns, Solidarität mit allen politischen Gefangenen und wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung Verfolgten in den osteuropäischen Ländern. Aber wie die vielen Fälle von Berufsverboten und andere Formen der Einschränkung demokratischer Rechte in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) zeigen, haben Gleichgesinnte Bahros in diesem Lande Schwierigkeiten, ihre Ideen und Vorstellungen über eine alternative gesellschaftliche Entwicklung zu verbreiten und ungehindert zu vertreten. Darum ist es für uns selbstverständlich, gegen jede politische Repression und für die Verwirklichung der sozialen und Menschenrechte und für eine allgemeine Amnestie für alle politischen Gefangenen überall in der Welt zu kämpfen.

Die Teilnehmer dieses Internationalen Kongresses, Gewerkschaftler, Kommunisten, unabhängige Sozialisten, Sozialisten und Sozialdemokraten aus den verschiedenen Ländern Ost- und Westeuropas, haben in den zurückliegenden drei Tagen im offenen Dialog über das Werk Rudolf Bahros debattiert. Unabhängig von den tagespolitischen Fronten haben wir versucht, durch diesen Kongress ein Beispiel zu geben.

Wir bekräftigen unseren Willen, daß wir weiterhin in unseren Ländern und durch den Erfahrungsaustausch untereinander diese Diskussion weiterführen und die Solidaritätsarbeit verstärken werden. Rudolf Bahro hofft auf kritische Aufnahme und Diskussion seines Buches. Wir können diese Hoffnung nur weitervermitteln und an die politische und moralische Verantwortung aller linken Organisationen appellieren.

Wir fordern die demokratische Weltöffentlichkeit, insbesondere die verschiedenen politischen, religiösen und gewerkschaftlichen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung sowie die Jugend- und die Studentenorganisationen auf, alles zu unternehmen, um den Druck zur Freilassung Rudolf Bahros auf die DDR zu verstärken. Dies wird nur dann möglich sein, wenn diesem Kongreß weitere internationale Initiativen folgen. Hier sollte die internationale gewerkschaftliche Bewegung eine besondere Rolle spielen. 

 

Die anwesenden Träger des „Internationalen Kongresses für und über Rudolf Bahro"; 
Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Berlin); 
Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros (Paris); 
Biermann Komitee (Paris), Redaktion Listy (Frankfurt); 
Vereinigte Sozialistische Partei (PSU-Frankreich); 
Partei der Proletarischen Einheit (PduP-Italien); 
Tageszeitung Il Manifesto; 
Bundesverband der Jungsozialisten sowie die Vertreter der Sozialistischen Partei Italiens (PSI), 
Sozialistischen Arbeiter Partei Spaniens (PSOE), 
Kommunistischen Partei Italiens (PCI) und des Vereinigten Sekretariats der
IV. Internationale 
sowie im Namen zahlreicher franz
ösischer Sozialisten, darunter Gilles Martinet, Mitglied des Präsidiums der P.S.F. 

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Schlußbemerkung

 

I. Zur Kongreß-Situation

Seiner Konzeption nach mußte sich der Kongreß — als zugleich auf öffentlichkeitswirksame Solidaritätsarbeit („für Bahro") und auf inhaltliche Klärung zentraler Fragen sozialistischer Strategiefindung („über Bahro") gerichtet — notwendigerweise in einer Art Gratwanderung zwischen innerlinker Diskussion und bürgerlicher Öffentlichkeit bewegen. Dies umso mehr, als in der Bundesrepublik und Westberlin keine „linke Öffentlichkeit" existiert, die so stark wäre, daß sie aus sich heraus die Massenmedien zwingen könnte, ein „politisches Ereignis" tatsächlich auch zur Kenntnis zu nehmen und adäquat darüber zu berichten. 

