Teil 3
"... sonst geht die ganze Menschheit kaputt."
Über die Krise unserer Zivilisation und die Notwendigkeit einer Wende
Dem Ganzen eine andere Richtung geben
Rudolf Bahro 1980 in der Zeitschrift <Pardon>, hier der Urtext"Bleiben wir weiter Rädchen und Schräubchen in ihrem Getriebe, so wird es bald um uns geschehen sein.
Laßt uns also bald heraustreten, um dem Ganzen eine andere Richtung zu geben."
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Ob die Menschheit ein Ziel hat, darüber kann man streiten. Vielleicht. Ich denke, ja. Aber zunächst viel wichtiger, und das ist sicher: Der Mensch als Einzelner, als Individuum hat eins, egal, ob er's nun selbst mit sich verfolgt oder nicht.
Erst mal jenseits von Gut und Böse ist das ein teils ererbter, teils anerzogener Auftrag, die Gattungsnatur, den spezifischen Genotyp, den Charakter positiv auszuleben. Es gibt eine Bestimmung des Menschen. Wenn ein Samenkorn dazu bestimmt ist, ein hoher Baum zu werden, weil es den angelegt in sich enthält, und es kommt eine Krüppelkiefer heraus, weil die Umstände nicht so sind — dann würde die Nichterfüllung dieser Bestimmung ihr Unglück ausmachen, wenn sie reflektieren könnte. So etwa sagt es Tagore.
Soviel Unglück wie jetzt — Gehetztsein, Unbefriedrigtsein, Einsamkeit mit und ohne andere Menschen, Versagung und Entfremdung aller Art —, soviel Unglück wie jetzt in den reichen Ländern hat es nie zuvor gegeben, in den finstersten, den elendsten Zeiten nicht.
Sicher, es gab ja noch nie soviele Menschen; aber das meine ich nicht. Es sind jetzt mehr von hundert Menschen unglücklich als je zuvor — vielleicht mit Ausnahme gewisser Generationen aus der späten Kaiserzeit in der einen Metropole Rom.
Genauer gesagt: Es gibt mehr unglückliches, mehr Unglücksbewußtsein denn je.
Das hat zunächst eine positive Ursache. Es wird nämlich mehr "Subjektivität" (mehr Individualität, mehr Selbstbezug, mehr Bedürfnis nach Selbstverwirklichung) angesetzt (freilich nicht ausgereift). Und dann werden die meisten der damit, verbundenen Ansprüche enttäuscht. Um so mehr, als heute allen alles als nötig vorgestellt wird.
Wenn nicht in die Tiefe, bis zu den Müttern, und in die Höhe, bis zum lieben Gott, möchte doch wenigstens jeder in die Weite und Breite das volle faustische Leben haben, das ganze Warenhaus hindurch. Das hat mit Goethes "Kern oder Schale" zu tun.
Aber schlimmer: Wie viele bringen es nicht einmal zu einer geschlossenen Schale unter der Flut von fremdbestimmenden Reizen. Wie wenige bringen es bis zu dem alleinseligmachenden Anfang eines selbstbestimmten Tuns. Nicht zuviel, sondern zu wenig Ich, zu wenig Innerlichkeit.
Warum eigentlich schlagen uns unsere Erfolge, schlägt uns der Erfolg schlechthin, der sich in all dem Reichtum ausdrückt, zum Unglück aus? Am Menschen als Individuum kann es, alles in allem, nicht liegen, wenn er das Ziel verfehlt. Vielmehr am Menschen als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Dort muß die "objektive Dialektik", die "historische Notwendigkeit", die uns in die Zivilisation, in die Hochkultur geführt hat, einen Fehler haben: einen Fehler gegenüber dem natürlichen Anspruch des Individuums auf Freiheit, Liebe, Glück — also auch auf ein Leben ohne zuviel Angst.
"Die Weltgeschichte ist nicht der Ort des Glücks", hat Hegel gelehrt, und seine Lehre steckt tiefer in uns allen (nicht nur in uns Marxisten), als wir wissen. Es ist eine defaitistische Lehre. So wahr sie weithin ist, wir dürften selbst dann nicht nach ihr leben, wenn unsere physische Existenz noch damit vereinbar wäre.
Aber wie die Dinge heute liegen, werden wir nur überleben, wenn wir, bei aller Einsicht, hinausgehen über den Gedanken, daß Freiheit nichts als Einsicht in die Notwendigkeit sei. Es ist nämlich der Aufstieg einer Gattung so notwendig wie ihr Untergang, solange man im Rahmen des spontanen naturgeschichtlichen Prozesses denkt.
Wenn sich ein Heuschreckenschwarm unter günstigen Umständen schrankenlos vermehrt, dann über einen Landstrich herfällt, ihn kahlzufressen, bis die Lebensgrundlage aufgezehrt ist und daran zugrunde geht, so ist das auch gesetzmäßig und notwendig. Wir werden wahrscheinlich das gleiche Schicksal haben, wenn wir uns nicht noch viel ernsthafter, als Marx in diesem Punkte dachte, einen Sprung ins Reich der Freiheit vornehmen.
Was Marx so, wie wir es jetzt sehen, noch nicht gesehen hat: Wir können uns dabei nicht einfach über das Reich der Notwendigkeit (der Produktion usw.) erheben, wie es ist. Es ist eine Grundlage, die in der gesetzmäßig entstandenen Gestalt nicht tragen kann, was wir wollen müssen, um glücklich zu überleben.
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Daher müssen wir den historischen Materialismus von Marx, gerade insofern er den Gang der bisherigen Geschichte richtig beschreibt, jetzt so studieren, wie die klugen Kapitalisten das Kapital studierten: auf die Lücken in den aufgedeckten Gesetzen hin, um dort die Breschen zu schlagen, die uns eine Zukunft verheißen.
Es geht tatsächlich darum, die Kontinuität der Geschichte zu brechen. Und das heißt in meinen Augen: den Menschen als Individuum mobilisieren, sein Unglücksbewußtsein als Sprengkraft nutzen, dem Menschen als Ensemble der Verhältnisse eine neue Bahn zu eröffnen.
Die ganze Sachenwelt, das ganze Pseudouniversum der Institutionen, das wir um uns aufgebaut haben, kehrt jetzt seine Tendenz zum Tode, zum Untergang hervor. Aber sie waren so nicht da, als unsere menschliche Natur sich formte, in Millionen Jahren und speziell in dreißigtausend Jahren vor dem Eintritt des Homo sapiens in die Zeit der Hoch- und Herrschaftskultur. (Sie sind weniger notwendig.)
