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6. Was nehmen wir uns vor?

Gedanken über Elemente einer neuen Politik

Rudolf Bahro 1980 über die Gründung der Grünen  

 

186-219

Keine politische Strömung, sei sie noch so breit, ist zuerst und zuletzt um ihrer selbst willen interessant. Es kommt viel mehr darauf an, welche Beziehung zum Ganzen sie unterhält, welchen Beitrag zur Resultante des historischen Prozesses sie leistet. 

Wenn sich die folgenden Überlegungen speziell an die Linke wenden, dann stets im Hinblick auf diese Zuordnung. Gegenwärtig ist die innere Verfassung des sozial­istischen Potentials im Lande leider dadurch gekenn­zeichnet, daß sie verhältnismäßig häufig das Zusammen­wirken mit anderen progress­iven Kräften stört.

Übrigens bin ich mir darüber klar, daß das "wir", von dem realistischerweise zu reden ist, genau genommen so nicht existiert. Es gibt nicht "die Linke", es gibt "die Linken" als eine Vielzahl größeren Teils eher isolierter Individuen. Ich nehme das erst einmal positiv. 

Nachdem viel, allzuviel des seit den 60er Jahren Erhofften nicht aufgegangen ist, können uns die Organisationsreste, in denen sich das einstige Politikverständnis gebrochen forterbt, nur daran hindern, die falsch gebundenen Energien freizubekommen.

Insofern müßte die Überschrift vielleicht "Quo vadis?" lauten — was nimmst Du Dir vor, wo gehst Du hin? Vorübergehend, meine ich, und lasse deshalb doch die Überschrift so stehen. Jetzt muß die Antwort in persönlicher Verantwortung fallen, zumal es derzeit wirklich kein übergreifendes und verbindliches Projekt gibt, dem irgend jemand Loyalität und Disziplin schuldig wäre. Solidarität ist eine andere Frage; aber sie kann weniger denn je für bestimmte Standpunkte eingeklagt werden.

Nun hatten wir mit dem Treffen in Kassel unsere soziale Erfahrung "nach innen": Wir können wieder miteinander umgehen, teilweise sogar aufeinander eingehen, wenn auch noch mehr der Form als dem Inhalt nach. Besonders wichtig war, daß wir dies wenigstens auch gegenüber Sozialdemokraten angezeigt haben, die den Austausch mit uns suchen, weil sie letzten Endes von denselben Problemen bewegt sind wie wir und deshalb ein positives Interesse an einer diskussions­fähigen und -bereiten Linken außerhalb der eigenen Partei haben. Und "nach außen" hatten wir die auch von der Öffentlichkeit wahrgenommene Demonstration "wir sind da"

Bei aller Unzulänglichkeit der Vorinformation haben doch praktisch alle im Lande, die sich als links verstehen, das Signal empfangen. Wie hinterher immer wieder zu hören war, wären noch viel mehr gekommen, hätte eine genau unterrichtende Einladung in der taz, der Neuen und der Frankfurter Rundschau gestanden. Es sind ja nach 1968/69 nicht alle Aktiven in die verschiedenen Gruppierungen eingegangen. Andere hatten sich im Laufe der Zeit wieder daraus gelöst. 

Und nicht zuletzt hat in den 70er Jahren trotz des Abschwungs der Bewegung ein Teil der nächsten Generation, haben auch noch einzelne Ältere neu eine Sensibilität der Linken entwickelt, ohne sich organisatorisch zu binden und auf ein allzu spezifisches Politikverständnis festzulegen. Dieses Potential, das aber ganz offenbar ein Bedürfnis nach verbindlicher Orientierung hat, wie sie nur aus einem Prozeß kollektiver Selbstverständigung hervorgehen wird, kann jetzt denen zu Hilfe kommen, die sich zu sehr mit fixen Organisations- und Theoriemodellen ab- und eingeschlossen hatten. 

Gerade durch die Verbreiterung der Teilnahme hat Kassel über den Rahmen einer Art von interfraktioneller Arbeitskonferenz hinausgewiesen. Obwohl auch noch mancher verlorene Posten Spontanbeifall erhielt, waren die meisten Gekommenen weniger an Positionsbehauptungen und -vergleichen interessiert als an Neusansätzen zur Wirklichkeits­bewältigung, aus welcher Position sie auch vorgetragen wurden. 

Der Zustrom neuer, unfestgelegter Kräfte trägt zur Lockerung der Denkstrukturen bei, zur Öffnung gegenüber der Realität. Wir müssen uns das bei der nächsten Konferenz noch viel mehr zunutze machen. Die Abkapselungs­tendenz, die Beschränkung auf Konservierung der Kräfte, die mit den Selbst­behauptungs­interessen einzelner Gruppen verbunden ist, würde nur noch tiefer in die Sterilität hineinführen, und dann können uns Konferenzen nichts nützen.

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Wenn die Fenster in Kassel symbolisch geöffnet waren, so kommt es künftig darauf an, was wir hinausrufen wollen, und so, daß es auch gehört und aufge­nommen werden kann. Was wir uns selbst zu sagen haben reicht da nach Form und Inhalt noch nicht aus. Unsere politische Haltung hat nur dann sozialen Sinn, wenn wir sie nicht als Selbstzweck pflegen, wenn ihre Wirkung darüber hinausgeht, daß wir uns, in einer Subkultur unter anderen, wechselseitig bestätigen. Gewiß hat auch die "Scene" eine solche soziale Funktion, genauer gesagt, sie ist eine. Aber Linkssein für Linke und unter Linken, das lohnt sich letzten Endes nicht und führt darum so leicht in die Frustration zurück, trotz allen wirklichen oder vermeintlichen Rechthabens mit scharf­sinnigen Analysen über den engen Kreis hinaus nicht gebraucht zu werden. 

Wenn wir uns nicht auf breitere als die eigenen Kräfte einlassen und beziehen, wird unsere Kontroverse über Ökologie folgenlos und akademisch bleiben. Der Herausforderung der ökologischen Krise und vor allem ihrer Artikulation durch eine wirkliche Massenbewegung wurde unsere Diskussion ja noch keineswegs gerecht. Und der Grund liegt nicht in den kontroversen Positionen, sondern in dem introvertierten Bezugssystem des Dialogs. 

Ausgesprochen oder nicht, sind bestimmte "Grundwahrheiten" gegenwärtig, an denen die Argumente gemessen werden. So entsteht eine Partei­versammlungs­atmosphäre, in der die Behauptung, daß jemand oder etwas nicht marxistisch ist, schon als Urteil über die Inhalte gilt. Damit grenzen wir uns automatisch von anderen Kräften ab, die zwar mit uns Probleme diskutieren würden, aber nicht "auf prinzipieller Grundlage". Menschen, die in anderen Arbeits- und institutionellen Zusammen­hängen gebunden sind, werden wir nur dann zur Teilnahme gewinnen können, wenn sie eine Chance sehen, zur Meinungs­bildung beizutragen. 

Ich hatte vor der Konferenz Briefe an Erhard Eppler, Herbert Gruhl, Ivan Illich geschrieben. Wenn sie gekommen wären — hätten sie die Aufnahme­bereit­schaft für ihre Anliegen vorgefunden, die ihrem Erscheinen erst Sinn gäbe? Oder wissen wir immer noch alles besser?

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Wir werden jetzt nicht nur am rationellsten, sondern auch am rationalsten verfahren, wenn wir einmal die Brillen absetzen und unser Denken ungebrochen durch das Linsensystem einer festgeschriebenen Begrifflichkeit direkt auf die Wirklichkeit richten. Kein anderer als Engels rät uns: "Der Marxismus ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln". Die Begriffswelt, mit der wir gewohnterweise umgehen, ist nach Form und Inhalt auf einen anderen Welt­zustand bezogen. In unserer heutigen Welt erfaßt sie naturgemäß nur das, was diesem alten Zustand noch entspricht. Zweifellos gibt es eine Kontinuität. 

Aber gerade das Neue, worauf es ankommt, bleibt dann leicht außerhalb der Wahrnehmung oder erscheint nicht mit seinem wirklichen Stellenwert. Die Elemente mögen bleiben, aber die Situation kann sich völlig ändern, wenn neue Elemente dazutreten, wenn sich alle anders zueinander ordnen und wenn dabei die Dominante wechselt. Wozu verbal Positionen halten, von denen aus sich zwar abwehrend kritisieren, nicht aber ändern läßt. Der Fundus lebt nur, soweit wir ihn in ein dynamisches Konzept investieren. Wir werden weiter sein, wenn wir, statt Positionen miteinander und mit den Urtexten zu vergleichen, uns gegenseitig das Projekt ergänzen und verbessern.

 

Wovon könnten wir bei so einem Projekt ausgehen?

 

Schon der Zugang, den wir wählen, dürfte (unter Umständen unreflektierte) Konsequenzen haben. Das Thema "herrschender Block" legt nahe, sogleich auf der politischen Ebene einzusteigen. Statt dessen sollten unsere konzeptionellen Überlegungen jetzt unmittelbar am Fundament des sozialen Ensembles ansetzen. Wenn wir uns zu unmittelbar darauf stürzen, über das Machtsystem, seine innere Differenzierung, unser Verhalten zum Staat, zu den Institutionen, zu den einzelnen Parteien, speziell zur Sozialdemokratie, zu diskutieren, können wir leicht übersehen, wie tief die relative Stabilität der politischen Verhältnisse in sozialen Interessen­kombinationen verwurzelt ist. Der herrschende Block ist zweifellos Ausdruck der gegebenen Produktions- und Lebensweise überhaupt.

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Wenn die politisch-ideologischen Formationen ("Blöcke" — ich sehe einmal von der Frage ab, ob man nicht einen besseren Ausdruck dafür finden kann) an der Einstellung für oder gegen grundlegende Veränderungen des Gesamtsystems bestimmt werden sollen, so sind damit die Institutionen der Gesellschaft (Staat, Parteien, Verbände usw., also auch ihre Apparate) an und für sich noch nicht zugeordnet. Freilich sind die Apparate ihrer Natur nach struktur­konservativ, aber die Ziele ihres Funktionierens sind nicht unveränderlich. Insofern habe ich für die Kasseler Konferenz wohl zu absolut formuliert, als ich die SPD in ihrer Eigenschaft als Regierungspartei "sowieso" dem Block der Beharrungskräfte zuschlug.