Selbstverständlich gibt es in dieser Beziehung Ausnahmen (gerade dort, wo entsprechende „Ereignisse" mit breiter Mobilisierung verbunden sind). Aber gerade bei einer so „esoterischen" Thematik wie der theoretischen Einschätzung der „real existierenden Sozialismen" und sozialistischer Strategiefindung gilt diese Aussage zweifellos. Diese Ausgangssituation erzwang nicht nur eine gewisse Dualität der Kongreß-Organisation, sondern mußte auch dazu führen, daß die noch ungeklärte Problematik einer Standortbestimmung dieser Linken in und gegen die bürgerliche Gesellschaft sich auf dem Kongreß selbst reproduzierte.

Evident ist diese Problemverschränkung in der Strukturierung des Kongresses entlang der Hauptveranstaltungsformen „Podiumsdiskussion" und „Arbeitsgruppe" und der — berechtigten — Kritik daran, daß erstere für die Arbeit der letzteren wenig brachte. Die Podiumsdiskussionen waren für uns auch eine Möglichkeit, für den Kongreß eine große Öffentlichkeit herzustellen. Bei der Zusammensetzung der Podien stand allerdings die inhaltliche Vorstrukturierung der Diskussion nicht genügend im Vordergrund. Vielmehr ging es um den Versuch, einen für die Breite des politischen Spektrums der auf dem Kongreß versammelten Kräfte repräsentativen Kreis bekannter Persönlichkeiten zusammenzubekommen. 

Im Nachhinein kann man wohl sagen, daß sich das Komitee in diesem Punkt in die eigene Tasche taktiert hat: Die Podien waren so überladen, daß die Kapazitäten, die dort dann tatsächlich versammelt waren, auch nicht annähernd ausgeschöpft werden konnten, sich tendenziell sogar gegenseitig blockierten (dazu trug ein Übriges bei, daß die jeweilige Thematik viel zu breit angelegt war — Ausdruck eines nicht einlösbaren Vollständigkeitsanspruchs). Daß dennoch eine Reihe interessanter Beiträge gehalten wurde, änderte an diesem kommunikativen Defizit nichts. 

Zu einem echten politischen Problem wurde dies dadurch, daß andere - ursprünglich geplante — zentralisierte Vermittlungsveranstaltungen (Plena der Arbeitsgruppen zu übergreifenden Fragestellungen und eine Abschlußdiskussion zu den Perspektiven der weiteren Arbeit)

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aus verschiedenen Gründen (Raum- und Zeitschwierigkeiten) ausfallen mußten, so daß sich „das Publikum" in doppelter Hinsicht nicht vertreten fühlte: Als an Kommunikation interessierte Individuen und als aktive Teilnehmer einer politischen Manifestation. Beide Ansprüche konnten eigentlich nur in den Arbeitsgruppen und etwas auch bei der weitgehend mißglückten Abschlußdemonstration ansatzweise realisiert werden.

Ließe sich dies und die Mißstimmung, die zwischen einem erheblichen Teil des Publikums und dem „Bahro-Komitee" (die in einer politisch unfruchtbaren Auseinandersetzung um die Demonstration kulminierte) gegen Ende des Kongresses entstanden war, nur aus der Unerfah-renheit der Organisatoren oder — wie verschiedentlich polemisiert wurde — einem (imaginären) Einfluß „der SPD" auf das Komitee erklären, so lohnte es nicht, darüber an dieser Stelle zu berichten: Im ersteren Fall, weil dann die Konsequenz nur sein könnte, es „das nächste Mal" besser zu machen, in letzterem Fall, weil wir dann verständlicherweise kein Interesse daran haben könnten, „aus der Schule zu plaudern". 

Gerade in dem letzteren Vorwurf aber, dessen Abstrusität jedem klar sein sollte, der sich die Liste der Einladenden, der Teilnehmer der Podiumsdiskussionen und die vom Komitee vorgeschlagenen Themenbereiche betrachtet, wird - in verschwörungs-ideologischer Form - das zentrale Dilemma dieses Kongresses deutlich: Daß die Auseinandersetzung über sozialistische Strategie in diesem Land tatsächlich noch weitgehend ein esoterisches Thema einer Linken ist, die gerade in dieser programmatischen Perspektive politisch noch viel stärker isoliert ist, als sie es inzwischen ihrer sozialen Struktur nach oder auch in einzelnen politisch-sozialen Kämpfen ist. 