Bleiben wir weiter Rädchen und Schräubchen in ihrem Getriebe, so wird es bald um uns geschehen sein. Laßt uns also heraustreten, um dem Ganzen eine andere Richtung zu geben. Laßt uns den Reichtum und die Institutionen dem menschlichen Genotyp unterordnen, damit alles positiv zu ihm zurückkehrt, was von ihm ausging und noch immer ausgeht. Der historische Relativismus, dem die menschliche Natur, wie die Natur überhaupt, keine unumstößliche Norm bedeutet, weil auch widernatürliche Gesellschaftsverfassung offensichtlich Geschichte machen kann, ist am Ende.
Allerdings:
Wir müssen uns dem Moloch stellen, so groß er sei. Aussteigen ginge nur, wenn es eine zweite Welt gäbe.
Wir müssen Gegenmacht erringen in dieser einen Welt, wie sie ist. Gegenmacht verlangt in erster Linie eine eigene, alternative Basis, den sukzessiven Aufbau eines neuen Lebenszusammenhanges.
Auf dieser Grundlage aber erlangt Rudi Dutschkes Losung vom Marsch durch die Institutionen erneute Aktualität. Dies "auf zwei Beinen Gehen", "oben und unten zugleich Anfangen" versteht sich — als allgemeines Prinzip — eigentlich von selbst.
Daß es sich jetzt für viele Interessierte nicht von selbst versteht, deutet auf unser objektives Problem, an einem Anfang zu stehen, mit noch zu wenig konsolidierten, zu wenig verständigten Basiskräften, und wenig Zeit zu haben, dies letzte kaum bloß wegen des politischen Terminkalenders.
Ich plädiere da für eine Einstellung a la Gramsci: "Skeptizismus der Intelligenz, Optimismus des Willens"!
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Urtext der Fassung, die in <Pardon> 1980 erschienen ist.
Die Welt verändern aus einem Glauben
Urtext der Fassung, die in Pardon 5/80 erschienen ist.
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Für Skeptizismus der Intelligenz, jedoch Optimismus des Willens hatte ich plädiert. Dabei habe ich hier schon mehr als einmal erlebt, daß man für ziemliche Unverschämtheit hielt, an "Veränderbarkeit der Welt zum Besseren" zu glauben. "Wo lebt denn der (noch)?!"
Jedenfalls, der Zweifel ist verbreitet, ob es überhaupt eine Chance gibt, der angesagten Totalkatastrophe zu entgehen.
Da ist der "Overkill", den die Strategen beider Seiten gegeneinander bereithalten, und der mit um so größerer Wahrscheinlichkeit auf uns niedergehen wird, je mehr Mal davon wir zu unserer "Sicherheit" aufbauen lassen.
Da ist die Polarisierung auf der ganz und gar von uns bemessenen Skala von Armut und Reichtum im Nord-Süd-Konflikt, die kurzfristig auf den Hungertod einer halben Milliarde Menschen zusteuert.
Da ist unsere — von dem Drang, aus Geld mehr Geld zu machen und von der Sorge um die Sozialversicherung dieses Geschäfts angetriebene — gefräßige Produktionsmaschine, die sich um so schneller in den Ressourcenberg hineinfrißt, je kleiner der wird, und die ihren Abfall bis an die Pole, in die Stratosphäre, ins Erdinnere wirft, und bis in die Ferne der Zeit.
Dieses Riesengetriebe läuft ziemlich automatisch. Wir sind so an die kleinen Annehmlichkeiten gewöhnt, mit denen das große Unheil auf uns zurollt. Wir "brauchen" alles, was der Markt bietet, weil wir es brauchen sollen, damit sich das ganze Räderwerk immer noch schneller weiterdreht. Da können wir natürlich nichts daran ändern, kleine Leute, die wir demgegenüber allesamt sind.
Worauf wir uns aber ein übriges und endgültiges Mal verlassen können: Es wird zumeist an uns hängenbleiben, was zuletzt dabei herauskommt. <Die da oben> nämlich werden es nicht abfangen. Wir mögen denken, weil sie nicht wollen. Solche gibt es. So einer ist jetzt dran. Und noch so einer will jetzt ran, ein noch Schlimmerer. Aber daran allein liegt es nicht.
Ohne uns, ohne nachhaltigsten Anstoß von "unten", könnten "die da oben", jeder einzeln, selbst dann nicht anders, wenn sie wollten.
Willy Brandt mit seinem Nord-Süd-Kommissionsbericht, um wieviel mächtiger ist er wirklich als jeder andere Willy in diesem Land, und zwar gerade dann, wenn es um die eigentlich bedeutenden Beträge und wenn es um die ganze Richtung geht? Es kann da keiner richtig was machen, so lange es zu wenig Leute gibt, die nicht nur Zustände, sondern auch ihr eigenes Leben gründlich ändern möchten. Wir müßten fundamental ändern, wenn der Süden von dem hier geschneiderten Modell entlastet werden soll.
Wir müßten auch was riskieren. Auf Atomkraftwerke vor der eigenen Tür verzichten, ist eines. Es liegt nahe. Aber nach Brasilien müssen wir wohl welche liefern, am besten auch noch woandershin, wo es noch absurder ist. Denn ach, die Arbeitsplätze in der Exportindustrie. Sonst müßten wir ja das größte Risiko eingehen, unser ganzes System zu verändern. Daß das so läuft mit den Arbeitsplätzen, da können wir nicht dafür. Dafür können unsere Kapitalisten. Solange wir so herangehen, wollen wir "die da oben" eigentlich, wie sie sind.
Wir wollen speziell den Schmidt und nicht mal den Brandt, der manchmal noch unpraktische Ideen hat. Weiter mit dem Schmidt wie bisher, weiter in den Overkill hinein, weiter rauf mit den Pro-Kopf-Einkommen (die armen Hunde sind am Ende doch selber schuld, wenn sie immer weiter zurückbleiben hinter unserer Tüchtigkeit). Weiter mit 160 Kilometern auf der Autobahn, mit der KW-Zahl hinter der Wohnungstür, überhaupt weiter in der bewährten Richtung. Dafür steht uns die Wirtschaftsverfassung, dafür der ganze institutionelle Himmel.
