Zur allgemeinen Theorie des historischen Kompromisses
Konzeption für ein Forschungsvorhaben an der Universität Bremen
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Ausgangspunkt ist ein positives und - aufgrund einer bestimmten theoretisch-politischen Absicht - bewußt idealisierendes Aufgreifen der von der Italienischen Kommunistischen Partei entwickelten Strategie des "historischen Kompromisses".
Diese Formel ist pragmatisch entworfen und zumindest teilweise in opportunistischer Form angewandt worden. Ihr Gehalt ist tatsächlich reformistisch, dies jedoch auf eine Weise, daß sie bei konsequenter Ausarbeitung auf eine ideologische Massenmobilisierung für Reformen revolutionären Inhalts, für Reformen großen, systemüberwindenden Stils orientieren kann.
Mit dem "historischen Kompromiß" hat sich, gegen manchen Anschein, die aktivste, offensivste, realisierungsfähigste Konzeption zur Transformation der "westlichen" bürgerlichen Gesellschaft seit der Russischen Revolution herausgebildet. Aufgrund dieser Auffassung habe ich bereits in Bautzen über das Thema' "Hintergrund und Horizont des historischen Kompromisses" gearbeitet. Nach meiner Überzeugung bietet dieser Denkansatz, der zunächst "nur" den Dreh- und Angelpunkt eurokommunistischer Orientierung ausmacht, die Möglichkeit einer verallgemeinernden Theoriebildung, die sowohl über die spezifisch italienische Konstellation und die dortige Parteipraxis als auch über den Rahmen des Eurokommunismus überhaupt hinausführt.
Zum ersten Mal seit der Zeit des Erfurter Programms der deutschen Sozialdemokratie, auf das hin es am Ende des 19. Jahrhunderts einen annähernden Konsens aller Sozialisten gab, zeichnet sich mit dieser Formel wieder die Aussicht auf eine programmatische Weg-und-Ziel-Konvergenz in der weltweiten Bewegung für Sozialismus ab.
Es bedarf eines Theorieschubs, um diese Chance zu nutzen.
Eine allgemeine Theorie des historischen Kompromisses könnte zur ideologischen Grundlage für einen Prozeß der Annäherung, wachsenden Aktionseinheit und schließlichen Wiedervereinigung aller sozialistischen Strömungen in den hoch- und selbst den mittelentwickelten Industriestaaten (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien, wesentliche Länder Lateinamerikas, einige Länder auch in anderen Regionen) werden.
Notwendig für eine solche Theorie ist zunächst eine Rezeption der tiefgreifenden Veränderungen, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb und — im Gegenzug zu ihrer globalen Kolonialexpansion — außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen haben. Ebenso notwendig ist das Studium der aktuellen sozialen und politischen Situation in allen ökonomisch-geographischen Zonen, das natürlich nur zum geringsten Teil unmittelbar erfolgen kann. Dabei wird von etwa der folgenden Grundeinstellung ausgegangen:
Nach Marx sollte die Zuspitzung der antagonistischen Klassenwidersprüche in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern dort zu jener endgültigen sozialen Revolution führen, in deren Folge durch internationale Solidarität und Hilfe zugleich die Probleme der weniger entwickelten und kolonialisierten Völker ihre Lösung finden würden. Nun hat die im Kapital analysierte Polarisierung der bürgerlichen Gesellschaft jedenfalls nicht zur Umsetzung in das rationalistisch zu erwartende psychologische und politische Kräfteverhältnis geführt. Es ist nicht mehr wahrscheinlich, daß die Krise der bürgerlichen Gesellschaft eine Lösung im Sinne der überlieferten Erwartungsperspektive einer proletarischen Revolution finden wird.
Ausschlaggebende Tatsache der Gegenwart scheint vielmehr die eindeutige Dominanz der äußeren über die inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft. Der Ost-West- und vor allem der Nord-Süd-Gegensatz greifen über. Der innere Klassenkampf um den Reallohn, um die Arbeits- und Lebensbedingungen zeigt die Tendenz, zu einer Unterfunktion der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Konfrontationen mit der Zweiten, Dritten und Vierten Welt zu werden, in denen weit mehr als durch die inneren Auseinandersetzungen das künftige nationale wie internationale Schicksal entschieden wird.
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Unter solchen Bedingungen wäre es anachronistisch und gefährlich, weiter Lösungen auf dem Wege der Forcierung innerer Klassenwidersprüche anzustreben. Es wird vielmehr darauf ankommen, sie in einer solchen Richtung zum relativen Ausgleich zu bringen, daß zugleich der äußere Ausgleich in Gestalt einer radikal erneuerten Weltwirtschaftsordnung möglich wird.
Endgültig unterstrichen wird die Notwendigkeit einer umfassenden und konvergenten Neuorientierung aller sozialistischen Kräfte durch die unmittelbar aus der kapitalistischen Produktionsweise erwachsende ökologische Krise. Es genügt, der herrschenden und immer noch global übergreifenden Tendenz der schrankenlosen Expansion des Material- und Energieverbrauchs sowie der Störung des Naturgleichgewichts durch die verschiedensten Endauswirkungen unserer Technologie den normalen freien Lauf zu lassen. Dann werden wir im Verlauf weniger Jahrzehnte die gesamte menschliche Zivilisation zugrunde richten, die Existenz des Menschen als Gattung in Frage stellen und schwerste antagonistische Zusammenstöße heraufbeschwören.