Der Marxismus hat immer den Doppelcharakter der Leitungsfunktionen, der gesellschaftlichen Amtstätigkeit überhaupt hervorgehoben, zwischen der Herrschaft über Menschen und der Verwaltung von Sachen unterschieden, so sehr in der Praxis von Klassengesellschaften beides miteinander verknüpft ist. Nun erscheint es aussichtslos, den Herrschaftsaspekt der Staatsfunktionen (die sich andererseits eben nicht einfach auf Repression reduzieren — der so gefaßte reduktionistische Staatsbegriff ist unfruchtbar) mit einer einzigen revolutionären Schulterbewegung des Gesellschaftskörpers abzuwerfen. Mehr noch, die Überwindung des Etatismus ist gar nicht mehr anders als in einem langfristigen Prozeß seiner Aufhebung, d.h. vor allem seiner Unterordnung unter die Kontrolle der sozialen Basiskräfte, denkbar.

Aber wenn das so ist, dann müssen wir die Staatsmaschine unbedingt als ambivalentes Werkzeug betrachten. In der neuen Situation ist das empirisch zwingend: Wir haben keine andere Wahl. Es ist absolut unwahrscheinlich, daß der rasche und tiefgreifende soziale Lernprozeß, der allein die Umkehr in der Zivilisation ermöglichen kann, rechtzeitig abläuft, wenn er nur von den sogenannten Protestpotentialen vorangetrieben und in Konfrontation mit den offiziellen Institutionen, Massenkommunikationsmitteln etc. ablaufen soll. Dann wäre nichts wahrscheinlicher als die wechselseitige Blockierung der Kräfte, während sich der Zug in der alten Richtung fortbewegt.

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Die Gesellschaft muß bei Strafe ihres Untergangs ihren vorhandenen Apparat in das Instrument der Umgestaltung verwandeln. Wie das zu bewerkstelligen ist, wie die verschiedenen Sonderinteressen, die sich jetzt konkurrierend diesen Apparat unterordnen und die ihn oft bloß paralysieren, zurückgedrängt und unterworfen werden können, ist eines der wichtigsten Probleme unserer Zukunft. 

Noch wichtiger aber erscheint mir die Entscheidung, ob wir vom nationalen oder vom globalen Rahmen aus denken, ob wir also den europäischen und dann den internationalen Aspekt "einbeziehen" oder gleich "von den Rändern" her denken wollen. Es würden in beiden Fällen dieselben Realitäten ins Blickfeld treten, aber doch in recht verschiedener Optik. Die unmittelbare Hinwendung zur innenpolitischen Situation mit ihren vielen nationalgeschichtlichen Imponderabilien birgt sehr die Gefahr des Provinzialismus und — in unserem speziellen Falle — auch der Unterbewertung der eigenen Kräfte, die doch von vornherein ein Teil eines umfassenderen Potentials sind.

 

Über den Zusammenhang der industriellen Zivilisation und der Krise der Menschheit

 

Der Gedanke, daß heute für jedes Land, selbst für jede Region, die äußeren Widersprüche dominieren, hat zur Voraussetzung, daß die kapitalistische Ökonomie ein reales Weltsystem, eine alles übergreifende Gesamtheit darstellt. Es bilden nicht nur Erste und Dritte Welt diese eine, sondern es ist auch die östliche Zweite Welt tendenziell in den allgemeinen Weltmarkt eingegliedert. Und wenn der seinerzeitige chinesische Vorwurf, die Sowjetunion ginge den kapitalistischen Weg, das Wesen der dortigen Produktionsverhältnisse verfehlte, so gilt er um so mehr für die Produktionsmaschine, mit der die Sowjet­gesellschaft arbeitet, und für die entsprechende Form des Bedarfs an materiellen Gütern. 

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Nicht nur die russische Revolution, sondern wie jetzt zu befürchten ist, auch die chinesische, hat den Horizont der kapitalistischen Zivilisation nicht sprengen können. Deshalb ist der allgemeinste Nenner jener äußeren Widersprüche, die die Dynamik des inneren Klassenkampfes in den entwickelten kapitalistischen Ländern überlagern, das Drama zwischen kapitalistischer(n) Metropole(n) und Peripherie.

Die russische Revolution war die erste Antwort der (ursprünglich einen) nichtkapitalistischen Peripherie auf den globalen Kolonialismus der "westlichen" Zivilisation. Sie war die erste antiimperialistische, antikoloniale Revolution. Darauf beruht ihre weltgeschichtliche Bedeutung, zu der die Rolle der Sowjetunion als zweite Supermacht jetzt immer mehr in Widerspruch tritt. In der Blockkonfrontation Ost-West ist das Ergebnis des ersten großen Zusammen­stoßes zwischen Metropole und Peripherie festgeschrieben, so daß sich die Dynamik dieser Auseinandersetzung verhängnisvollerweise auf das Wettrüsten konzentriert hat.

Verstrickt in die globalstrategische Konkurrenz mit dem kapitalistischen Zentrum, das noch immer die Bedingungen vorschreibt, gerät die Sowjetunion immer gründlicher in Gegensatz zu den Völkern und Staaten der Dritten Welt. In ihrer heutigen Verfassung stellt sie und stellt der Ostblock insgesamt keinen Faktor dar, auf den sich die fortschrittlichen Kräfte der übrigen Welt positiv stützen und beziehen könnten, und sei es in noch so kritischer Solidarität. Wir können den Ostblock nur als Machtfaktor in Rechnung stellen und die Interessen analysieren, die hinter seiner Politik stehen. 

Dafür müssen wir verstärkt über Inhalte und Formen der direkten und indirekten Kooperation mit den oppositionellen Gegenkräften auf der anderen Seite der Blockgrenze nachdenken und sie dabei in ihrer ganzen Breite bis in die herrschenden Parteien hinein ins Auge fassen. Es müssen auf beiden Seiten die inneren Kräfteverhältnisse in Bewegung geraten. Dabei bleibt es unverändert wichtig, die praktische Abgrenzung zu den Kräften des Kalten Krieges aufrecht­zuerhalten und Initiativen zu entwickeln, die über Blockentspannungspolitik hinausreichen, auf ein block- bzw. bündnisfreies Deutschland und Europa orientieren.

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Um dem Widerstand gegen den Rüstungswahnsinn eine Form zu geben, die den betroffenen Einzelnen anruft und verpflichtet, haben Christen eine Unter­schriften­sammlung zu der individuell abzugebenden Erklärung begonnen: "Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben. Ich will in unserem Staat dafür eintreten, daß Frieden ohne Waffen politisch entwickelt wird." Könnte nicht eine Basismobilisierung nach dieser Methode dem Ringen um Abrüstung eine neue Dimension verleihen?

Die Metropolensituation bestimmt auch die Suche nach einer innenpolitischen Alternative zur Praxis des herrschenden Blocks. Die Unterklassen, überhaupt alle Menschen der "zentralen" Länder profitieren in großem Umfang mit an der Ausbeutung der Arbeitskraft, vor allem aber an der Ausplünderung der Ressourcen in allen weniger entwickelten Ländern der Welt. Sie sind objektiv mitinteressiert an der herausgeholten Profitmasse, an der Kontinuität des Rohstoff­nachschubs zu möglichst niedrigen Preisen, an der Verteidigung der privilegierten Weltmarktposition der eigenen Gesellschaft. 

Die Kluft, die sich in der Nord-Süd-Richtung auftut und die jedes Jahr an Tiefe zunimmt, kann den Zusammenschluß der reichen Völker unter der ideologischen Hegemonie der herrschenden Kräfte begünstigen. Schon die Erfahrungen mit der "Gastarbeiter"-Problematik weisen in diese Richtung.

Inzwischen ist unwiderruflich klar, daß dem Nord-Süd-Gefälle mit keinerlei "Entwicklungshilfe" im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft beizukommen ist, ob sie nun 0,3 % oder 0,7 % des Sozialprodukts ausmacht. In Wahrheit treibt jeder Fortschritt in die Art Lebensstandard, die wir hier genießen, die Menschheit als ganze tiefer in ihre Widersprüche hinein und vermehrt deren Unlösbarkeit. Solange wir diesen Grundtext der Unsolidarität nicht lesen, wischen wir uns nur die Augen aus, wenn wir uns darüber unterhalten, wie wir der Gefahr der eigenen Einbindung in den Kolonialismus entgehen wollen. 

Es ist das Modell unserer Zivilisation insgesamt, das der übrigen Menschheit weitestgehend den Weg abschneidet. Stellen wir uns vor, was es bedeuten würde, wenn sich der Material- und Energieverbrauch unserer Gesellschaft auf die 4,5 Milliarden Lebenden — auf die 10-15 Milliarden Menschen, die es wahr­schein­lich geben wird — ausdehnte. Es ist offensichtlich, daß der Planet ein solches Produktions­volumen und die Folgen für die Umwelt nur noch für kurze Zeit tragen kann. 

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Andererseits werden die Menschen der Dritten Welt unausgesetzt auf die von unserer Zivilisation gesetzten Standards verwiesen. Können wir diese Zivilisation in der bestehenden Form aufrechterhalten, während wir wissen, daß die ganze Menschheit schwerlich dahin gelangen wird, nach diesem Muster zu leben? Ja, während wir nur hoffen können, sie strebte nicht danach?