Wenn wir was ändern wollen, muß es wirklich das System als ganzes sein. Wir müssen es in eine völlig andere Facon drücken. Wer soll diese Kleinigkeit vollbringen? Die kleinen Leute? Die kleinen Leute, weil es keine anderen gibt. Dazu müssen sie sich zunächst selbst eine andere Facon geben, auch gemeinschaftlich. Warum nicht die einer — gemessen an dem herrschenden Politik- und Sachverständnis — unpolitischen und unqualifizierten Massenbewegung?
Ihre Aussichten hängen von der Stärke des Antriebs ab, von dem Sog der versprochenen Ankunft. Früher nannte man das Glauben. Das ist was psychisch ganz Reales, durchaus Innerweltliches: höchste Stufe von Optimismus des Willens.
Wenn so etwas massenhaft ansteht, mag das Neue skurril beginnen. Wenn es einen Fehlstart gegeben hat, nach den üblichen Maßstäben, einen lächerlichen und aussichtslosen Aufbruch, in schlechter Gesellschaft unternommen — kleine und kleinste Leute —, dann war es der eines gewissen Jesus aus Nazareth. Immerhin redet man noch von ihm, nach 2000 Jahren, und es scheint gerade wieder einmal mehr Menschen zu geben, die ihm folgen möchten, sagen wir: dem Prinzip, das er gelebt hat. Also nicht ganz ohne Erfolg. Was er gegebenenfalls seinen geheilten Patienten erklärte, galt auch ihm selbst: "Dein Glaube hat Dich gerettet".
Offenbar gibt es einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen der Größe der Gefahr und der Mobilisierung des menschlichen Antriebs. Es ist eine Menschheitserfahrung: Immer wenn für ein Zeitalter die Flammenschrift an der Wand erscheint, ereignet sich auch ein Aufbruch. Die Welt verändern aus einem Glauben. Auch Marx hat einen gehabt. Und soweit er nicht aufging, gilt immer noch sein Wort von den notwendigen Illusionen, ohne die nie was Besseres wird.
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Was vor der Zukunft zusammengehört
Rede auf dem Kongreß der "Grünen", der am 3./4.11.1979 in Offenbach tagte. Abdruck aus KRITIK Nr. 23.
Liebe Freunde und Genossen!
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Als Gast möchte ich Ihnen meine Einstellung zur Sache, die hier ansteht, vortragen. Meine Einstellung, nicht weniger, auch nicht mehr.
Sie wissen, ich habe mich dazu bekannt, ein "heimlicher" Grüner zu sein. Und damit bin ich jetzt freilich bereits ein "öffentlicher" Grüner. Nun kann sich ja Carl Amery mit seiner Diagnose nur auf meine <Alternative> bezogen haben, auf das Kapitel über Probleme und Perspektiven der allgemeinen Emanzipation heute, um das sich das ganze Buch dreht. Das ist eine sozialistische Alternative, für drüben wie für hüben, die ich da entworfen habe.
Das heißt aber: Carl Amery stellt indirekt fest, daß eine sozialistische Position einen — wie ich zumindest beabsichtige — umfassenden und radikalen grünen Denkansatz hergegeben hat, zu dem ich unverändert stehe. Rot und grün, grün und rot gehen also jedenfalls gut zusammen.
Die Grünen meinen schon jetzt mehr als nur den ökologischen Aspekt. Aus allem, was ich bisher an Materialien gesehen habe, geht hervor, sie wollen die allgemeine Emanzipation des Menschen — Mann und Frau —; sie wollen alle Verhältnisse umwerfen, unter denen der Mensch ein erniedrigtes und beleidigtes Wesen ist. Das war aber der kategorische Imperativ des jungen Marx.
Die allgemeine Emanzipation wird nie sein, wenn wir zuvor die Erde zugrunde richten. Und die Vernichtung wird nicht aufgehalten werden, wenn wir die Menschen nicht von ihren innersten emanzipatorischen Antrieben her mobilisieren. Der Protest, das Anti, das Verhindernwollen reicht nicht. "Sand ins Getriebe" ist noch kein Programm.
Wir brauchen das positive Ziel. Nur dann wächst, wo Gefahr ist, das Rettende auch.
Ich bin sicher, die Diskussion grün-rot oder rot-grün, offen und öffentlich ausgetragen, wird das nicht auseinanderdividieren, sondern zusammenbringen, was vor der Geschichte und vor allem vor der Zukunft zusammengehört.
Unsere Freiheit — die Freiheit des Andersdenkenden
Gestatten Sie mir hierzu ein kurzes Wort in eigener — sozialistischer — Sache.
Es sind hierzulande bestimmte Begriffe wie "kommunistisch" und selbst "sozialistisch" mit einer Art Bann belegt wie in keinem anderen westeuropäischen Lande sonst. In erster Linie wir Sozialisten selbst müssen genau begreifen, worin das wurzelt, und uns danach verhalten, damit wir uns wieder unbefangen bei unserem richtigen Namen nennen können.
Ich habe gezeigt, daß und warum es drüben, und zwar von der Geschichte Rußlands und der Sowjetunion, von der Geschichte der ganzen nichtkapitalistischen Welt her, ein System gibt, das kommunistisch genannt wird, das sich selbst sozialistisch nennt, ohne es zu sein.
Jeder, der hier in der Bundesrepublik etwas zum Besseren wenden möchte, sollte versuchen, sich einen neuen Begriff von Sozialismus zu machen, und das wird dann zugleich der alte sein, zurückreichend zu einem deutschen und westeuropäischen Marx, der darüber hinaus ein unbeirrbarer Internationalist war. Und noch weiter zurück in das breite Spektrum der utopischen Sozialisten und Kommunisten des 18. und 19. Jahrhunderts, die größtenteils aus der bürgerlichen Klasse hervorgegangen waren und das Erbe der Renaissance und der Aufklärung den Unterdrückten und Unterentwickelten der eigenen Gesellschaft zuwenden wollten.
Wir müssen nur aufhören, wir hiesigen und heutigen Kommunisten und Sozialisten, wir müssen aufhören, die Sowjetunion und Osteuropa sozialistische beziehungsweise kommunistische Länder zu nennen. Das gleiche gilt natürlich für China, beispielsweise.
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Denn sonst muß ja mißverstanden werden, wo wir hinwollen. Wir erstreben doch nicht eine verbesserte, von einigen Abstrusitäten gereinigte Variante jenes "real existierenden Sozialismus". Das ist ein ganz anderes System, ebensoweit vom wirklichen Sozialismus entfernt wie die westliche Welt. Dort können wir gar nicht hin, mit den zwei-, ja dreitausend Jahren westeuropäischer Zivilisation seit den Griechen, seit der Ilias hinter uns. Und dort wollen wir nicht hin, niemals und auf keine Weise. Um das glaubhaft zu machen, müssen wir uns in unserem Verhalten als entschiedene Demokraten erweisen, ohne geheime Vorbehalte. Wir müssen bis in unsere organisatorischen Prinzipien hinein die Freiheit des Andersdenkenden anerkennen und praktizieren.
