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5 - Auf neuen Wegen zu den alten Zielen?

"Die Phantasie - obwohl sie nicht zur Macht kam - hat nicht aufgegeben."

Bahro-1980

 

"Ist denn der Impuls des Mai 1968 verloren? Gerade hier jedenfalls, in der Bundesrepublik nicht. Verloren ist nur die alte Formel der Machtfragestellung. Der Aufbruch zu den alten Zielen unter den neuen Bedingungen bediente sich mangels neuer Theorie der alten, die nicht für die neue Konstellation gemacht war."

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Der neue historische Block 
und das Organisationsproblem
der Linken in unserem Land 

Aus den Materialien zur ersten Sozialistischen Arbeitskonferenz.

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Die folgenden Bemerkungen wollen weder als eine erschöpfende noch als eine systematische Ausarbeitung verstanden werden. Es soll auch nicht eine irgendwie endgültig festliegende Position entwickelt werden. Vielmehr möchte ich — angesichts kurzer Termine und trotz mancher Kenntnislücke en detail — nur meine Voraussetzungen einsehbar, mein Herangehen verständlich machen. Es scheint mir jetzt sehr wichtig, daß wir uns einander offenlegen, soweit wir nur immer aus uns herauskommen. 

Wie ich mich selbst verstehe, steckt in allem, was ich seit Offenbach bis zu den Antworten für das Extrablatt rot und grün vor dem Bielefelder Treffen bis zu einem Interview für das nächste Heft Konkret zur Sache gesagt habe, ein und dieselbe Grundeinstellung, nur mit der Zeit etwas weiter ausgeführt. 

Diese Grundeinstellung ist, daß wir mit der Notwendigkeit eines Perspektivewechsels von größter Tragweite konfrontiert sind und unser Selbstverständnis, unsere Identität entsprechend umgestalten müssen, damit wir fruchtbar bleiben. Was ich hier niederschreibe, knüpft daran an.

Zur Konstellation der 80er Jahre  

Klar scheint mir zunächst, daß seit 1974/75 eine weitere Entwicklungsetappe des Kapitalismus zu Ende ist, die nach dem II. Weltkrieg begann. Bisher hat das Kapital - entgegen unseren jeweiligen Einschätzungen - deshalb immer wieder die Flucht nach vorn antreten können, weil es hinter jeder krisenhaft überschrittenen Schwelle jeweils qualitativ neue Expansionsmöglichkeiten vorfand. Diesmal scheint das nicht der Fall zu sein, diesmal scheint die "Aufteilung der Welt" auf neuer, seinerzeit von Lenin noch nicht ins Auge gefaßter Stufe tatsächlich "abgeschlossen" zu sein. 

Und nicht von der Seite des Marktes: es würden sich noch Milliarden Menschen mit unserer Art Volkswagen und anschließend vielleicht noch mit Privat­flugzeugen versorgen lassen, wenn es materiell möglich wäre. 

Es dürfte aber materiell unmöglich sein, allen sechs, acht, zehn Milliarden Menschen, die es in Kürze geben kann, auch nur jenen Material- und Energie­verbrauch pro Kopf zu ermöglichen, den sich heute solche nach hierzulande verbreiteter Ansicht unterversorgte Länder wie etwa die DDR und die Tschechoslowakei leisten.

Mit diesem Typ von Expansion der Produktion und der Bedürfnisse geht es also nicht weiter. Das Feld geht zu Ende, das das seinem innersten Wesen nach expansive Kapital beackern kann. Gegenwärtig macht, angetrieben von der gleichen Profitgier, die Produktivität pro Arbeitsplatz erneut einen Sprung. 

Wir werden tatsächlich noch Privatflugzeuge brauchen, weil man ja sehr viel mehr Stahl usw. produzieren muß, damit in der Stahlindustrie keine Arbeitsplätze "vernichtet" werden (wie unser Abwehrschlagwort lautet, mit dem wir auf die Kapitallogik hereinfallen). 

Die Stabilität der bestehenden Machtverhältnisse hängt in vielfältiger Weise von der Wachstumsrate ab. Diese aber wird heute nicht mehr allein durch die immanenten Stockungen des Kapitalverwertungsprozesses gedrückt. Die zunehmende Knappheit der Rohstoffe wirkt zunächst ökonomisch — über die steigenden Preise —, bald aber auch materiell begrenzend auf den möglichen Zuwachs ein. Gerade über die Ressourcenknappheit wird der Nord-Süd-Konflikt hier zunächst ins Massenbewußtsein dringen, also nicht primär zu Gunsten solidarischer Motivationen. Wenn die USA noch die Möglichkeit haben, vorübergehend, d.h. für wenige Jahrzehnte, auf Selbstversorgung aus dem eigenen Territorium umzuschalten, Westeuropa und Japan haben diese Möglichkeit nicht. Deshalb werden sich auch die Interessenwidersprüche zwischen den drei spätkapitalistischen Zonen verschärfen.

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In den rohstoffabhängigen kapitalistischen Metropolen werden wir die von der Reaktion geschürte Tendenz zu einer ähnlichen politisch-psychologischen Belagerungs­stimmung wie in Israel und bei den Weißen Südafrikas erleben. Die durch die westeuropäischen, noch mehr die nordamerikanischen Massen­medien geschürten Bevölkerungsreaktionen auf die iranische Revolution und ihre Folgen geben einen Vorgeschmack des Möglichen. Die psychologische Kriegsvorbereitung greift gegenwärtig neuen Raum.

Daß sich diese Tendenzen durchsetzen, wird mit jedem Jahr Fortsetzung der Wachstumspolitik wahrscheinlicher. 

Auf der Ebene rein politischer Abwehr­maßnahmen — und diese Enge der Fragestellung ist vorausgesetzt, wenn man alle vier Jahre wieder das kleinere Übel empfiehlt — ist die nicht abzufangen. Wenn die Produktionsmaschine samt der von ihr abhängigen Güter- bzw. Bedürfnisstruktur nicht grundlegend umgebaut und zunächst ein immer größerer Teil der Bevölkerung für tiefgreifende Veränderungen motiviert wird, dann ist das Dilemma unentrinnbar, und wir werden die politischen Konsequenzen in Gestalt autoritärer Lösungen haben. 

Eine, weitsichtige Alternative muß daher rechtzeitig auf eine Umkehrbewegung setzen, die nicht weniger anstrebt als den Umbau unserer Zivilisation bis in ihr materielles Fundament hinein. 

Dies erfordert die Kombination von zwei Richtungen des Kampfes: gegen den Antriebs- und Regulierungsmechanismus der Monopolkonkurrenz um Höchstprofite und gegen die Kehrseite dieses Mechanismus — die von dem Zwang zur Realisierung der kapitalistischen Massenproduktion auf dem Markt geprägte Bedürfnisstruktur der Menschen. 

An der Wachstumsfrage scheiden sich die Geister, auch bei uns, in dem sozialistischen Potential. Wenn wir — bei sonst unveränderten Voraussetzungen, d.h. bei dem gegebenen Kräfteverhältnis — daran festhalten werden, daß zuerst den unmittelbaren Bedürfnissen der Lohnabhängigen Rechnung getragen werden muß, dann sind wir nichts als ein weiterer der zahlreichen Faktoren, die daran arbeiten, daß alles so weitergeht wie bisher. Wie orthodox und revolutionär auch unsere Begründungen klingen werden, wir helfen dann nur erweitert reproduzieren, was ist.

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Wir spielen abhängig mit in dem System. Es geht nicht ohne einen Wechsel der Prioritäten. Die kurzfristigen Interessen, die den Menschen in ihrer Eigenschaft als Lohnabhängige von den herrschenden Verhältnissen diktiert sind, stehen in einem tatsächlichen Widerspruch zu ihren langfristigen Interessen. 

Die Geschichte bietet bisher nur zwei Modelle an, Widersprüche solcher Tiefe zu lösen: irgendetwas in der Art von Platons Wächterstaat, heute eine superbürokratische Diktatur oder eine Sozialrevolutionäre Massenbewegung mit der Hoffnung auf irgendeine Art von Zielankunft. Und auf das letztere müssen wir setzen. 

Die erforderliche Mehrheit für grundlegende Veränderungen kann nur aus einer politischen Massenbewegung dieses Typs hervorgehen. Die Beteiligten, wie ja übrigens schon jetzt die meisten der angeblich mittelständischen Ökologen, werden nach wie vor auch Lohninteressen haben, solange keine neue Wirtschaftsordnung erreicht ist. Aber die Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital wird nicht der Mobilisierungsansatz der Bewegung sein, weil die kapitalistische Ausbeutung als solche hier nicht mehr die maßgebliche existentielle Herausforderung ist, auf die die Menschen antworten müssen.