Der von Europa ausgegangene Typus industrialer Zivilisation führt die ganze Menschheit in ein auswegloses Dilemma. Wir wissen, daß die Zahl der Menschen, die sich auf einem bestimmten Territorium ernähren und versorgen können, von ihrer Produktionsweise abhängt. Zum Beispiel gehen alle Berechnungen, nach denen die Erde Brot für eine immer noch wachsende Weltbevölkerung liefern könnte, von einer industriemäßig betriebenen, auf den massiven Einsatz von Düngemitteln gestützten Landwirtschaft aus. Abgesehen von der bei dieser agrarischen Produktionsweise schon mittelfristig drohenden Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit gehören auch diese Düngemittel zu den endlichen Ressourcen. Wenn das ganze Unternehmen expandierender Industrieproduktion so lange fortgesetzt wird, wie mit immer größerem Aufwand Immer schwächere Rohstoffkonzentrationen gerade noch erschlossen werden können, stehen wir am Ende mit einer mangels materiellen Nachschubs sukzessiv stehenbleibenden Produktionsmaschine da, ohne deren Funktionieren sich die gegebene Bevölkerung unmöglich erhalten kann. 

Eine solidarische Lösung des Nord-Süd-Konflikts erfordert unausweichlich, daß unsere Produktionsmaschine hier nicht länger vergrößert, sondern daß sie verkleinert wird, daß sie umgebaut und umprogrammiert wird, damit die Summe dessen, was alle haben müssen, nicht weiter über die Grenzen hinauswächst, die durch die Endlichkeit der Erde bezeichnet sind. Also müssen wir — ausgehend von der anthropologisch ziemlich zuverlässig ermittelten Bedürfnis­verfassung der Gattung Mensch und von dem Produktionsziel ihrer möglichst vollkommenen Entfaltung für alle Individuen — unseren materiellen Bedarf neu bestimmen. 

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Dazu brauchen wir zunächst einen die gesamte Gesellschaft umspannenden Diskurs mit Hilfe der Massen­kommunikations­mittel, die in diesem Falle ihrem Begriff gemäß (Kommunikation der Massen) fungieren müßten. Es geht um die Verständigung über eine soziale Ordnung, in der eine bedarfsorientierte Produktion möglich ist. 

Die politische Kultur wird nur erhalten bleiben, wenn es rechtzeitig zu einer großen Übereinkunft kommt, wie wir ändern wollen. Falls es zu einem Ende mit dem Schrecken von Verteilungskriegen und Bürgerkriegen, Zwangsrationierung und Ökofaschismus kommt, so würde das jedenfalls nicht in erster Linie deshalb eintreten, weil es Interessenten und Ideologen gibt, die aktiv auf diese andere Variante setzen. In dem jetzt begonnenen Jahrzehnt werden sich die Verteilungskämpfe in den Metropolen-Ländern ziemlich wahrscheinlich zuspitzen. Aber wenn das alles ist, wird das Ganze nur in der alten Richtung weitergetrieben, nach dem Motto: Es muß hier die (kleine) Gerechtigkeit triumphieren, möge die Welt darüber zugrunde gehen. Es ist ja, u.a. von André Gorz, schlüssig darauf hingewiesen worden, daß in Wirklichkeit bei dieser Politik die sozialen Ungerechtigkeiten stets mitreproduziert werden, so daß das Resultat bloß "Modernisierung der Armut" ist.

Das heißt nicht, daß die vielfältigen inneren sozialen Widersprüche keine Rolle mehr spielen, sondern daß sie eine untergeordnete Bedeutung in einem größeren Zusammenhang haben, einen anderen Bedeutungsgehalt bekommen. Sie müssen vor allem so behandelt werden, daß sie die internationalen Widersprüche nicht zuspitzen. Das Ziel im Innern müßte sein, besser zu leben bei (an materieller Masse) geringerer Produktion, also bei weniger Arbeit und bei egalisierten Einkommen.

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Anknüpfungspunkte einer Transformationsstrategie  

 

Theoretisch gesehen müssen wir das gesamte Koordinatensystem unserer Ziele überprüfen. Die allgemeine Emanzipation wird eine ganz andere Ökonomie zur Grundlage haben, als wir dachten. Wenn wir uns jetzt nicht warnen lassen, wenn wir, anders als jener Pharao, den Traum von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen nicht verstehen, dann wird die allgemeine Emanzipation gewiß nicht sein — oder erst nach einem neuen Anlauf derer, die nach dem Kehraus übrigbleiben, mit dem unsere große Mahlzeit endet. Eine Verringerung des Ausstoßes pro Kopf wird sich unvermeidlich aus der Begrenztheit der Ressourcen und aus den Erfordernissen einer ökologischen Gleichgewichtswirtschaft ergeben. 

Vor dem Hintergrund des Nord-Süd-Konflikts und der Metropolensituation zeigt sich ganz klar, daß es schlechthin unmöglich ist, eine Gesamtstrategie auf die unmittelbaren ökonomischen Interessen der "westlichen" bzw. "nördlichen" Arbeiterklassen (wie immer wir sie definieren wollen) zu gründen. Denn damit stünde man konstitutiv auf dem Boden der metropolitanen Sozialpartnerschaft, also des Kolonialismus, wie es den Gewerkschaften ergeht, insofern sie das Wachstumsbündnis von Kapital und Arbeit ausdrücken: die Orientierung auf die Konkurrenzfähigkeit des eigenen Landes und der eigenen Branche, des eigenen Konzerns, des eigenen Betriebes als gemeinsame Zielfunktion.

Wir unsererseits können niemals wirkliche Selbständigkeit gegenüber solchen Positionen erlangen, wenn wir hauptsächlich versuchen wollen, diese unmittelbaren Interessen noch besser wahrzunehmen. Es ist alles andere als radikal, wenn bestimmte Genossen in diese Debatte immer wieder den Hinweis einstreuen, daß es hierzulande 1500-Mark-Verdiener(innen) gibt (dann müßte gleich noch viel mehr von den Arbeitslosen und anderen Marginalisierten die Rede sein), und fragen, worauf die denn "verzichten" sollen. Das ist auf der rationalen Ebene das Argument eines absoluten Unverständnisses, und auf der emotionalen eines der ziemlich absichtlichen Realitätsflucht. Die Armut in den Metropolen wird so lange als Berufungsinstanz zur Verfügung stehen, um den Aufbau wirklich radikaler Gegenpositionen zu verhindern, wie sich die kapitalistischen Zustände überhaupt reproduzieren.

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Nun handelt es sich nicht darum, diese unmittelbaren und kurzfristigen Interessen, die ihrem Wesen nach systemverhaftet sind, zu ignorieren, weil sie, wie neulich jemand kalauerte, "nicht in den welthistorischen Kram passen". Absorbieren sie doch gerade die Masse der verfügbaren psychischen Energie, die für die Veränderung der Welt gebraucht würde. Innerhalb der Metropolen eine Front gegen diese Interessen aufbauen zu wollen (wie es außerhalb der Metropolen unvermeidlich geschieht), wäre nicht nur eine aussichtslose, sondern eine problemverschärfende Strategie, nämlich der Aufbau einer falschen Front (siehe das RAF-Syndrom im engeren wie im weiteren Sinne: Terror ist nicht radikal, angstauslösendes Provozieren der Mehrheit ist nicht radikal). Wirklich radikal wird es sein, von den Interessen der Menschheit als ganzer aus zu denken und von dorther entschieden die langfristigen Interessen der eigenen Bevölkerung zu artikulieren.

Bei der faktischen Monopolstellung der SPD wie des DGB für die politische und ökonomische Interessenvertretung der Lohnabhängigen stehen natürlich auch wirkliche Sozialisten und andere, die das sein möchten, in diesen Organisationen. Diese Kräfte müssen mit uns daran interessiert sein, die Vorherrschaft des perspektivlosen Gradualismus über das reformatorische Potential zu brechen und das Kräfteverhältnis in den Organisationen selbst umzuwälzen. Wenn sich Sozialisten innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie neuerdings gegenseitig bestätigen, die SPD sei letzten Endes unveränderlich — "Wer noch lebt, sage nicht niemals"

Fruchtbare Zusammenarbeit über die Parteigrenze hinweg — und der ideologische Prozeß kann sie seinem Wesen nach überspringen — setzt voraus, daß wir erstens ganz klar unterscheiden lernen zwischen unserer Einschätzung der Sozialdemokratie und des DGB als Institutionen, die weitgehend in den herrschenden Block eingebunden sind und der Einstellung zu Persönlichkeiten, die wohl kaum allein deshalb mit uns reden wollen, weil ihnen eine Flankendeckungs- und Feigenblattfunktion zukommt. Zweitens setzt es voraus, daß wir mindestens die Möglichkeit gelten lassen, es könnten innerhalb dieser Organisationen die langfristigen über die kurzfristigen, die allgemeinen über die partikularen Interessen die Oberhand gewinnen. 

Diese Hypothese zuzulassen bleibt schon deshalb notwendig, weil die bisherige Gruppierung der politischen Kräfte im Lande, so sehr sie insgesamt zur Ablösung ansteht, nur auf längere Sicht in ein anderes Muster übergehen kann.

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Außerdem muß sie denen konzediert werden, die die Perspektive einer generellen Umordnung der Potentiale (noch) nicht wahrscheinlich finden. Entscheidend dürfte sein, daß sich ein Konsens über die konsequente Orientierung an den internationalen Erfordernissen und an den langfristigen Interessen der eigenen Bevölkerungsmehrheit von selbst aufdrängt, da der Fortgang der Dinge auf der bisherigen Bahn bereits jetzt sehr breite Kreise beunruhigt. 

 

Zum einen häufen sich alltägliche Erfahrungen an, daß die Lebensqualität mit industriellem Fortschritt bisherigen Typs und wachsendem Sozialprodukt nicht mehr steigt. 

Zum anderen findet die fundamentale und permanente Gefährdung der Lebensgrundlagen überhaupt durch imperialistische bzw. imperiale Großmacht- und Militärpolitik, durch den weltweiten Kolonialismus der Metropolen, durch das von dorther endverursachte Syndrom von Unterentwicklung und Bevölkerungs­explosion, durch die globale Umwelt- und Ressourcenkrise, durch die Tendenz zur universellen Verstaatlichung und Bürokratisierung immer häufiger ihren Ausdruck in Effekten, die auch direkt als Bedrohung erfahrbar werden: 

Es bedarf wahrhaftig nicht des Anstachelns, es bedarf der orientierenden Artikulation aller dieser Nöte und ihrer erklärenden Rückführung auf ihren Ursprung im System. Gerade hier muß die Transformationsstrategie in den entwickelten Ländern anknüpfen, hier liegt die Quelle der sogenannten neuen sozialen Bewegungen.

