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   Zum Problem der SPD  

"... man kann vom Ochsen nicht mehr als Rindfleisch verlangen."

Auszug aus nicht abgedruckten Passagen eines Interviews mit der <Bunte-Liste-Zeitung>, Hamburg, 13.12.1979.

 

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Wenn man sich mit der Frage auseinandersetzt, ob die SPD fähig ist, eine system-transzendierende Politik zu machen, stellt man die Frage auf einer Ebene, die schon seit 60 Jahren klar ist und negativ beantwortet wurde. Insofern deuten viele der Auseinandersetzungen mit der SPD auf eine Fixierung hin, die für ein Vorwärtskommen durch und durch unfruchtbar ist. Warum richten wir denn unseren Blick immer wieder auf den Apparat­charakter der SPD, wie das Kaninchen den Bück auf die Schlange. Natürlich wird die SPD als Partei und als Institution so, wie sie jetzt verfaßt ist, nicht über den Kapitalismus hinaus­führen. Lassen wir es doch endlich dabei bewenden. 

Aber, was ich auch drüben für den Apparat festgestellt habe: Der Apparat ist, soziologisch gesehen, ein konservatives Element. Dies bezieht sich auf die Art und Weise, in die er die Individuen anspricht und mobilisiert. Darüber hinaus gilt dies auch in einem allgemeineren Sinne, weil die Gesamtstruktur der Apparate dem historischen Prozeß gegenüber stillsteht, im besten Falle sich nachträglich ein bißchen anpaßt.

Wenn ich für eine andere, nicht ressentimentgeladene Einstellung zur SPD eintrete, dann denke ich daran, daß wir das politisch-psychologische Kräfte­verhältnis in der Bundesrepublik ändern müssen. Und dabei kommen wir ohne das von der SPD verwaltete Potential nicht weiter. Aus der Geschichte der 20er Jahre sollten wir auch gelernt haben, daß es keine sehr sinnvolle Politik ist, zu sagen, daß wir Kontakte an der Basis haben wollen, um Einfluß gegen die Führung zu erlangen. Wir sollten die Frage gar nicht auf dieser Ebene stellen. Für uns geht es darum, daß wir uns die Diskussionsmöglichkeiten, d.h. unsere Einflußmöglichkeiten auf den ideologischen Prozeß unter den Mitgliedern der SPD, offenhalten müssen. 

Also nutzt es uns auch wenig, wenn wir hinter jedes SPD-Mitglied, das wir beim Namen kennen, in Klammern das passende Etikett hinkleben: Das ist ein Linker, das war mal ein Linker, das ist ein Rechter, das ist ein Apparatschik, das ein Technokrat, der ist Opportunist. Und wir müssen akzeptieren, daß diese Menschen, die die SPD repräsentieren, sich neben dem, was durch ihre Funktion bedingt ist, vielleicht noch etwas anderes denken, etwas, was darüber hinausgeht, wenngleich das aber immer noch von einer gewissen Disziplin und Loyalität gegenüber der Partei getragen ist. 

Selbstverständlich sind selbst derartige Diskussionen Teilen des Apparats unheimlich, und er hat immer die Tendenz, die Schotten dicht zu machen. Unser altes Problem ist, das taucht immer wieder auf, daß wir nicht durch unser eigenes Verhalten, durch Beschimpfungen, Klassifizierungen usw. dazu beitragen, daß die Gegenreaktion möglichst hart ausfällt. 

Denn dadurch wird uns die Möglichkeit der Einwirkung auf den ideologischen Prozeß in der Partei nur erschwert. Dabei meine ich das nicht einfach im subversiven Sinn, sondern im Sinne einer ideologischen Kooperation mit sehr vielen Menschen in der SPD. Viele der Abgrenzungspositionen aus dem Kreis der hiesigen Linken rühren doch wohl zum einen aus einer Art Angstreaktion, die sich aus der nach außen nicht eingestandenen Erkenntnis der Schwäche der eigenen Position begründet oder aus der Enttäuschung darüber, daß die SPD nicht die Politik macht, die einige von uns — illusionärer Weise, würde ich sagen — von ihr erwartet haben. Das ist aber die Schwäche oder Unrichtigkeit der eigenen Position und nicht der Fehler der SPD. Sie ist wie sie ist. Man kann von einem Ochsen nicht mehr als Rindfleisch verlangen.