Die Energie, um einen solchen Sprung zu wagen, ist nur mobilisierbar mit einer Bewegung, die zugleich Weltanschauungscharakter trägt. Die Frage an uns lautet nicht, ob uns dabei wohl ist, sondern wie wir uns verhalten müssen und was wir tun können, damit die freigesetzten Emotionen eine möglichst rationale Richtung einschlagen. Ökologischer Humanismus, der die Tradition der Aufklärung bewahrtest ein brauchbarer Bezeichnungsvorschlag. Er schließt die Forderung nach allgemeiner Emanzipation des Menschen — Mann und Frau — ein.

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Die Verschiebungen des innenpolitischen Kräfteverhältnisses  

Die bisherige Schwäche der Gegenkräfte in der Bundesrepublik ist ein Handicap für fortschrittliche Entwicklungen in ganz Europa. Aber es besteht keine Aussicht, das Problem dadurch zu lösen, daß die Linke in traditioneller Gestalt einen ähnlichen Einfluß erlangt wie etwa in den romanischen Ländern. 

Und was wäre auf längere Sicht damit gewonnen? Trägt die dortige Situation der Linken nicht auch ihre Schranke in sich? In manchen anderen Ländern ist jetzt vielleicht sogar mehr im Wege! Nicht nur die traditionelle Arbeiterbewegung in ihrem ökonomischen Kampf, auch die Linke im politischen Sinne hat sich als eine Formation innerhalb des Schemas erwiesen, unter dem die bürgerliche Gesellschaft angetreten ist. 

Wir werden nicht ans Ziel kommen, wenn wir nachholen wollen, was unsere Nationalgeschichte nicht gebracht hat. Die geringe traditionelle Politisierung hierzulande bietet uns die spezifische Chance, neu zu beginnen. Die jetzige Mobilisierung setzt bei existentiellen Punkten an, die weder mit traditionellem Politik- noch Ökonomieverständnis zu erfassen sind. Das bedeutet, daß "links" und "sozialistisch" Selbstverständnisse, Verhaltensmuster, Mentalitäten sind, die. nicht mehr ausreichen, sondern qualitativ weiterentwickelt werden müssen. 

Besondere sozialistische Linksparteien konventionellen Typs, "links" von der jeweiligen Hauptpartei der traditionellen Arbeiterbewegung, die auf Wiederherstellung älterer Zielsetzungen klagen, stehen möglicherweise auf verlorenem Posten, können leicht retardierend fungieren, Kräfte an überholte, aussichtslose Konfliktlinien binden. Die Frage nach einer besonderen linken Alternative zur Bundestagswahl steht in einer vergangenheitsorientierten Perspektive. Sie wird wahrscheinlich zuletzt zu einer Wahlempfehlung für Schmidt führen, und das heißt für den besten Mann des Blocks an der Macht.

Was den Sprachgebrauch betrifft, so kennzeichnet der Begriff des Blocks die Kombination sozialer Interessen im Hinblick auf das politisch-psychologische Kräfteverhältnis. Er setzt die Hypothese einer mehr oder weniger deutlichen Scheidelinie zwischen verschiedenen Grundeinstellungen zu Veränderungen voraus. Er gewinnt stets in Übergangskrisen, in Zeiten schnellen sozial-kulturellen Wandels an Bedeutung. Innenpolitische "Blöcke" sind Ausdruck dessen, was man die "Geschichtsparteien" nennen könnte. 

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Die bilden sich nämlich auf dem Boden der in verschiedenen historischen Epochen wiederkehrenden politisch-psychologischen Division in progressive, konservative und reaktionäre Kräfte. Die Welt ändern; alles lassen wie es ist, mit kleinen Verbesserungen; die Uhr zurückdrehen — diese Grundhaltungen werden dann partei-konstitutiv. Selbstverständlich spielen bei der Entscheidung der Individuen die ökonomischen Interessen eine Rolle. Aber so sehr da Tendenzen statistisch durchlagen mögen, es ist evident, daß ein und dieselbe Klassenlage mit verschiedenen Optionen einhergeht, so wie sich verschiedene Klassenlagen in derselben Option begegnen können. 

Vor allem haben je spezifische Klasseninteressen, die ja stets nur korrelativ zu denen einer anderen Klasse existieren, zu verschiedenen Zeiten verschiedenes Gewicht in dem Gesamtansatz selbst der materiellen Interessen der Individuen. Wenn sich, beispielsweise in der christlichen Bewegung während der römischen Kaiserzeit, Massen von Menschen quer zu ihrer Klassenlage zusammengefunden haben, so müssen wir, wenn wir methodisch historische Materialisten bleiben wollen, schließlich auch dafür reale Interessen zuständig sein lassen. Leben mußten jene christlichen Individuen ja auch. 

Selbstverständlich haben Klassenzugehörigkeiten unter allen Umständen ihren Einfluß auf die Entscheidung der Menschen für politische Parteien. Aber immer dann, wenn der Kampf der für eine Gesellschaftsformation charakteristischen Hauptklassen nicht die wichtigste Quelle oder Triebkraft der allgemeinen Entwicklung ist — und solche Zeiten gibt es eben —, geben sie nicht den Ausschlag für die Wahl des Parteityps durch die Individuen, demnach natürlich auch nicht für das Profil der Partei.

Gegenwärtig erscheinen freilich selbst die üblichen Begriffe zur Kennzeichnung jener "Geschichtsparteien" seltsam verkehrt, weil wir eine Weltveränderung gegen sehr Vieles von dem brauchen, was bisher Fortschritt hieß, weil wir Vieles erhalten und manches wiederherstellen müssen, was historisch verloren gegangen ist. So reduzieren sich die "Geschichtsparteien" jetzt eigentlich auf zwei: Die eine will, an vielerlei Privileg und Machtgenuß gewöhnt, daß alles weitergeht wie bisher. Man könnte sie den Block der Beharrungskräfte, den Block der Trägheitskräfte nennen. Träge Fortbewegung auf der einmal eingeschlagenen Bahn. Selbst ein Tempolimit auf der Autobahn ist schon zuviel: "Freie Fahrt für freie Bürger!" Das ist die Partei, die die "Sachzwänge" exekutiert, an deren Gesetzmäßigkeiten die Welt ganz ohne Heil zugrunde gehen wird.

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Die andere "Partei", der reformatorische Block, will — da hatte jemand den guten Einfall, für das Extrablatt rot und grün den weisen sizilianischen Aristokraten Lampedusa zu zitieren — "alles radikal umwälzen, damit alles so bleibt wie es ist". Dieser konservativ getönte Aphorismus ist jetzt überaus nützlich, insofern er wahrscheinlich die Motivation der Mehrheit von Menschen kennzeichnet, die jetzt die grüne Bewegung bilden. Wir können uns darauf verlassen, und auch andere Leute schließen es gewiß nicht aus, daß bei einer radikalen Umwälzung wohl doch nicht alles ganz so bleiben wird, wie es ist.

Natürlich sind das Klasseninteresse des Monopolkapitals und die strukturelle Trägheit der bürokratischen Staatsmaschine in ihrem Zusammenwirken der Lebensnerv des gegnerischen Blocks, der das etablierte Parteienkartell einschließt. Die Parteien unterscheiden sich nur hinsichtlich der relativen Durchlässigkeit für die gegenläufigen Interessen, die in dem neuen historischen Block ihren Ausdruck finden bzw. zunächst suchen. Dieser Gedanke schließt ein, daß die Menschen in den etablierten Parteien, vor allem natürlich in der SPD, aber nicht nur dort, nicht etwa automatisch auf den anderen Block zurückgeführt werden dürfen. Das gleiche gilt für die Menschen im Staatsapparat und selbst für kapitalistische Manager, ja Unternehmer als Individuen. In Zeiten wie diesen haben sich immer zahlreiche Menschen in diesem oder jenem Grade dessen entledigt, was Marx ihre ökonomische Charaktermaske genannt hat. (Sawwa Morosow hat die russische Revolution mitfinanziert.)

Außerdem greift der Block an der Macht auf zahllose Menschen über, die durch ihre Klassenlage gar nicht oder kaum an der unveränderten Bewahrung bzw. Vermehrung der bestehenden Zustände interessiert sein dürften, es aber aus komplizierter funktionierenden realen Bedürfnissen, Ängsten usw. dennoch sind.

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Auf der anderen Seite ist der reformatorische Block — derzeit erst in Status nascendi, und mehr oder weniger weit übergreifend in das menschliche Potential, das sich noch durch die etablierten Parteien verfügen läßt — seines alternativen Auftrags kaum noch zur Hälfte bewußt. Das Engagement ist oft noch sehr auf Einzelnes gerichtet, auf den kleinen Ausschnitt, während wir nicht umhin kommen werden, unser ganzes Leben zu überprüfen.