Soweit diese Linke sich überhaupt noch mit langfristigen politischen Zielen auseinandersetzt, scheint vielen ihrer Anhänger die Vorstellung geradezu abenteuerlich, es wäre möglich, sich mit Vertretern der traditionellen Arbeiterbewegung und speziell der SPD ernsthaft im politischen Diskurs über die Fragen sozialistischer Strategie auseinanderzusetzen. Es steht dahinter einerseits die sehr reale Erfahrung mit der SPD, mit dem fast bruchlosen Übergang vom opportunistischen Reformismus der „Ära Brandt" zur forschen Regierungspolitik a la Schmidt, einer Politik, als deren manipuliertes Objekt sich diese Linke erfahren hat. Als unmittelbaren Reflex auf diese Erfahrung hat sie ein tiefes Mißtrauen gegen jede „linke Rede" aus dieser Ecke, hat sich daran gewöhnt, „die SPD" mit der Regierung zu identifizieren und alle Widersprüchlichkeit der SPD als Partei unter „marketing" zu subsumieren. 

Andererseits aber steht halt rechts von der Linken erst einmal der riesige, poütisch hegemoniale Block SPD, um den sich in längerfristiger Perspektive herumzumogeln ihr nur um den Preis eines Realitätsverlustes möglich ist. Die „zweite Kultur" stellt unseres Erachtens als sozialistische Orientierung einen solchen Versuch dar.

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Ein Kongreß-Teilnehmer bezeichnete bei der 3. Podiumsdiskussion den „Bahro-Kongreß" als „Anti-Tunix-Kongreß" (Im Januar 1978 fand in Berlin der „Tunix-Kongreß" als Massenveranstaltung der spontaneistischen Linken statt), diese Charakterisierung war treffend: Nicht als Versuch, die Ansätze sozialistischer Bewußtseinsbildung wieder — oder, je nach Einschätzung der „Spontis", bewußt — in reformistisches Fahrwasser zu leiten, sondern als Organisierung der politischen Auseinandersetzung auf der Ebene, auf der sie notwendigerweise geführt werden muß, als Auseinandersetzung mit dem Sozialdemokratismus verschiedenster Prägung. 

Nur kann die Organisierung einer solchen Auseinandersetzung, soll sie nicht Diskussion „über" die SPD, sondern Diskussion mit Sozialdemokraten sein, nicht von den realen Kräfteverhältnissen hierzulande abstrahieren: In Fragen der Gesamtstrategie aber ist diese Linke nicht stark genug, „die Sozialdemokraten" in die Diskussion zu zwingen. So bleibt nur, an real vorhandene Diskussions-Interessen innerhalb der Sozialdemokratie anzuknüpfen.

Wenn darauf nun mit einer Berührungsangst reagiert wird, die wie ein Spiegelbild der Abgrenzungs-Phobie führender Sozialdemokraten gegenüber Kommunisten wirkt, so äußert sich darin ein weiteres Dilemma dieser Linken: So sicher sich diese Linke in der Ablehung der bestehenden Zustände und darin ist, daß die „real existierenden Sozialismen" ihr kein erstrebenswertes Bild der eigenen Zukunft zu bieten haben, so wenig existiert ein nicht-utopisches, d.h. ausgehend von der Überwindung der bestehenden Verhältnisse und Ziel und Weg integrierendes, „Modell" sozialistischer Strategie, das auch nur annäherungsweise als verbindüche Richtschnur akzeptiert würde. 