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Die Bürgerinitiativen, die Alternativprojekte, die Ökologiebewegung, die Frauenbewegung signalisieren, daß zahllose Menschen, die über spezifische ökonomische Klasseninteressen und (im engeren Sinne) politische Ansprache nicht oder nicht mehr mobilisiert werden, in vielfältiger Weise ihren Widerstand als betroffene Individuen und Individualitäten anmelden und organisieren. 

Deshalb lassen sich die verschiedenen Ströme dieser neuen sozialen Bewegung gar nicht ohne weiteres auseinanderhalten. Sie fließen zumindest teilweise ineinander über, weil die verschiedenen Betroffenheiten beim einzelnen nicht isoliert, sondern assoziiert auftreten. Oft wird der Unterschied nur dadurch gesetzt, welches Motiv eben im individuellen Falle den Ausschlag gibt. 

In der Ökologiebewegung scheinen sich die meisten Motive zu überschneiden, zu addieren, tendenziell zu integrieren. Die ökologische Krise wird zum neuen Generalnenner aller sozialen Widersprüche. Daher fällt ihr nicht zufällig eine Schlüsselrolle als Bezugspunkt für alle alternativen Elemente der spät­bürger­lichen Gesellschaft zu. So wie der Kapitalismus international nicht unmittelbar in seinen Metropolen, sondern von den Rändern her bedroht ist, wird er offenbar auch national nicht direkt in seinem ökonomischen Zentrum, in der Ausbeutung der Arbeitskraft als Quelle all seiner Verfügungsmacht, sondern "von außen" konzentrisch betroffen: Von den Realisierungsbedingungen her wird das Feld eingeschnürt, auf dem sich die macht­konkurrenz­bedingte monopolistische Wachstums­dynamik entfalten kann.

 

Hinweise auf neue Konfliktfelder  

 

Letzten Endes geht es darum, die Investitionen ihrem Umfang nach einzuschränken sowie ihre natur- und menschengerechte Ausführung und Zwecksetzung unter Kontrolle zu bringen. Ich bin mir über die theoretische Unvollkommenheit der folgenden Bemerkungen, über ihren ad hoc-Charakter, ihre bloße Hinweis­funktion klar. 

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Grundgedanke ist, daß es über die Hemmungen, denen der kapitalistische Reproduktionsprozeß jetzt in sich selbst unterliegt, hinaus, verschiedenster außerökonomischer Druckmittel bedarf, um dem Strom des Wirtschaftslebens, der spontan in dem bisherigen Bett fortfließen möchte, auch wenn es immer steiniger wird, eine andere Richtung aufzuzwingen. Wenn die Systemstabilität bisher, zumal in der Bundesrepublik, am Wirtschaftswachstum hing, so muß sich dies dahingehend umkehren, daß der ökologische Rahmen im weitesten Sinne zur Stabilitätsbedingung wird.

Während sich nicht abzeichnet, wie die großen Kapitale insgesamt und kurzfristig die Verfügungsgewalt über ihre jeweils besonderen Domänen verlieren sollen, kann ihnen doch zumindest erheblich der Auslauf beschränkt werden, wenn eine ausreichende Mobilisierung der Gesellschaft gegen die Folgen ihrer konkurrierenden Expansion zustande kommt. Was für Prozesse wirken bereits objektiv in dieser Richtung zusammen? 

Von der einen Seite werden die Völker der Dritten Welt zunehmend für eine Limitierung des Material- und Energieangebots sorgen. Und es werden die Preise steigen. Von der zweiten Seite werden, wie z.B. Vilmar zeigt, die Gewerkschaften als Tarifpartner gezwungen sein, eine Politik systematischer Verknappung des Arbeitsangebots, d.h. der Verkürzung der Arbeitszeit unter verschiedensten Gesichtspunkten zu betreiben, und den jeweils Betroffenen Einfluß auf die Investitions­vorbereitung zu verschaffen, um jeglichen "Fortschritt" zu verhindern, der physisch und psychisch gesundheitsschädigende Arbeitsplätze schafft und Dequalifizierung statt Entwicklung des Menschen im Arbeitsprozeß bewirkt. 

Genossenschaftliche Produktions- und Lebenszusammenhänge, die in vieler Hinsicht selbstversorgend funktionieren, tragen ebenfalls einerseits zur Verminderung der verfügbaren Arbeitskraft, andererseits zur Beschränkung der Nachfrage bei. Die massenhafte Verhinderung von Industrie­erweiterungs­bauten (z.B. in der Autoindustrie), von Atom- und anderen Kraftwerksbauten, von Autobahnen und Flugplätzen unter dem Druck lokaler Bürgerinitiativen würde die Expansion ganzer Wirtschaftszweige bremsen. Von der Verbraucherseite kann sich organisierte gezielte Konsumverweigerung gegen Produkte zweifelhaften Gebrauchswerts bzw. schlechter Relation zwischen Aufwand und Funktion ausbreiten.

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Über den Gesetzgeber müssen der Wirtschaft rigorose Auflagen zur Sanierung der natürlichen Umwelt wie der Arbeitsbedingungen erteilt werden. Staatliche Ausgaben zur Produktionserweiterung und Kreditschöpfung für Investitionen, die erst noch ihren Markt schaffen sollen, müßten als Quellen der Inflation inner- und außerparlamentarisch bekämpft werden. Last not least wäre die strategische Rüstungsproduktion überhaupt anzugreifen. Das Zusammenwirken dieser Tendenzen würde über die Verminderung der Zahl der Arbeitsplätze, die bei wachsender Arbeitsproduktivität und sinkendem Ausstoß unvermeidlich ist, ein neues Herangehen an das Beschäftigungsproblem erzwingen. Die vorhandenen Arbeitsplätze als technische Einheiten können so unter die bereitstehenden Arbeitskräfte aufgeteilt werden, daß Vollbeschäftigung nach dem Maß des Arbeitsangebots gesichert ist. 

Ebenso wie im Kampf gegen die Rüstung dürfen wir uns im Kampf gegen die ökonomische Expansion nicht von den Alibi-Verweisen auf den "Gegner", auf die ausländische Konkurrenz, auf die Gefahr der Kapitalflucht usw. irremachen lassen. Dieselbe Bewegung wie bei uns wird sich auch in den anderen Metropolen-Ländern herausbilden, und daraufhin müssen wir unsere internationale Solidarität pflegen. 

Wenn es in den industrialisiertesten und reichsten Ländern — wie Schweden, Holland, Bundesrepublik, Österreich, Schweiz, auch Frankreich — zuerst geschieht, wie die relative Stärke der ökologischen Bewegung dort zeigt, so greifen die neuen Kräfte genau an der richtigen Stelle ein. Wo soll der Spirale Einhalt geboten werden, wenn nicht hier, wo selbst den geringfügig zurückstehenden anderen Ländern Europas Tempo und Richtung angegeben werden? Da eine Angleichung nach oben nicht möglich ist, gibt es auch keinen anderen Weg als die Spitze abzustumpfen. "Einseitige Abrüstung" auch in der Produktionsmaschine! Die sozialen Spannungen im Inneren, die das mit sich bringt, müssen ausgehalten und ausgetragen werden, und zwar so, daß die Lasten nicht nach unten abgewälzt werden können. Wo, wenn nicht in diesem reichen Land, ist eine Politik in Richtung Einkommens­egalisierung möglich? 

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Dabei ist überaus wichtig, daß gerade die Kräfte, die am stärksten an radikalen Reformen, an Reformen revolutionären Inhalts interessiert sind, die positive Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit begreifen, die verfassungsmäßige Ordnung nicht nur gegen Angriffe der Reaktion verteidigen, sondern auch bei ihren eigenen Aktionen achten. Bei gewaltfreiem Widerstand wie in Gorleben wird die Ohnmacht zuletzt auf der anderen Seite sein. Gegengewalt trainiert den repressiven Apparat und isoliert uns selber

Die alternativen Kräfte müssen das Übergewicht im politisch-psychologischen Kräfteverhältnis erstreben. Größtmögliche Einheit von Zielen und Mitteln bei jedem Schritt wird den Weg dahin verkürzen. Wenn es eine wirkliche ideologische Hegemonie für eine Veränderung gäbe, kämen die repressiven Organe des Staates nicht zur Entfaltung. Außerdem ist die notwendige zivilisatorische Wende, die Umgestaltung der objektiven, materiellen wie der subjektiven Kultur der Menschheit eine Aufgabe, zu der Gewalt nichts beitragen kann — es sei denn immer wieder Provokationen, die die Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände aufdecken, ohne darüber hinauszuweisen.

 

... und wenn wir einen neuen Weg gingen?

 

Ob die Idee der Sozialistischen Konferenz eine Zukunft hat, wird davon abhängen, ob es uns gelingt, Entwürfe in dieser Richtung zustandezubringen (gar tendenziell Beiträge zu einem Entwurf: falls das noch nicht möglich ist, wäre es jedenfalls notwendig!), die sowohl nach "innen" für uns selbst, als auch "nach außen" etwas bedeuten. Eben ein Projekt (Projekte für Teilbereiche), und zwar solcher Gestalt, daß wesentliche Inhalte mit einer breiteren sozialen Interessenlage korrespondieren und kommunizieren. Es gibt unter den konstruktiven Kräften im Lande, die nach einer Alternative suchen, ein echtes Bedürfnis, eine — wenn auch noch etwas skeptische — Erwartung in dieser Richtung. Die erste Bedingung eines politischen Projekts ist sicherlich ein realistisches Selbstverständnis unserer Aufgabe und unserer Möglichkeiten als sozialistische Linke. 

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Dabei meine ich gar nicht in erster Linie die aufrichtige Auseinandersetzung mit den Ursachen der bisherigen Schwäche und Zersplitterung unserer Kräfte, so nötig sie auch ist. Insbesondere bin ich nicht der Meinung, daß wir uns die Anforderungen gleich ermäßigen dürften, weil wir aus vielen objektiven und subjektiven Gründen, die mit dem Sonderfall Bundesrepublik Deutschland zusammenhängen, von vornherein nicht die großen Möglichkeiten der Linken in anderen westeuropäischen Ländern hätten. 

