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1. Was ist alles mit dem Sozialismus schief gegangen?

 

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Wolter: Unser Thema sind die 80er Jahre. So, wie ich die Sache sehe, werden das wilde Jahre. Sie bringen gravierende Umwälzungen in fast allen Bereichen auf der ganzen Welt. So, wie es in den 30 Nachkriegsjahren war, wird es im Laufe der 80er Jahre nicht mehr sein.

Falls die ganze Erde nicht in die Luft fliegt, wird sich der gesamte künstliche Status quo verändern - auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, in den internationalen Beziehungen zwischen den Blöcken, innerhalb der Blöcke, zwischen Industrieländern und der dritten Welt, bis hin zum Alltagsleben des einzelnen.

Die wirtschaftliche und ökologische Krise sowie die technologischen Neuerungen werden Einschnitte in unser aller Leben bringen, die grundsätzlicher Natur sein werden. Die kommenden Herausforderungen scheinen mir so umfassend und tiefreichend zu sein, daß es dringend geboten scheint, sich mit den Entwicklungstendenzen der 80er Jahre zu befassen, wollen wir der Entwicklung nicht ins Auge schauen wie das Kaninchen der Schlange.

Und wer wäre, nach eigenem Selbstverständnis, mehr dazu berufen als die Marxisten, die doch von sich behaupten, Entwicklungs­perspektiven wissen­schaftlich analysieren zu können. Eine Beschäftigung mit Zukunftsfragen scheint auch um so dringlicher, als grundlegend neue Probleme neben die treten, die wir aus der Analyse der Anatomie der bestehenden Gesellschaftssysteme kennen. Haben die Marxisten sich bislang weitgehend mit dem beschäftigt, was man allgemein die Tauschwertproblematik nennen könnte, also mit den Fragen der materiellen Ungleichheit und den daraus resultierenden Problemen und Konflikten, so tritt seit geraumer Zeit die Gebrauchswertproblematik stärker in den Vordergrund, wird ebenfalls zum Motor von Veränderungen.

Das ist wohl der Hintersinn der Ökologieproblematik in ihrer umfassenden Bedeutung. Es ist die Unzufriedenheit einer wachsenden Anzahl von Leuten mit dem Leben, das sie führen, mit den unmittelbaren Bedrohungen, denen sie im täglichen Leben ausgesetzt sind, angefangen vom Smogalarm über Wasser­verschmutzung, krankheitserzeugende Lebensmittel, Streß, Gefährdung durch Atomkraftwerke und Chemiemüll. Die Liste wäre beliebig zu erweitern. Diese neuen Probleme erfordern neue Antworten. Ein Ansatz dazu könnte mit dem Versuch gemacht werden, den wir heute unternehmen, nämlich die Zukunftsfragen gemeinsam, wenn auch aus verschiedenen Sichtweisen zu diskutieren.

Denn eines scheint mir auch klar zu sein. Wenn wir als Linke diesen Neuordnungsprozeß der gesamten Welt nicht nur kommentierend, sondern handelnd und eingreifend begleiten wollen, müssen wir auch zu einem politischen Faktor werden, d. h. Wege überlegen, wie wir trotz unserer aus gutem Grund bestehenden Meinungsverschiedenheiten wieder handlungsfähig werden.

Dazu ist es wohl notwendig, sich an den Gedanken der politischen Arbeitsteilung zu gewöhnen, die es ohnehin gibt, die nur nie thematisiert wurde. Denn Gemeinsamkeiten bestehen unter uns ja in grundlegenden Fragen.

Wie wir hier zusammensitzen, gibt es einen Minimalkonsens, den man vielleicht so zusammenfassen könnte, daß wir die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht als der Weisheit letzten Schluß ansehen, nach wie vor an dem Gedanken der Möglichkeit eines menschlicheren, von Sach- und Herrschaftszwängen freieren Zusammenlebens festhalten.

Wir negieren nicht alles, das wäre eine fatale Einstellung, aber wir sehen die gigantischen Unzulänglichkeiten dieses Profitsystems, das den Menschen den Dingen unterordnet, notfalls mit Gewalt. Dabei sind wir uns aber bewußt, daß die östlichen Systeme dieses Ziel einer humaneren Gesellschaft auf ihre Weise auch nicht erreicht haben.

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Dort ist der Mensch ebenfalls zweitrangig, dem Willen der Führung in Partei und Staat untergeordnet. Im Vergleich haben beide Systeme sicher dem anderen gegenüber Vorteile, nur grundlegend veränderungsbedürftig sind beide. Und gerade wir als unabhängige Linke haben die Pflicht, eine offene und kritische Bilanz der Strömung zu ziehen, der wir uns zuordnen, wenn auch oft nur negativ. Sonst ist unser Engagement unglaubwürdig. Ich schlage also vor, daß wir mit einer kritischen Bilanz der beiden Hauptströmungen der Arbeiterbewegung beginnen. Kommunisten wie Sozialdemokraten waren realpolitisch erfolgreich. Die einen herrschen in den »realsozialistischen« Ländern, Sozialdemokraten in vielen westlichen Industrieländern. Nur mit welchem Ergebnis? Von Sozialismus ist eigentlich hüben wie drüben keine Rede, sondern das sind ganz andere Gesellschaftssysteme. Mit den erklärten Zielen hat das nicht viel zu tun.