So fruchtbar dieser „Anti-Dogmatismus" sein kann: Die vielbeschworene „Krise des Marxismus" ist dort ein unmittelbares taktisches Defizit, wo nicht die faktische Hegemonie über eine reale Massenbewegung in die Waagschale politischer Auseinandersetzung geworfen werden kann. Seine Äußerungsform ist mangelndes politisches Selbstbewußtsein. Hieran etwas zu ändern, hat der Bahro-Kongreß durchaus einen Beitrag geleistet: Einerseits, indem ein Werk in den Mittelpunkt gestellt wurde, dessen Diskussion uns auf diesem Weg einen Schritt voranbringen kann. Andererseits, indem lebendig vor Augen geführt wurde, daß das Spektrum sozialistischer Strategiedebatte in Europa ein gutes Stück breiter ist als die Alternative „Tunix oder SPD".

Scheint uns dies die Grundkonstellation, so ist doch nicht zu bestreiten, daß das Komitee sich in seiner Arbeit keineswegs fehlerlos zwischen Widersprüchen hindurchlavierte. Die richtige Einsicht in die politische Schwäche des Komitees und darin, daß es primäre Aufgabe des Komitees sei, eine breite Solidaritäts- und Diskussionsfront zustande zu bringen, schlug (mitbedingt durch organisatorische Überlastung etc.) in eine Art Gottvertrauen in die selbstorganisatorischen Fähigkeiten der „Basis" um. 

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Es gab ja nun schließlich die „Arbeitsgruppen", und in ihnen sollte — in herrschaftsfreier Kommunikation — jeder/jede zu Wort kommen, der/die etwas sagen wollte. D.h., das Komitee verhielt sich hier spontaneistischer als „die Spontis" selbst — es vernachlässigte seine Funktion als politisch orientierende und organisierende Kraft des Gesamtkongresses und d.h. primär seiner Teilnehmer/innen. Das Problem war nicht ganz neu, interne Auseinandersetzungen im Komitee (die jene zuvor skizzierte Problematik in der westdeutschen Gesamtlinken reproduzierten) verhinderten, daß es bewußt angegangen wurde — das änderte aber nichts daran, daß auch das Komitee die Verantwortung für die Schwächen dieses Kongresses zu tragen hat. Bedauerlich daran ist vor allem (neben dem Verlust an poütischer Stoßkraft nach außen), daß die spezifische Stärke dieser Linken — außer zum Teil in den Arbeitsgruppen — schlichtweg ignoriert wurde: ihre Sensibilität gegenüber verselbständigten Kommunikationsstrukturen. Auch wenn diese Linke darauf bisher noch kaum Antworten gefunden hat — der Kongreß -hat ihr in dieser Beziehung auch nicht weitergeholfen. Ein anderes Ergebnis hätte hier durchaus der unmittelbaren Intention Rudolf Bahros entsprochen.

 

II. Abriß der inhaltlichen Thematik

Trotz der z.T. selbstverschuldeten ungünstigen Bedingungen der Podiumsdiskussionen kristallisierte sich im Verlaufe der Veranstaltungen heraus, daß ihre Themen jeweils hinsichtlich ihrer aktuellen Bedeutung umstritten waren: Die „Oktoberrevolution" ließ die unterschiedlichsten Positionen der Sozialdemokratie und der „Neuen Linken" in Bezug auf eine sozialistische Transformationsstrategie deutlich werden; der Prager Frühling wurde zum Anlaß genommen, den Charakter osteuropäischer Gesellschaften zu bestimmen und kontroverse Einschätzungen hervortreten zu lassen. Die dritte Podiumsdiskussion zum Thema „Reich entwickelte Persönlichkeit" zeichnete sich darüber hinaus noch dadurch aus, daß sie als einzige auch Ergebnisse von Arbeitsgruppen mit aufnahm und den unterschiedlichen, für den gemeinsamen Weg zur psychosozialen Emanzipation jedoch relevanten Erfahrungshorizont der Diskutierenden in der Hochschule, dem Betrieb, der Frauen- und Ökologiebewegung sowie zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Arbeit zur Geltung kommen ließ.