Jene Kommentatoren, die auf die "Ehemaligkeit" vieler Aktivisten der neuen Bewegung hinweisen, begreifen die Zeichen verkehrt herum: diese "Ehemaligen" sind die Vorläufer einer massenhaften Loslösung aus der Bindung an die in sich selbst zerfallenden und verfallenden etablierten Parteien, an das etablierte Parteiensystem überhaupt. Alle drei Hauptparteien gehören einer vergangenen Periode an. Wir stehen vor der generellen Tendenz einer langfristigen Verstärkung alternativer Positionen außerhalb wie auch zunächst noch innerhalb der alten Parteien. Ich bin noch ungenau gewesen, als ich auf die Frage für das Extrablatt rot und grün das von der SPD vertretene Potential insgesamt zu dem reformatorischen Block geschlagen habe; indessen gibt es natürlich in dieser Partei auch starke Elemente, die für sich genommen dem Block der Beharrungskräfte zugehören wie die SPD in ihrer Eigenschaft als Regierungspartei sowieso. Dasselbe gilt für die Gewerkschaften.

Heute verläuft die Grenze überhaupt nicht nur zwischen, sondern häufig auch in den Menschen. Kaum jemand ist ganz "alt", kaum jemand ganz "neu". Zumindest mit einem bestimmten Anteil von Verhaltensweisen ordnen sich eben manchmal auch Genossen, die sich links von der SPD verstehen, so ein, daß im Endeffekt bestehende Verhältnisse reproduziert statt überschritten werden. Solche Rückfälle passieren jedem von uns — meistens dann, wenn wir uns angegriffen sehen und keine ausreichende Antwort parat haben; es fällt einem halt dann schwer, so wie kürzlich beispielhaft der 90jährige Oswald von Nell-Breuning, wenn nötig einzugestehen, "Mehr weiß ich nicht". 

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Wir sollten uns gegenseitig darauf aufmerksam machen. Schließlich geht es nicht um den einzelnen unvermeidlichen Fauxpas, sondern um die Linie des Verhaltens. In einer Umbruchsituation ist es für den Einzelnen wie für die Sache von Vorteil, auf Lockerung, auf Probeverhalten, auf freimütiges Suchen zu setzen. Sicher ist mir, daß die Umgruppierung, die Neugruppierung der Kräfte im Hinblick auf ihre Kristallisierung in diesen beiden Blöcken bereits begonnen hat, und aus erklärlichen historischen Gründen besonders stark hier in der Bundesrepublik Deutschland, wo die traditionellen, jetzt überholten Grundstrukturen des politischen Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft weniger tief im menschlichen Verhalten verwurzelt sind.

Es handelt sich keineswegs darum, die Kombination der verschiedenen besonderen Klassen- und Schichtinteressen, die sich in den beiden Blöcken treffen, zu ignorieren. Die historischen Fronten bauen sich nicht mehr nur entlang der Grenzen zwischen den Klasseninteressen auf. Das heißt, selbst für den Block an der Macht ist das kapitalistische Klasseninteresse im engeren Sinne nicht mehr allein konstitutiv, ebenso wie man die Machtpolitik der römischen Kaiserzeit nicht mehr einfach auf die Interessen der zur Zeit der Republik herangewachsenen traditionellen herrschenden Klassen zurückführen kann. Dabei liegt die Hauptlinie des Interessenspektrums für diesen auf das Verharren in den bestehenden Zuständen festgelegten Block natürlich dem überlieferten Bourgeoisieinteresse immer noch recht nahe. In dem reformatorischen Block ist die Verschiebung von den spezifischen Klasseninteressen zu allgemeinen menschlichen emanzipatorischen Interessen viel größer.

Wir befinden uns in einer strategischen Situation, an einer wirklichen Wegscheide der Geschichte, nicht nur in der Bundesrepublik, aber besonders hier. Die grüne Bewegung könnte ein politischer Beitrag unseres Landes von europäischer Bedeutung werden. Etwa seit dem letzten Drittel dieses Jahrhunderts greift in den Ländern des Spätkapitalismus nicht mehr — wie bisher — bloß eine Theorie, sondern ein tatsächliches Bewußtsein von allgemeiner Krise, von einer Krise aller Lebensverhältnisse um sich. 

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Es weist in einer anderen, sogar umfassenderen Weise als das reale Klassenbewußtsein der Arbeiter über die bestehenden Zustände hinaus. Es wird zuerst von den stärker intellektualisierten Schichten des sozialen Gesamtarbeiters entwickelt, strahlt von dort in alle anderen sozialen Milieus aus und macht keineswegs vor den Toren der Betriebe halt. Damit stellt sich in einer optimistischen Perspektive die Frage neu, wie wir über den Kapitalismus hinaus­kommen.

 

Entscheidungssituation für die Linke  

Die Kardinalfrage an uns lautet nun: Wollen wir auf die Bewahrung der bestehenden politisch-psychologischen Struktur oder auf ihre grundlegende Veränderung setzen? Wenn wir uns rein links von der SPD oder links in der SPD halten und wie bisher versuchen, nur von dort aus auf die traditionelle Arbeiterbewegung einzuwirken, so bedeutet das, für die Konservierung der bestehenden Struktur einzutreten, uns selbst zu weiter abnehmender Effektivität verurteilen und der Schwächung des gesamten reformatorischen Lagers entgegenzusehen. Nur aus einer solchen Perspektive kann ich mir erklären, daß man die geplante sozialistische Konferenz auch als eine "Notberatung ob der rapide sich verändernden und verschlechternden Lage der Linken" auffassen kann. Dann ist es nur konsequent, sich in jeder Hinsicht auf die Verteidigung der vorhandenen Positionen zu beschränken und damit de facto die bestehende politisch-psychologische Struktur überhaupt zu heiligen. Warnungen vor dem "Block an der Macht" haben, wenn sie nur auf Protest und Abwehr eingestimmt sind, in Wirklichkeit demobilisierenden Charakter. Man möchte nicht aufbrechen müssen, möchte den dünnen Schutzwall des Lagers nicht hinter sich lassen. 

Mir erscheint ein Aufsatz von Ernst Köhler in dem bei Wagenbach erschienenen Freibeuter Nr. 1 sehr anregend, "Einige zaghafte Einwände gegen den linken Pessimismus". Er macht auf einen Strom deutscher Geschichte aufmerksam, den wir ausblenden oder von vornherein negativ zu akzentuieren suchen. 

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Köhlers Ansatz wird noch interessanter, wenn man sich beim Lesen daran erinnert, daß eine ganz ähnliche Konstellation, die Entpolitisierung der Massen im römisch-hellenistischen Universalstaat, eine der ausschlaggebenden Voraussetzungen für den Aufstieg des Christentums war, das originär nicht eine politische, sondern eine kulturelle Regenerationsbewegung war, die freilich zuletzt auch politisch wurde. Heute führt die kulturelle Alternative schnell zur politischen Artikulation. Was bei Köhler teils als anhebende Realität erscheint, teils als Aufgabe hervorgeht, ließe sich auf die Formel "Politisierung der deutschen Innerlichkeit" bringen. Wenn wir sicher sind, das muß reaktionär ausschlagen, dann bleibt uns nur resignierte Defensive.

Während wir alle denken, daß man an den Zuständen hier etwas ändern muß, glauben zu Viele von uns noch nicht oder schon wieder nicht mehr, daß man auch etwas ändern kann. Eben, weil ich glaube, wir können etwas ändern, können zumindest erheblich dazu beitragen, bin ich zu manchem praktischen und zu jedem theoretischen Risiko bereit, was nämlich das Suchen nach neuen Wegen betrifft. Ich bekomme vorwurfsvolle Hinweise auf die Machtstruktur, mit der wir es zu tun haben: daß sie da ist, daß sie gut funktioniert, daß die Hydra zahllose Köpfe hat. Sicher. Aber hat dieses Warnen nicht einen defaitistischen Zweck? Ja nichts wagen?! Die eigene Igelstellung sichern?! Die Linke, die radikale Demokratie etc. ist in Deutschland immer geschlagen worden — warum sollte das nicht auch diesmal wieder passieren?! Die Menschen sind von Ängsten verfolgt; wer anders als die Reaktion kann sie politisch konfirmieren?! Meiner Meinung nach können wir dem Block an der Macht gar keinen größeren Gefallen tun als dieses Lied zu singen, im Tonfall der "Winterreise".

Zu dem Kongreß in Karlsruhe habe ich auch über die Gefahr Strauß gesprochen. Mir scheint hinreichend klar, daß und warum wir ihn ablehnen. Aber es ist gar nicht besonders produktiv, soviel darüber zu reden, wogegen wir sind. Und es steht ein anderes Machtinteresse dahinter, daß wir uns darauf beschränken. Mehr Vorsicht bei diesem alten Spiel statt der zu vielen Vorsicht bei dem neuen! Es ist auch gar nicht gut, den Gegner zu mystifizieren. 