Diejenigen, die diese realpolitische Degeneration des Gedankens an eine humanere Gesellschaft kritisieren, ohne deshalb mit den bestehenden Systemen ihren Frieden zu machen, d. h. weiter an die Möglichkeit einer anderen, menschlicheren Welt glauben, die revolutionären Marxisten, um die von Ernest gebrauchte Umschreibung zu nehmen, verkörpern zwar die orthodoxe Revolutionstheorie, demnach auch das eigentliche Klasseninteresse des Proletariats, nur hatten sie bislang noch nie das zweifelhafte Vergnügen, ihre Theorie praktisch erproben zu müssen. Das ist ein Widerspruch, der bilanziert werden muß.

Diejenigen, die es, der Theorie nach, am besten wissen müßten, auch die Moral auf ihrer Seite haben, sind praktisch nie zum Durchbruch gekommen, während die anderen mit modifizierten Theorien zwar die Machtpositionen erobert haben, dabei aber die Verwirklichung der Ziele nicht mehr hinbekommen.

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Bahro: Ich möchte versuchen, zuerst etwas zu sagen, was Stoff bietet, um sich damit auseinanderzusetzen. Mich hat seinerzeit in bezug auf die Verhältnisse drüben sehr beeindruckt, als ich las, wie nach der ganzen Welle der Befreiungskriege in Deutschland 1813 einer der Studentenführer, ein Burschenschafter, seine Erfahrungen auf die Formel brachte: Es ist alles anders gekommen, als wir gedacht haben. Das schien schlagend mit meinen Erfahrungen im real existierenden Sozialismus übereinzustimmen. Und ich meine, daß wir uns darüber Klarheit verschaffen müssen, was eigentlich anders gekommen ist, im allgemeinsten Rahmen erst einmal.

Mir fällt da vor allem Folgendes ins Auge: Marx ging davon aus, daß die Probleme für die Menschheit als Ganzes über die inneren Widersprüche in den entwickeltsten Ländern jener Zeit gelöst werden. Das heißt, eine - verkürzt formuliert - proletarische Generallösung in England, Frankreich und Deutschland sollte der ganzen Welt den Ausbruch aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft bringen. Die proletarische Revolution in England sollte z.B. Indien erlösen. Und noch 1881 hat er für Rußland den Volkskommunegedanken formulieren können, unter der Voraussetzung einer siegreichen Revolution in Westeuropa.

Und was wir bei Lenin finden, scheint mir zu sein, daß - und damit meine ich nicht Leninismus, den Stalin dann kanonisiert hat - für die europäische Revolution ausgesprochen ist, was ich die Dominanz der äußeren Widersprüche nennen möchte, und zwar der äußeren Widersprüche nicht als etwas dem Kapitalismus Fremdes verstanden. Die innere Dynamik des Kapitalismus hat zur Folge gehabt, daß in den Teilen der Welt, die wir heute zweite, dritte, vierte Welt nennen und die ursprünglich nur eine einzige dem Kapitalismus gegenüberstehende Welt bildeten, zuerst die Widersprüche explodierten, die vom Kapitalismus ausgingen. Er hat die alten Zivilisationen so weit auseinandergebrochen, daß die sich gegen den Kapitalismus, aber provoziert durch ihn, mit dem weltgeschichtlichen Prozeß auseinandersetzen mußten.

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Jetzt stehen wir wieder vor der Situation, daß die Sprengkraft der inneren Widersprüche, mit denen wir es natürlich nach wie vor zu tun haben, von drei anderen Widersprüchen übertroffen wird, die alle in einem gewissen Sinn unter die Rubrik »äußere Widersprüche« fallen, wenn man die entwickelten kapitalistischen Länder als Subjekt setzt - natürlich nicht, wenn man die Menschheit als Ganzes nimmt.

Die Dynamik des inneren Klassenkampfs hier ist von dem, was heute Ost-West-Konflikt genannt wird, und hinter dem sich nichts anderes als die Geschichte der russischen Revolution mit ihren Folgen verbirgt, überholt worden. Und sie ist von dem Nord-Süd-Konflikt überholt worden, also von der Tatsache, daß sich die Länder der dritten und vierten Welt jetzt mit der Provokation der Produktivkraftentwicklung in den entwickelten Ländern auseinandersetzen müssen.