Was die Frage der Auseinandersetzung mit der SPD betrifft, die Hoffnung auf eine Spaltung oder ähnliches, so halte ich eine solche Einstellung für unzweckmäßig. Gegenwärtig ist es doch so, daß sie an ihrer linken Flanke Menschen verliert, namentlich jüngere. Ob diese Menschen nun bei der Wahl gleich den entsprechenden Stimmbeschluß fassen werden oder nicht, ist eine ganz andere Frage, das kann sich aus taktischen und arithmetischen Gründen so oder so entscheiden.

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Fakt bleibt, daß die SPD an der linken Flanke Menschen verliert. Das ist ihre Angelegenheit und kann nicht den Grünen oder irgendwem angerechnet werden. Wer zu den Grünen kommt, der kommt, und wer nicht kommt, der kommt eben nicht. Aber klar ist auch, daß man das grüne Anliegen in unserem Lande nicht verwirklichen kann, solange die SPD insgesamt gesehen so funktioniert, wie sie jetzt funktioniert. 

Und ob die SPD so funktioniert wie jetzt oder anders, das ist für uns als historische Materialisten keine Frage der Moralpredigt an die Führer, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Daraus ergibt sich für uns die Herausforderung, ob wir daran etwas ändern können, ob wir dem ideologischen Prozeß in dieser Gesellschaft eine andere Richtung geben können. Das hat natürlich nicht allein mit unserem Wollen oder Können zu tun, sondern das geht nur, weil der ideologische Prozeß insgesamt im Gange ist. Ich bin z.B. absolut nicht der Überzeugung, daß dieser Rechtstrend, den wir seit geraumer Zeit bemerken, eine so ausgemachte Sache ist, daß man ihn nicht "umdrehen" könnte. 

Das Unbehagen an dem Lauf der gegenwärtigen Dinge reicht weit in die SPD hinein. Und die Wahl des Kanzlers Schmidt ist für die Mehrheit des Wahlvolkes nun keineswegs mehr eine Glaubensangelegenheit, sondern eine rein pragmatische Entscheidung gegen Strauß. Eine solche Situation zeigt doch schon an, daß ein großes Potential für eine Neuorientierung bereitsteht. Es wäre jetzt eine schon wieder ganz sektiererische Vorstellung, wenn man sich die Aufgabe sogleich so vorstellen wollte, als gelte es, mit diesem kritischen Potential die SPD zu sprengen. Wollen wir doch mal sehen, welche Veränderungen in der Regierungspolitik, im Herangehen an die wirklichen Probleme der Bundesrepublik die Folge sein würden, wenn es insgesamt zu einem Durchbruch neuer Fragestellungen in einem Großteil der Mitgliederschaft und des Wählerpotentials kommt, auf das sich diese Partei stützt. Wir müssen da nicht alles Oppositionelle rausholen wollen.

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In dem Zusammenhang muß ich wohl auch noch die Frage der Organisation unserer Kräfte ansprechen. Auf den ersten Blick gesehen habe ich ja in dem Spiegel-Interview (vgl. "... ich weiß, ich kann völlig abrutschen") und der Rede vor dem Bundeskongreß der Grünen in Offenbach ( vgl. "Was vor der Zukunft zusammengehört") etwas verschiedene Positionen eingenommen, was die Frage einer sozialistischen oder linkssozialistischen Alternative außerhalb der SPD betrifft. Hier möchte ich mal feststellen, daß ich eigentlich von vorneherein eine Vorstellung der Art hatte, wie ich sie in Offenbach vorgetragen habe. Im Verlauf des Spiegel-Gesprächs habe ich mich ein bißchen auf ein enger aussehendes Konzept abdrängen lassen, das meine Intention nicht in der ganzen Breite zum Ausdruck gebracht hat. Sehen wir die Erfahrungen in Skandinavien mit solchen linkssozialistischen Parteien an, die es trotz mancher Erfolge nicht geschafft haben, irgendwie mehrheitsbildend zu werden und letzten Ende doch eine marginale Rolle spielen. Das hat also nicht funktioniert. 