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Das ist ein Mann, der seinen Zenit vielleicht bereits überschritten hat, und dessen tatsächlicher Spielraum im gar nicht so sehr wahrscheinlichen Fall einer Kanzlerschaft keineswegs unabhängig von der Stärke der demokratischen Gegenmobilisierung wäre. Wollen wir uns wirklich festbeißen, wollen wir uns die Kieferstarre holen an Strauß und an der Springerpresse? Entlarvende Satire ändert nicht genug die Welt. Die Römer hatten in dem Satyrikon nur den Spiegel des Verfalls, keine Alternative. Über ein Feindbild Strauß werden wir nichts bessern. Gegen die unleugbare Gefahr Strauß sollten wir schon jetzt unsere positive Programmatik stellen. Das wäre eine, die auch post festum, und dann erst recht, noch an die CDU/CSU-Basis heranginge, nicht nur an die der näherstehenden Parteien. 

Strauß sagt jetzt manche Dinge, z.B. gegen zuviel Staat, die man noch gegen ihn wird wenden können. Er würde es schwer haben fürs nächste Mal mit den eigenen Wählern, wenn alle die Tendenzen, die er jetzt der sozialliberalen Koalition in die Schuhe schiebt, unter seiner Ägide ebenso oder noch drastischer weiterlaufen. Er wird keine so effektive Regierung zustande bringen wie der tüchtige Helmut Schmidt. Der wird in den für das Kapital politisch schwierigeren Zeiten, da wegen sinkender Zuwachsrate die Bestechungssummen nicht mehr in der alten Höhe zur Verfügung stehen, den Souveränen des großen Geschäfts besser für den Klassenfrieden stehen. Die Herren der Banken und Konzerne brauchen gar nicht so dringend den Anderen, sie wollen ihn gar nicht so sehr.

Denkt man in längeren Fristen als bis zum nächsten Herbst, dann wird noch klarer, daß wir die jetzige Stunde nutzen müssen, um Gegenkräfte aufzubauen, d.h. — da ja nun einmal auch Stimmen gezählt werden — den Einzugsbereich alternativer Politik auf neue Menschen auszudehnen. Es gibt in der Gesamt­situation der reichen spätkapitalistischen Länder eine Gefahr, die einen weit größeren Schatten wirft als Strauß zum jetzigen Zeitpunkt. Was wird innenpolitisch geschehen, wenn der Kampf um den immer knapper werdenden Rohstoffnachschub an die Schlagadern unseres Wirtschaftslebens rühren wird? Dann droht uns eine Festungsneurose wie in Israel und unter den Weißen Zimbabwes und Südafrikas. Wir müssen dieser Konstellation weitgreifend entgegenarbeiten, nicht nur politisch im engeren Sinne, sondern vor allem durch eine rechtzeitige Selbstveränderung unserer Produktions- und Lebensweise.

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Bloß Abwehr von Strauß, gar Angstpsychose, ist keine Politik. Wenn wir uns darauf beschränken, Strauß verhindern zu wollen, bewegen wir uns innerhalb des Kalküls, das der herrschende Block an der Macht anstellt. Die Gefahr, daß uns der andere aus unseren Positionen an den Hochschulen vertreiben könnte, ist ein Gesichtspunkt, den wir m.E. nur an untergeordneter Stelle mitdenken dürfen. Wir können langfristig nichts ausrichten, wenn wir das nicht notfalls riskieren wollen. Die offensive Antwort wäre die verstärkte Vorbereitung alternativer Arbeits- und Lebenszusammenhänge, bei Ausbau jener Netzwerk-Initiative, die die Projekte absichert und auch Genossen, die vergleichsweise in Not geraten, materiell über Wasser halten kann. Wir müssen uns die Lebensperspektive offenhalten, weniger im Hinblick auf irgendeine nicht übermäßig wahrscheinliche Situation direkter Verfolgung als auf mögliches Aussteigen im Sinne eines Umsteigens. Es wird ein langer Marsch, nicht nur durch die Institutionen. Niemand weiß ganz, wie weit er gehen, wie weit' es ihn führen wird. Bereit sein müssen wir.

Jedenfalls geht es bei dem Votum dieses Herbstes um mehr als Anti-Strauß, um mehr als die Grüne Partei in ihrem jetzigen unvollkommenen Zustand. Es geht um das Signal für eine noch viel umfassendere Neuorientierung breitester Bevölkerungsschichten. Dieses Signal sollte nicht wieder um 4 Jahre verschoben werden.

Sollte sich kurz vor der Bundestagswahl dennoch klar die Aussichtslosigkeit des Sprungs über die undemokratische Sperrklausel abzeichnen, so würde ich dafür plädieren, Schlußfolgerungen bei den linken Grünen nicht im Alleingang zu ziehen, sondern in bewußter Übereinkunft mit den anderen beteiligten Kräften. Es sind Konstellationen und Gründe denkbar, selbst dann zu kandidieren.

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Vorläufiges über sozialistische Identität  

Wenn jetzt viele Genossen vor dem Sprung zurückschrecken, liegt die Ursache wohl nicht so sehr in Grenzen der Analyse. Unser Problem liegt nicht in der Theorie, oder nur insofern, als wir an der Treue zu bestimmten Sätzen unsere Treue zu uns selbst festgemacht haben. Da liegt ja immer die Quelle des Dogmatismus, daß wir geneigt sind, unsere Intentionen mit den Formeln zu verwechseln, in die wir sie ursprünglich einmal gekleidet haben. Freilich, zur Lösung unseres Problems brauchen wir neue Theorie, weil wir gute Gründe brauchen, um gegen unsere im Unbewußten verwurzelten Fixierungen anzukommen.

Nach meiner Meinung sind die Aussichten günstiger als viele von uns denken. Die generelle Tendenz ist eine langfristige Verstärkung alternativer Positionen außerhalb wie innerhalb bestehender Parteien, Organisationen, Institutionen usw., d.h. in der Gesellschaft überhaupt. Unbehagen und Krisenbewußtsein sind weiter in der Gesellschaft verbreitet als vor zehn Jahren. Wahrscheinlich stehen, da das in den 60er Jahren gestartete linke Potential bis in die jüngste Zeit, wenn auch langsamer, Zuzug aus den nachwachsenden Generationen erhielt, zahlenmäßig mehr Kräfte bereit als je zuvor. Die zuweilen beklagte Erosion betrifft nur die spezifischen Positionen, die in den letzten zehn Jahren bezogen wurden und die sich nun als konzeptionell und organisatorisch überholungs­bedürftig erweisen. 

Wir sind in der Bundesrepublik besonders betroffen von dem, was heute in ganz Westeuropa Krise des Marxismus genannt wird. Aus ganz und gar nicht subjektiven Gründen ist der Marxismus in der Kristallisationszeit der APO offenbar unmittelbar in der Form der Urtexte aufgegriffen worden. Soweit ich sehe, fehlt ja kaum eine Facette aus der wechselvollen Geschichte der sozialistischen und Arbeiterbewegung: fast jede ist als Linie in dem Gesamtspektrum der Linken vertreten. Was sich in der Geschichte des Marxismus seit seiner Entstehung nacheinander ereignet hat, von der deutschen und westeuropäischen Sozialdemokratie über Lenin zu Stalin, zu Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, Fidel Castro, Frantz Fanon, hat im Nebeneinandertreten all der verschiedenen Momente seine verkürzte Wiederholung erfahren.

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Erst zuletzt begann, z.B. über Gramsci, die Rückkehr "vor Ort", nämlich in unser heutiges Europa. Auch wenn man die damalige Marxrezeption nicht im einzelnen analysiert hat, liegt methodisch die Vermutung nahe, daß die ganze nachfolgende Geschichte schon im Anfang beschlossen lag, in dem Enklavencharakter des Experiments, in dem von der Suche nach einer gegen alle offiziellen Mächte zu behauptenden Identität bestimmten Annahme des wiederentdeckten Evangeliums. Ich habe bei zwei Gelegenheiten in Hannover nacherleben können, wie dicht damals die Atmosphäre gewesen sein muß. Nicht wenige müssen empfunden haben wie die zu den Urpfingsten der Apostelgeschichte. So etwas kommt nicht rein subjektivistisch, nicht ohne eine Art von Auftrag aus größerem Zusammenhang zustande. Schließlich war ja der Pariser Mai 1968, der höchste Ausdruck des damaligen Aufbruchs, kein Zufall.