Der dritte Widerspruch, der die Dynamik des Klassenkampfes überlagert, ist der zwischen Mensch und Natur im weitesten Sinne, also die ökologische Krise mit ihrer fundamentalen Bedeutung. Alle diese drei Widersprüche zusammen bedeuten aber immer noch nicht, daß wir über den Horizont der kapitalistischen Herausforderung, der kapitalistischen Zivilisation, hinausgelangt sind. Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, wie wir den Zusammenhang der inneren Widersprüche der Metropolen mit den drei äußeren Widersprüchen - Ost-West, Nord-Süd und Mensch-Natur - herstellen, um auf diese Weise das Gesamtproblem zu lösen.

Unsere bisherige Gesamtorientierung - das hängt mit der Orientierung auf die inneren Widersprüche des Kapitalismus für sich genommen zusammen - fängt immer mit dem ersten Kapitel des Kapital an. Und ich freue mich überaus, daß du, Ernest, wenn ich es nicht völlig mißverstanden habe, in deinem Spätkapitalismus auch davon ausgehst, daß der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital heute nicht mehr unmittelbar - und nur das meine ich - der Hebel ist, von dem aus sich die Überwindung des Profitsystems organisieren läßt.

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Und ich will es einmal so sagen: Wir müssen mit dem kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozeß fertig werden. In diesem Zusammenhang sehe ich in folgendem Punkt eine kolossale Hoffnung: Wenn wir uns als Marxisten über etwas einig sind, dann darüber, daß der Kapitalismus quantitatives Wachstum, also Hegels »schlechte Unendlichkeit«, in punkto Wachstum braucht.

Und ich bin von dem Gedanken an die Möglichkeit fasziniert, daß Ost-West-Konflikt, Nord-Süd-Konflikt und Ressourcenkonflikt zusammen, also die ökologische Krise darauf hinauslaufen könnten, den Kapitalismus zu ersticken, indem die quantitativ erweiterte Reproduktion unmöglich wird.

Und zwar ökonomisch nicht im engeren Sinne der Produktionsverhältnisse, sondern ökonomisch im Sinne der Produktivkräfte. Wenn das Futter für diese gefräßige Produktionsmaschine nicht mehr zur Verfügung steht, folgt daraus ein materieller Zwang, der noch tiefer reicht als die Gesetze der ökonomischen Basis für sich genommen, wenn er auch über die ökonomische Basis vermittelt ist. Das Ausbleiben des Nachschubs für die Produktion könnte dazu führen, daß die kapitalistische Form des gesamten Reproduktionsprozesses gesprengt wird. Andererseits kann eine solche Dynamik es notwendig machen, daß wir, ohne den bisherigen Proletariatsbegriff einfach zu negieren, auch das Subjekt, das durch diese Situation herausgefordert ist, anders definieren. Wir brauchen das Subjekt für die allgemeine Emanzipation des Menschen nicht mehr an die Proletariatsdefinition des ersten Bandes des Kapital zu koppeln. Das ist der allgemeine Denkrahmen, aus dem heraus ich versuchen würde, mich dem durch unsere heutige Diskussion aufgeworfenen Problem zu nähern.

Wolter: Vielen Dank, du bist gleich mitten in das Thema gegangen, ich stelle mir vor, daß Ernest zunächst noch einiges auf die Ausgangsfragen zu bemerken hat.

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Mandel: Ich möchte gern auf deine Frage antworten und dabei mehr auf den historischen Rahmen eingehen, wenngleich ich auch weiß, daß es vor allem für junge Leute nicht leicht ist, diese Großvaterweisheiten zu akzeptieren.

Die Aufgabe, die sich der Sozialismus gestellt hat, ist eine unerhört kühne, die kühnste Aufgabe, die sich die Menscheit je gestellt hat. Die Ausgebeuteten, die Entrechteten, die Unterdrückten, sagen wir es einmal frech: die Unwissenden zur absoluten Herrschaft über ihr Schicksal und das Schicksal der ganzen Menscheit zu befähigen. Kurz: Der Sozialismus ist eine sehr schwere Aufgabe.

Daß das nicht auf den ersten Anhieb gelungen ist, scheint mir unter diesen Bedingungen nicht so erstaunlich, erstaunlich wäre eher das Umgekehrte. Ich möchte eine historische Parallele aufzeigen. Der Höhepunkt der bürgerlichen Emanzipation war die Forderung nach gleichen Rechten, nicht nur Menschenrechten, die waren im Kapitalismus schon sehr früh angelegt, sondern nach gleichen Bürgerrechten, d. h. nach gleichen politischen Rechten für alle Menschen, nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht. Wenn wir uns die ersten 60 bis 70 Jahre praktischer Erfahrung mit dem allgemeinen Wahlrecht ansehen, so ist die Bilanz miserabel, ein totaler Fehlschlag. Der erste Versuch, in Frankreich, führte nach ein paar Jahren zum Konsulat und zum Kaiserreich; der zweite Versuch, in Amerika, führte zu einer Regierung von Sklavenhaltern im buchstäblichen Sinne des Wortes unter General Andrew Jackson; der dritte Versuch, Frankreich 1848, führte nach ein paar Jahren wiederum zum Cäsarismus, zum Kaiserreich. Aber schon zwanzig Jahre danach gab es kein einziges zivilisiertes Land in der Welt, wo nicht eine unaufhaltsame Bewegung für das allgemeine Wahlrecht in Gang kam und sich durchsetzte. Das heißt, wir müssen bei der historischen Bilanzierung so riesiger Umwälzungen, wie es der Kampf für den Weltsozialismus, für eine klassenlose Gesellschaft ist, ein wenig vorsichtig sein.