Zum einen verliert das "Modell Deutschland" in den 80er Jahren mit größter Wahrscheinlichkeit seinen Firnis, zum andern weist gerade die relative ökonomische und politische Stabilität in diesem mächtigsten kapitalistischen Land Europas besonders eindringlich auf unsere Verantwortung hin, die doch zweifellos auch eine internationale Dimension hat. Das heißt, für mich stellt sich die Sache nicht so dar, als müßten wir jetzt erst einmal die vielzitierten "kleineren Brötchen" backen, weil wir uns vor 10 Jahren zu große vorgenommen hatten. Dem psychologischen Pendel sollten wir uns nicht anvertrauen. Es lag ja auch wohl nicht an der Dimensionierung damals, sondern an der verkürzten Auffassung vom Produkt, vom Backen als Prozeß und von der Massenkraft als Energiequelle für das ganze Unternehmen.

Wir haben uns in Kassel auf der Konferenz per Akklamation darauf geeinigt, daß wir eine andere Sprache finden müssen, um unser Ghetto zu sprengen: Aber das ist natürlich weit mehr als eine pädagogische Kalamität. Unser bisheriges Begriffssystem, unser überliefertes Analysenschema, unser auf die Arbeiter­klasse bezogenes sozialistisches Selbstverständnis wird von der Wirklichkeit desavouiert. Nicht daß den beschreibenden und analytischen Feststellungen von Marx und ihren Fortschreibungen gar keine Realität mehr zukäme. Es läßt sich für die meisten noch immer eine Bestätigung finden. Aber das Paradigma als ganzes versagt, die aus dem Ansatz hergeleiteten Konsequenzen treten nicht ein. 

Solange wir nicht aufhören, die tatsächlichen arbeitenden Klassen anzuschauen und anzusprechen, als wartete in ihnen ein Proletariat mit welthistorischer Mission auf seine Stunde und als wären deren ökonomische Interessen deshalb das Nadelöhr sozialer Bewegungen schlechthin, werden wir auch unsere sektiererische Sprache, den sektiererischen Charakter unseres ganzen Diskurses nicht los.

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Wir befassen uns mit einem präparierten Gegenstand. Halten wir daran fest, dann sind die Auftritte etwa unserer Genossen von der <Trotzkistischen Liga> gar nicht weiter von unserer intellektuellen Verfassung entfernt als die Karikatur vom Original; daher denn auch das Gequälte unserer Heiterkeit, wenn wir sie anhören müssen. Ich selbst habe in Kassel — und keineswegs "taktisch kalkuliert" — konventioneller gedacht und gesprochen als in anderer Umgebung. Die geschlossene Gesellschaft steckt einfach an. Die Loyalität unter Genossen, die wir so nötig haben, greift leicht dahin über, daß man sich auf die Problem­stellungen einläßt, wie sie überliefert sind — und damit schon ge- und befangen ist.

Formell waren wir uns — bis auf wenige Ausnahmen — einig, daß wir Ökologie und Ökonomie zusammenbringen müssen. Gemeint war natürlich zunächst: ökologische und Arbeiterinteressen. Doch Ökologie, dieser ursprünglich "nur" eine naturwissenschaftliche Disziplin benennende Begriff, steht dabei, tief in den sozialen Raum hineingerissen, für menschliche und menschheitliche Interessen und geht in diesem seinem umfassenden Bezüge vor und über Ökonomie. Aber schon darüber waren wir uns nicht mehr einig. Behauptet wurde, man könne nach wie vor um die mit der Lohnarbeit verbundenen Interessen integrieren, was Menschen heute gegen das Weltsystem von Kapitalverwertung und Naturzerstörung aufbringt. 

Aber es konnte nicht gezeigt werden, inwiefern der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital nach wie vor als Zentrum und Hauptquelle der Mobilisierung für eine grundlegende Veränderung der Welt fungiert. Nur dann wäre die konsequente Konzeption, wie gehabt, ein Volksfrontbündnis um die Arbeiterklasse als Kern, und man hätte Recht, seinen Publikationsorganen auch weiterhin Namen wie Probleme des Klassenkampfes und Arbeiterkampf zu geben. Andere Interessen müßten sich mehr oder weniger deutlich unterordnen.

Die Bindung unserer Kräfte an eine illusorische Perspektive wiegt um so schwerer, als wir uns wirklich in einer neuen Situation befinden, die von keinem besonderen "Klassenstandpunkt" zu bewältigen ist. 

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Bisher war uns der angedrohte "Untergang des Abendlandes" eine kulturpessimistische Perspektive erschreckter Bürger, die die allgemeine Krise des Kapitalismus mit der Apokalypse unserer Zivilisation selbst verwechselten. Jetzt müssen wir erkennen, der Kapitalismus kann tatsächlich das gesamte Fundament, auf dem wir stehen (und zwar nicht nur wir "Abendländer"), mit in den Abgrund reißen, wenn keine massenhafte Gegenbewegung zurechtkommt, ihn abzufangen.

Wenn ich mich wiederholt auf die in meinen Augen in sich selbst überholte und deshalb jetzt von vornherein tendenziell scholastische Debatte um den Proletariats­begriff einlasse, dann aus dem Wunsch heraus, es möchte uns gelingen, endgültig über diesen unseren ureigensten Schatten zu springen, damit wir unsere gesellschaftliche Aufgabe in dem Feld der neuen, sozialen Bewegungen übernehmen können, anstatt ihnen hinderlich im Wege zu stehen.

 

Der Fehler in unserer Rechnung mit "dem" Proletariat  

 

Nach der klassischen Idee von Arbeiterbewegung mit menschheitlicher Aufgabe versteht es sich von selbst, daß sie die Verteidigung der Naturgrundlagen menschlicher Existenz zu ihrer Sache macht, erst recht, wo diese jetzt total von eben dem Profitsystem bedroht sind, das ihr traditioneller Widerpart ist. Aber die bloße Tatsache, daß die ökologische Krise zum kontroversen Thema werden konnte, und daß sich eine ökologische Bewegung vorerst eher neben der Arbeiterklasse konstituiert, zeigt an, daß jene marxistische Selbstverständlichkeit des 19. Jahrhunderts keine mehr ist. 

Der Gedanke vom direkten Zusammenfallen der (europäischen) Arbeiterinteressen mit denen der übrigen Menschheit, der Gedanke, es genügte, den "Klassenstandpunkt" zu beziehen, um auf der Höhe der Bewegung für die allgemeine Emanzipation des Menschen zu sein, geht nicht mehr auf. 

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Der Marxismus ging immer davon aus, daß sozialistische Theorie eine gesamtgesellschaftliche Funktion hat. Anders als erwartet, wird diese Funktion nicht gewonnen, sondern zunehmend verloren, wenn man sie durch die besonderen Interessen der westlichen Arbeiterklassen hindurch verfolgt, da die sich praktisch nicht als die allgemeinen bestätigen. Die organisierte Arbeiterbewegung hat sich insgesamt und über die ganze Zeit nicht in der erwarteten Richtung entwickelt. Die Rechnung, die in unserem Proletariatsbegriff steckt, hat einen fundamentalen Fehler, über den wir uns endlich konsequent Rechenschaft geben müssen.

Weist nicht die ganze Mühe der Klassenanalyse darauf hin, daß die Klasse selbst nicht mehr als wirklich handelnde Einheit faßbar ist, so fleißig man immer die Streiktage zählen mag? Was existiert, vielfältig differenziert, ist das Verhältnis der Lohnabhängigkeit im weitesten Sinne und damit also auch der entsprechende Interessenzusammenhang. Dieses Salariat, wie die Franzosen sagen, ist aber an und für sich nicht mehr als die begriffliche Zusammenfassung all derer, die in dem Gesamt ihrer Interessen als gesellschaftliche Menschen auch ein Lohninteresse aufzuweisen haben, ganz unabhängig von dessen Platz und Gewicht in der motivationalen Hierarchie. Es ist, mit anderen Worten, eine logische Klasse. 

Wird die Mehrheit der Zugerechneten hauptsächlich von diesem Interesse bewegt? Und welche soziale Rolle spielt derjenige Teil des Gesamtarbeiters, bei dem es tatsächlich einen zentralen Stellenwert einnimmt? Welchen Sinn hat es eigentlich, so lange an diesem einen Aspekt der materiellen Interessen herumzuoperieren, bis man sich abstrakt an dieser Stelle noch einmal eine revolutionäre Potenz herausgerechnet hat? Daß die objektiven ökonomischen Interessen, die sich aus der Klassenlage ergeben, existieren und daß schwerlich ein Mensch vorstellbar ist, bei dem sie nun psychisch gar nicht in Erscheinung treten, sagt absolut nichts über ihre historische Potenz. Handelt es sich nur um mangelnde Bewußtheit (dann halt "hineinzutragende"), wenn sie in der subjektiven Interessenstruktur nicht dominieren? 

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Die Menschen richten ihre psychische Energie gesetzmäßig auf die wirklichen Engpässe ihrer individuellen Existenz, und wenn ihnen ihre materielle Reproduktions­grundlage auf einem bestimmten gewohnten Niveau einigermaßen gesichert erscheint, werden sie sich darauf immer nur soweit konzentrieren, wie dieses Niveau direkt gefährdet erscheint. Diese — wenn auch relative — Entlastung ist ja eines der Ergebnisse, die die Arbeiterbewegung in den hochindustrialisierten Ländern erreicht hat. 

Eben deshalb wird jetzt zum eigentlichen Problem, wie auch für die Arbeiter die Forderungen der allgemeinen Emanzipation eine übergeordnete Bedeutung erlangen können, obwohl die Klassenschranken immer noch die spezifischen Kampfbedingungen bestimmen. Je entwickelter und anspruchsvoller ein Mensch als Persönlichkeit ist, desto mehr kann er versuchen, Energie von der Sorge um das Lebensnotwendige zu entbinden und auf selbstbestimmte, schöpferische Aktivitäten zu richten. Möglicherweise fehlt es vor allem an den sozialen Organisationsformen, die diese oft erst embryonal entwickelten Bedürfnisse zu ihrer Entfaltung brauchten.