Wir sind selbst verantwortlich, das klarzumachen und den großen Begriff des Sozialismus wieder zu den verdienten Ehren zu bringen, gerade in diesem Lande. Schließlich sind Marx und Engels hier geboren worden. Schließlich kommt der Marxismus als Philosophie über kurzen Weg aus dem Tübinger Stift. Und in der Gestalt einer Frau, die unter uns Deutschen gelebt hat, bis sie erschlagen wurde, haben die demokratischen Sozialisten und Kommunisten aller Länder ein menschliches Leitbild, unter dem sie sich wiedervereinigen könnten: in der Gestalt der Rosa Luxemburg. Wir sollten so sein, daß wir den Leuten sagen können: Schaut auf dieses Menschenbild, und ihr werdet wissen, wer wir sind und wohin wir wollen.
Dabei ist heute klarer denn je, daß der bisherige sozialistische Ansatz zu eng geworden ist, selbst in seiner besten, von keiner staatstragenden Parteibürokratie abgewirtschafteten Form. Der Sozialismus ist heute weit mehr und muß weit mehr sein als eine Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung überkommenen Stils.
Wird doch der Kampf um gerechte Verteilung des Sozialprodukts zwischen den Lohnabhängigen und dem Unternehmertum der reichen "westlichen" Industriestaaten auf dem Rücken der übrigen Menschheit ausgetragen. Wir können nicht länger so tun, als hinge von dem Ausgang der inneren Klassenkämpfe um den Reallohn und um die Frage, welche Partei den Staat vornehmlich kontrollieren soll, das allgemeine Schicksal ab. Die ungeheuren Gegensätze auf der Nord-Süd- und auf der Ost-West-Achse, die unauflöslich miteinander verflochten sind, greifen über. Das dürfen wir bei keiner roten, bei keiner grünen und bei keiner r.ot-grünen Konzeption vergesssen. Eine innenpolitische Fragestellung — und auch Westeuropa ist eigentlich noch Innenpolitik — könnte für sich allein genommen zu sehr unzulänglichen Perspektiven führen.
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Über negative Fixierungen und neue politische Aufgaben
Lenin — wenn es erlaubt ist, ihn zu erwähnen — liebte zu sagen: Für die Maus gibt es kein größeres Tier als die Katze. Daran erinnert mich ein wenig die Art und Weise, in der die alternativen Kräfte hier zum Beispiel auf die etablierten Parteien reagieren, oder auf die Atomkraftfrage.
Die etablierten Parteien versagen tatsächlich permanent vor der Forderung des Tages, eine langfristige Politik für das Überleben der Menschheit zu entwerfen und vor allem auch zu praktizieren. Und die Atomkraftwerke eignen sich tatsächlich für eine exemplarische Auseinandersetzung um das gesamte soziale Herangehen an den technischen Apparat. Es wäre von kaum zu überschätzender Bedeutung, wenn an diesem Beispiel der Verzicht auf eine machbare Technologie erzwungen werden könnte.
Aber gewichten wir auch richtig? Die Atomkraftwerke, sollten sie dennoch gebaut werden, verschwinden als Gefahr gegen die Folgen, die eine Stationierung fortentwickelter Atomraketen in diesem Lande nach sich ziehen könnte. Wenn eine neue Runde des Wettrüstens anläuft, das doch ganz offenbar eine der mächtigsten Triebkräfte des Wachstums, der Ressourcenverschwendung, der Umweltbelastung in jeder Hinsicht ist, könnte die Anti-AKW-Bewegung leicht der Mops sein, der zwischen den Beinen des Elefanten herumspringt.
Und in solchem Rahmen müßte man auch sehr verantwortungsbewußt die parteipolitische Konstellation überlegen. Was könnte — über die Grenzen der Landes hinaus, sowohl gegenüber dem östlichen Partner und Gegner als auch nach Westeuropa hin als auch in bezug auf eine neue Wirtschaftsordnung in Nord-Süd-Richtung — davon abhängen, welche der beiden prinzipiell unbefriedigenden etablierten Hauptparteien die Regierung führt?
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Eine Bewegung, die eine ganze Zivilisation retten will, muß fähig sein oder fähig werden, aus dem heute globalen Gesamtzusammenhang heraus zu denken. Und sie muß für das Ganze denken. Daß uns eine Partei, der wir vielleicht einmal angehörten oder nahestanden, enttäuscht hat, das allein führt noch nicht über das Dilemma hinaus, in dem sie sich verschlissen hat.
Die Frage der SPD ist weitestgehend die Frage des allgemeinen politisch-psychologischen Kräfteverhältnisses in der Bundesrepublik Deutschland. Wir müssen den genügend langen Atem und die genügend große, genügend tiefe Konzeption haben, es zu ändern. Dann ändern wir vielleicht die SPD mit. Können wir denn hoffen, ohne das Potential, das diese Partei repräsentiert, zu irgendwelchen grundlegenden Ergebnissen zu kommen? Ich glaube nicht, daß bei solcher Strategie mehr als Pyrrhussiege möglich wären, gerade auch für die ureigensten grünen Anliegen. Kritische und allerdings effektive Herausforderung an die sozialreformistische Strömung — ja! Ressentimentgeladene Konfrontation mit ihr - nein!
Jedenfalls sollte man da einstweilen noch vieles offenlassen. Es ist trotz aller Einebnung aktueller Unterschiede in der Re-gierungs- und Verwaltungspraxis perspektivisch nicht wahr, daß alle beide Katzen gleich grau wären. Vergessen wir doch Weimar nicht. Was ist dabei herausgekommen, als die deutschen Kommunisten damals fanden, man müsse das Feuer auf die Sozialdemokratie konzentrieren, da sie die Hauptstütze der Bourgeoisie und daher eigentlich schlimmer als diese sei.
Unsere westeuropäische Zivilisation, hier und wo sie sonst noch Fuß gefaßt hat, kann nicht gerettet und mit den übrigen Zivilisationen versöhnt werden, wenn nicht eine breite Konzentration politischer Kräfte zustande kommt, die die Massenkraft auf die Beine bringt, den Gesamtkurs zu ändern. Diese Konzentration scheint mir nicht denkbar ohne die verschiedenen Kräfte sozialistischer Tradition in der Mitte eines solchen Blocks.