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Und ich würde sagen, jeder Versuch, die unbestreitbaren Niederlagen, das Versagen, die letztlich am Anspruch der Emanzipation des Menschen gemessene, negative Bilanz - obwohl sie auch nicht ausschließlich negativ ist - auf einen einzigen Faktor zurückzuführen - weil die Theorie nicht richtig war, oder weil die Arbeiter zu stark integriert waren, oder weil Revolutionen an und für sich nichts taugen -, ist schon rein logisch unmöglich.

Denn es handelt sich um einen unerhört komplizierten historischen Prozeß im weltweiten Rahmen, der einfach nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Und wenn ich eine Erklärung versuche oder wenigstens die Richtung einer Erklärung andeuten möchte, dann würde ich sagen, daß das, was Rudolf Bahro am Anfang betonte, also die berühmte Marxsche Aussage über die Rolle, die das Proletariat der industriell entwickeltsten Länder im Prozeß der sozialistischen Umgestaltung der Welt spielen müßte, seit Anfang des imperialistischen Zeitalters wenigstens dahin differenziert werden müßte, daß wohl in den industriell fortgeschrittenen Ländern die ökonomischen Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft am günstigsten sind, daß aber in den industriell weniger entwickelten Ländern die politischen Bedingungen viel günstiger für die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse sind. Darin liegt die ganze Tragik des Sozialismus im 20. Jahrhundert.

Trotzki sagte bereits 1906, es sei wahrscheinlich, daß die Arbeiterklasse erst in weniger entwickelten Ländern zur Macht kommen wird, weil das Bürgertum dort schwächer ist, weil die Bündnismöglichkeiten größer sind usw. Aber er hat sofort hinzugefügt, daß ein solcher Sieg nur dann eine welthistorische Funktion erfüllen kann, wenn er hilft, diese Revolution auf die industriell entwickelten Länder auszudehnen, wenn er die Kräfteverhältnisse in den fortgeschrittenen Ländern zugunsten der Revolution verschiebt. In den unterentwik-kelten Ländern kann man keine sozialistische Gesellschaft, keine klassenlose Gesellschaft aufbauen, das ist unmöglich.

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Hier müssen wir den Unterschied zwischen Politik und Ökonomie machen. Ich würde also abschließend sagen, die Tragödie, welche die sozialistische Bewegung im 20. Jahrhundert erlebt hat, liegt darin, daß sich bisher nur der erste Teil dieser Prognose bewahrheitet hat. Es hat sich tatsächlich gezeigt, daß es leichter ist, den Kapitalismus in weniger entwickelten Ländern zu stürzen. Die politischen Auswirkungen auf die industriell entwickelten Länder haben sich allerdings als viel komplizierter, differenzierter, komplexer erwiesen, als es die klassischen Marxisten erwarteten. Und um es noch kürzer zusammenzufassen: Wir haben also eine zyklische Bewegung des Klassenkampfes auf weltweiter Ebene erlebt, keinen ununterbrochenen Aufstieg, keinen ununterbrochenen Abstieg, sondern eine zyklische Bewegung, die mehrere Male an mehreren Schnittpunkten radikal unterbrochen wurde.

Und am deutschen Beispiel kann man das am deutlichsten sehen. Es ist heute für einen deutschen Sozialisten, um nicht zu sagen für einen deutschen Historiker, immer schwer, das zu verstehen, was für mich als Nichtdeutschen aufgrund meiner unterschiedlichen täglichen Erfahrung offensichtlich ist. Wir leben spätestens seit 1968 - man kann sich über den Zeitpunkt streiten - im übrigen Europa ganz offensichtlich in einer aufsteigenden Phase des durchschnittlichen Klassenbewußtseins der Arbeiterklasse. Für die Bundesrepublik gilt das nicht, das ist klar. Und dementsprechend stellt sich auch das Problem des revolutionären Subjekts und der Perspektiven in der Bundesrepublik auf eine viel undeutlichere Weise, als es sich im übrigen Europa stellt. Aber für das übrige Europa würde ich sagen, daß spätestens seit 1968 der lange Abstieg des durchschnittlichen Klassenbewußtseins, der 1923 anfing, mit Stalin, Hitler und dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Greueltaten - Auschwitz, Hiroshima -seinen Höhepunkt erreichte, einen Umschwung erfahren hat.