 

Von den Klassen- zu den Lebensinteressen. 
Überlegungen zu einem erweiterten Emanzipationsbegriff  

 

Jedenfalls entstehen um andere Interessen (materielle und ideelle) derselben Individuen neue soziale Bewegungen, die tatsächlich über die bloße Reproduktion der bestehenden Produktionsverhältnisse hinausweisen. Man könnte natürlich beschließen, alle Interessen, die ein Mensch hat, der im engeren Sinne lohnabhängig, also Arbeiter ist, Arbeiterinteressen zu nennen, so daß er dann, falls er gegen Atomkraftwerke eintritt, auch dies als Arbeiter täte. Aber da wäre die theoretische Not schon unverkennbar. Wenn wir uns bisher gefragt haben, die Interessen welcher Menschen (welcher Klasse von Menschen) historisch durchgesetzt werden sollten, müssen wir uns nunmehr fragen, welche Interessen der Menschen (welche Klassen menschlicher Interessen) in eine wünschenswerte Zukunft weisen und wie diese verstärkt und effektiv organisiert werden könnten. 

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Methodisch gesehen bedeutet das die Analyse der Sozialstruktur auf der Ebene der (sozial- und individualpsychologischen Vermittlungen anzugehen, d.h. die tatsächlichen Interessenstrukturen daraufhin abzufragen, wogegen sich die Protestpotentiale richten, wofür sich die überschüssigen Energien konzentrieren ließen. Das heißt die psychologische Lücke schließen, die zwischen Ökonomie und Politik im Durchschnittsmarxismus klafft. Das wird uns nicht hindern, sondern im Gegenteil helfen, das ökonomische Getriebe zu untersuchen, nämlich vor allem daraufhin, über welche Umsetzungen und über welche Endglieder die abstrakt konstatierbaren Antriebe im Innern der ökonomischen Maschine das soziale Verhalten bestimmen, und zwar so, daß oft in dieser oder jener Weise systemkonforme Reaktionen herauskommen. Jedenfalls leidet unsere Effektivität sehr darunter, daß unser überlieferter Begriff von Klasseninteressen und darüber hinaus von sozialen Interessen insgesamt unpsychologisch ist und daher stets zu ökonomistischer Reduzierung verführt. 

Es hieße jetzt in genau der falschen Perspektive denken, wenn man von der neuen Massenbewegung erwartete, sie würde sich zuerst vor den Maßstäben der alten legitimieren. Es führt einfach zu nichts, der Ökologiebewegung ihre relative Ferne zu den Gewerkschaften vorzurechnen. Besteht das Problem doch gerade darin, daß in der Massenorganisation der Lohnabhängigen selbst — dies wiederum aus begreiflichen Gründen — die Schwelle für ein direktes ökologisches oder überhaupt kulturrevolutionäres Engagement höher liegt. Auf der Tagesordnung steht die aus dem Anliegen der gewerkschaftlichen Interessenvertretung motivierte weitestgehende Öffnung gegenüber den neuen Erfordernissen, also eine Umwertung der Werte innerhalb der Gewerkschaftsarbeit selbst, zum Beispiel hin zu den immer häufiger auch von der Basis gewünschten neuen Schwerpunkten im Inhalt der Tarifverträge.

Geht man von den Arbeitern als Menschen aus, gibt es objektive Widersprüche innerhalb ihres Interessenansatzes, und sie haben durchweg mit dem Thema von "Hemd und Rock", nächstliegenden und langfristigen Erfordernissen zu tun. 

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Jedenfalls steht es außer Zweifel, daß die Folgen der ökologischen Krise, während sie größtenteils nicht direkt in der Konfrontation von Lohnarbeit und Kapital abwendbar sind, die Arbeiter zumindest so nachhaltig wie andere Schichten treffen und vor allem in Zukunft treffen werden. Von welchen Elementen der Sozialstruktur am Ende die stärksten Impulse ausgehen werden, ist eine praktische Frage, nicht durch Deduktion aus Sätzen zu entscheiden. Aber ist es überhaupt die richtige Frage? 

Auch dort, wo linke Massenparteien relativ offen für die alternativen Bewegungen sind, zeigt sich, daß diese nicht um eine Klassenposition als solche integrierbar sind, und dies, obwohl die Menschen, die anders leben möchten, zugleich nach wie vor der bestehenden Sozialstruktur unterworfen sind und insofern soziologisch zugerechnet werden können. Was am meisten auffällt, ist ihr überdurchschnittlicher Bildungsgrad. Dieser, und nicht die mehr oder weniger abgesicherte Form, in der sie zu ihrem Einkommen gelangen, auch nicht die etwas überdurchschnittliche Höhe dieses Einkommens (die ja nicht selten gerade aufs Spiel gesetzt wird) scheint mir am ehesten signifikant zu sein, wenn man die Perspektive abschätzen will. 

Denn das Bildungsniveau (nicht nur das formelle) steigt trotz aller Einschränkungen hinsichtlich der "stofflichen" und psychischen Qualität des anzueignenden Wissens. Gerade daß es sich um eine Fundamentalopposition von in psychischer und materieller Hinsicht tendenziell privilegierten Menschen handelt, die aber in größerer Zahl ans "Aussteigen" denken, kennzeichnet die Tiefe der zivilisatorischen Krise. Wir müssen nach den realen sozialen Interessen nichtökonomischer Art fragen, die darin Ausdruck suchen. Es dürften Interessen an der Entwicklung und Erhaltung der Persönlichkeit, wenigstens der Identität sein, die den grundlegenden gemeinsamen Nenner bilden. 

Damit werden aber auch andere Kriterien wichtig, unter denen die Menschen Gesellschaft verändern wollen. Vor allem werden sie vornehmlich in anderen Bedürfnissen und von anderen Auswirkungen der herrschenden Verhältnisse verletzt und reagieren daher unter Umständen auch von dort aus unmittelbarer als in ihren ökonomischen Interessen. Um eine Strategie zu finden, die den Herrschaftskern auch trifft und vor allem aufbauend für die Teilnehmenden wirkt, müssen wir zu erkennen versuchen, in welchen Punkten der engste Zusammenhang zwischen materiellen (nicht nur ökonomischen) und Persönlichkeitsinteressen besteht.

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Dabei geht es mir vorerst nur darum, diese Schwerpunktverschiebung innerhalb der individuellen Interessenstruktur als reale Tendenz festzuhalten. Auf die Frage, ob da nicht zuviel erhofft wird, da die Mehrheit der Menschen, womöglich auch der Jugend, doch ziemlich gründlich in den bestehenden Verhältnissen befangen ist, bin ich noch nicht eingegangen. Was dazu zu sagen wäre, erfordert einen längeren Anlauf. Mich interessiert erst einmal das Zusammenfinden jener Menschen, die schon "auf Abruf warten". Allem Anschein nach — nur das wollte ich zunächst sagen — wird der organisierende Faktor, der die alternativen Kräfte zusammenführen, sozial koordinieren kann (wie man es wünschen muß), künftig kein besonderes Klasseninteresse, sondern langfristig-menschliches Interesse sein. Andererseits wird die zur Ablösung anstehende Ordnung selbst durch ihre Dysfunktionen die verschiedensten Kräfte gegen sich konzentrieren — an den alten, wie an den neuen Fronten.

Jedenfalls, gilt es — ohne vorgefertigte Gewißheit darüber, wo das berühmte "Hauptkettenglied" liegt —, von vornherein die gesamte Vielfalt der Provokationen ins Auge zu fassen, mit denen das gegebene System die Mehrheit der Bevölkerung konfrontiert. Es geht um unsere Beteiligung an dem Versuch, alle Kräfte, die es an den verschiedensten Punkten gegen sich auf den Plan ruft, "pluralistisch" zusammenzubringen und ihrer Energie die natürliche Richtung gegen die Ursache aller der Übel im Antriebsmechanismus des kapitalistischen Systems zu weisen. Vermutlich wird sich dabei aus der Sache selbst ein anderes einigendes Band anbieten, das die Teile zusammenhält.

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Ketzerisches über die gemeine Verwendung des traditionellen Proletariatsbegriffs  

 

Die Neue Linke mit ihrem Ursprung in der Studentenbewegung der 60er Jahre hat trotz mancher dogmatischen Rigidität eine unterschwellige Affinität zu den neuen sozialen Bewegungen — weil sie letzten Endes selbst dazu gehört, in gewisser Hinsicht sogar ihre erste Welle war und gerade am Anfang ihre wesentlichen Motive vorwegnahm, so zum Beispiel im Hinblick auf die Alternativbewegung. Dabei habe ich allerdings ihre ganze anfängliche Breite im Auge. Ihre Aufspaltung und Engführung hat sich dann bei der Suche nach dem größeren Subjekt ergeben, das die verschiedenen mehr oder weniger revolutionären Intentionen ins Ziel tragen sollte. 

Inzwischen ist mir noch deutlicher als in den ersten Wochen und Monaten geworden: Die Identifizierung mit der Arbeiterklasse — in der Nachfolge der zahlreichen Intellektuellen­generationen, die dort ihre Armee gesucht hatten, als noch Aussicht bestand, ein Kommando zu finden — war eine psychische Regression angesichts einer so schnell nicht zu bewältigenden, völlig neuen, kaum schon vormarkierten Perspektive.

Der Pariser Mai hat objektiv vorwärts gewiesen in eine ganz andere Richtung. Diejenigen, die immer noch deshalb über den damaligen "Verrat der KPF" reden, weil sie nun endlich doch noch die richtige Partei machen wollen, die Genossen Trotzkisten mit ihrem klassischen Marxismus, der im Kern ein Leninismus ist, haben wahrscheinlich einen größeren Anteil an dieser Regression der revolutionären Jugend, als der Spätergekommene auf den ersten Blick erkennen konnte. Ich habe inzwischen zu viele Genossen aus verschiedenen der späteren Splittergruppen und -parteien erzählen hören, daß sie irgendwie durch die IV. Internationale hindurchgegangen sind. Jedenfalls wäre es nicht der erste Fall, daß sich eine Vorhut rückverkleidet in die abgelegten Gewänder der unvollendeten vorigen Revolution.