Die neun Arbeitsgruppen wurden - entlang den Bahroschen Fragestellungen — nach den vom Komitee vorgeschlagenen Themen gebildet. Dieser anfangs vorhandene Kompaß erwies sich als geeignet, die potentiellen Kongreßteilnehmer anzusprechen und ein Diskussionsangebot an sie zu machen: Die Zahl der Anmeldungen überstieg bei weitem unsere ursprünglichen Erwartungen. 

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Die Bereitwilligkeit und das Interesse, mit denen die Ankündigungen der AGs aufgenommen wurden, erklärten sich nicht zuletzt daraus, daß Bahro selber Diskussions- und Praxiszusammenhänge der „Neuen Linken" reflektiert (man denke nur an die vielen Kinderladen-, Publikationsprojekte und -kooperativen der letzten Jahre), denen es um das Subjekt und die strategische Bedeutung der kulturrevolutionären Selbstveränderung, die Aufhebung der Arbeitsteilung und die Humanisierung der Umwelt im umfassenden Sinne als Momente einer sozialen Emanzipation geht. Dies im Kontext des Versuches, die sozioökonomischen Entwicklungstendenzen osteuropäischer und westeuropäischer Gesellschaften und der sich mit ihnen verändernden Modelle und Entwürfe einer sozialistischen Transformationsstrategie zu analysieren, sowie im Kontext der Frage des Stalinismus bzw. der Befreiung der Dritten Welt, einer Frage, die sich seit jeher für die Identitätsfindung einer realen oder erhofften gesamteuropäischen Linken als relevant erwiesen hat.

Diese faszinierende Zusammenschau der Probleme, die, jeweils für sich genommen, verschiedene Fraktionierungen und Gruppen der Linken — der „Politökonomen", der „Wegbereiter einer alternativen Lebensform", der „gewerkschaftlich" oder „eurokommunistisch" Orientierten usw. — in den letzten Jahren bewegt haben, mag zur Entstehung einer hochgespannten, mehr oder weniger ausgesprochenen Erwartung beigetragen haben, die Diskussion der Bahroschen Thesen werde auch einen Vereinheitlichungsprozeß der isolierten, aufgespalteten und damit auch sprachlosen „Linken" in Westdeutschland und Westberlin initiieren können. Je nach Themenwahl, Organisationsform und Teilnehmern der AGs brach der Konflikt mit der Realität und den Möglichkeiten von Diskussionsprozessen beschränkter Dauer und Alltagsrelevanz — Kongresse erinnern doch eher an „Feiern" — mehr oder weniger deutlich hervor.

Während die Diskussion in der AG 1 „Arbeiter und Intelligenz im Prozeß krisenhafter Aufbrüche in Osteuropa" vom relativ gleichgerichteten Interesse am Schicksal oppositioneller Ansätze getragen war und zu einem Meinungs- und Erfahrungsaustausch der anwesenden Ost- und Westeuropäer führen konnte, verdankten andere Arbeitsgruppen, etwa die 3. und 4. über „Ökonomie als organisierte Verantwortungslosigkeit' " und „Sozialistische Strategie und ihre Bedeutung für die vorindustriellen Gesellschaften", ihrem eingrenzbaren Gegenstand und z.T. fachlich gut vorbereiteten Teilnehmern und Experten eine kohärente Diskussion. Beide Gruppen bemühten sich, bisherige Verengungen theoretisch-marxistischer Diskussion zu überwinden, sei es die vom sozialen Kontext losgelöste Gegenüberstellung von Markt und Plan, sei es die behauptete universalhistorische Gültigkeit der Aufeinanderfolge von Gesellschaftsformationen, wobei im zweiten Fall die theoretischen Konsequenzen und Perspektiven von „Unterentwicklung" durch die Ereignisse im Iran unerwartete Aktualität erlangten. 