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Und das Schicksal der revolutionären Marxisten ist im großen und ganzen, obwohl man da nicht zu deterministisch sein darf, durch das Schicksal des durchschnittlichen Klassenbewußtseins bestimmt. Wenn dieses sinkt, dann sind die Revolutionäre ein kleines Häufchen, wie es auch Marx und Engels in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts waren.

Wenn das durchschnittliche Klassenbewußtsein dagegen wieder steigt, dann werden sie stärker. Und sie sind heute bedeutend stärker - auch in ihrer Fähigkeit, den unmittelbaren Klassenkampf zu beeinflussen -, als sie es in den 40er, den 50er und Anfang der 60er Jahre waren; vielleicht noch nicht stark genug, aber da müssen wir Geduld haben. Revolutionen muß man in einem historischen Rahmen sehen, das ist nicht etwas, was man in zwei, drei Jahren zur persönlichen Befriedigung erreichen kann. Das ist ein Projekt, das sich über Jahrzehnte erstreckt. Und wenn man mit dieser Überzeugung an die Sache herangeht, dann wird man auch enttäuscht sein, wenn man Niederlagen erleidet, klar, aber dann wird diese Enttäuschung nicht dieselben Folgen haben, wie wenn man sich übertriebene Hoffnungen über den Rhythmus dieses Prozesses macht. Und man wird dann nicht den klassischen Weg gehen, mit zwanzig Kommunist gewesen zu sein, mit dreißig Sozialdemokrat, mit vierzig Liberaler, mit fünzig Konservativer.

Wolter: Peter, du müßtest eigentlich eine andere Bilanz ziehen, weil Ernest ja doch letzten Endes davon ausgeht, daß die Entwicklung keine prinzipiellen Probleme aufwirft, da er nach wie vor von der Grundannahme der Aktualität der sozialistischen Revolution ausgeht, während die Sozialdemokratie ja doch grundsätzlich andere Lehren aus der Geschichte gezogen hat, nämlich von der Nichtaktualität einer Revolution ausgeht. Wie würdest du diese Bilanz ziehen?

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Oertzen: Ich bin mit Ernest in der Formulierung der Ziele des Sozialismus einig. Er hat gesagt, es sei das Ziel des Sozialismus, die Ausgebeuteten, die Unterdrückten, die Unwissenden selbst zur Herrschaft in der Gesellschaft zu bringen. Und ich würde hinzufügen, was sicherlich auch seine Überzeugung ist: Es ist das Ziel des Sozialismus, im Prozeß der Übernahme der Herrschaft durch die Ausgebeuteten Unterdrückung, Ausbeutung und Unwissenheit für alle Menschen überhaupt aufzuheben und die objektiven ökonomischen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und der individuellen Selbstverwirklichung für alle Menschen ohne Ausnahme zu nutzen.

Bahro: Das ist das, was Marx schon aus der klassischen Philosophie mitgebracht hat, die allgemeine Emanzipation des Menschen.

Oertzen: ... die allgemeine Emanzipation des Menschen, die mehr oder weniger, jedenfalls soweit ich weiß, alle europäischen, afrikanischen, asiatischen Hochkulturen in der Literatur und in der Philosophie als Schimmer von Hoffnung begleitet hat. Es hat in allen großen Kulturen in der Dichtung, in der Philosophie, in der Regel religiös verkleidet, die Ahnung von einer Welt ohne Elend, ohne Not, ohne sklavische Abhängigkeit von der Natur und von menschlicher Herrschaft gegeben, eine Welt, in der alle Menschen sowohl frei als auch untereinander gleich sind.

Der wesentliche Beitrag des Marxismus ist der Hinweis darauf, daß erst bestimmte materielle Voraussetzungen durch die objektive gesellschaftliche Entwicklung geschaffen werden müssen, damit diese Utopie verwirklicht werden kann.

Insoweit enthält der Begriff des Sozialismus zwei Zielsetzungen, die einander überlagern: einmal die alte Menschheitsvorstellung von der Aufhebung der arbeitsteiligen, auf Herrschaft, Ausbeutung und ungleichem

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Zugang zu den kulturellen Errungenschaften beruhenden Klassengesellschaft, auch und gerade natürlich der vorkapitalistischen Klassengesellschaften; und zweitens die Vorstellung, daß die historisch letzte Klassengesellschaft, die kapitalistische, die materiellen Möglichkeiten für die Aufhebung jeglicher Klassengesellschaft geschaffen hat.