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Denn wir werden keinen einzigen ökologischen Engpaß zwingen, wir werden das sogenannte Wachstum nicht zum Stillstand bringen, wenn es nicht gelingt, den ökonomischen Mechanismus der Monopolkonkurrenz um Höchstprofite, Umsatzsteigerung, Marktanteile — unterm Strich alles ein und dasselbe Prinzip — zunächst unter rigorose Kontrolle zu bringen und dann als Regulator völlig zu ersetzen. Und ist die entfremdende Bedürfnisstruktur der Massen, an deren Überwindung uns auch als Grüne so viel, subjektiv vielleicht sogar am meisten gelegen ist, etwa nicht hauptsächlich die Kehrseite jenes ökonomischen Prinzips?
Die psychologische Revolution, die wir alle für dringend halten, geht eben gegen die vom Kapitalismus erzeugte Art zu konsumieren. Sie kann nicht durchschlagen, wenn wir den ökonomischen Antriebsmechanismus unangetastet lassen. Alle konkreten Maßnahmen, die das grüne Konzept vorschlägt, rechnen de facto auf Umsetzung über den Staat, von der kommunalen über die Landes- bis zur Bundes- und übernationalen Ebene. Man muß eine Politik entfalten, wie man langfristig die Staatsmaschine in das Instrument der sozialen Kontrolle über alle monopolistischen Sonderinteressen verwandeln könnte. Das heißt, man muß eine Massenbewegung, diese aber in der vollen Breite der sensibilisierbaren Kräfte, als Keil zwischen den Staatsapparat, der ja aus Menschen besteht, und die monopolistischen Lobbies aller Art treiben. Dann kann dieser Apparat in einer neuen Richtung arbeiten, die ihm von den Mehrheitsinteressen vorgeschrieben wird.
Kräfte, die zusammengehen müssen
Um es also zusammenzufassen:
Die Sozialisten brauchen die Grünen, weil die Sicherung des Überlebens die Bedingung dafür ist, daß ihre alten Ziele erreichbar bleiben.
Die Sozialisten werden von den Grünen gebraucht, weil das Überleben nur gesichert werden kann, wenn der Antriebsmechanismus der Monopolkonkurrenz außer Betrieb gesetzt wird.
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Und dann müssen wir den politisch-psychologischen Rahmen noch um eine andere sehr wesentliche Dimension erweitern. Wir müssen alle guten Geister rufen, die an den Grundlagen unserer Zivilisation Anteil haben und ihre Werte bewahren und weitertragen möchten. Hier ist zu denken an die liberalen Traditionen, und vor allem an die engagierten Christen.
Die Sozialisten werden von den Christen gebraucht. Ich hatte geschrieben, der Kapitalismus ist das gottferne Zeitalter. Christen, ja Kirchen nehmen jetzt in allen wirklich für das Schicksal unserer Zivilisation entscheidenden Fragen eine Haltung ein, die sich gegen die Auswirkungen des herrschenden ökonomischen Systems richtet. Nur ist moralischer Appell ohne politische Aktion uneffektiv. Wir müssen den politischen Rahmen dafür bereithalten.
Wir Sozialisten brauchen die Christen.
Infolge unserer bisherigen Aufgabe, die unterprivilegierten Massen zu vertreten, haben wir es schwer mit uns, das Ansammeln von materiellem Wohlstand, das Loslassen zugunsten anderer, subjektiverer Werte zu lernen. Wir müssen unsere Ohren öffnen für den Sinn des Wortes "Ihr sollt Euch nicht Schätze sammeln auf Erden". Heute und hier, in so reichen Ländern, ist wieder sonnenklar, was aus dem Neuen Testament hervorgeht: Christus hat die Armut nicht den Armen, die Demut nicht den Erniedrigten und Beleidigten und das Maßhalten im Genießen nicht den scheuen Mauerblümchen gepredigt. Die Erfahrung mit dem Wohlstand hat uns neu gelehrt, daß das Bedürfnis nach irgendeiner Art religiöser Transzendenz eine menschennatürliche, innerweltliche Angelegenheit ist, eine psychische Realität. Auch Marxisten können das zur Kenntnis nehmen.
Überdies: Wo es je in der Geschichte echten kulturellen Umbruch gab, ging es niemals ab ohne Mobilisierung bis in diese innerste Sphäre menschlicher Motivation. Und unstrittig war Christus in dieser Zivilisation der erste Lehrer unseres letzten Ziels, der erste Lehrer der allgemeinen Emanzipation des Menschen.
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Kurzum — wir müssen versuchen, all das in einer Bewegung zusammenzuführen, was in die Richtung unseres Zieles strebt, diese Zivilisation und die Weltzivilisation überhaupt zu retten sowie die allgemeine Emanzipation des Menschen — Mann und Frau — voranzubringen. Wir müssen jeglichen Ballast über Bord werfen, der die Vereinigung hindert. Nichts kann ihr mehr im Wege sein als traditionelles linkes und sonstiges Sektierertum. Jeder mag seinen theoretischen Lieblingsgedanken, seinen besonderen Zugang zur allgemeinen Sache weiterpflegen und positiv einbringen. Aber in den Weg stellen soll er ihn nicht.
Wir müssen denjenigen verantwortlichen Menschen in den etablierten Parteien — in allen drei etablierten Parteien —, die noch etwas wollen über die tägliche politische Arithmetik und Administration hinaus und die uns keineswegs alle gleich sichtbar folgen müssen, einen idealen Rückhalt, einen Ort der Regeneration bieten. Verneinen und verweigern ist da kein Programm, läuft meist auf einen scheinrevolutionären Subjektivismus hinaus.
Man war sich nie so einig wie jetzt über die Existenz der Probleme, vor denen die Menschheit heute steht. Sollten die Geister nicht auch darin konvergieren, wie man sie lösen kann und wie man demnach handeln und leben muß?
Mir scheint, wir sollten noch mehr und noch genauer nachdenken über die Zielsetzung und über den Weg des Zusammenschlusses in einer Bewegung, die unser immer noch schönes Land von innen heraus umgestalten kann. Man muß das Programm so entwickeln, daß es im Keim die Möglichkeit enthält, auf längere Sicht mehrheitsfähig zu werden. Wir haben vielleicht heute hier vor uns den echten und aussichtsreichen Ansatz einer kulturell umwälzenden Massenbewegung. Um ihn nicht in einem kurzfristigen Abenteuer zu gefährden, sollte man nichts voreilig festschreiben.