Die Studenten haben — und in Paris bereits hinübergreifend zu den jungen Arbeitern — wie schon oft in der modernen Geschichte ein Vorgefecht geliefert. Stellvertretend für den langsameren Gesamtkörper der Gesellschaft haben sie das allgemeine Ungenügen artikuliert, das der Mensch in einer von Kapitalherrschaft als innerem Trieb von entfremdeter Großtechnologie, Superorganisation und Staatsbürokratismus beherrschten Gesellschaft inmitten all jener Konsumgüter erfährt, um deretwillen er sich täglich unterwirft. "Die Phantasie an die Macht!" war eine Losung klarer Negation all dessen, was uns die Legitimationsapparate als angeblich unentrinnbaren Sachzwang ans Herz legen.

Ist denn der Impuls des Mai 68 verloren? Gerade hier jedenfalls, in der Bundesrepublik nicht. Verloren ist nur die alte Formel der Machtfragestellung. Der Aufbruch zu den alten Zielen unter den neuen Bedingungen bediente sich mangels adäquater neuer Theorie der alten, die nicht für die neue Konstellation gemacht war, vor allem nicht für die neuen tragenden Kräfte, die so zu einem Ritual der Totenbeschwörung an dem früher einmal formulierten Subjekt der Umwälzung verführt wurden. Es wurde eine falsche Ansprache: sie erreichte auch im Arbeiter nicht recht den, der sich emanzipieren möchte — heute nämlich mehr als Individuum und zur Persönlichkeit denn als Klasse und zur kollektiven Machtausübung mit all den Konsequenzen, die das bisher mit sich brachte.

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Die berühmten Texte, so sehr sie psychisch wieder zu leben begannen, haben politisch nicht gegriffen, weil sie auf eine heute nicht mehr aktuelle Form des Kampfes orientierten: primär auf politischen Umsturz statt primär auf kulturelle Umwälzung. Die Studentenbewegung hat den ganz neuen Anlauf, der damals begann und den sie zuerst artikulierte, zunächst auf einen politischen Kurzschluß gebracht. Nur damit und darin ist sie gescheitert, und zwar schon bald, und daraufhin hat sie sich in die Regression jener anachronistischen Parteigründungen gestürzt, die nach Marxens Bonmot über historische Wiederholungen tatsächlich nicht viel mehr als eine Farce werden konnten. Die Enttäuschung an den organisatorischen Gebilden, die Schranke, der sich selbst die nichtsektiererischen darunter gegenüberstehen — sie zeigen nur, daß die neue Situation konzeptionell noch nicht bewältigt war.

Daher das unentwegte Ausschlagen der Kompaßnadel in Richtung einer Rekonstruktion der alten Marxschen "Klasse für sich", daher die unvermeidlich von außen aufgewandte Mühe, das "verschüttete Klassenbewußtsein" freizuschaufeln und anzuschärfen. Irgendwie erinnert mich das alles an Chrustschows "Wiederherstellung der Leninschen Normen" auf der anderen Seite. Wie ich schon für die Vorkriegssozialdemokratie nicht sicher war, daß ihr Sieg Besseres als einen "bürokratischen Arbeiterstaat" gebracht hätte, so denke ich auch für heute, die alten Rezepte würden uns nicht glücklich machen, selbst wenn sie gingen. Noch weniger als in der vergleichsweise einfach strukturierten nichtkapitalistischen Welt bringt der politische Machtwechsel als solcher hier die neue Gesellschaft, die bessere Zivilisation und Kultur. Der Gang der Dinge seit 1968 belehrt uns durch die praktische Antwort auf die Frage, wo es eigentlich Kontinuität gegeben hat: nämlich in lauter eher kulturellen als politischen Phänomenen! Die Phantasie, obwohl sie nicht zur Macht kam, hat gar nicht aufgegeben. 

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Weitergegangen ist es mit der Tendenzwende gegen den Kommunismus. Erst richtig losgegangen ist es mit der Ökologiebewegung. Weitergegangen ist es mit der Frauenbewegung und mit anderen Bewegungen gegen die Repression, die an Geschlechterrollen anknüpft. Weitergegangen ist es gerade in unserem Land mit einer Vielzahl alternativer Projekte und Lebensversuche. Weitergegangen ist es mit dem kritischen Studium der Verhältnisse, so daß wir zumindest verläßliche Beschreibungen der Zustände haben, wenn auch oft mehr entlarvend und die strukturelle Gewalt als nahezu ausweglos vorführend, als Eingriffe projektierend. Und überlebt hat jedenfalls, last not least, was wir jetzt erst richtig entfesseln und besser gebrauchen müssen: eine Kultur marxistischen Denkens. Hier war ja die Kontinuität nachhaltig unterbrochen durch die Katastrophe von 1933-1945 und die Folgen. Da ist mehr wiederhergestellt worden, als man lesen kann. Die Analysen haben ein höheres Niveau als der praktisch-politische Umgang mit der Theorie, wo noch immer die Tendenz zur dogmatischen Übertragung von Lösungen, Formeln, Entscheidungen aus ganz anderen Konstellationen passiert. Wie dem auch sei: Wir hätten jetzt potentiell die Kapazität, an die große Mehrheit der Gesellschaft über die verschiedenen Stufen vom theoretischen Buch bis zum Zeitungsartikel und Fernsehkommentar den Entwurf einer Gesamtalternative heranzutragen. 

Es käme darauf an, die Sprache dafür zu finden, die Souveränität dazu! Ich denke, wir können derzeit nicht so ohne weiteres ermitteln, wie weit wir wirklich repressiv daran gehindert sind, die Menschen zu erreichen, wie weit wir uns selber hindern. Wir könnten etwas von der Kirche lernen, angefangen von den schlichtesten Missionspraktiken (außer betrügerischen und manipulatorischen), was nämlich die Anpassung an die Mentalität der Anzusprechenden betrifft, ohne den Geist preiszugeben. Ein wirkliches Vorbild aber würde ich in der Aussage eines französischen Priesters sehen, der, gefragt, was er für seine Kirche noch in Algerien wolle, geantwortet hat: Er hoffe, den Menschen helfen zu können, bessere Muslims zu werden. Sicher brauchen wir nicht so lange Zeit, um uns ähnlich auf die Aufgabe einzustellen, das Unsere an die Menschen heranzutragen, die es nach unserer Überzeugung brauchen und denen wir darum das Recht lassen müssen, es sich anzuverwandeln.

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Was soll die sozialistische Konferenz?  

Vordergründung ist das Bedürfnis nach einer Einigung unserer Kräfte sicherlich aus der Krise unserer eigenen Organisationen hervorgegangen. Aber der Anstoß für ein wirkliches Unternehmen in dieser Richtung geht von einer veränderten Atmosphäre der gesellschaftlichen Entwicklung aus, die in der Abnutzung der sozialliberalen Koalition, in der Kandidatur von Strauß, positiv vor allem in der grünen Bewegung ihren Ausdruck findet. Ebenso bedeutsam ist die Zuspitzung der internationalen Situation. Der Gedanke, daß alle sozialistischen Kräfte der Linken, ob organisiert — und wo auch immer — oder unorganisiert, und wie immer sie sich selbst bezeichnen, jetzt wenigstens eine gemeinsame Beratung brauchen und daß ein Forum dafür geschaffen werden muß, lag einfach in der Luft. Davon bin ich bei meinem Vorschlag ausgegangen. 

Mit der sozialistischen Konferenz sollten wir einen Prozeß einleiten, für die 80er Jahre die konzeptionellen Voraussetzungen eines wirksamen Eingreifens in die gesellschaftliche Entwicklung zu erarbeiten. Wir — das sind alle, die sich in unserem Lande als "links" bzw. "sozialistisch" verstehen, oder besser, noch weiter gefaßt, alle, die aktiv den Weg suchen, der über den Kapitalismus hinaus zur allgemeinen Emanzipation des Menschen — Mann und Frau — führt. Diese Position ist heute weniger denn je identisch mit der oder jener bestimmten Partei — und Gruppenzugehörigkeit. Unsere Wirksamkeit wird in erster Linie von einer politischen Neuorientierung und das heißt zuvor von der Annäherung unserer Lagebeurteilung an die soziale Wirklichkeit abhängen. Organisationsfragen haben demgegenüber eine abgeleitete Bedeutung; organisatorisches Scheitern war ja auch fast immer die Konsequenz unstimmiger Ausgangspunkte und irrealer Perspektiven. 