Dies geht einher mit der Vorstellung, daß - und da greife ich auf das zurück, was Rudolf Bahro vorhin gesagt hat - aus den kapitalistischen Widersprüchen selbst heraus sich die revolutionäre Bewegung entfaltet, die in der Lage ist, die kapitalistischen Widersprüche aufzuheben, die kapitalistische Klassen­gesellschaft zu stürzen und damit zugleich die Möglichkeit für die Aufhebung von Ausbeutung, Unterdrückung und Unmündigkeit überhaupt, d.h. von Klassengesellschaft überhaupt, zu schaffen.

Dieses Ziel ist nun, und das will ich, in Übereinstimmung mit euch beiden, noch einmal feststellen, nicht erreicht worden. Und ich möchte mit Nachdruck unterstreichen, daß dieses Ziel in den Ländern des sogenannten real existierenden Sozialismus eben mit einer besonderen, qualitativen Eindeutigkeit nicht erreicht worden ist. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß etwa die Revolution in China eine ungeheure Verbesserung der materiellen Lebenslage der arbeitenden Massen im Vergleich zur vorangegangenen kolonialen Periode erreicht hat. Dasselbe gilt sicherlich auch für die Verwandlung eines mit kapitalistischen Inseln durchsetzten armen, unter Unterdrückung und kultureller Rückständigkeit leidenden Agrarlandes wie Rußland in einen modernen Industriestaat.

Aber man muß hinzufügen, daß die Errungenschaften in materieller Hinsicht nicht über das Niveau der materiellen Errungenschaften des Kapitalismus hinaus­gegangen sind, häufig nicht einmal so weit. Wenn man auf die Verkürzung der Arbeitszeit in der Sowjetunion hinweist, dann muß man auch sagen, daß in rein kapitalistischen Ländern diese Verkürzung der Arbeitszeit genauso erreicht worden ist.

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Ich sehe natürlich auch in der ökonomischen Struktur gewisse tiefgreifende qualitative Unterschiede zwischen den realsozialistischen und den kapitalistischen Ländern. Die spezifische Form der Degradierung, der materiellen und kulturellen Verelendung, wie sie etwa 20 bis 25 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, des reichsten Landes dieser Erde erfahren, gibt es, seit die Stalinschen Arbeitslager als Massenphänomen nicht mehr bestehen, allerdings in keinem realsozialistischen Land. Diese »culture of poverty«, wie sie der amerikanische Soziologe Oscar Lenis genannt hat, ist eine Barbarei, die spezifisch kapitalistisch ist. Aber in einem entscheidenden Punkt sind alle realsozialistischen Länder hinter ihren eigenen Zielen, aber auch hinter den Errungenschaften der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt zurückgeblieben; das ist die institutionelle Sicherung der geistigen, der kulturellen und der politischen Freiheiten. Ich halte das für einen fundamentalen Mangel des Systems, der mit dem spezifischen Entwicklungsgang der realsozialistischen Länder strukturell zusammenzuhängen scheint.

Es gibt trotz aller Unterschiede in keinem dieser Länder, sei das Kuba, Jugoslawien, Nordkorea, Vietnam, die Sowjetunion oder die Volksrepublik China, die institutionelle und auch in der politischen Moral, im gesellschaftlichen Bewußtsein verankerte Sicherung der geistigen, kulturellen und politischen Freiheiten. Und diese halte ich sowohl als Mittel für die Verwirklichung des Sozialismus als auch als Bedingung seiner Existenz für schlechterdings unverzichtbar. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht auf den Diskussionsbeitrag von Rudolf Bahro zurückkommen. Ich stimme ihm völlig zu, wenn er sagt, daß zu den klassischen kapitalistischen Widersprüchen, die aufzulösen die sozialistische Bewegung in den kapitalistischen Ländern angetreten ist, jetzt überlagernd und im Weltmaßstab die von ihm genannten äußeren Widersprüche hinzugetreten sind.

Ich sehe jedoch - und ich lasse mich an diesem Punkt durchaus des Eurozentrismus beschuldigen - die Schlüsselrolle im Prozeß der Befreiung aus den Sackgassen der Entwicklung nach wie vor in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.

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Bahro: Darf ich etwas dazu bemerken, damit wir dieses Mißverständnis gleich beseitigen. In den drei äußeren Widersprüchen, die ich nannte, ist natürlich in je einem der Begriffe stets der kapitalistische Reproduktionsprozeß in unseren Ländern das eigentüch Gemeinte, der Kern der Sache.

Mandel: Ich würde den Nord-Süd-Konflikt nicht einen äußeren Widerspruch nennen, das ist ein Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft.

Oertzen: Meine Argumentation geht dahin, daß der Schlüssel für die produktive Auflösung auch des in einer Bedrohung des Weltfriedens resultierenden Ost-West-Konflikts in der Lösung der innerkapitalistischen Widersprüche zu suchen ist. Und ganz gewiß ist die Überwindung der Automatik und der zerstörerischen Kraft des kapitalistischen Verwertungsprozesses eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die strukturelle Lösung der Probleme der Zerstörung der Natur; dies ist eine Bemerkung an die Adresse der ökologischen Bewegung.