Man muß sich die Zeit nehmen, mit der Mehrheit der jetzt schon Teilhabenden und weit darüber hinaus ein Konzept auszuarbeiten, das nicht nur in der Gemeinde, im Kreis, im Land, sondern auf nationaler und damit auf internationaler Ebene bestehen und Raum greifen kann. Dann kann das weit führen, was klein an der Basis und aus der Mitte unserer existentiellen Probleme begonnen hat und nun auf weiterem Plan zusammenwachsen soll.
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Rede auf dem Kongreß der "Grünen", der am 3./4.11.1979 in Offenbach tagte. Abdruck aus KRITIK Nr. 23.
Warum ich als Sozialist zu den Grünen gehe
Manuskript der vollständigen Disposition der Rede Rudolf Bahros auf dem Gründungskongreß der "Grünen" am 12./13.1.1980 in Karlsruhe.
Liebe Freunde und Genossen!
Nur mit dem überaus breiten Spektrum, aus dem sie sich gründen will, wird die Grüne Partei ein wesentliches und nicht allein für die Bundesrepublik bisher beispielloses Experiment sein, das sorgsamster Behandlung wert ist. Nur so bietet es die Chance, langfristig eine fruchtbare neue Kräftekonstellation gegen das erstarrte parteienpolitische Schema zu setzen. Die Kräfte im Lande sind "falsch sortiert". Es steht eine Neugruppierung an, d.h. eine Gruppierung nach neuen Kriterien, nicht eine Neuverteilung innerhalb des alten Musters. Werden die Grünen einen Beitrag dazu leisten? Wie klar sind wir uns über das Außerordentliche des Versuchs? Ich will "ins Schwedische übersetzen", um ohne Anspruch auf genaue Stimmigkeit des Vergleichs deutlich zu machen, was wir hier versuchen.
Es gibt in Schweden zwei entschieden ökologisch orientierte Parteien. Das ist einerseits die konservative Zentrumspartei, die gegenwärtig den Ministerpräsidenten stellt, eine Partei, die ursprünglich vom Lande kommt, eine Bauernpartei war. Und das ist andererseits die nach neuen Ufern Ausschau haltende, nicht mehr stalinistische Linkspartei Kommunisten, die übrigens ihren zweiten Zulaufschwerpunkt — neben dem Ökologieproblem — in der Frauenbewegung besitzt.
Die Grünen sind der Versuch, Potentiale, die in anderen Ländern mindestens zwei Parteien traditioneller Konstellation bilden, weil sie der Herkunft nach tatsächlich sehr verschieden sind, unter einem Dach zusammenzuführen. Gerade der von links kommende Flügel bejaht diesen Versuch, wenn sich auch noch nicht alle seine Vertreter über die Verhaltenskonsequenzen einer solchen Option klar sind. Ich hoffe, die Mehrheit derjenigen Grünen, die nicht von links kommen, bejaht ihn auch. Gegenwärtig wird offenbar eine Weiche für lange Fristen gestellt. Das sollten wir alle wissen. Vor Tisch dividieren wäre nicht gut.
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Wenn ich mich nicht für eine organisatorisch selbständige sozialistische Alternative einsetze, dann aus der Einschätzung heraus, daß eine Grüne Partei, die in sich selbst den notwendigen historischen Kompromiß praktiziert, unter den Bedingungen der Bundesrepublik langfristig die beste Lösung wäre, und wirklich ein neues Wort.
Wir Sozialisten wollen da offen unseren Anspruch einbringen, im Geiste einer auf den Partner eingehenden inhaltlichen Diskussion. Aber wir wollen aus prinzipiellen Erwägungen nicht den unfruchtbaren und illusorischen Kurs verfolgen, die grüne Sache rot zu überfahren. Die Grünen sind keine linke bzw. sozialistische Aushilfspartei.
Unsere Gründe sind absolut tragfähig. Ohne Überwindung der ökologischen Krise, die den Bestand der menschlichen Zivilisation auf dieser Erde in Frage stellt, wird die bloße Möglichkeit des sozialistischen Ziels — der allgemeinen Emanzipation des Menschen, Mann und Frau — illusorisch.
Wer unter Sozialisten, die mit den Grünen gehen wollen, noch über Tarnkappen redet, um sich gegenüber Genossen reinzuwaschen, die die Klassenfrage stellen, hat das noch nicht bis zur Neige begriffen.
Marx und Engels haben explizit die Möglichkeit anerkannt, daß eine historische Konstellation auf den gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen hinausläuft, dann nämlich, wenn man in der Stunde, da eine Zivilisation verendet, keine revolutionäre Klasse vorfindet, die einen neuen Anfang setzen könnte. In meinen Augen zeigt der traditionelle Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital, wie er jetzt üblicherweise von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften verwaltet wird, alle Anzeichen eines toten Rennens. Einige Genossen, deren Denkmodell auf eine unwiederbringlich vergangene Periode fixiert ist, sprechen unentwegt z.B. vom "noch (zu) geringen Niveau des Klassenkampfes".
Seht ihr denn noch immer nicht: Der Kaiser ist nackt. Die <welthistorische Mission des Proletariats> war eine Illusion, sofern dieser Gedanke an der Arbeiterklasse, wie sie tatsächlich ist und selbst in ihren besten Zeiten war, ansetzte. Gerade hierin hat Marx geirrt.
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Meint ihr denn wirklich, mit den kurzfristigen und unmittelbaren Arbeiterinteressen immer noch den kleinen Finger festzuhalten, über den man zuletzt doch noch die ganze Hand bekommt: den Sozialismus via Spartakusaufstand, via proletarische Revolution? Sehr viele Arbeiter als Menschen werden mit uns über den Teufelskreis des Verteilungskampfes, in dem sich das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital bloß erhält, hinausgehen. Wir müssen an ganz neue Kombinationen denken, wenn wir die soziale Massenkraft einer gesamtgesellschaftlichen Krisenlösung und die Form dafür suchen.