 

Wir haben hier eine völlig andere Situation, gerade weil die traditionelle Linke — im Gegensatz auch zu Südeuropa — bei uns nicht so stark gewesen ist, nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit kann sie uns auch nicht mehr ein so großes Hindernis sein, wie es jede Partei einfach sein muß, auch die beste, wenn es zu großen Veränderungen kommt. Jede Partei hat ihren Apparat, hat ihre Tradition, hat Leute, die ihre Positionen liebhaben, auch wenn es nicht gleich unbedingt Machtbesessene sein müssen. Es gibt einfach eine Eigengesetzlichkeit, einen Widerstand, die eigene Organisation aufzugeben, falls es einmal notwendig sein sollte. 

Obwohl von den Voraussetzungen zunächst einmal scheinbar ungünstiger, ist die Lage in der Bundesrepublik, unter diesem Blickwinkel gesehen, durchaus auch positiv. Ich habe für mich das einmal so formuliert: Wir haben nichts zu verlieren (jetzt nicht: "als unsere Ketten", sondern:) als unsere Kutten, nämlich unsere Sektiererkutten, wenn wir uns in die Aufgabe stürzen, wenn wir unser sozialistisches Potential in eine Bewegung einbringen, die für unsere sozialistischen Ziele von ganz grundlegender Bedeutung ist und zugleich aber noch breitere Interessen als die von dieser sozialistischen Linken doch bisher vorwiegend repräsentierten Arbeiterinteressen vertritt. 

Das heißt, wir können hier etwas gewinnen. Unsere Aufgabe besteht jedenfalls nicht darin, die Grünen rot umzufärben oder zu überfahren. Wir kommen als Sozialisten — nicht nur trotzdem, sondern auch gerade deshalb, weil wir uns hier einordnen können und nicht überordnen — auf unsere Kosten. Ansonsten hindert uns ja nichts daran, Diskussionsforen zu schaffen, in denen wir spezielle Fragen sozialistischer Theorie oder Politik besprechen können.

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Jenseits der alten Fronten    

  Aus <rot und grün>, März 1980.

 

 

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Das soziale Kräfteverhältnis, das es zu ändern gilt, äußert sich als politisch-psychologisches, in das weitaus mehr Faktoren eingehen, als sich unmittelbar aus der "Klassenlage" ableiten lassen. Und deshalb möchte ich auch etwas gestehen, um den Stier bei den Hörnern zu packen. Ich habe eine bewußt positive Einstellung zu dem, was streng rationalistisch Denkende wahrscheinlich mit dem Begriff "Mystizismus" meinen und der mir gelegentlich vorgeworfen wird, weil ich in meinem Ansatz die verschiedenen sozialen Interessen zu wenig berücksichtige, wie die Genossen meinen. 

Mich interessieren die kulturrevolutionären Potenzen, die in Christus, Buddha und Laudse stecken gar nicht wenig. Potenzen, die Geschichte gemacht haben. Wir brauchen — als Moment, nicht um das Ganze des Lebens damit auszufüllen — die Tradition von Gnosis. Mich haben schon lange Denker wie Joachim di Fiore, Meister Eckart, Spinoza, Pascal angezogen, wegen der Affinität ihrer Mystik zu realer Freiheit, die unvollendet bleibt, solange sie nicht auch Freiheit des Geistes einschließt. 

Kürzlich las ich, jemand habe bei Marx ein mystisches Jugenderlebnis aufgedeckt, das dann dem Turmerlebnis Luthers analog wäre. Ich halte das für möglich. Es handelt sich, realistisch genommen, bei Mystik, jedenfalls bei heller, um eine Tiefenmobilisierung emanzipatorischer Kräfte in der menschlichen Psyche, eine durchaus diesseitige Angelegenheit, zu der man allen einen Zugang eröffnen müßte, durch eine Praxis der Meditation zum Beispiel. Auch das, gerade das war bisher ein Privileg für wenige. Wahrscheinlich ist meine Position in dieser Frage die von Bloch.

 

Was die problematischen Stellen bei Herbert Gruhl und Wolfgang Harich betrifft: Sind sie etwa die einzigen, die — der eine aus dieser, der andere aus jener Ordnung — Rudimente mitschleppen? 

So hat z.B. der Genosse Rabehl einen Krypto-Leninisten in mir entdeckt, der die Spezialisten-Schicht vertritt. (Siehe Rabehls Aufsatz "Kritik der neoleninistischen Alternativvorstellung gesellschaftlicher Entwicklung in der DDR und der BRD" in KRITIK 23, Anm. d. Red.) 