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Wir können annehmen, daß eine große Anzahl von links empfindenden Menschen dringend eine etwas verbindlichere und abgerundetere Verhaltens­orientierung erwarten, wie sie schon von einem noch so unvollkommenen Konsens ausgehen würde, der die vielen besonderen Standpunkte überwölbt. Dabei müßte der Schwerpunkt einer solchen Übereinkunft in der Analyse der inneren und internationalen Situation, in der Abschätzung der Konfliktlinien und Perspektiven, in der Bezeichnung der Angriffspunkte für unsere Aktivitäten liegen, nicht in taktischen, gar bloß wahltaktischen Erwägungen. Die letzteren werden nicht bedeutungslos sein, aber darüber wird man sich zunächst natürlich am wenigsten einigen können, und wir wollen unbedingt vermeiden, die Diskussion von dorther aufzuzäumen. Wenn uns auch die Entscheidung im Oktober einen beschleunigenden Anstoß für unser Projekt gegeben hat, dürfen wir unsere Diskussion doch nicht von diesem kurzfristigen, den politischen Überbau betreffenden Horizont bestimmen lassen. Sonst hätten wir die ideologische Initiative von vornherein an den Herausforderer abgegeben.

 

Da wir ein solches Forum, in dem unsere verschiedenen Organisationen, Gruppen, Richtungen, Parteiflügel usw. für einen Dialog aufeinanderzugehen, bisher zumindest in diesem großen Maßstab nicht hatten, wird schon das bloße Stattfinden der Sozialistischen Konferenz ein hoffnungsvolles Signal setzen. Weiter dürfte die Konferenz, wenn alle Richtungen gleichberechtigt zu Wort kommen und wenn sie danach auch entsprechend dokumentiert wird, minimal den Effekt haben, verschiedene Standpunkte zu generalisieren, d.h. über die spezifischen Gruppenkontexte hinaus zu zeigen, wo sich die einen Argumentationen mit gleichfalls mehr oder weniger zusammenfaßbaren anderen Argumentationen decken. Da vorauszusehen ist, daß in einigen Fragen eine Polarisierung herauskommen kann, sollten wir uns von vornherein auf solidarischen Stil der Diskussion einstellen. Der Geist der Unversöhnlichkeit, in dem Lenin seinerzeit erfolgreich seine Partei geschmiedet hat, wäre unserer Situation und unseren Aufgaben hier und heute gewiß ganz ungemäß. Unter diesen Voraussetzungen wäre aber die klare Gegenüberstellung verschiedener Positionen, besonders, wenn sie sich in größeren Argumentationszusammenhängen ergibt, schon ein sehr nützlicher Fortschritt, im Sinne einer Entscheidungshilfe für alle Genossen im Lande.

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Unser Bestreben sollte jedoch über den Vergleich und die Konfrontation der Positionen hinausgehen. Alle, woher wir auch kommen, sollten wir uns nicht nur als Vertreter bestimmter Organisationen, Gruppen, Richtungen, Parteiflügel ansehen und verstehen, sondern unsere individuellen Standpunkte einfließen lassen und Übereinstimmung mit anderen suchen. Bei Meinungsverschiedenheiten hieße das vor allem, nach Möglichkeit immanent zu kritisieren, statt bloß zurückzuweisen und äußerlich dagegenzustellen. So könnte ein dritter überaus wesentlicher Effekt das wechselseitige Eindringen in die Denkzusammenhänge und Motivationshintergründe sein, was allein schon eine Annäherung bedeuten und weitere Diskussionsperspektiven eröffnen kann. 

Dies wäre die Voraussetzung für einen vierten möglichen Effekt, der schon einen bedeutenden Erfolg darstellen würde: Daß es uns gelänge, kollektiv einen Fortschritt in der theoretischen Einschätzung der Zustände und in der Begründungsqualität der politischen Schlußfolgerungen zu erzielen, d.h. genauer das Neue der Situation zu erfassen, präziser den allgemeinen Handlungsrahmen und die Zielorientierungen für die gruppenbestimmten oder auch individuell gewählten praktischen Aktivitäten der Genossen abzustecken. Jedenfalls wird uns die Konferenz stärker die Probleme vergegenwärtigen, die uns allen zu denken geben, und sie wird allen interessierten Genossen im Lande Bezugspunkte für die eigenen Überlegungen anbieten. Gerade insofern sie nicht die Veranstaltung einer bestimmten Organisation sein wird und mehr als die Addition der Beteiligten zu werden verspricht, können wir ihren Charakter als Ort zielstrebiger Kommunikation, die einen übergreifenden Denkzusammenhang stiftet, das Netz der geistigen Verbindungen fester knüpft, herausarbeiten. Da wir nicht dem Organisationszwang zum Konsens unterliegen, werden die Meinungsdifferenzen nicht desolidarisierend wirken, sondern den Kontakt befruchten. Wie in wissenschaftlichen Schulen wäre das notwendige Minimum an Organisation ganz dem intellektuellen Arbeitsprozeß und den Erfordernissen projektorientierter Kooperation untergeordnet.

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Zur Teilnahme einladen sollten wir auch Vertreter anderer an grundlegenden Veränderungen interessierter Kräfte, die sich nicht als Sozialisten verstehen, aber ein Interesse daran haben, wie wir mit den Problemen umgehen, an denen sie kaum weniger engagiert sind als wir selbst. Wenn es wahr ist, daß sich in Zukunft immer mehr auch innerhalb der bestehenden politischen Formationen die Geister scheiden, müssen wir offen für Begegnungen über die Zugehörigkeitsgrenzen hinweg sein. Wir haben auf diese Weise Menschen zu gewinnen. Für Persönlichkeiten, die sich unter Austragen des Konflikts, in durchgestandener Entscheidung schon für einen alternativen Weg entschieden haben, sollte der Zugang zu unserer Konferenz und die Möglichkeit der Beteiligung an der Diskussion selbstverständlich sein. Ich werde beispielsweise versuchen, Herbert Gruhl dafür zu interessieren.

 

Unser Organisationsproblem  

Im Zusammenhang mit meinem "Offenen Brief" und mit der Sozialistischen Konferenz hat man mir zwei einander widersprechende Vorwürfe gemacht. Zum einen den des Liquidatorentums. Nun habe ich in der Tat die Liquidation von Organisationen vorgeschlagen, deren Aussichtslosigkeit mir nach wie vor erwiesen scheint. Es dürfte aber klar gewesen sein, daß ich nicht im entferntesten an die Aufgabe eigenständiger sozialistischer Organisationen überhaupt dachte, weder im einzelnen noch gar im ganzen — wozu sonst die sozialistische Konferenz. Es mag sein, daß ich insofern etwas forciert formuliert habe, als die Auffangstrukturen, die den Genossen die bisherige kleine Heimat ersetzen können, ja noch nicht da sind. Andererseits hat sich die KPD — und nun sicher nicht auf meine Aufforderung hin — doch ins dieserart Ungesicherte aufgelöst, offenbar im Vertrauen auf ein weiteres Feld neuer Möglichkeiten. Übrigens war die globale Anrede auch an die Bunten und Alternativen, wie der ganze Brief, auf die spezifische Situation in Karlsruhe gemünzt. 

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Ich bin mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden, daß mein Text der Vielfalt und Offenheit der bunten und alternativen Praxis, wenn man ihn darauf bezieht, nicht gerecht wird. Einige Genossen kreiden mir an, daß ich mich überhaupt mit einer ganz bestimmten Position bewußt engagiere und dabei die publizistischen Möglichkeiten nutze, die mir fürs erste offenstehen. Da finde ich die Reaktion allerdings recht subjektiv. Wenn ich mich tatsächlich anderen ins Licht stellte (ich bemühe mich sehr, es nicht zu tun), und meine Argumente taugten nichts, so würde sich das schnell genug erweisen. Wie lange kann einer in einer halbwegs offenen Gesellschaft, bei offener Diskussion in den eigenen Reihen, was "legitimieren", zum Beispiel was Grünes, wenn's die Sache dann nicht hält? Höchstens kann er einen vorhandenen Trend verstärken und beschleunigen. Das will ich, ganz überzeugt und aufrichtig, soweit die Einsicht eines Einzelnen in Erforderliches eben reicht. Ich kann nicht recht erkennen, was die Genossen, die mein Engagement schlecht finden, weil es Resonanz hat, nun ihrerseits positiv sein wollen. Sie wollen etwas verhindern, u.a. "Personenkult". Was das ist, wissen sie doch besser; und ich weiß, daß ich nicht dafür tauge. 

Auf der anderen Seite stehe ich, wie man mir sagte, im Verdacht, in der Verlängerung der Sozialistischen Konferenz jenen "Bund der Kommunisten" im Auge zu haben, von dem in meiner Alternative für den Osten die Rede ist. Das Allgemeine an der Idee eines solchen Bundes ist mir nach wie vor etwas wert. Aber die Genossen werden nicht parat haben, was ich da meinte. Deshalb riskiere ich hier, meine damalige Zusammenfassung zu wiederholen. 