Eines aber machte die Suche nach dem revolutionären Subjekt vollends klar: daß es sich bei der Neuen Linken — sie für sich genommen, außerhalb des erst noch heranziehenden Hauptfeldes der neuen Bewegung — um ein Intellektuellenphänomen handelt. Es gibt keinen Grund, das zu verleugnen, sich dessen zu schämen, anstatt sich möglichst vieler Konsequenzen, die das hat, aufrichtig bewußt zu sein. Vielleicht die wichtigste: Sie kann aus sich selbst kein Ganzes, kann sich selbst nicht genug sein.

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Dann gilt Schillers "Immer strebe zum Ganzen. Und kannst Du selber kein Ganzes werden, schließe als dienendes Glied an ein Ganzes Dich an". Wir müssen versuchen, unser Konzept nicht von unseren versuchsweisen Identitäten, sondern von den neuen Realitäten aus gleich im Blick auf die tatsächlichen Kräfte bzw. Interessen hin zu formulieren, denen wir einen Dienst erweisen wollen. 

Um es noch einmal unter dem Gesichtspunkt dieser "Ansprache" zu diskutieren: Für Marx hatte der Übergang auf den Klassenstandpunkt der Arbeiter zur erklärten Voraussetzung, dies eben sei die notwendige Vermittlung zu einer im ganzen umwälzenden Praxis. Falls sich diese Bedingung geändert hat, verschwindet nicht die Aufgabe, im Dienste der Gesellschaft zum Verständnis der historischen Gesamtbewegung vorzustoßen. Aber dann muß sie anders vermittelt werden, über ein anderes Subjekt, und dieses Subjekt muß nicht unbedingt eine bestimmte ökonomische Klasse sein. Die Geschichte kennt andere Kombinationen, und gegenwärtig kommt eine andere Kombination herauf.

Eben dann, wenn wir sie an den Proletariatsbegriff gebunden bleiben lassen, geht uns selbst die sozialistische Perspektive verloren. Das Proletariat war nach unserer Definition keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. die Arbeiter wiesen in ihrer Eigenschaft als Klasse über den kapitalistischen Horizont hinaus. Das Proletariat wurde so definiert, daß es das Ideal von der allgemeinen Emanzipation des Menschen tragen konnte. Dabei war der Mechanismus der Mobilisierung für diese welthistorische Rolle de facto ökonomistisch gefaßt; der antagonistische Interessenkonflikt um die Verkaufsbedingungen der Arbeitskraft sollte die Energie für die Sprengung des alten sozialen Zusammenhangs liefern. 

Statt dessen reproduziert sich das Kapitalverhältnis und mit ihm die bürgerliche Gesellschaft verhältnismäßig reibungsarm in diesem Grundwiderspruch, und die Bewegungen, die über den kapitalistischen System­zusammenhang hinausweisen, entfalten sich sichtlich nicht entlang dieser allgemeinen Klassenlage, sondern um andere, spezifischere Auslöser, in denen die Menschen weniger als Klassenangehörige denn als konkrete Individuen betroffen sind.

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Vom Aufstand der Individualität  

 

Wenn man davon ausgeht, daß der Spätkapitalismus zugleich mehr Individualität erzeugt und frustriert als jede frühere Produktionsweise, so handelt es sich u.a. auch darum, daß die subjektiven Potenzen gar keine Chance haben, in dem bis zur Konzertierten Aktion institutionalisierten Verteilungskampf angemessen wirksam zu werden. Positiv hat das Engagement für die Menschen nur dort einen Sinn, wo entweder Spielräume für die Bewahrung und Entfaltung der Individualität verteidigt werden oder wo darüber hinaus sogar Ansätze eines neuen kulturellen Zusammenhangs, einer neuen Arbeits- und Lebensweise entstehen. Und sind das nicht auch viel eher die Wege, die über den bestehenden Zustand hinausführen, während die Menschen in den traditionellen ökonomischen Auseinandersetzungen auf dem Karussell mitgedreht werden, das von dem Antriebsmechanismus der kapitalistischen Konkurrenz in Schwung gehalten wird?

Der wirkliche Schaden fortgesetzter "Klassenorientierung" besteht letztlich darin, die Aufmerksamkeit von der Erkenntnis und Dynamisierung der tatsächlichen individuellen Widerstandskräfte abzulenken. Was jetzt als "neue soziale Bewegungen" und politisch als eine Art "Aufbruch der Mitte" imponiert, ist der auf einer Vielzahl von Linien aufbrechende Aufstand der Individualität gegen die Endresultate des kapitalistischen Systems. Dort liegt der gemeinsame Nenner. 

Der Gegenpol, zu dem alles überspringen will, ist "Anders leben", eine andere Zivilisation überhaupt. Die ökologische Krise und ihre absolute Spitze, die Gefahr einer kurzfristigen Totalvernichtung durch den Atomkrieg, liefern die grundlegende Herausforderung, von der die Energie­mobilisierung ausgeht. Diejenigen von uns, die in dieser oder jener Form zeitig auf die Arbeit bei und mit der grünen, bunten und alternativen Bewegung eingegangen sind, haben gerade dadurch einen Vorsprung an Wirksamkeit und Kommunikationsfähigkeit erlangt, und trotz aller Schwierigkeiten und Widersprüche auch eine optimistischere Perspektive. Unsere Funktion für diese neue Massenbewegung erinnert uns daran, daß die sozialistische Linke ein notwendiges Organ der Gesellschaft für ihre Selbstveränderung ist. 

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Es ist gewiß kein Zufall, daß sich die analogen Kräfte in den anderen europäischen Ländern von der norwegischen Sozialistischen Linkspartei über die Linkspartei Kommunisten Schwedens bis zu den vordringenden Progressiven Organisationen der Schweiz und der französischen PSU alle dem Ökologismus und zugleich mehr oder weniger den anderen neuen sozialen Bewegungen wie der Frauenbewegung zugewandt haben. 

 

Die gleiche Orientierung greift allmählich in den großen eurokommunistischen Parteien sowie in den linken Flügeln und unter der Jugend der Sozial­demokratie Raum. Es wird tatsächlich immer wahrscheinlicher, daß sich gerade um diese neuen Bewegungen die emanzipatorischen Hoffnungen überhaupt konzentrieren. Von den etablierten Parteien, einschließlich der sozialdemokratischen, haben diese Bewegungen keine konzeptionelle Hilfe zu erwarten, sondern nur die verschiedensten Einfang- und Abfangmanöver. So steht objektiv die Aufgabe an, unser theoretisches Wissen und unsere soziale Erfahrung in einen dynamischen Entwurf von gesamtgesellschaftlicher Reichweite umzusetzen, der wirklich integriert, was an Interessen bereitsteht. Ob wir dazu in der Lage sind, wird auch davon abhängen, wie wir uns einlassen und was wir uns vornehmen. 

Zweifellos werden bei unseren Entwürfen auch unsere eigenen Interessen als von den Zuständen betroffene Intellektuelle (Männer, und noch mehr die Frauen) eine Rolle spielen. Allerdings als Intellektuelle, die sich aus einem "vernünftigen Egoismus" heraus für allgemeine Interessen engagieren und sie mehr oder weniger zu den ihren machen. Jedenfalls besteht unsere hauptsächliche Arbeit in dem selbstverständlich nicht ideologiefreien Versuch, auszudrücken, was für soziale Veränderungen die Gesellschaft als ganze nötig hätte. Und wir gehen dabei von unserer eigenen allgemeinen Betroffenheit aus, in lichten Augenblicken sogar in dem Bewußtsein unserer eigenen besonderen Interessiertheit. 

Letzten Endes liegt es in der Sache selbst, daß sich Menschen mit derartiger Hauptbeschäftigung normalerweise nach "links" orientieren, nämlich auf solche sozialen Veränderungen, die vor allem die Chancen für den menschlichen Aufstieg der jeweils Zukurzgekommenen verbessern, weil ja, wie es Marx und Engels im Manifest gesagt hatten, "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". 

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Wir müssen den Konsens für entsprechende Alternativen herbeiführen, gegen den anderen Konsens, den der herrschende Block, gestützt auf die "normative Kraft des Faktischen" und seine Dominanz in der Massenkommunikation, noch mehrheitlich durchsetzen kann. Bei dem Ringen um Ausdruck der langfristigen Interessen und ihrer Vermittlung mit den kurzfristigen kommt es auf den Ausgangspunkt an, der in den Individuen selbst liegt, wo die emanzipatorischen und die Überlebensinteressen der Leute so eng beieinanderliegen, daß der Funke überspringen kann. 

Außerdem steht mehr überschüssiges Bewußtsein als zu jeder anderen historischen Krisenstunde bereit, und insofern wir uns selbst als dessen Organ begreifen, können wir uns da in einem homogenen Stoff bewegen — falls zutrifft, daß die emanzipatorischen Interessen der Individuen tendenziell die gleiche Richtung haben. Ihre materiellen Interessen, die sich aus der Einordnung in die Sozialstruktur ergeben, mögen verschieden sein. Aber immer häufiger werden sie bewußt dem Ziel untergeordnet, die Rahmenbedingungen einer Existenz zu erlangen, die auf Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung gerichtet ist. Herausarbeiten der eigenen Individualität, nicht Akkumulation von materiellen Werten, sondern Sicherung der Arbeits- und Entfaltungsbedingungen, wird direkt Triebkraft und Regulator auch des ökonomischen Verhaltens.

Diese Motivation dringt heute in allen Schichten des Gesamtarbeiters vor, d.h. die energischsten und psychisch anspruchsvollsten Menschen unternehmen irgendwann den Versuch, selbst unter Abstrichen an Lebensstandard und äußerer Sicherheit ein schöpferisches Leben zu beginnen. Ist das nicht auch der eigentliche Antrieb der Frauenbewegung? Können ihre Ziele ohne ein anderes Alltagsleben erreicht werden, ohne eine andere Bedürfnisstruktur, eine andere Technologie und Organisation der Produktion, ohne völlig andere Maßstäbe menschlicher Leistung, menschlichen Wertes? 