Na schön, Das anti-autoritäre Lager hat doch gerade seine Erfahrung damit gemacht, daß man das zu Negierende noch nicht los ist, indem man sich intellektuell distanziert. Zur Tür heraus, zum Fenster wieder hinein. Mir scheint im Hinblick auf den Mystizismus etwas ganz anderes interessant. Wenn Herbert Gruhl in puncto "autoritärer Lösung" schwankt, dann aus dem auch von ihm ausgedrückten Zweifel, ob ein freiwilliger Konsens erreichbar sei. Wenn ich mich recht erinnere, sagt er geradezu, er sieht den neuen Glauben nicht, der soviel Kohä-sionskraft hergäbe, daß eine allgemeine Übereinkunft über die Werte und Ziele möglich wird. Bisherige Kulturrevolutionen, so jedenfalls habe ich die verschiedenen Zweige der Weltgeschichte gelesen, gingen stets mit einer ideologischen Synthese von religiöser Durchschlagskraft einher. Es kommt auf die Qualität des Appells an, auf seine aktuelle Form natürlich nicht zuletzt, da wir ja 2000 Jahre intellektuellen Fortschritts nicht zurückdrehen, sondern gerade nutzen müssen. Wir brauchen heute — in dem bekannten Hegeischen Sinne des Wortes — Aufhebung der Religion, eine Aufhebung der Religion für freie Menschen, die sich niemandem zu Füßen werfen. Ich denke etwa auch an das, was Erich Fromm vertritt.

Was den möglichen Mißbrauch entsprechender menschlicher Bedürfnisse betrifft, so fragt sich einfach, welche Mächte den Sieg erringen, wo sich in der sozialen Praxis der Kampf um die Seelen entscheidet. Wenn wir angesichts der Möglichkeit, daß eine absolut notwendige Umkehr in der Kultur auch autoritär ausschlagen kann, unsere Skepsis pflegen und nur die Gefahr ausmalen — dann werden wir den Raum freihalten, auf dem der falsche Prophet ungestört sein Wahlvolk sammeln kann.

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Wie kommen wir zur Hegemonie?

 

Wir müssen dem anderen, dem rechtskonservativen Block die Menschen abgewinnen und den Block der reformatorischen Kräfte so von innen verändern, daß er insgesamt den Weg grundlegender Systemveränderung einschlägt, jenen vielberufenen "Dritten Weg", der über den Kapitalismus hinausführt und zugleich den für entwickelte Länder ganz unhistorischen Abweg des despotischen Apparatstaates vermeidet. Der Dritte Weg ist nichts anderes als der immer wieder neu erhoffte Weg zum Sozialismus in der unserer Tradition gemäßen Form.

Die Sozialdemokratie, wie sie ist, wird ihn nicht eröffnen, weil sich die Doppelstrategie der Jungsozialisten nicht mit der lange von der Partei als Gesamt­organismus verinnerlichten Staatsverhaftung verträgt. Die Partei Helmut Schmidts kann unmöglich die Massen rufen. Die Linke in der SPD braucht also unbedingt Hilfe von außen. Was hat es mit dem historischen Kompromiß auf sich? Vordergründig ist das eine romanische und speziell italienische Angelegenheit. Sie scheint das Vorhandensein eurokommunistischer und sozialistischer Massenparteien vorauszusetzen. Und auf der anderen Seite, wenn nicht die DC als Partner (was dahin tendiert, ist Perversion einer fruchtbaren Idee), dann jedenfalls die katholischen Massen, die man ihr abspenstig machen kann. Die SPD kann für sich genommen nicht Subjekt in einem historischen Kompromiß sein, der über die bestehenden Zustände hinausführt, wie es die KPI ja möchte. Und eine Perspektive großer Koalition, wie man sie ja aus der italienischen Analogie ableiten könnte, paßt noch weniger in die deutsche politische Landschaft, die wir uns wünschen.