"Jener Bund hätte zu sein:

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Was ist daran so leninistisch? Es ist als Negation des bürokratischen Parteityps angelegt, den wir nicht nur aus der Geschichte der russischen Revolution kennen. Nur eines ist nicht negiert: Die Idee von Avantgarde in ihrer allgemeinsten Bedeutung. Ich schlage vor, die Realität einzugestehen, daß einige mehr erkannt haben als andere. Darüber müssen wir doch nicht vergessen, und wir dürfen es nicht, auf wie vielerlei begünstigenden Umständen dieser Verlauf beruht. Verstecken wir uns doch nicht vor uns selbst: Jeder, der sich aktiv an Diskussionen wie dieser beteiligt, rechnet sich doch auch selbst zur Avantgarde. Erst wenn wir das verdrängen, wird es ein Fluch. Und wenn wir daraus ein Recht und eine Praxis ableiten, andere zu manipulieren und zu reglementieren. 

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Das wirkliche Problem liegt im zielgerechten Verhalten und in der Organisation unserer Arbeit für eine allgemeine Veränderung des Bewußtseins. Stimmt denn das, was ich mir da gedacht habe, nicht weitestgehend mit der Intention überein, wie sie hinter der bisherigen Praxis des Sozialistischen Büros gestanden hat? Habt ihr nicht gerade einen solchen Bund gemeint? Und steht nicht hinter jeder Organisation wie eurer auch die Hoffnung, einmal führend eine bessere neue Gesellschaft mitzugestalten — führend durch Beispiele und durch das bessere, das tiefer in die Wirklichkeit eindringende Erkennen und Verstehen?

Ich kann einstweilen nur einen Punkt in meinem Avantgardeverständnis erkennen, der mißverständlich ist, wenn man ihn vom nichtkapitalistischen Weg (denn ausdrücklich dafür hatte ich ja konzipiert) nach hier überträgt: den Gedanken der zwar nicht monolithischen, wohl aber einen Partei. Noch immer sehe ich für dort die adäquateste Lösung, den realistischsten Vorschlag darin, der Pluralität von Auffassungen über den besten Weg für die gesamte Gesellschaft durch ein ausgeprägtes Recht auf Tendenzplattformen, auf Flügel- bzw. Fraktionsbildung unter dem einen Dach Geltung zu verschaffen. Wo es sich aber anders entwickelt, wird es nicht darauf ankommen, der Geschichte Vorschriften zu machen. Hierzulande jedenfalls würde doch gewiß nicht deshalb eine bestimmte Struktur zustande kommen, weil sie sich einer in den Kopf gesetzt hat.

Es gibt Genossen, die sich jetzt eine linkssozialistische Partei wünschen. Das wäre jedenfalls ein stärkeres gemeinsames Dach, als es mir vorschwebte, als ich die Sozialistische Konferenz vorschlug. Denn dabei war ja eine der Voraussetzungen, daß Genossen zusammenkommen sollen, die nicht nur verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Gruppen, sondern auch ausgewachsenen und unausgewachsenen Parteien wie der SPD und den Grünen angehören. Und es ist, wie schon angedeutet, nicht meine Vorstellung, daß am Ende dann doch eine gesonderte pure linkssozialistische Partei z.B. jenes Typs stehen sollte, wie wir sie etwa in Skandinavien haben. Unsere Bedingungen sind anders. Es scheint mir durchaus logisch, daß unsere politische Praxis — je nachdem — bei

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den Grünen, in der SPD, in den Gewerkschaften oder auch in anderen Zusammenhängen liegt, daß wir uns aber über die institutionellen Grenzen hinweg gemeinsam das geistige Rüstzeug dafür erarbeiten und — ohne disziplinarische Verpflichtung auf die Denkresultate, ohne geschlossenes fraktionelles Auftreten — überall die Praxis in der gleichen Richtung vorantreiben.

Das würde voraussetzen, der Sozialistischen Konferenz eine bestimmte Art von Kontinuität zu verschaffen, bezogen natürlich nur auf das Arbeitsprinzip des Dialogs über die theoretischen Grundlagen und politischen Prinzipien unserer Strategie und Taktik für die sozialistische Transformation. Wir müßten also im Stile des Netzwerks für alternative Projekte die Mittel aufbringen, um unregelmäßig, aber nicht unsystematisch solche allgemeinen Diskussionskonferenzen durchführen und uns auch einen organisatorischen Rahmen dafür leisten zu können. Die Teilnehmer würden wechseln. 

Das wäre der Rahmen, um unsere Arbeitsrichtungen informell abzustimmen, etwa so, wie die Orientierung auf wissenschaftlichen Kongressen erfolgt. Auf diese Weise wäre der kollektive Intellektuelle assoziativ organisiert, im Stile einer vielfältig verzweigten, aber auf die allgemeinen Probleme hin konzentrisch ausgerichteten wissenschaftlichen Schule. Und für die eigentliche theoretische und propagandistische Arbeit könnte man sich die Kombination der beiden folgenden Formen vorstellen: Einerseits arbeitsfeld-orientierte Gruppen, für die es ja schon Erfahrungen gibt, die aber bisher vielleicht zu spezifisch richtungsgebunden vorgegangen sind und daher gruppenweise monologisiert haben. Sicher würden solche Gruppen je nach dem aktiven Kern, aus dem sie hervorgehen, Richtungspräferenzen bewahren, aber es können die vorherrschenden Richtungen nur gewinnen, wenn sie durch Zuzug anders an die gleichen Probleme herangehender Leute das Mittel des direkten Dialogs einsetzen. Man müßte unter der Voraussetzung von mehr Kooperations- als Durchsetzungswillen der Beteiligten eine große Vielfalt der Standpunkte anstreben, noch über den Gesamtumkreis unserer bisherigen Zirkel hinaus. Es würde nicht nur ein Erkenntnisgewinn daraus entstehen. 

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Das könnte bedeuten, ohne Angst vor Doppelungen auf geographisch konzentrierte Themenarbeit auszugehen. Dafür könnten wir unsere Positionen an Universitäten, Hochschulen usw. als Stützpunkte nutzen und zugleich, wo immer möglich, den Kontakt mit Basisgruppen aller Art suchen, damit wir fest im realen ideologischen Prozeß verankert sind und uns die Vermittlung von Theorie und Politik sichern.

Andererseits haben Genossen die Idee einer interdisziplinär bzw. interthematisch vorgehenden Sommerschule wieder aufgegriffen, wo Arbeitsergebnisse über die Gruppen hinweg verglichen und weitervermittelt werden können, und wo durch die Vielfalt der Zusammensetzung schöpferische Ideen für Politik, Philosophie, alternative Lebenspraxis geboren werden können. Diese Sommerschule müßte absolut offen sein für alle Richtungen, die an den uns beschäftigenden Problemen interessiert sind. Es müßte überhaupt das ganze Projekt einer übergreifenden, kontinuierlichen Kommunikation von vornherein darauf angelegt sein, den abgrenzenden Rahmen der sogenannten "linken Scene" zu sprengen. 

Um die Kontinuität im lokalen Zusammenhang unserer Kräfte zu sichern, ist der Vorschlag gemacht worden, erneut an die Idee der republikanischen Clubs anzuknüpfen, sie möglichst überall wieder ins Leben zu rufen, gleichfalls mit einem erweiterten Konzept. Sicherlich müßten sie mit den verschiedensten alternativen Projekten und Aktivitäten verbunden sein, die Kommunikation zwischen ihnen fördern. 

Ein entscheidendes Moment des kommunikativen Netzes dürfte die Verstärkung und effektivere Koordinierung unseres publizistischen Potentials, unserer verlegerischen und redaktionellen Infrastruktur sein. Wer nicht über ein Institut und über Hilfskräfte verfügt, kann sich in dem allgemeinen Informationschaos und bei der Verstreutheit unseres eigenen Angebots kaum noch auf dem laufenden halten. Meiner Meinung nach kämen wir weiter, wenn man die Kapazitäten und Konzeptionen der taz und der Neuen verbinden könnte. In einem so großen Lande müßten wir die Kraft zu einer Tageszeitung haben, die das gesamte alternative Spektrum abdeckt, und die man nicht nur ergänzend zu einer anderen liest. 

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Desgleichen die Kraft zu einer Wochenzeitung vom Range der Zeit — wenn es z.B. gelänge, einige Periodika verschiedenen Charakters zusammenzuführen. Einzig auf theoretischem Gebiet haben wir in der KRITIK ein die Richtungen wirklich einigermaßen übergreifendes Organ, das sich sicher auch noch weiter öffnen kann.