Die Sozialisten werden heute nicht gebraucht, um gewerkschaftlicher als die Gewerkschaft zu sein. Einerseits: Der DGB macht das schon, im großen und ganzen, und wir sind weit entfernt, die relative Bedeutung der Tarifkämpfe zu leugnen. Andererseits: Über DGB und SPD, wie sie sind, kommen wir niemals an die Grundfesten der bestehenden Zustände heran. Der Kampf um die Überwindung der ökologischen Krise hat Priorität gegenüber einem solchen Klassenkampf, der ohne systemüberschreitende Perspektive ist, mehr noch, der so verläuft, daß jede neue Runde im Karussell der Rationalisierung, der Inflation und der Tarifabschlüsse den Kessel weiter anheizt für eine bei Fortsetzung unvermeidliche Explosion.
Der Kampf um gerechte Verteilung innerhalb der reichen Länder muß nicht etwa aufgegeben, aber er muß neu eingeordnet werden. Mit dieser Einstellung tarnt man sich nicht grün — etwa weil die Aussichten für etwas anderes schlecht stünden, sondern man ist es. Ich denke radikal ökologisch. Jedes Prozent Mehrproduktion ist zuviel, weil jedes Prozent Mehrverbrauch endlicher und unwiederherstellbarer Naturgüter eine Schädigung der übrigen Menschheit wie unserer eigenen Kinder und Kindeskinder ist. Und man kann nicht mehr sagen "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun".
All jene, die die Grünen eine Einpunkt-Bewegung nennen, sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ihr Ansatz greift in alle Punkte ein.
Führen wir uns nur vor Augen:
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Die ökologische Krise ist unlösbar ohne die Überwindung der Blockkonfrontation Ost-West, die auf beiden Seiten Wettrüsten und Wirtschaftswachstum antreibt und so doppelt selbstmörderisch ist.
Die ökologische Krise ist unlösbar ohne eine neue Weltwirtschaftsordnung auf der Nord-Süd-Achse. Sehen wir doch, wie dort als Antwort auf unsere ausbeuterischen und kulturzerstörerischen Eingriffe eine zweite Blockkonfrontation heranwächst, die in anderen Formen mindestens so mörderisch zu werden droht wie die erste.
Die ökologische Krise ist unlösbar ohne soziale Gerechtigkeit in den industriell entwickelten Ländern. Und da kann es sich nur um einen Ausgleich zugunsten derer handeln, die vergleichsweise zu kurz kommen in dieser nach wie vor kapitalistischen Gesellschaft. Es sind nun einmal nicht die Arbeiter, die das Schwungrad des wirtschaftlichen Wahnsinns umtreiben. Sie werden nur durch ihre abhängige Lage dazu bestimmt, mit daran zu drehen. Sie sind nicht gleichermaßen schuld. Nur wenn wir uns darüber klar sind, haben wir Aussicht, der Maßhaltepolitik der Monopole und Machtapparate eine eigene Maßhaltepolitik im Interesse der großen Mehrheit entgegenzustellen, wie es offensichtlich notwendig ist.
Daher, weiterhin, ist die ökologische Krise unlösbar ohne Fortschritt der menschlichen Emanzipation, ohne Erhebung über die kompensatorischen Konsum-, Prestige- und Machtbedürfnisse jetzt, so daß trotz der bestehenden Bedingungen praktische Wege zu einer neuen, alternativen Lebensweise für alle gesucht werden müssen.
Schließlich ist die ökologische Krise unlösbar — und das folgt aus allem Vorigen — ohne eine die verschiedensten alternativen Denk- und Lebensansätze zusammenführende Umkehrbewegung, die einen solchen Grad an Zusammenhalt und Übereinstimmung erlangt, wie er früher nur mit religiösem Anspruch erreichbar war. Heute aber muß jedenfalls auch mehr Rationalität im Spiele sein, wenn wir über die bestehende Wirtschaftsordnung hinauswollen. Die ökologische Krise wird den Abschied vom Kapitalismus erzwingen. Nur muß uns dazu mehr einfallen als abstrakte Enteignungsideen.
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Wer heute in einem theoretischen Sinne Marxist sein will, der muß vor allem eines in Angriff nehmen: die überlieferte politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus ökologisch umschreiben und neu bedenken, wie gesellschaftliche Aneignung möglich sei, nachdem bisher das Enteignen manchmal wohl, das soziale Aneignen nie länger geklappt hat. Danach wird nichts in unserer ökonomischen Theorie mehr ebenso aussehen wie bisher — nichts mit zwei Ausnahmen: dem Ziel der allgemeinen Emanzipation und dem Angriffspunkt der Analyse. Das wird nach wie vor der Kapitalismus sein, die kapitalistische Wirtschaftsverfassung dieser Gesellschaft.
Die heutige ökologische Krise ist in einem zweihundertjährigen Anlauf vom Industriekapitalismus heraufbeschwören worden. Alle anderen Systeme, voran das östliche, sind von ihm in diesen Tanz hineingerissen worden und vollziehen sein Naturverhältnis in einem erzwungenen Konkurrenzkampf nach. Natürlich hat das Dilemma im anderen Block inzwischen längst auch Eigendynamik erlangt. Aus alledem dürfte klar werden: Wir stellen uns nicht gegen die alte Arbeiterbewegung. Sie reicht nur nicht mehr aus (...)
Das Schicksal einer Grünen Partei zum jetzigen Zeitpunkt wird entscheidend vom Niveau ihrer inneren Kommunikation und Toleranz abhängen. Um "vorn" herauszukommen, muß es gelingen, die ihrer Herkunft nach heterogenen Elemente zusammenzuführen. Das ist möglich, weil sie in der ökologischen und damit objektiv antikapitalistischen Orientierung einen gemeinsamen Nenner haben. "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn" kann dann ein gutes Selbstverständnis sein, wenn man sich völlig darüber klar ist, daß rechts und links in der grünen Bewegung noch Realitäten sind und noch lange Realitäten bleiben werden.
Es wäre unzutreffend, anzunehmen, hier stünden sich Rot und Grün gegenüber. Da gibt es Rote bzw. Linke, die die Priorität der ökologischen Herausforderung begriffen haben und damit zugleich echte Grüne sind. Und da gibt es Menschen aus allen anderen Linien des politischen Spektrums bis hin nach sehr weit rechts, die ebenfalls die Priorität der ökologischen Herausforderung begriffen haben. Grün ist das Dritte, ist das Bindeglied. Die gesellschaftliche Notwendigkeit einer grünen Alternative scheint mir offensichtlich. Ich bin von ihrer langfristigen Durchschlagskraft überzeugt.