Aber man hält sich oft zu sehr an die Oberfläche des Phänomens. Berlinguer hat angesichts der Niederlagen der Arbeiterbewegung bei den Versuchen, aus Angriff oder Gegenangriff heraus die Festung aus der Minderheitenposition frontal zu nehmen, einen allgemeinen politischen Schluß gezogen: nicht auf Zuspitzung der inneren Klassenwidersprüche traditionellen Typs zu setzen. Und dies natürlich nicht zuletzt angesichts der unabweisbaren Erfahrung, daß deren Dynamik, das System zu sprengen, insgesamt gesehen abnimmt. Die Konsequenz ist ein Neoreformismus, der bisher mehr pragmatisch gefunden als theoretisch begründet worden ist, und deshalb in der Gefahr steht, in den alten sozialdemokratischen Gradualismus zurückzufallen. So sehe ich die Sache, andere Genossen mögen es anders einschätzen.

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Überaus fruchtbar aber scheint mir, mit seinem Hintergrund, der Begriff des historischen Kompromisses als strategisches Konzept. Seine Pointe ist die Idee eines großen Zusammenschlusses, eines nicht bloß mechanischen, sondern integralen Bündnisses "aller Kräfte der Arbeit und der Kultur". Dies ist eine Formel, die nach meinem Verständnis genau jenem Begriff des Gesamtarbeiters entspricht, den ich verschiedentlich angedeutet habe, und der tendenziell über die Grenzen zwischen den Klassen hinausgreift, der nämlich übergreift auf Individuen, die bei anderer klassenmäßiger Zuordnung vornehmlich produktiv und konstruktiv tätig sind, nicht parasitär sind, nicht die Summe an Zersetzung und Gefährdung des gesamten italienischen Gesellschaftskörpers vermehren. 

Denn der letzte Hintergrund des historischen Kompromisses ist natürlich der Umstand, daß in Italien mit seinem Nord-Süd-Gefälle die inneren und die äußeren Widersprüche des Kapitalismus in ihrer Verflechtung einen besonders verteufelten gordischen Knoten bilden. Was haben die italienischen Arbeiter zu gewinnen, wenn sie einerseits nicht rechtzeitig durchbrechen können im Sinne der alten proletarischen Generallösung, und wenn andererseits inzwischen die gesamte Wirtschaft, das gesamte nationale Leben zugrunde gerichtet wird, weil es ein Patt der politischen Kräfte gibt? In welchem der entwickelten kapitalistischen Länder hat die Linke Aussicht, für sich und mit ihrer spezifischen Mentalität, über 50% hinaus zu kommen, und das, obwohl die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sozialökonomisch zu den Unterdrückten und Ausgebeuteten gehört?

Die Antwort ist der historische Kompromiß über die alten Divisionen hinweg, um so eine überwältigende Mehrheit für die friedliche Eroberung der Staatsmaschine in allen ihren Ebenen und Abteilungen in Bewegung zu setzen. Das ist ihrem Wesen nach keine Stragegie der Klassenkollaboration. Diese Operation hat das Ziel, alle alten und verbrauchten Mächte von der Staatsmaschine abzudrängen, die Staatsmaschine umzugestalten, ihre parasitären und repressiven Glieder zu kupieren und sie so, insgesamt saniert, zum allgemeinen Instrument einer vernünftigen, nicht mehr herrschaftlich funktionierenden Verwaltung zu machen.

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Das ist — traditionell gesprochen — eine Strategie des Stellungskriegs, einer langwierigen Doppelherrschaft selbst und gerade auf dem Felde des Staats­apparates, der ja aber von Millionen von Werktätigen in Gang gehalten wird. Wenn man diesen Apparat nicht mehr global der anderen Seite zuschlägt, wenn man ihn nicht ohne Puffer der strukturellen Gewalt der Kapitalreproduktion und der direkten Beeinflussung durch die monopolistischen Lobbies verschiedenster Art überläßt, kann er sukzessiv zum Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, einschneidender Eingriffe in die Souveränität des Kapitals werden, zumal das im Staatsapparat zentralisierte Kapital dann gegen die Konzernkapitale eingesetzt werden kann. Das ist eine Idee, die es verdient, über den italienischen und eurokommunistischen Rahmen hinausgeführt zu werden.