Sehr wichtig scheint mir, wie schon angedeutet, sowohl als Versicherung für den Gefahrenfall als auch vor allem für den Ausbau alternativer Praxis, also für ein Aussteigen mit konstruktiver Absicht, die Ausweitung des "Netzwerkes Selbsthilfe", vielleicht auch im Hinblick auf Koordinierung mit ähnlich gerichteten Aktivitäten anderen Ursprungs. Der Genossenschaftsgedanke wird anscheinend neuerlich sehr bedeutsam für unsere Sache. Obwohl es nötig ist, die Illusion zu vermeiden, man könnte damit unmittelbar zu einer gesamtwirtschaftlichen Alternative vorstoßen, bietet er die Möglichkeit, den Freiraum zu gewinnen und zu sichern, in dem sich die alternativen Kräfte vorbereiten und entfalten, von dem sie in die übrige Gesellschaft hineinwirken können. 

Wenn wir es ernst meinen mit unserem Ziel des Selbstverwaltungssozialismus, müssen wir dem Gedanken nähertreten, unser Leben gemeinschaftlich zu gestalten, uns nicht auf Dauer den atomisierenden Strukturen der staatlichen und monopolistischen Superorganisation mit all den Konsequenzen für den individuellen Lebensprozeß zu überlassen. Die Emanzipation muß jetzt beginnen, mit uns ein Stück. Wir müssen uns gegenseitig Mut machen ,und das Minimum gegenseitigen Vertrauens schaffen, das nötig ist, um den Sprung zu wagen. Die Fortsetzung der bürgerlichen Existenz kann uns kulturell unproduktiv und darum letztlich auch politisch ohnmächtig machen.

 

Die Linke und die Grünen  

Der marxistische Sozialismus mit seiner Herkunftsbindung an die Arbeiterbewegung ist nur eine der Traditionen, die in der entstehenden neuen Massen­bewegung zusammentreffen. Durch die Probleme, auf die sie sich bezieht, drängt diese Bewegung Sozialrevolutionär über den Kapitalismus hinaus. Die Menschen werden durch die Logik ihres Engagements selbst dazu veranlaßt, die Verwurzelung der ökologischen Krise im Kapitalismus zu erkennen. 

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Der eigentliche Mobilisierungsansatz ist schön jetzt, daß der Mensch seiner Natur nach, die wir Marxisten lange Zeit für allzu relativ gehalten haben, eine andere Gesellschaft braucht, und nicht nur, um zu überleben. Vor allem unsere Methode, Geschichte zu verstehen, unser historischer Materialismus, der absolut nichts mit dem zu tun hat, was viele als den "Materialismus unseres Zeitalters" ablehnen, wird sich als überaus brauchbares Instrument erweisen, um das grüne Konzept zu profilieren. Wir können maßgeblich dabei helfen, daß das notwendige utopische Moment der grünen Bewegung zugleich gründlich mit den Realitäten vermittelt wird, und die Sache nicht durch Verabsolutierung ad absurdum führt. Es wäre bestimmt für die allgemeine Sache von Nutzen, wenn wir erreichen könnten, daß unsere Partner, soweit sie an Theorien arbeiten, die "Deutsche Ideologie" von Marx und Engels einmal läsen, ehe sie sich methodologisch auf den "Feuerbachschen Menschen" und die Feuerbachsche "Liebe" beschränken. 

Vielleicht könnte die Sozialistische Konferenz der erste Schritt zu einer späteren organisierten Initiative Demokratischer Sozialisten sein, die sich alternativ zur Mehrheitspolitik der Sozialdemokratie versteht und — ohne bindende Empfehlung an die einzelnen Genossen — auf die Arbeit bei oder mit den Grünen, jedenfalls mit der ökologischen Bewegung im weiteren Sinne, orientiert. Diese Initiative würde ihre Aktion von vornherein mit allen anderen alternativen Kräften assoziieren und kombinieren. Wir könnten uns die Aufgabe stellen, die marxistische Tradition, aber auch alle anderen älteren wie neueren Ströme sozialistischen Denkens auf neue gemeinsame Positionen hin konvergieren zu machen. 

Beispielsweise ist eine überaus dringliche und zugleich lohnende Aufgabe, die verschiedenen Ansätze zu einer Strategie der Transformation im entscheidenden ökonomischen Bereich, die unter der Bezeichnung "Dritter Weg" vertreten werden, in einem toleranten und solidarischen Diskussionsprozeß auf einen annähernd gemeinsamen Nenner bringen.

Das ist die elementare Voraussetzung für eine zugleich realistische und kohärente wirtschaftspolitische Stellungnahme, und hierzu könnten wir aufgrund unserer spezifischen Tradition einen maßgeblichen Beitrag leisten, der sich in ein Gesamtkonzept integriert.

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Eine ähnliche Bedeutung hätte die Klärung des Staats- bzw. Machtproblems in der aktuellen Perspektive des widerspruchsvollen Kampfes um Einfluß auf die Staatsmaschine und um die Überwindung der um sich greifenden staatsmonopolistischen Tendenz in Richtung basisdemokratischer Selbstverwaltung.

Ebenso wichtig wäre die umfassende Verständigung über Weg und Ziel der kulturellen Umwälzung, die das Herzstück der allgemeinen Emanzipation des Menschen ist. Dazu würde auch eine außerordentliche Bemühung um die Probleme gehören, die mit der Liquidierung des Patriarchats zusammenhängen. Die grüne Partei kann nur vor dem Hintergrund der grünen Bewegung richtig eingeordnet und bewertet werden. Sie ist der recht spontan, also mit einiger Notwendigkeit unternommene Versuch, die neue Volksbewegung auf den Staat, auf die gesamtnationalen und internationalen Probleme zu beziehen. Wer die Beschränktheit des durchschnittlichen grünen Denkansatzes, das Unpolitische der Motive bei manchem unserer Partner dort beklagt, sollte als erster die Funktion dieses Antritts als politische Partei begreifen. Das kann ein überaus wichtiger Lernprozeß werden, und die Situation des Jahres 1980 ist geeignet, dieses Lernen zu beschleunigen. 

Gewiß reproduzieren sich bei der überstürzten Formierung der neuen Partei für den Wahlkampf verstärkt auch konventionelle Vereinsmeierei und ganz und gar nicht alternative und basisdemokratische Praktiken. Wir sollten selbstkritisch genug sein, unseren Anteil an dieser Entwicklung einzurechnen. Außerdem sollten wir nicht übersehen, daß es noch andere wesentliche Kräfte bei den Grünen gibt, die unter diesen Mängeln leiden; nicht nur uns gefallen die alten politischen Formen nicht. Nach der Wahl müssen wir das Unsere beitragen, damit in solidarischem Geist überprüft wird, wo man allzu schnell aus der Not eine Tugend gemacht und der Bewegung zuviel Apparat aufgesetzt hat. Jeder, der genauer hinsieht, dürfte erkennen, auch die nichtalternativen Verhaltensweisen findet man quer zu den einfließenden Traditionen vor. In vieler Hinsicht käme es bei den Grünen auf die Verbindung der problemorientiert denkenden und daher für Selbstveränderung offenen Menschen aus allen "Lagern" an. 

Wenn die problemorientierte Diskussion und Verständigung in Gang kommt, wird die Frage, ob und wie die "Probleme der Linken bei den Grünen aufgehoben werden können", gegenstandslos werden. Wo Differenzen in der Sache, im Herangehen, Schwierigkeiten mit der Terminologie zunächst noch überwiegen, läßt uns das Prinzip der Einheit in der Vielfalt, Vielfalt in der Einheit jede Möglichkeit, unsere besondere Identität zu betonen. In der Perspektive werden wir einer der Ströme sein, die in der Bewegung zusammenfließen, und die Wasser werden sich, an den Quellen zu unterscheiden, auf die Zielsetzungen zusehends vermischen, ohne daß man sich eine unterschiedslose, tote Identität auch nur wünschen sollte. 

Dem Wesen nach ist die Grüne Partei nicht eine organisatorische, sondern eine positiv zu wertende ideologische Herausforderung an uns. Es kommt nicht darauf an, dort unbedingt Mitglied zu werden, so wichtig es ist, daß unsere Kräfte ausreichend vertreten sind. Wichtiger ist der Geist unserer Mitwirkung, und der hängt vornehmlich von der Einschätzung der Perspektive ab. Die ökologische Bewegung, die ihrem innersten Kern nach auf menschliche Emanzipation zielt, muß in allen Bereichen unseres sozialen und politischen Lebens um sich greifen. Das ist ein Aufbruch für die Rettung unserer Zivilisation, die nur durch eine beim Menschen ansetzende Umprogrammierung der Produktions- und Lebensweise zu gewinnen ist.

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Aus rot und grün, März 1980.
Aus: Materialien zur ersten Sozialistischen Arbeitskonferenz.

Redaktioneller Hinweis
Die oben erwähnte Diskussionszeitschrift KRITIK,
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