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Ob sie jetzt schon durchschlägt, hängt davon ab, wie weit die Beteiligten selbst die ökologische Krise begriffen haben. Wer das ernst nimmt, daß es ums Überleben geht, und zwar in einer menschlich für uns absehbaren Zeit, wie kann der mit Ausgrenzungsvorschlägen beginnen? Unvereinbarkeitsbeschlüsse sollten nur solchen Organisationen gelten, die als Wahlparteien konkurrieren. Und da sind sie überflüssig, weil sie sich von selbst verstehen. Gegen andere Gruppierungen können sie überflüssig werden: dann, wenn das Experiment der Grünen Partei gelingt. Ich persönlich bin der Meinung, es wäre ein Fortschritt im Sinne unserer linken Positionen (und nicht nur gegenüber den Grünen), wenn sich die zentralistisch strukturierten Gruppen auflösen würden. Aber wenn sich die Mitglieder solcher Gruppen ehrlich an der Arbeit der Grünen beteiligen, muß man ihnen die Zeit für den notwendigen Diskussions- und Lernprozeß geben.
Besondere Interessenzusammenschlüsse im Rahmen einer vielflügeligen Partei verbieten zu wollen, wäre organisationspolitisch naiv. Andererseits sollte sich niemand selbst ausschließen. Wenn alle eintreten können, Genossen, dann tretet doch ein! Sonst seid ihr mit schuld, wenn es eine Enttäuschung gibt. Ich erkläre hiermit meinen Beitritt zu den Grünen. Ich trete nicht deshalb ein, um eine Rolle als Chefideologe zu spielen, sondern um einfaches engagiertes Mitglied zu sein. Und wenn man, wie im Stern, schon 7 Männer für die Grünen stellt, dann muß man neben sie auch 7 Frauen stellen. Nach dem altchinesischen Sprichwort: Die Frauen sind die Hälfte des Himmels. Eine alternative Partei muß sich auch für die Überwindung des Patriarchats einsetzen.
Im Hinblick auf die mit der Bundestagswahl aufgeworfenen Probleme und auf die Situation der 80er Jahre braucht der linke, sozialistische Flügel innerhalb und außerhalb der Grünen, innerhalb und außerhalb der SPD, eine neue Form des Zusammenwirkens jenseits des bisherigen zersplitterten Gruppenwesens, ohne dabei an konventionelle geschlossene Parteiorganisationen zu denken. Wir müssen unsere Selbstverständigung und unsere theoretische Arbeit effektiver und kooperativer organisieren. Ich trete in diesem Sinne für eine allgemeine "Sozialistische Konferenz" zwischen den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ein.
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Der von links kommende Teil der grünen Bewegung hat einen Nachholbedarf in puncto ideologische Bewältigung der ökologischen Krise. Wir müssen zum Beispiel das bekannte Buch von Herbert Gruhl erst einmal lesen, ohne das Urteil an einzelnen Reizworten festzumachen, die uns nicht passen. Für mich gibt es im Hinblick auf unsere Rolle in einem grünen Dialog keinen wichtigeren Lesestoff im Sinne der Herausforderung, die positiv angenommen sein will. Es geht um die Frage, ob wir in eine wirkliche Diskussion hineingehen wollen oder nicht. In diesem Buch sind Probleme kenntlich gemacht, auf die wir Marxisten und Sozialisten aus unserer Tradition keine hinreichende Antwort mitbringen. Auch meine eigene bisherige Konzeption reicht nicht aus.
Daß wir ideologisch und mental verschieden auf gewisse — indessen erst einmal zur Kenntnis zu nehmende — Tatsachen reagieren, ist kein Grund, die andere Position in einer den Dialog ausschließenden Weise abzuqualifizieren und, was noch viel schlimmer wäre, darüber die Augen vor den Tatsachen selbst zu verschließen. Ich finde es katastrophal, daß es Marxisten gibt, die den endlichen Umfang der ausbeutbaren Erdrinde bestreiten. Ich denke, daß eine schwere Fehlhaltung vorliegt, wenn man das Werk von Gruhl lesen kann, ohne von dem objektiven und subjektiven Ernst des Anliegens betroffen zu sein. Leider gibt es hierzulande bisher kein Buch, das dem von rechts kommenden bzw. — umfassender — dem nicht marxistisch und sozialistisch orientierten Teil der grünen Bewegung unsererseits mit derselben Dringlichkeit zum Lesen zu empfehlen ist. Wir haben an der grünen Bewegung eine große Arbeit vor uns, die einer großen Mitverantwortung entspricht.
Die Spannung, die aus der Heterogenität der Herkunft erwächst, kann nur produktiv bewältigt werden, wenn man sie nicht verleugnet, wenn man nicht versucht, einfach über sie hinwegzugehen. Man kann, soll und darf nicht verleugnen, woher man kommt, und es darf eine solche Verleugnung von keiner Seite gefordert werden. Man kann nicht am Anfang eines Vereinigungsprozesses sein Ziel als erreicht voraussetzen. Dann macht man ihn unmöglich. Wenn vorab faule Kompromisse erzwungen oder konzediert werden, wird nur ein giftiger Spaltpilz gesetzt.
Die unterschiedliche Herkunft und die unterschiedlichen spezifischen Hoffnungen, die in die grüne Sache einfließen, zu verdrängen, würde in der Praxis immer bloß darauf hinauslaufen, den jeweils anderen als "rechts" oder "links" zurückgeblieben, sich selbst aber als "vorn" zu definieren. Der Weg nach vorn ist nur durch diese Realitäten hindurch zu gewinnen.
Man muß innerhalb der grünen Bewegung und in dem sehr viel engeren Raum einer grünen Partei den Kampf nicht gegen rechts, nicht gegen links führen, sondern um die ideelle Annäherung und — wo es nicht anders geht — um den eingestandenen, prinzipiellen Kompromiß bei Anerkennung der Koexistenz der Standpunkte. Ideologische Differenzen können natürlich nicht durch Mehrheitsbeschlüsse beigelegt werden.
Man muß den Kampf um die Auflösung gegenseitiger Mißverständnisse und Vorurteile über ideologische Parteiungs- und Generationsgrenzen hinweg führen, um erst einmal herauszufinden, wo derzeit wirkliche Unverträglichkeiten bestehen und welcher Stellenwert ihnen angesichts neuer historischer Erfordernisse zukommt. Das erfordert aktive Arbeit zur Vertiefung und Präzisierung der gemeinsam verfolgten Konzeption.
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Manuskript der vollständigen Disposition der Rede Rudolf Bahros auf dem Gründungskongreß der "Grünen" am 12./13.1.1980 in Karlsruhe.