Dies ist eine im klassischen Marxismus weitgehend unvorhergesehene reale Katastrophenperspektive. Sie abzuwenden ist undenkbar ohne eine Politik rechtzeitigen historischen Kompromisses auf breitester Basis, d.h. zwischen allen Kräften, die an der Bewahrung und" qualitativen Höherentwicklung unserer eigenen wie der Weltzivilisation interessiert sind. In summa finden wir die Bedingungen für jene allgemeine Emanzipation des Menschen, die das unaufgebbare Ziel aller sozialistischen Bewegung war und ist, so grundlegend verändert, daß es einer konsequenten und kohärenten Revision unseres gesamten Theoriefundaments bedarf. Moderne revolutionäre Theorie wird sich ähnlich zum klassischen Marxismus zu verhalten haben wie seinerzeit die relativistische zur klassischen Physik.
Konzeption für ein Forschungsvorhaben an der Universität Bremen
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Über das Wahre am Antikommunismus
Nichtabgedruckte Passagen eines Interviews der Bunte-Liste-Zeitung, Hamburg.
Wir müssen, glaube ich, damit wir uns richtig verhalten können, noch besser begreifen, warum der Antikommunismus so tief wurzelt, damit wir überhaupt der Sache Herr werden können. In der Bundesrepublik sitzt er besonders tief. Die speziellen nationalgeschichtlichen Gründe dafür brauche ich nicht zu erwähnen. Aber vielleicht das folgende: Es hat in Deutschland, in Europa doch einen Antikommunismus gegeben, der auf das Kommunistische Manifest reagierte. Dieser erste Antikommunismus hat es jedenfalls nicht geschafft, breite Massen selbst der werktätigen Bevölkerung ins Bockshorn zu jagen.
Dann hat es einen Antikommunismus gegeben, der nicht mehr bloß auf das Kommunistische Manifest als auf ein Papier und eine zunächst schmale dazugehörige Bewegung reagierte, sondern bereits auf die Pariser Kommune von 1871 und auf eine mächtige Arbeiterbewegung. Dieser zweite Antikommunismus hat es noch weniger geschafft, die nun schon sehr breiten werktätigen Massen abzuschrecken; er hat ziemlich große Kreise der bürgerlichen, besonders der kleinbürgerlichen Intelligenz in Deutschland am Ende des vorigen Jahrhunderts nicht davon abgehalten, in die Sozialdemokratische Partei zu strömen, als die noch ein unverblümt marxistisches Programm hatte.
Warum hat der Antikommunismus seit 1917 und nun gar seit 1945 eine solche ungeheuerliche Virulenz erlangt? Da muß doch etwas Neues dazugekommen sein. Und nun muß ich mich auf die Konzeption beziehen, die ich in meinem Buch entwickelt habe. Worauf reagieren denn die Leute, wenn sie hören, wir seien Kommunisten?
Seit 1917 und nun speziell hier in Deutschland seit 1945, wo das andere System gegenüber im eigenen Lande steht, sehen sich die bürgerlichen Gesellschaften des Westens, und jetzt muß man sagen, einschließlich der werktätigen Massen des Westens, mit einem Sozialismus (wie sich das östliche System selbst nennt) mit einem Kommunismus (wie es hier genannt wird) konfrontiert, der auf dem Boden einer anderen als der westeuropäischen Zivilisation agiert.
Und dieser "Kommunismus" enthält — aber wer achtet schon auf unsere Anführungszeichen —, beabsichtigt oder nicht, die indirekte Drohung, die gesamte Lebensweise, d.h. also, einschließlich der massenhaft erzeugten Gewohnheiten jedermanns, jeder-frau, das alles umzustürzen. Dieser Umsturz droht nicht nur irgendwelche politischen Machtverhältnisse zu betreffen, sondern einen kulturellen Wandel hervorzubringen, dessen Modell, dessen Erscheinungsweise in Rußland die Massen hier absolut nicht wollen können.
Das stellt gar keine Kritik an der russischen Revolution in dem Sinn dar, daß man das dort zerstören sollte. Darüber müssen die Menschen drüben an Ort und Stelle befinden. Das bedeutet nur, daß unter dem Namen des Sozialismus — bzw. von außen bezeichnet, des Kommunismus — dort eine ganz andere Ordnung entstanden ist, als wir sie uns in progressiver Fortsetzung der westeuropäischen Zivilisation unter dem Namen Sozialismus und Kommunismus versprochen haben. Und diese Konstellation hat unvermeidlich zur Folge, daß der Antikommunismus jetzt nicht auf den Sozialismus und Kommunismus von Marx reagiert, sondern auf diejenige Sozialstruktur und dasjenige politische System, das in der Sowjetunion entstanden ist.
Ob wir uns darüber empören oder nicht — und wie sehr er uns auch Unrecht damit tut —, der Verdacht, der an unserem Namen hängt, ist eine Realität.
Er bedeutet, die Menschen weisen jedes Ansinnen zurück, und zwar spontan und mit psychologischer Notwendigkeit, mit massenpsychologischer Notwendigkeit, so einen Sozialismus oder Kommunismus hier zuwege bringen zu wollen.
Und für uns Sozialisten und Kommunisten in Westeuropa bedeutet das die Forderung, die ganz dringende Forderung, uns selber und unsere Theorie so darzustellen, daß dabei nicht dieser Eindruck herauskommt.
Verhalten wir uns demgemäß?
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Nichtabgedruckte Passagen eines Interviews der Bunte-Liste-Zeitung, Hamburg.