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Teile der im westeuropäischen Maßstab organisierten Arbeiterbewegung und „parteipolitischer Gruppierungen wählten schließlich die AG 2 über das Thema „Revolution oder Reform in Osteuropa" und die AG 5 über „Stalinismus und westeuropäische Parteien" zu ihrem Forum. Ein Eigenbeitrag des Diskussions­leiters zum Präzedenzfall „Tschechoslowakei" und eine strukturierte Zusammenfassung des Diskussionsablaufs zu den Lösungsvorschlägen des Eurokommunismus und seiner Vorgeschichte in der III. Internationale mögen dem Leser einen Einstieg in die jeweiligen Probleme bieten.

Mit den unterschiedlichsten Interessen, Erwartungen und Informationsniveaus gerade der nicht-organisierten Studierenden und Arbeitenden des Ausbildungs­bereiches, akademischer Berufe und einiger älterer Genossen aus parteioppositionellen sozialistischen Bewegungen der Weimarer Republik wurden verständlicherweise die beiden Arbeitsgruppen 6 und 9 konfrontiert, die durch ihre theoretisch umfassende und praktisch wegweisende Themenstellung über „Sozialismus und psycho-soziale Emanzipation des Menschen" und „Die Aufhebung der Arbeitsteilung und die Rolle des Staates auf dem Weg der sozialistischen Veränderung" viele Teilnehmer ansprachen. 

Daran änderte offenbar auch wenig, daß sie in organisatorischer Hinsicht ganz unterschiedlich - in der AG 6 mit Referaten, in der AG 9 als „freie" Diskussion - geplant waren. Die faktisch vorhandene Praxisnähe der gleichfalls virulenten Fragen der „Wachstums-, Technik- und Konsumkritik bei Bahro" und des „Patriarchates in den nicht-kapitalistischen Gesellschaften", zur Ökologie- bzw. Frauenbewegung machten es offenbar den Arbeitsgemeinschaften möglich, sich auf die vereinheitlichende Kraft von Diskussionsprozessen im Vorfeld des Kongresses zu verlassen und sie auch während des Kongresses praktizieren zu können. 

Die unterschiedlichen Veranstaltungsformen der Arbeitsgruppen mögen den Leser nicht daran vorbeigehen lassen, welche vielfältigen Querverbindungen gerade unter den zuletzt genannten vier Arbeitsgruppen bestehen, die auf jeweils ihre Weise die neuere, bei uns geführte zivilisationskritische Diskussion über die Dialektik der Vergesellschaftungsprozesse inner und äußerer Natur „reifer" Industriegesellschaften dokumentieren. 

Eine Diskussion, die in ihren Grundannahmen und Schlußfolgerungen möglicherweise im Westen radikaler geführt wird, als Bahro dies aus seiner intellektuellen und nun auch physisch isolierten Ausnahmesituation in der DDR rezipieren konnte und kann und vielleicht auch ungewollt, aus einer Position der Unentschiedenheit zwischen der Kritik an der uneffektiven „organisierten Verantwortungslosigkeit" und „Leistungszurückhaltung" osteuropäischer Gesellschaften und an der durchaus effektiven und doch Lebenschancen zerstörenden, verselbständigten Wachstumsdynamik entwickelter westeuropäischer Industriegesellschaften, zu rezipieren imstande war.

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 E n d e 

Die Aufzeichnungen der Podiumsdiskussionen sind gekürzt worden. Dies geschah ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Straffung und Komprimierung der Argumentation. Die zweite Podiumsdiskussion (über die Ursachen des Prager Frühlings) ist nicht vollständig, da aufgrund einer technischen Panne der letzte Teil nicht aufgezeichnet wurde.

Wir haben den Schwerpunkt dieses Bandes auf die Arbeitsgruppenberichte gelegt. Diese wurden entweder von den bereits vor dem Kongress bestehenden Vorbereitungsgruppen erarbeitet, bzw. von sich nach dem Kongress herausbildenden Gruppen erstellt. Sie sind vom Redaktionskollegium nur stilistisch überarbeitet und gestrafft worden. Alle Kürzungen erfolgten mit dem Einverständnis der Betroffenen. Wir mußten leider aus Platz/Preisgründen die umfangreiche Dokumentation der Grußadressen/Resolutionen/Telegramme etc. weglassen.

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