 

Die Chance für die Bundesrepublik  

 

In der Bundesrepublik könnten die Faktoren, die sich bisher in einer spezifischen Schwäche der Linken niederschlagen, zugleich eine Chance bieten. Die KPI laboriert gewissermaßen daran, daß sie die Widersprüche, die in der BRD nun zwischen der Sozialdemokratie und den Grünen ausgetragen werden sollen (sofern die Sozialisten links von der SPD die Stunde begreifen), in sich selbst austragen muß. Die KPI ist gerade durch ihre Verpflichtung auf die traditionellen Arbeiterinteressen an der kühnen Entfaltung der neuen Strategie gehindert. Man könnte auch sagen: sie hat nicht die Möglichkeit, erst einmal auf einem kleineren Feld den historischen Kompromiß zu experimentieren, und von dort aus die Aufhebung der traditionellen Arbeiterinteressen in ein allgemeineres emanzipatorisches Konzept zu üben und zu fördern, in dem sie keineswegs untergehen dürfen.

Soziologisch, nach der traditionellen Klassenstruktur, umfassen die Grünen die verschiedenen Linien des Spektrums noch sehr ungleichgewichtig. Allgemein wird die Basis der Grünen von jüngeren, also wahrscheinlich weniger arrivierten Menschen dominiert.

Darunter ist, wie ja die SPD beklagt, doch gerade auch jenes Potential, das 10 Jahrgänge früher hoffnungsvoll für diese Partei gestimmt hat. Ich sehe bei den Grünen das gesamte politisch-psychologische Spektrum vertreten, also wertkonservativ denkende Menschen, demokratische Christen, alternative Liberale, demokratische Sozialisten — wobei sich ja die Kennzeichnungen oft in ein und derselben Persönlichkeit überschneiden. Wenn uns eine wirkliche Kommunikation in der neuen Partei gelingt, werden wir bald nicht mehr an die Etiketten denken, die man sich anheftet, solange man sich nur aus der Ferne, nicht aus der Nähe unterscheiden kann.

Insgesamt sehe ich folgende Konstellation: Wir haben bisher ein Kräfteverhältnis von — wenn man das Potential der FDP einmal verteilt — reichlich 50 zu knapp 50 Prozent zwischen dem konservativen und dem reformatorischen Lager. Mag sein, daß es am Anfang der sozialliberalen Koalition günstiger für uns war. Qualitativ wird das reformatorische Potential so und so nichts wesentliches ausrichten, so lange es sich nicht durch eine Massenbewegung radikalisiert, d.h. radikale Reformen systemverändernden Inhalts anstrebt. Von unserem Standpunkt ergibt sich nun mit den Grünen eine doppelte Chance. 

Erstens können, und zwar gerade aufgrund der herkunftsmäßig heterogenen Zusammensetzung, auch aus dem Bereich der CDU/CSU- und der FDP-Wähler jene Menschen, die schon lange oder seit kurzem eine Alternative zu ihrer traditionellen politischen Heimat suchen, ihren Platz in dem reformatorischen Potential finden. Das sind Menschen, zu denen wir unmittelbar — etwa mit einer linkssozialistischen Partei — kaum jemals Zugang fänden, und zwar zum Teil auch deshalb, weil wir selbst eine falsche, beschränkte Auffassung von unserer eigenen Identität haben. Da haben wir bei den Grünen etwas zu lernen. Während wir bisher in unserer Auseinandersetzung mit der SPD immer nur in ein und demselben reformatorischen Potential die Marke ein wenig zu verschieben trachten konnten, bedeuten die Grünen auf etwas längere Sicht vielleicht die Chance, ein bedeutendes zahlenmäßiges Übergewicht für die reformatorischen Kräfte insgesamt zu erreichen.

Und zweitens können wir mit den Grünen die SPD- und Gewerkschaftsbürokratie nun von zwei Seiten unter Druck setzen und den linken und grünen Kräften in der Sozialdemokratie und in den Gewerkschaften, die dabei erstarken werden, eine Realanregung und einen solidarischen Rückhalt bieten. 

Im Ergebnis sollte das eben die erwähnte Radikalisierung des reformatorischen Potentials bewirken, schließlich ein Übergewicht der Kräfte, die für grundlegende Änderung unserer Lebens- und Wirtschaftsordnung eintreten und der Herrschaft von Profitgier, Naturzerstörung, menschlicher Entfremdung und Selbstentfremdung ein Ende machen wollen.

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Aus rot und grün, März 1980.

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