Aber zurück zu dem Argument, das Ernest zur Erklärung der Unterschiedlichkeit der Entwicklung, in Anlehnung an ein Wort des jungen Trotzki, angeführt hat. In den industriell fortgeschrittenen Ländern können die ökonomischen Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus günstiger, die politischen aber schlechter sein als in wirtschaftlich rückständigeren Ländern. Dies bezeichnet in der Tat die paradoxe Entwicklung, daß die Revolution in einem relativ unentwickelten Lande wie Rußland gesiegt hat und im entwickelten kapitalistischen Westeuropa nicht.

Das ist der Kern des Dilemmas, in dem sich Sozialisten praktisch befinden, auch wenn sie

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glauben, theoretisch einen Ausweg zu wissen; daß nämlich eine sich selbst überlassene Entwicklung der Revolution in den unterentwickelten Ländern ohne Unterstützung durch die sozialistische Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht zum Sozialismus führt.

Ich stimme völlig mit Ernest überein, wenn er sagt, in einem unterentwickelten Land sei zwar eine Revolution, der Sturz des Kapitalismus, möglich, aber keine positive sozialistische Entwicklung. Die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Basis der Revolution in einem unterentwickelten Land mit spezifischen Traditionen - Stichwort: asiatische Produktionsweise, hier greife ich auf die Analyse zurück, die Rudolf Bahro in der Alternative vorgelegt hat - führte zwar zu einer Entfaltung der Produktivkräfte, aber in solchen sozialen, ökonomischen und politischen Formen, die zumindest politisch das Fortschreiten der Befreiung der Produktivkräfte im sozialistischen Sinn außerordentlich erschwerten.

Und umgekehrt ist das bewußte Subjekt der sozialistischen Bewegung in dem Bereich der Welt, in dem immer noch der Schlüssel zur Lösung dieser Frage liegt, nämlich in den entwickelten kapitalistischen Ländern, bis zum heutigen Tag nicht in der genügenden Kraft zu sehen.

Nun hat Ernest die, wie er meint, empirisch begründete Hoffnung auf das Aufsteigen des Klassenbewußtseins und auf die Stärkung des subjektiven Faktors in Gestalt der organisierten revolutionären Sozialisten formuliert, die wir, wie ich meine, ausführlich diskutieren müssen. Denn ich will die Bedeutung dieses subjektiven Faktors und die ungeheure Wirkung, die von den richtigen, der Situation angemessenen und mit Nachdruck vorgetragenen Ideen einer kleinen Minderheit ausgehen kann und immer in der Geschichte ausgegangen ist, überhaupt nicht geringschätzen.

Ich bin aber der Meinung, daß eine Analyse der Frage nötig ist, weswegen es den authentischen Sozialisten in den letzten Jahrzehnten der fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung nicht

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gelungen ist, die Klassenkämpfe in den kapitalistischen Ländern entscheidend zu bestimmen. Diese Diskussion muß sehr selbstkritisch und mit sehr sorgfältiger Beurteilung der Einzelfaktoren geführt werden.

Wolter: Du hast jetzt die Frage, die auch eine kritische Bilanz des Reformismus beinhaltete, nicht beantwortet. Denn es steht ja auch außer Zweifel, daß für den reformistischen Weg, wenn man ihn so definiert, wie du es tust, auch der Sozialismus das Endziel ist. Die Übernahme der Regierungsverantwortung in nach wie vor kapitalistischen Strukturen stellt offensichtlich doch größere Hemmnisse dar, als es der Theorie nach sein müßte.

Oertzen: Das eigentliche, das historische Problem des Reformismus ist ja nicht, daß das sozialistische Ziel auf einem Wege verfolgt worden ist, auf dem es, nach der Meinung der antireformistischen, antirevisionistischen Sozialisten nie erreicht werden kann; das eigentliche Problem ist, daß auf diesem Wege sehr schnell das sozialistische Ziel völlig aus dem Auge verloren worden ist.

Zu einem Teil ist das schon in der reformistischen Theorie und Programmatik angelegt, auf jeden Fall schlägt sich das aber in der Praxis der reformistischen Bewegung nieder. Eine Strömung der organisierten Bewegung hat sich darauf beschränkt, die Augenblicks- und Tagesinteressen der Arbeiterklasse und der mit ihr sozial verbündeten kleinbürgerlichen Unter- und Mittelschichten zu verteidigen, mit dem erklärten Ziel, nicht den Kapitalismus zu überwinden, sondern ihn möglichst funktionsfähig zu halten, ihn vor Krisen zu bewahren, um dann im Kapitalismus den arbeitenden Klassen einen angemessenen Anteil an dem erwirtschafteten Mehrprodukt der Gesamtgesellschaft zu verschaffen und ihre Lebenslage zu verbessern.