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Schließlich haben die emanzipatorischen Interessen heute nicht nur deshalb eine größere Potenz denn je, weil eine größere Masse psychischer Energie darin zum Ausdruck kommt, sondern es steht zusätzlich ein mächtigerer Gefahrendruck denn je dahinter. Während die Größe des emanzipatorischen Potentials davon abhängt, wieviel überschüssiges Bewußtsein sich von den herrschenden Mustern der Bedürfnisbefriedigung freimacht, wird seine Intensität durch die Herausforderungen bestimmt, auf die es reagiert. In solchen Situationen können die langfristigen Interessen der Individuen als Menschen auch in den privilegierten Klassen tendenziell das Übergewicht über die aktuellen ökonomischen erlangen, so daß es möglich wird, sie über Klassengrenzen hinweg zu formulieren und zur Geltung zu bringen. 

Das ist in Zeiten allgemeiner Krise der Zivilisation immer die Funktion der progressiven Intelligenz gewesen: Angesichts einer in ihren Institutionen festgefahrenen Gesellschaft den Weg vorzuzeichnen, der über die ganze Matrix hinausführt. Hier zeigt sich, daß die ökologische Position auch die radikale sozialistische ist. Einen Entwurf dafür auszuarbeiten, einen Gegenentwurf zu dem blinden Kalkül, das sich in dem Machtsystem durchsetzt, ist ebenso im allgemeinen Interesse wie in unserem besonderen, ist also unsere ureigene Angelegenheit. Er kann nur entstehen, wenn sich aus allen großen traditionellen Lagern diejenigen zusammenfinden, die zu einem Aufbruch bereit sind, wenn sie bewußt aufeinander zuarbeiten und Verbündete bis in das Herz des institutionellen Systems hinein suchen. 

Statt der eigenen Partei, die einige von uns immer noch möchten, sollten wir ein "ideologieneutrales" Forum schaffen, wo sich alle treffen können, die an problemorientierter Selbstverständigung und politischer Entwurfsarbeit teilnehmen möchten. Die Etiketts sind überaus trügerisch geworden. Auch Linkssein ist nicht mehr automatisch progressiv. Es dürfte gar nicht interessieren, ob einer als konservativer Grüner oder als rechter Sozialdemokrat gilt — von dem großen Feld dazwischen zu schweigen —, wenn er produktiv an der Diskussion über grundlegende Veränderungen teilnehmen will. Besonders von links und grün engagierten Sozialdemokraten liegen Ausarbeitungen vor, die inhaltlich weiter reichen, genauer sind und — zumindest in erster Lesung —'realistischer anmuten als das meiste, was links von der SPD und auch bei den Grünen produziert wird.

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Es wäre unverantwortlich, an diesen Kräften vorbeidenken zu wollen. Wir müssen unser Unternehmen unbedingt so anlegen, daß sie sich zur Mitwirkung eingeladen fühlen. Natürlich gehören auch die wirklichen Liberalen dazu, und selbst zum linken Flügel der CDU/CSU hin sollten wir uns öffnen. Die Arbeit müßte so angelegt sein, daß die Partner dort primär als Persönlichkeiten — selbstredend ohne Verleugnung ihrer politischen Identitäten —, nicht als Vertreter ihrer Parteien und Gruppen, teilnehmen.

Natürlich würde das erfordern, bei der Vorbereitung über unsere Zirkel hinauszugehen und vor allem die Diskussions­gegenstände sorgfältig abzustimmen. Vielleicht finden wir einen anderen Namen, der das breite Spektrum besser erfaßt als die Bezeichnung "Sozialistische Konferenz", zum Beispiel "Forum Dritter Weg". Dieser Begriff eignet sich gerade wegen seiner Offenheit für verschiedenste Inhalte, die aber alle mit der Intention verbunden sind, über das Dilemma der beiden "Weltsysteme" hinauszukommen. Er wird auch von Kräften benutzt, die noch innerhalb der etablierten Parteien stehen. Wer will, mag daraus auf seine Untauglichkeit schließen. Ich schließe aufs Gegenteil. 

Ich sehe im Gebrauch dieses Begriffs ein Indiz, an dem man die Tendenz erkennen kann, die Partei der ökologischen Vernunft und des realen Humanismus zu ergreifen. Der Weg, der über den bestehenden Zustand hinausführt, muß nicht für alle, die ihn gehen wollen, mit dem Hinweisschild "Sozialismus" versehen werden. Es gibt ja Menschen, die sich gerade im Namen der emanzipatorischen Hoffnungen, die sich mit dem Sozialismusbegriff verbanden, von ihm abgewandt haben, weil sie ihr Ideal darunter pervertiert sehen. Worauf es ankommt, ist allein die Richtung, in der die verschiedenen Bestrebungen konvergieren. 

So könnte ein anziehendes Zentrum für die verschiedensten konstruktiven Kräfte entstehen, die an nicht- bzw. überparteilicher Diskussion interessiert sind. Die Voraussetzung auf unserer Seite wäre, unsere spezielle Identität hintanzusetzen, in den Dienst einer umfassenderen Sache zu stellen, um sie erst an der Bewältigung von Problemen, statt vorweg an der Behauptung von Positionen zu bestätigen. 

Gerade dazu könnten unsere ungebundenen Kräfte gut sein, und wir kämen damit über uns als Linke, d.h. über die Schranken, die in unserer bisherigen Ideologie und Praxis liegen, hinaus. In einem solchen Vorstoß in die Mitte der Gesellschaft, in die Mitte der Probleme liegt die Chance der Selbstveränderung, die wir nötig haben.

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Leseerfahrungen  

 

Seit dem Spätsommer bin ich endlich ein wenig zum Lesen gekommen. So lückenhaft diese Lektüre, vielleicht erleichtert es die Orientierung, auch für die Auseinander­setzung mit mir, wenn ich ein paar Bücher nenne, in denen ich — meist schon weiter ausgeführt als auf den vorangehenden Seiten — etwa denselben Ansatz finde, den ich meine, und jedenfalls vieles unbedingt zu Berücksichtigende, wenn es um den Entwurf geht, den wir ja doch alle irgendwie meinen. 

Eben habe ich, um mit dem letzten zu beginnen, noch einen kleinen Band absolviert, der gerade für Leute (beiderlei Geschlechts), die vom Marxismus kommen, ein ausgezeichnetes Kompendium der Gesichtspunkte bietet, auf die wir uns einlassen müssen: Iring Fetschers <Überlebensbedingungen der Menschheit>. Es könnte uns manche Diskussion abkürzen. 

Fetscher, nach diesem Text eindeutig Ökosozialist, ist ja dafür bekannt, daß er sich auch im Buchstaben des Marxismus auskennt. So hat man hier u.a. auch konzentriert zusammen, was man braucht, um das Thema "Marx und die Umwelt" zu überblicken und hoffentlich für eine Weile abzuhaken (nämlich soweit es die historisierende Behandlung zu überflüssigen apologetischen Zwecken angeht).

Wenn man mich fragt, wo ich nun hier im Westen die direktesten Identifikationsmöglichkeiten entdeckt habe, so muß ich auf zwei, bei allem Unterschied der Charaktere untereinander verwandte Werke hinweisen, die seit 15 oder 20 Jahren in Frankreich in Arbeit sind: die Werke von Andre Gorz, den ich drüben noch nicht kannte, und von Roger Garaudy, dessen Aufbruch aus dem "Lager" des Parteimarxismus dort natürlich nicht verborgen blieb. 

Bei beiden finde ich denselben Denkzusammenhang, denselben Umgang mit dem Marxismus: sowohl Kontinutität wie Bruch der Tradition, vor allem aber Ausweitung des Feldes. 

Ich erwähne ihre letzten Werke: 

Gorz, <Abschied vom Proletariat>, und demnächst auch auf Deutsch erscheinend, Garaudys ökologisches Projekt <Appell an die Lebenden>, das er inzwischen noch mehr konkretisiert hat. Weiter muß ich Ivan Illich erwähnen, sein Buch <Selbstbegrenzung> zum Beispiel.

In der Bundesrepublik finde ich mich übereinstimmend mit den Fragestellungen sowohl bei Josef Huber (zuletzt in seinem Büchlein über die Alternativ­bewegung, <Wer soll das alles ändern?>) als auch bei Klaus Traube (<Müssen wir umschalten?> und <Wachstum oder Askese?>) und Carl Amery (<Natur als Politik>), dessen Paraphrase auf Marxens elfte Feuerbachthese (bisher habe sich der Materialismus begnügt, die Welt zu verändern, jetzt käme es darauf an, sie zu erhalten) von den Genossen Nichtlesern des Nichtgenossen Amery mißverstanden wird.

Und dann noch etwas, womit wir uns befassen müssen: die Dimension der Subjektivität. 

Wir brauchen eine Praxis teilweise sogar vorgängiger Veränderung, wenn wir die Welt, will sagen, die Gesellschaft in einer Richtung verändern wollen, die wirklich zu einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz führt. Da scheint mir Dieter Duhms <Synthese der Wissenschaft> ein Signal zu setzen was da, in puncto der Innenwelt so alles auf uns zukommen könnte, ohne daß wir und der Autor selber darüber seine früheren Sachen vergessen müssen. 

Und schließlich, sicher etwas ab von unserem Wege und in ziemlich gemischter Gesellschaft, fand ich unter dem Titel <Nestwärme in erkalteter Gesellschaft> aus der Herder-Bücherei einige Aufsätze, die dazu gehören, etwa über den Zusammenhang zwischen verschiedensten Graswurzeleien und der Abschaffung der Zentralkomitees.

Es gilt einfach eine Menge neu zu bedenken und vor allem — sofern es in der Wirklichkeit zusammenhängt, auch zusammenzudenken. Ich glaube nicht, daß es so viele verschiedene Lösungen für den einen Knoten gibt, zu dem sich gegenwärtig alle Probleme von Evolution und Geschichte schürzen.

218-219

 

Ende

 

 

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