Eine andere Strömung innerhalb des Reformismus geht darüber hinaus und versucht, bei Fortbestehen des Kapitalismus in seinen zentralen Funktionen des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Marktes, immerhin eine Machtverschiebung zugunsten der Arbeiterklasse zu erreichen, ohne dabei die Kapitalistenklasse und die kapitalistischen Strukturen selbst zu zerstören.

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Daß eine Bewegung, die entweder subjektiv oder objektiv das Ziel des Sozialismus nicht mehr verfolgt, dieses Ziel auch nicht erreichen kann, ist eine Banalität.

Die Frage ist nur, welche subjektiven und objektiven Faktoren haben zu diesem Ablassen von der ursprünglichen sozialistischen Zielsetzung geführt? Das ist im übrigen, wie mir scheint, nicht nur ein Problem offizieller sozialdemokratischer Parteien. In den Augen des strikten, konsequent analysierenden Marxisten zeigen ja auch die kommunistischen Massenparteien einen überwiegenden Einfluß theoretisch revisionistischer und praktisch reformistischer Ideen und Verhaltensweisen.

Ich halte es für zwingend notwendig, die Bedingungen zu analysieren, unter denen auch eine ursprünglich unter dem Zeichen des streng orthodoxen Marxismus angetretene Bewegung scheinbar - ich betone: nicht anscheinend, sondern scheinbar -, mit Notwendigkeit auf reformistische und revisionistische Irrwege kommt, wenn sie länger als ein oder anderthalb Jahrzehnte mehr als ein paar Prozent der arbeitenden Klasse in ihrem Alltagskampf und in der Vertretung ihrer täglichen Interessen zu repräsentieren hat.

Es ist für mich eine entscheidende strategische Frage, wie es möglich ist, über Jahrzehnte hinweg schwierige ökonomische und soziale Kämpfe mit einer Massenbewegung zu führen, unter Umständen einen Zipfel der politischen Macht, etwa mit parlamentarischen Mehrheiten, in der Hand zu halten und dennoch das Bewußtsein von der Notwendigkeit langfristiger strategischer Ziele wachzuhalten. Dies ist die, wie mir scheint, zentrale Frage in der Auseinandersetzung zwischen sogenannten Revolutionären und sogenannten Reformisten. Es müssen Erklärungen für das Abweichen der Arbeitermassenbewegung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern von der sozialistischen Zielsetzung gefunden werden.

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Und es müssen darüber hinaus Ansätze für die Überwindung dieses Abweichens gefunden werden. Ein Ansatz ist der Hinweis, es gebe in den inneren Widerprüchen des Kapitalismus nicht nur ökonomische, sondern auch politische und kulturelle Krisenphänomene, ie eine zunehmende Anzahl von kritischen Angehörigen der Arbeiterklasse und sich der Arbeiterklasse verbündet fühlender Intellektueller und anderer Kräfte der Gesellschaft dazu führen können, eine langfristige sozialistische Perspektive als notwendig für die Lösung ihrer unmittelbaren heutigen und morgigen Probleme zu betrachten.

Für den Intellektuellen ist das ein geringeres Problem; er braucht in seiner Existenzform zur Rechtfertigung seiner Existenz ein langfristiges Ziel, einfach weil er durch die Vermittlung der Theorie mit der Welt verkehrt. Das ist nicht die Lebenswirklichkeit des Arbeiters. Dieser lebt heute, morgen und übermorgen und muß sich für heute und für morgen und übermorgen von der Verfolgung sozialistischer Zielsetzungen etwas versprechen können. Und wenn er sich für heute, morgen und übermorgen nichts versprechen kann, weil ihn objektiv die Wirklichkeit nicht zur Idee des Sozialismus drängt, dann werden die Avantgarden und revolutionären Theoretiker noch fünfzig Jahre lang tauben Ohren predigen.

Bahro: Es sei denn, der Arbeiter wird, wie Gramsci das gesagt hat, zum Intellektuellen; d. h. also, er vollzieht den ganzen Denkprozeß mit, der notwendig ist, um den Gesamtzusammenhang einer Produktionsweise zu erfassen.

Oertzen: Hier ist der Punkt, an dem man konkret erklären muß, wieso sogar proletarische Massenparteien, die ursprünglich aus einer revolutionären Situation entstanden sind und sich subjektiv noch als revolutionär und sozialistisch verstehen, dies objektiv nicht oder nicht mehr sind. Was ist da vorgegangen, und wie kann dieser Prozeß aufgehalten oder rückgängig gemacht werden?

Die geschichtlichen Wege der Arbeiterbewegung sind mit von ihren Zielen abgewichenen, politisch gescheiterten sozialistischen Parteien gepflastert.

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